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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin von Sophienlust, setzte ihre Brille ab. Tante Ma, wie sie von allen Kindern genannt wurde, war an diesem Abend außergewöhnlich müde. Nach einem heißen, schwülen Tag war bei Einbruch der Dunkelheit ein schweres Gewitter niedergegangen. Es hatte gedonnert, geblitzt und schließlich wolkenbruchartig geregnet. Im Park von Sophienlust hatten sich die Wassermassen zu einem riesigen See gestaut, sodass der alte Justus im strömenden Regen hinausgelaufen war, um die zugeschwemmten Abflüsse zu reinigen. Für die Kinder von Sophienlust war dies natürlich ein so aufregendes Erlebnis gewesen, dass sie nicht ins Bett gewollt hatten. Sie hatten sich die Näschen an den Scheiben plattgedrückt und halb ängstlich, halb bewundernd dem gewaltigen Naturschauspiel zugesehen. Obwohl dieses schlimme Unwetter Frau Rennert selbst nicht ganz geheuer gewesen war, hatte sie dafür gesorgt, dass keine Panik aufgekommen war, dass sich keines der Kinder gefürchtet hatte. Jetzt trat die Heimleiterin ans Fenster, um noch einmal in den weitläufigen Park zu sehen. Der riesige Regenwassersee war verschwunden, doch die Wege glänzten noch immer nass in der Dunkelheit. Man hörte, wie das Wasser von den vielen alten Bäumen, die ringsum das ehemalige Herrenhaus standen, tropfte. Doch was war das? Zu so später Stunde kam noch ein Auto über die Zufahrtsstraße zum Haus? Frau Rennert trat ins Zimmer zurück, um hastig nach ihrer Brille zu greifen. Tatsächlich! Eben rollte der Wagen auf den Parkplatz. Im Schein der Laternen konnte sie erkennen, dass es sich um ein Polizeifahrzeug handelte. Ganz deutlich war das Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Inständig hoffte
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Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin von Sophienlust, setzte ihre Brille ab. Tante Ma, wie sie von allen Kindern genannt wurde, war an diesem Abend außergewöhnlich müde.
Nach einem heißen, schwülen Tag war bei Einbruch der Dunkelheit ein schweres Gewitter niedergegangen. Es hatte gedonnert, geblitzt und schließlich wolkenbruchartig geregnet. Im Park von Sophienlust hatten sich die Wassermassen zu einem riesigen See gestaut, sodass der alte Justus im strömenden Regen hinausgelaufen war, um die zugeschwemmten Abflüsse zu reinigen.
Für die Kinder von Sophienlust war dies natürlich ein so aufregendes Erlebnis gewesen, dass sie nicht ins Bett gewollt hatten. Sie hatten sich die Näschen an den Scheiben plattgedrückt und halb ängstlich, halb bewundernd dem gewaltigen Naturschauspiel zugesehen. Obwohl dieses schlimme Unwetter Frau Rennert selbst nicht ganz geheuer gewesen war, hatte sie dafür gesorgt, dass keine Panik aufgekommen war, dass sich keines der Kinder gefürchtet hatte. Jetzt trat die Heimleiterin ans Fenster, um noch einmal in den weitläufigen Park zu sehen. Der riesige Regenwassersee war verschwunden, doch die Wege glänzten noch immer nass in der Dunkelheit. Man hörte, wie das Wasser von den vielen alten Bäumen, die ringsum das ehemalige Herrenhaus standen, tropfte. Doch was war das? Zu so später Stunde kam noch ein Auto über die Zufahrtsstraße zum Haus?
Frau Rennert trat ins Zimmer zurück, um hastig nach ihrer Brille zu greifen. Tatsächlich! Eben rollte der Wagen auf den Parkplatz. Im Schein der Laternen konnte sie erkennen, dass es sich um ein Polizeifahrzeug handelte. Ganz deutlich war das Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Inständig hoffte die mütterliche Frau in diesem Moment, dass ihre Schützlinge bereits schliefen. Denn dieser Besuch würde neues Aufsehen erregen. Dann würde es möglicherweise die halbe Nacht hier keine Ruhe geben. Eilig knöpfte Frau Rennert ihre Bluse wieder zu. Sie dachte nicht mehr an ihre bleierne Müdigkeit, sondern überlegte, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass die Polizei noch so spät kam. Erstaunlich flink lief sie die Treppe hinunter. Ob das Unwetter in Sophienlust irgendwo Schaden angerichtet hatte?
Angstvoll schloss Frau Rennert das Portal auf. Doch was sie dann im Schein der Laternen sah, ließ sie alle Sorge um den Besitz von Sophienlust vergessen. Da kam ein uniformierter Polizist mit langen Schritten durch den jetzt nur noch schwach rieselnden Regen. Er trug etwas in Decken Gehülltes auf dem Arm.
Frau Rennert wusste sofort, dass es ein Kind war, das man in wärmende Decken gehüllt hatte. Nur ein Kind wurde so behutsam und vorsichtig getragen.
»Mein Gott«, murmelte die Heimleiterin. Die Tatsache, dass ein Polizist dieses Kind brachte, sagte ihr schon, dass es allein, ohne Angehörige sein musste. Was mochte wohl geschehen sein?
Frau Rennert trat etwas zurück, um den Fremden ins Haus zu lassen.
»Darf ich?«, keuchte er. Das Regenwasser lief ihm übers Gesicht. Er schien völlig durchnässt zu sein.
»Kommen Sie herein.« Frau Rennert knipste die große Deckenlampe in der Halle an. In deren Schein erkannte sie das Grauen in den dunklen Augen des Mannes. Es musste etwas Furchtbares geschehen sein. Etwas, was selbst einem Mann, der daran gewöhnt war, Zeuge schlimmer Vorfälle zu werden, Schrecken einflößte.
»Ich bin Hans Strasser und gehöre zum Verkehrsstreifendienst der Maibacher Polizei. Ich habe hier ein kleines Mädchen und möchte Sie bitten, das Kind aufzunehmen, bis …« Strasser zog ein wenig die Achseln hoch, »… ja, bis sich Angehörige melden.«
Frau Rennert machte eine einladende Handbewegung zu der Sesselgruppe hin. Normalerweise fällte sie nie eine Entscheidung, ohne Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, zuvor um Rat zu fragen. Doch jetzt wollte sie die Familie von Schoenecker, die auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, nicht in ihrer wohlverdienten Nachtruhe stören.
»Ich habe schon mehrfach von Sophienlust gehört und erfahren, dass es die Kinder hier besonders gut haben. Deshalb bringe ich die Kleine hierher und nicht ins Maibacher Waisenhaus. Ich hoffe doch, Sie haben Platz?« Hans Strasser sah Frau Rennert bittend an. Irgendwie hatte man den Eindruck, er tue in diesem Fall mehr als seine Pflicht.
»Wir haben immer Platz für dringende Fälle«, antwortete die Heimleiterin. »Ich bin überzeugt, dass Frau von Schoenecker nichts dagegen hat, wenn das kleine Mädchen bei uns bleibt.«
Dunkel erinnerte sich Hans Strasser an eine wunderschöne junge Frau, die er vor einigen Jahren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Maibach kennengelernt hatte: Denise von Schoenecker.
»Sophienlust gehört ihrem kleinen Sohn, nicht wahr?«, erkundigte er sich.
»Oh, unser Nick ist inzwischen schon fünfzehn und im Begriff, sich in einen sehr selbstbewussten jungen Mann zu verwandeln. Seine Urgroßmama hat ihm Sophienlust vererbt und bestimmt, dass ein Heim für elternlose Kinder aus dem Gut werden soll.«
Sehr behutsam setzte Hans Strasser jetzt seine Last in einen Sessel und öffnete die Decke.
Ein völlig durchnässtes kleines Persönchen kam zum Vorschein. Es hatte langes blondes Haar, große dunkle Augen und ein hübsches Gesichtchen. Wilde Angst und panisches Entsetzen spiegelten sich in den ausdrucksvollen Kinderaugen. Das war so auffällig, dass Frau Rennert unwillkürlich erschrak. Sie hatte schon viele verängstigte Kinder in Sophienlust gesehen, doch noch nie war die Furcht in einem Kindergesicht so grenzenlos gewesen.
Die mütterliche Frau strich liebevoll über den blonden Scheitel. »Hab keine Angst«, flüsterte sie. »Hier geschieht dir nichts. Wir helfen dir, kleine …« Fragend sah sie auf den Verkehrspolizisten.
»Anja heißt sie. Anja Möllendiek«, half er rasch aus.
Das Kind presste beide Ärmchen vor das Gesicht und verdeckte damit die Augen. Der kleine Mund war fest geschlossen. Kein Laut kam über die blassen, blutleeren Lippen.
»Liebe kleine Anja, du darfst nicht traurig sein. Morgen wirst du die Kinder kennenlernen, die in Sophienlust zu Hause sind.«
Voll Zärtlichkeit legte Frau Rennert den Arm um das kleine verängstigte Geschöpf. Alles in ihm schien voll Abwehr zu sein. Seltsam steif und aufrecht saß die Kleine da. Erstaunlich für ein Kind, das vermutlich nicht älter als fünf Jahre war.
In diesem Augenblick kam Schwester Regine, die auf Sophienlust die Jüngsten betreute, die breite teppichbespannte Treppe herab. »Ich hörte Stimmen und wollte nachsehen«, entschuldigte sie sich ein wenig verlegen.
»Sie kommen gerade richtig, Schwester Regine«, meinte Frau Rennert. »Wir haben einen neuen Gast, der ganz durchgefroren ist. Ich glaube, ein warmes Bad und danach ein kuscheliges Bett wären wohltuend.«
»Tatsächlich. Und was für ein hübsches kleines Mädchen!« Schwester Regine, die niemals genug Kinder um sich haben konnte, war sichtlich erfreut. »Ich werde unseren kleinen Gast sofort versorgen«, meinte sie und nahm den neuen Schützling auf den Arm.
Die Heimleiterin, die Anja bei Schwester Regine in den besten Händen wusste, nickte zustimmend. »Darf ich jetzt etwas über die näheren Umstände erfahren?«, wandte sie sich an Hans Strasser, sobald die Kinderschwester mit der Kleinen im Obergeschoss verschwunden war.
»Wir wurden zu einem Verkehrsunfall gerufen, der sich auf der Bundesstraße zwischen Wildmoos und Bachenau ereignet hat, ganz in der Nähe von hier. Wir fuhren noch während des Gewitters hin. Was wir dort vorfanden, war grausam.« Hans Strasser schüttelte den Kopf. Noch würgte ihn das blanke Entsetzen, wenn er an das entsetzliche Bild dachte, das sich den Polizisten am Unfallort geboten hatte.
»Anjas Eltern?«, fragte Frau Rennert ahnungsvoll und ließ sich in den Sessel nieder, in dem zuvor das kleine Mädchen gesessen hatte.
Breitbeinig stand Hans Strasser in seiner nassen Uniform vor der Heimleiterin. Er war viel zu aufgeregt, um sich jetzt setzen zu können. Schon manchmal hatte er Protokolle an einem Unfallort aufgenommen, doch noch nie hatte ihn ein Geschehen so aufgewühlt wie dieses.
»Sie sind beide tot«, berichtete er leise. »Auch der kleine Bruder von Anja, der mit im Wagen war.« Ein Schauer rieselte über Strassers Rücken, als er an den entsetzlichen Anblick dachte, den die Verunglückten geboten hatten. Und das Schlimmste war, dass die kleine Anja das alles gesehen hatte. Für ein fünfjähriges Mädchen musste es ein furchtbares Erlebnis bedeuten, die Eltern und den kleinen Bruder so zu sehen.
Diese Auskunft war auch für Frau Rennert niederschmetternd. Entsetzt schlug sie beide Hände vors Gesicht.
»Der Wagen kam infolge der herabstürzenden Wassermassen von der Straße ab. Aquaplaning nennt man das. Er prallte frontal gegen einen Baum. Die Möllendieks und der kleine Junge müssen sofort tot gewesen sein. Anja ist wahrscheinlich herausgeschleudert worden und ins Gras gefallen. Wir fanden sie später dicht neben dem zertrümmerten Fahrzeug.« Hans Strasser schluckte. Er wollte die schrecklichen Bilder am liebsten vergessen. Doch er wusste, dass er noch lange daran denken würde.
Frau Rennert atmete schwer. »Sie ist also die Einzige der Familie, die überlebt hat.«
»Das ist anzunehmen. Jedenfalls fanden wir nur vier Pässe im Wagen. Übrigens kamen die Möllendieks aus Schweden.«
»Haben Sie schon daran gedacht, dass Anja verletzt sein könnte?«
»Es gehört zu unseren Vorschriften, Verkehrsgeschädigte unverzüglich zum Arzt zu bringen. Das ist natürlich auch in diesem Falle geschehen. Der Unfallarzt des Krankenhauses in Maibach hat das Kind untersucht und festgestellt, dass es, außer einigen leichten Hautabschürfungen, keinerlei Verletzungen hat.«
»Ich werde trotzdem Frau Dr. Frey bitten, sich das Kind noch einmal anzusehen. Irgendwie kam es mir verkrampft und sonderbar vor.« Frau Rennert erhob sich.
»Nach allem, was Anja erlebt hat, scheint mir das nicht verwunderlich«, murmelte der junge Polizist. Ihm war klar, dass er nun zu gehen hatte. Es war schon spät, und er konnte die freundliche Heimleiterin schließlich nicht noch länger aufhalten. Dabei hätte er Anja zu gerne noch einmal gesehen.
»Darf ich …, darf ich morgen wiederkommen, um mich nach der Kleinen zu erkundigen?«, stotterte er verlegen.
»Selbstverständlich.« Frau Rennert reichte dem Beamten die Hand.
*
Angestrengt lauschte die kleine Heidi Holsten in die Dunkelheit. »Hörst du nicht?«, wisperte sie ihrer Zimmerkameradin Vicky zu. »Da plätschert doch das Wasser im Bad.«
Vicky Langenbach gab keine Antwort, denn sie schlief tief und fest.
Heidi richtete sich auf und stellte enttäuscht fest, dass sich Vicky kein bisschen bewegte. Tief und gleichmäßig waren ihre Atemzüge.
»Da hat doch jemand vergessen, das Wasser abzudrehen«, murmelte die Kleine. Wie alle Kinder von Sophienlust fühlte sie sich für alles in und um das Haus verantwortlich. Sie kletterte aus dem Gitterbettchen und lief auf bloßen Füßen durch das Zimmer. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie die Türklinke vorsichtig nach unten drückte. Oh, draußen auf dem Flur brannte ja Licht. Und drüben im Zimmer von Schwester Regine war es auch noch hell. Kamen da nicht Stimmen aus dem Badezimmer? Ja, das war doch Schwester Regine!
Bedeutend mutiger trippelte Heidi weiter. Sie wusste, wenn Regine Nielsen in der Nähe war, konnte ihr nichts passieren.
Heidi steckte ihren Kopf durch den Spalt der Badezimmertür und blinzelte ein wenig schläfrig ins Licht. Eben seifte Schwester Regine gewandt und sicher ein kleines Mädchen ab. Heidi war ganz sicher, dass sie dieses Kind noch nie gesehen hatte. Neugierig trippelte sie näher.
»Heidi, schläfst du denn noch nicht?« Schwester Regine, die die kleine Nachtwandlerin sofort bemerkte, wollte Heidi zunächst mit einigen strengen Worten ins Bett zurückschicken. Doch die Kleine sah in ihrem langen Nachthemd mit dem offenen blonden Haar und den erstaunt dreinschauenden blauen Augen so allerliebst und unschuldig aus wie ein Engelchen. Der Verweis blieb angesichts dieses süßen Anblicks unausgesprochen.
»Ich wollte …, ich dachte …« Heidi sah interessiert auf die neue Kameradin und vergaß das, was sie als Entschuldigung hatte vorbringen wollen. »Wer ist das?«, fragte sie mit schiefgelegtem Köpfchen.
»Anja. Sie wird einige Zeit bei uns bleiben«, erklärte Schwester Regine, obwohl sie das selbst nicht so genau wusste. »Sie ist nur ein Jahr älter als du. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.« Schwester Regine brauste das Kind ab und schlug ein weiches Badetuch um den kleinen zitternden Körper.
Zutraulich kam Heidi näher. »Darf sie bei Vicky und mir im Zimmer schlafen? Da ist doch noch ein leeres Bett.«
»Möchtest du das denn?« Schwester Regine hob das Kind aus der Wanne und setzte es auf einen Stuhl. Behutsam rieb sie Anjas blonde Haare trocken.
»Ja!« Heidi hüpfte begeistert auf und ab.
»Dann werden wir morgen Tante Isi fragen. Heute schläft Anja in meinem Zimmer.«
Heidi nickte verständnisvoll. Natürlich wusste sie, dass in Schwester Regines Zimmer ein Kinderbett stand, das gewöhnlich dann benutzt wurde, wenn Neulinge kamen oder wenn eines der Kleinen schwer krank war.
»Warum ist Anja so traurig?«, fragte sie und kam noch etwas näher. Aufmerksam sah sie in Anjas große dunkle Augen.
Schwester Regine, die selbst noch nichts über das Schicksal des neuen Kindes wusste, überging diese Frage. »Heidi wird dir morgen das Haus, den Park und die Stallungen zeigen, Anja«, sagte sie. »Du wirst staunen, was es hier alles zu sehen gibt. Wir haben eine Menge Tiere.« Liebevoll rieb sie das Kind ab und zog ihm ein Nachthemd über den Kopf.
»Ponys und Hunde und Habakuk«, kreischte Heidi voll Begeisterung.
»Ja. Und drüben im Tierheim gibt es einen richtigen kleinen Zoo.« Eigentlich war Schwester Regine jetzt ganz froh, dass Heidi ihr half, den neuen kleinen Gast ein wenig von seinem Kummer abzulenken. Denn dass Anja schweres Leid widerfahren war, fühlte sie deutlich. Fest pressten sich die Lippen der Kleinen aufeinander. Regungslos, fast teilnahmslos war ihr Gesichtchen. Der Blick der großen dunklen Kinderaugen ging oft in geheimnisvolle Ferne. Woran dachte Anja nur? Fast konnte man Angst bekommen, wenn man ihre unnatürlich weit geöffneten Augen sah. Keine Träne stahl sich daraus hervor. Das blasse Gesichtchen wirkte fast starr und leblos.
»Habakuk ist ein Papagei. Er kann richtig sprechen«, plapperte Heidi. »So wie du und ich.« Doch plötzlich wurde die Kleine nachdenklich. Sie zog Schwester Regine an der blütenweißen Schürze. »Sie spricht nicht mit mir«, flüsterte sie. »Warum sagt sie kein einziges Wort?«
Jetzt fiel das auch Schwester Regine auf. Anjas Benehmen war seltsam. Kinder in ihrer Lage weinten, schrien und jammerten gewöhnlich. Doch Anja war stumm wie ein Fisch. In ihren großen dunklen Augen schien sich aber das Leid der ganzen Welt zu spiegeln.
»Anja, wir möchten dir so gern helfen«, sagte Schwester Regine mit liebevoller, schmeichelnder Stimme. »Erzähl uns doch, was dich bedrückt.« Die Kinderschwester nahm die Kleine mütterlich in die Arme und streichelte das blasse traurige Gesichtchen.
Heidi beobachtete diese Bemühungen mit angehaltenem Atem. Keine Sekunde lang wandte sie den Blick von Anjas fest zusammengepressten Lippen. »Du kannst Schwester Regine alles erzählen. Sie sagt es keinem weiter«, ermunterte sie die neue Spielgefährtin.
Anjas kleiner Mund bewegte sich nicht. Stur schaute sie auf die glänzenden Wandkacheln. Doch sie nahm nichts aus ihrer Umgebung wahr. In Gedanken hörte sie noch immer jenen schrecklichen Knall, jenes unheimliche Krachen, Splittern und Bersten, dem eine entsetzliche Stille gefolgt war. Halb gelähmt vor Furcht war sie auf allen vieren zu dem Haufen rauchenden Blechs gekrochen, das zuvor ein schmuckes Auto gewesen war. Vati, Mutti und Lars, wo waren sie? Anja hatte schreien wollen, aber jeder Laut war in ihrer Kehle stecken geblieben. Dann hatte ein greller Blitz die gespenstische Szene erhellt. Das Grauen, das Anja in diesen Sekunden erfasst hatte, spiegelte sich noch jetzt in ihren Augen.
Der kleinen Heidi war plötzlich kalt. Sie tappte hinauf auf den Flur. Dort saß Stupsi, der zottige hellbraune Teddybär, der schon so viele Kinder getröstet hatte, in einem Korbsessel. Heidi drückte ihn an sich und lief zurück.
»Hier, du darfst ihn haben.« Auffordernd streckte sie das Spielzeug der kleinen Anja entgegen. »Willst du hören, wie er brummen kann?« Heidi drehte den Teddy um und strahlte, als er ein langgezogenes »Öhhh« von sich gab. »Halte ihn doch!«
Nur zögernd griff Anja nach dem Kuscheltier mit dem langhaarigen Fell.
»Stupsi heißt er«, erklärte Heidi eifrig. »Sag doch mal ›Stupsi‹.«
Anja schmiegte sich eng an Schwester Regine. Die kleine Heidi, die sich so eifrig um sie bemühte, gefiel ihr sehr. Warum sollte sie ihr nicht den Gefallen tun?
Anja öffnete den Mund, wollte Stupsi sagen. Ihre Lippen bewegten sich, doch es kam kein einziger Laut aus ihrer Kehle.
Schwester Regine, die das Kind aufmerksam beobachtet hatte, erschrak so sehr, dass ihre Knie zu zittern begannen. Auch Heidis eben noch strahlendes Gesichtchen wurde schlagartig ernst. Ängstlich forschten ihre blauen Kinderaugen im Gesicht der Kinderschwester. Welche Erklärung gab es für diese schlimme Entdeckung? Heidi fürchtete sich plötzlich. Schutzsuchend klammerte sie sich an Schwester Regine.
*
Vorsichtig löste sich Grit Möllendiek aus den Armen ihres Verlobten. »Ich muss gehen«, meinte sie lächelnd.
»Schon?«, fragte David Danner langgezogen und machte ein leicht beleidigtes Gesicht.
»Es ist spät, und du wirst müde sein. Morgen hast du sicher wieder einen anstrengenden Tag vor dir.« Grit strich liebkosend über Davids schwarzes lockiges Haar. Sie war unsagbar verliebt in ihn. Sein gepflegter dunkler Bart gefiel ihr ebenso wie die moderne, ein wenig ausgefallene Kleidung, die er bevorzugte.
»Ich möchte mich am liebsten nie mehr von dir trennen, süße, bezaubernde Grit.« David sah bittend in die tiefblauen Augen seiner Braut.
»Es sind ja nur noch wenige Tage bis zu unserer Hochzeit«, tröstete Grit mit verschmitztem Lächeln. Mit ihrer sehr hellen Haut und den silberblonden Haaren war sie genau das Gegenteil von David.
»Für mich ist das viel zu lange. Hier im Haus ist so viel Platz, aber du wohnst im Hotel. Das ist doch einfach lächerlich.« Er legte die Arme um Grits schlanke Taille und zog sie erneut an sich.
»Was würde mein Bruder denken, der morgen mit seiner Familie kommt?« Grit lachte leise, weil es wirklich komisch aussah, wenn David ein trauriges Gesicht machte. Es passte nicht zu ihm.