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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Dr. Anja Frey, die Hausärztin von Sophienlust, steckte das Stethoskop in die Tasche ihres weißen Kittels. Lächelnd sah sie die kleine Patientin an. »Es wird schon wieder, Heidi. Aber einige Tage musst du im Bett bleiben.« »Mein Hals tut weh«, jammerte das kleine Mädchen. Die Ärztin fasste an die Drüsen zu beiden Seiten unterhalb des Kinns. Sie waren stark geschwollen. »Es wird noch ein bisschen schlimmer werden, Spatz. Du musst sehr tapfer sein. Du wirst so dicke Backen bekommen wie ein kleiner Hamster.« »Mumps?«, fragte Frau Denise von Schoenecker, die am Fußende des Krankenbettes stand, erschrocken. Besorgt schaute sie auf ihren Schützling. Heidi war eines der jüngsten Kinder des Heims. Ein richtiger kleiner Sonnenschein. »Ich befürchte es. Sie wissen, was das bedeutet, Frau von Schoenecker. Heidi muss streng isoliert werden. Die Krankheit ist sehr ansteckend.« Heidi, die sich zurückgelegt hatte, sah mit großen Augen zu den Erwachsenen auf. Sie verstand das Wort ›isoliert‹ nicht. Doch was ›ansteckend‹ bedeutete, das wusste sie ganz genau. Erst vor einigen Wochen hatte Henrik, Tante Isis kleiner Sohn, Windpocken gehabt. Und niemand hatte ihn besuchen dürfen. »Aber Nick darf doch zu mir kommen, nicht wahr?«, fragte die Kleine weinerlich. »Er ist ja schon groß und bekommt keine Kinderkrankheiten mehr.« Heidi hing sehr an dem ältesten Sohn Denise von Schoeneckers, dem künftigen Erben von Sophienlust. »Hatte Nick schon Mumps?«, fragte die Ärztin besorgt. Denise zuckte zustimmend. »Nick und Pünktchen haben die Krankheit gemeinsam durchgemacht.« »Trotzdem müssen wir sehr vorsichtig sein. Auch wenn Nick selbst den Mumps nicht mehr bekommen kann, so könnte er ihn doch
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Dr. Anja Frey, die Hausärztin von Sophienlust, steckte das Stethoskop in die Tasche ihres weißen Kittels. Lächelnd sah sie die kleine Patientin an. »Es wird schon wieder, Heidi. Aber einige Tage musst du im Bett bleiben.«
»Mein Hals tut weh«, jammerte das kleine Mädchen.
Die Ärztin fasste an die Drüsen zu beiden Seiten unterhalb des Kinns. Sie waren stark geschwollen. »Es wird noch ein bisschen schlimmer werden, Spatz. Du musst sehr tapfer sein. Du wirst so dicke Backen bekommen wie ein kleiner Hamster.«
»Mumps?«, fragte Frau Denise von Schoenecker, die am Fußende des Krankenbettes stand, erschrocken. Besorgt schaute sie auf ihren Schützling. Heidi war eines der jüngsten Kinder des Heims. Ein richtiger kleiner Sonnenschein.
»Ich befürchte es. Sie wissen, was das bedeutet, Frau von Schoenecker. Heidi muss streng isoliert werden. Die Krankheit ist sehr ansteckend.«
Heidi, die sich zurückgelegt hatte, sah mit großen Augen zu den Erwachsenen auf. Sie verstand das Wort ›isoliert‹ nicht. Doch was ›ansteckend‹ bedeutete, das wusste sie ganz genau. Erst vor einigen Wochen hatte Henrik, Tante Isis kleiner Sohn, Windpocken gehabt. Und niemand hatte ihn besuchen dürfen.
»Aber Nick darf doch zu mir kommen, nicht wahr?«, fragte die Kleine weinerlich. »Er ist ja schon groß und bekommt keine Kinderkrankheiten mehr.« Heidi hing sehr an dem ältesten Sohn Denise von Schoeneckers, dem künftigen Erben von Sophienlust.
»Hatte Nick schon Mumps?«, fragte die Ärztin besorgt.
Denise zuckte zustimmend. »Nick und Pünktchen haben die Krankheit gemeinsam durchgemacht.«
»Trotzdem müssen wir sehr vorsichtig sein. Auch wenn Nick selbst den Mumps nicht mehr bekommen kann, so könnte er ihn doch auf die anderen Kinder übertragen. Und das willst du doch nicht.« Frau Dr. Frey strich liebevoll über Heidis blonden Schopf. »Deshalb wollen wir in der ersten Zeit auf jeden Besuch verzichten. Später werden wir uns über entsprechende Vorsichtsmaßnahmen unterhalten.«
»Ist später … sehr lange?«, erkundigte sich Heidi und bemühte sich tapfer, die Tränen zurückzuhalten.
»Etwa drei Wochen.« Frau Frey zuckte bedauernd die Achseln.
»Keine Angst, Heidi«, beschwichtigte Denise sofort, »du wirst nicht allein sein. Schwester Regine bleibt die ganze Zeit über bei dir. Sie wird dir Geschichten vorlesen, wird mit dir spielen und dich verwöhnen wie eine kleine Prinzessin. Und ich schaue auch zu dir herein, sooft es geht.«
»Ja, Tante Isi«, piepste Heidi zufrieden. »Bekommst du keine dicken Backen?«
Denise verneinte lachend. »Ich werde auch sehr vorsichtig sein, damit niemand angesteckt wird. Ich werde jedes Mal die Kleider wechseln und die Hände desinfizieren.«
Wieder verstand Heidi nicht genau, was damit gemeint war. Sie hörte nur die gütige, liebevolle Stimme von Denise und sah den zärtlichen Blick, der so viel Mütterliches hatte. »Du bist so lieb, Tante Isi«, flüsterte sie und schloss müde die Augen.
Die beiden Frauen verließen leise das Krankenzimmer. Sie kannten einander seit vielen Jahren. Oft verband sie die gemeinsame Sorge um ein Waisenkind.
Dr. Frey gehörte zu den vielen Menschen, die Denise von Schoenecker bewunderten. Diese hübsche, charmante Frau hatte es verstanden, neben ihren vielen Pflichten der Familie gegenüber in Sophienlust einen Hort des Friedens zu schaffen. Keine Mühe scheute sie, um ihren Schützlingen in Sophienlust zu helfen. Oft profitierten nicht nur die Kleinen von ihrer Güte und Lebenserfahrung, oft schöpften auch die Erwachsenen in Sophienlust durch sie wieder neuen Mut.
»Ich weiß noch gar nicht, woher ich Ersatz für Schwester Regine nehmen soll«, seufzte Denise leise. »Wenn sie für drei bis vier Wochen ausfällt, habe ich niemanden, der die Kleinen betreut. Zwei unserer Hilfskräfte sind im Urlaub.«
Frau Dr. Frey blieb vor der Sesselgruppe in der Halle stehen. »Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen. Eigentlich wollte ich Sie ohnehin fragen, ob Sie vorübergehend eine Betreuerin für die Kinder brauchen könnten.«
»Wirklich?« Denises dunkle Augen strahlten.
»Ein Studienkollege bat mich um diese Gefälligkeit. Er weiß, dass ich Verbindung zum Kinderheim Sophienlust habe, und hofft, dass eine seiner Patientinnen vorübergehend hier beschäftigt werden kann.«
Denise zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Er ist Leiter einer psychiatrischen Klinik«, erklärte Frau Dr. Frey rasch.
Denises Gesichtsausdruck wurde noch fragender. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, schien ihr Blick auszudrücken.
Frau Dr. Frey nickte verständnisvoll. »Es handelt sich um eine junge Französin, die eine abgeschlossene Ausbildung als Kinderpflegerin hat. Sie heiratete in Deutschland. Einen recht vermögenden Mann übrigens. Doch leider hatte er vor einem halben Jahr einen schweren Unfall. Dabei kam er selbst und das zweijährige Töchterchen ums Leben. Florence, das ist die junge Französin, überlebte, obwohl auch sie seinerzeit im Wagen war. Der Schmerz war für sie so gewaltig, dass sie fast den Verstand verlor. Tatsächlich hat man Monate gebraucht, um ihre Depressionen zu lindern. Sie ist jetzt geheilt, aber sie hat jedes Interesse an ihrer Umwelt verloren.«
»Ihr Kollege hat wohl großes Interesse an Florence? Normalerweise kann sich ein Arzt doch nicht so intensiv mit seinen Patienten befassen.«
Die Ärztin nickte bedächtig. »Ich habe ihn natürlich nicht danach gefragt, aber Sie haben wieder einmal recht. Auch ich hatte sofort den Eindruck, dass er diese Florence liebt. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn sie ist außergewöhnlich hübsch. Wir haben uns lange über sie unterhalten, und später lernte ich sie auch kennen. Eine sympathische junge Dame, die sich in ihrem Leid völlig abgekapselt hat.«
Denise sah auf ihre schmalen Hände. »Ich weiß nicht«, meinte sie nachdenklich, »ob diese junge Dame geeignet ist, lebhafte Kinder zu betreuen. Vielleicht wäre es besser, wenn sie zunächst eine andere Beschäftigung annehmen würde.«
»Das habe ich auch sofort gedacht«, erwiderte Anja Frey spontan. »Ich habe das meinem Kollegen auch gesagt, aber er ist der festen Überzeugung, dass nur der Umgang mit Kindern Florence helfen könnte, wieder zu sich selbst zu finden. Er hat mir nachdrücklich versichert, dass keinerlei Bedenken bestehen, der jungen Frau Kinder anzuvertrauen. Sie sei der Verantwortung gewachsen. Außerdem bestünden keine Zweifel darüber, dass Florence ihr seltsames Verhalten aufgeben würde, sobald sie wieder eine Aufgabe haben würde. Deshalb sucht Dr. Solten jemanden, der seiner Patientin eine Chance gibt. Er verbürgt sich dafür, dass Florence niemanden enttäuschen wird. Aber ich verstehe natürlich, dass das für Sie keine Sicherheit ist.«
»Warum sollen wir es nicht versuchen?«, fragte Denise und atmete gut durch. »Vielleicht kann der jungen Frau auf diese Weise tatsächlich geholfen werden. Für mich ist es ein Risiko, aber ich werde es eingehen.«
»Ich wusste, dass Sie Verständnis für dieses Anliegen haben würden«, meinte die Ärztin erleichtert. »Dr. Solten wird froh sein. Übrigens vergaß ich zu erwähnen, dass Florence ehrenamtlich bei Ihnen arbeiten wird. Sie hat das Vermögen ihres Mannes geerbt und ist somit finanziell unabhängig. Für sie ist diese Arbeit nichts anderes als Medizin.«
»Eine Medizin, die hoffentlich ihre Wirkung nicht verfehlen wird.«
»Darf ich Florence schon in den nächsten Tagen zu Ihnen bringen?« Frau Dr. Frey drückte Denise zum Abschied dankbar die Hand.
»Das wäre mir sehr recht, da ich ja dringend jemanden brauche.«
*
Dr. Solten klopfte laut, bevor er das Zimmer seiner Patientin betrat. Doch von drinnen kam keine Antwort. Er hatte auch nicht damit gerechnet.
Florence Theger saß am Fenster und sah teilnahmslos in den Park der Klinik hinunter. Seit Monaten verhielt sie sich so. Alle Medikamente und Behandlungsmethoden, die angewendet worden waren, hatten sie nicht aus ihrer Gleichgültigkeit wachrütteln können.
Sekundenlang nahm der Arzt das hübsche Bild in sich auf. Florence war zart und zierlich. Weich und glänzend fiel ihr das kastanienbraune Haar auf die Schultern. Die samtbraunen Augen blickten melancholisch in die Welt, das noch fast kindlich wirkende Gesicht hatte einen ungewöhnlichen Reiz. Immerzu hätte Dr. Solten die junge Florence ansehen mögen. Eigentlich war kaum zu verstehen, dass ein Mensch, der so hübsch war, sich so sehr in sinnlosen Schmerz hineinsteigerte.
In vielen Gesprächen hatte Dr. Solten die junge Französin kennen- und liebengelernt. Er hatte seine Gefühle mehrmals angedeutet, doch Florence hatte nie darauf reagiert. Aber vielleicht, so sagte sich der Arzt, würde in einigen Wochen schon alles besser sein. Dann nämlich, wenn es gelungen sein würde, die Sperre in Florence zu lösen. Nur Kinder konnten dieses Wunder vollbringen. Denn Florence liebte Kinder über alles.
»Florence, ich habe eine freudige Mitteilung für Sie.«
Die junge Französin hob weder den Kopf, noch kehrte ihr Blick aus jener unendlichen Ferne zurück, in der sie noch immer schreckliche Bilder sah. Szenen des grauenhaften Unfalls waren es, bei dem ihr Mann und das über alles geliebte Töchterchen ums Leben gekommen waren.
»Im Besuchszimmer wartet eine Studienkollegin von mir. Sie ist gekommen, um Sie abzuholen und ins Kinderheim Sophienlust zu bringen. Dort hat man eine verantwortungsvolle Aufgabe für Sie. Sie werden die Kleinsten betreuen.«
Langsam wandte Florence den Kopf.
»Aber ich bin …, ich habe schon lange nicht mehr Kinder gepflegt.«
»Es wird Ihnen Spaß machen«, versicherte der Arzt und griff nach der schmalen, durchsichtig schimmernden Hand der jungen Frau. »Sie werden vergessen, werden ins Leben zurückfinden.«
»Ich werde nie vergessen«, widersprach Florence heftig. »Ich habe viel zu sehr geliebt meine Kind und meine Mann.« Wie immer, wenn Florence erregt war, klappte es mit der deutschen Grammatik nicht richtig. »Warum ich bin nicht auch gestorben in die Auto?«
»Das ist Schicksal, Florence. Darüber haben wir schon oft gesprochen. Wir können nichts daran ändern. Wir müssen uns damit abfinden.« Dr. Solten hätte seine junge Patientin zu gern in die Arme genommen, doch das ging natürlich nicht. Einerseits waren sie hier in der Klinik, und andererseits hätte er damit das Vertrauen zerstört, das Florence ihm entgegenbrachte. Er musste warten, musste Geduld haben.
»Ich kann nicht! Und ich will nicht!« Wieder ging der Blick der mädchenhaften jungen Frau in unendliche Ferne. Wieder hörte sie in Gedanken den Schreckensschrei ihres kleinen Töchterchens, das Stöhnen ihres Mannes. Sie hatte nichts für die beiden tun können, da sie bereits in der nächsten Sekunde tot gewesen waren. Wie konnte man von ihr verlangen, sie solle das alles vergessen? Dieses furchtbare Geschehen war ihr ständig gegenwärtig. Doch all ihre Trauer konnte nichts an den Tatsachen ändern.
»Freuen Sie sich nicht, dass Sie aus der Klinik entlassen werden?«
»Nein. Es ist doch so gleichgültig, wo ich bin.« Florence zuckte die schmalen Schultern.
»In Sophienlust wird es Ihnen gefallen. Frau Dr. Frey kann Ihnen mehr darüber erzählen. Ich weiß nur, dass es kein Kinderheim im üblichen Sinne ist, sondern eine echte Heimat für Kinder, die keine Eltern mehr haben oder die aus zerrütteten Familien kommen.«
»Sie haben sich sehr viel Mühe mit mir gegeben, Doktor. Viel zu viel«, murmelte Florence. »Ich möchte Ihnen dafür danken.«
Dr. Solten winkte ab. »Wir werden uns ja hoffentlich noch recht oft sehen. Wenn Sie es erlauben, werde ich Sie in Sophienlust besuchen.«
Wieder zuckte Florence die Schultern. Ihr war das alles so unendlich gleichgültig. Dass sie wieder ein normales Leben führen, wieder normal empfinden sollte, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Ihr war, als habe sich an jenem schrecklichen Unglückstag die ganze Welt verändert.
»Kommen Sie! Ihre Koffer hat man bereits gepackt, alles ist gerichtet.«
Florence erhob sich und ließ sich willenlos die Treppe hinunterführen. Längst hatte sie sich daran gewöhnt, dass andere für sie entschieden und handelten.
Im Besuchszimmer stand Florence der jungen Ärztin gegenüber. Wie durch einen Nebelschleier nahm sie ein freundliches Lächeln wahr, spürte einen herzlichen Händedruck.
Frau Dr. Frey verbarg ihr Erschrecken. Der Zustand der jungen Französin hatte sich seit dem letzten Treffen eher verschlechtert. Was würde Denise von Schoenecker sagen, wenn sie ihr diese teilnahmslose Frau, die eigentlich selbst betreut werden müsste, als Kinderpflegerin brachte? War so etwas überhaupt zumutbar?
»Ich bin überzeugt, dass der Umgang mit Kindern sie völlig verändern wird«, sagte Dr. Solten, der die Gedanken seiner Kollegin zu erraten schien. »Sie wird wieder selbstständiger werden, wird sich wieder für die Umwelt interessieren. Wenn ich darf, rufe ich gleich morgen in Sophienlust an.«
»Selbstverständlich darfst du. Man ist dort sehr gefällig. Frau von Schoenecker hat Verständnis für alle Probleme.« Frau Dr. Frey verabschiedete sich rasch.
Florence stieg willig in den Wagen der Ärztin ein und blieb stumm und regungslos neben ihr sitzen.
»Wissen Sie«, begann Anja Frey das Gespräch, »dass Sophienlust nur das Haus der glücklichen Kinder genannt wird? Doch nicht nur die Kinder, sogar die Erwachsenen fühlen sich dort besonders wohl. Nick, das ist der Sohn Denise von Schoeneckers aus ihrer ersten Ehe, hat das ehemalige Gut von seiner Urgroßmutter geerbt. Die alte Dame verband damit die Verpflichtung, notleidende Kinder dort aufzunehmen. Und Denise, Nicks Mutti, hat diese Verpflichtung wahrhaft meisterlich erfüllt.«
»Und wer finanziert die ganze Sache?«, fragte Florence mehr aus Höflichkeit als aus Anteilnahme.
»Es war ein riesiges Vermögen mit dieser Stiftung verbunden. Oft aber erhält Sophienlust auch großzügige Spenden von Leuten, denen irgendwie geholfen wurde. Jedenfalls kennt man dort keine finanziellen Sorgen. Aber wir sind schon da.«
Eben passierte der Wagen ein großes schmiedeeisernes Tor und fuhr durch einen gepflegten Park.
»Das …, das ist doch ein Schloss, ein richtiges Schloss«, meinte Florence verwirrt. So schön hatte sie sich dieses Sophienlust, von dem ihr Dr. Solten so viel erzählt hatte, nicht vorgestellt.
Zwischen den noch winterlichen Rosenstauden blühten bereits die ersten Tulpen. Weite gepflegte Rasenflächen, umgeben von hohen alten Bäumen, prägten das Bild. Im Wasser des Weihers spiegelte sich die Sonne, an seinem Rand putzten sich einige Wildenten. Friedlich plätscherte der Springbrunnen. Fast war es, als komme man in eine andere Welt. In eine Welt der Ruhe und des Friedens.
»Das ist Sophienlust«, bestätigte Frau Dr. Frey. »Sehen Sie, da drüben spielen ein Teil der Kinder.« Sie deutete auf einen Pavillon, vor dem Kreisspiele gemacht wurden.
Florence bekam große sehnsüchtige Augen. Zum ersten Mal war jener weltentrückte Ausdruck aus ihnen verbannt, der alle schockiert hatte.
Während Frau Dr. Frey ihren Wagen auf den Parkplatz fuhr, den Motor abstellte und die Handbremse anzog, sah Florence unverwandt zu den Kleinen hinüber. »Wer …, wer ist die kleine Mädchen?«, fragte sie erregt und deutete auf ein zierliches kleines Ding im himmelblauen Kleidchen.
»Die Kleine mit den blonden Haaren und den blauen Augen?«
»Ja. Jetzt hüpft sie zu einem kleinen Jungen.« Florence zitterte plötzlich am ganzen Körper.
»Das sind Sanny und ihr kleiner Bruder Dany«, erwiderte die Ärztin arglos. »Eigentlich heißen die beiden Susanne und Daniel, aber so nennt sie niemand. Die armen Kleinen haben vor einigen Monaten ihre Mutti verloren. Sie war unheilbar krank. Für ihren Vater, der Arzt ist, war das sehr schlimm. Ja, und seither leben Sanny und Dany hier.«
»Wie meine kleine Mädchen«, murmelte Florence und war plötzlich leichenblass.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Frau Dr. Frey erschrocken.
»Meine Claudine ist tot. Aber die Kleine hier sieht aus wie sie. Gibt es das denn?« Verzweiflung war in Florences Stimme. Ihre Lippen bebten.
»Kinder sind einander oft ähnlich«, versuchte Anja Frey die Aufregung der jungen Frau abzuschwächen. Florence schien sie jedoch überhaupt nicht zu hören. »Darf ich zu diese kleine Mädchen?«, fragte sie und sah wieder zum Pavillon hinüber.
*
»Ihre Hände sind so zärtlich.« Die rotblonde Patientin reckte und streckte sich. »Ich möchte, dass Sie die Untersuchung länger ausdehnen.«
Verblüfft sah Dr. Amberg von seiner Arbeit auf. Er war ein gewissenhafter Arzt, der seine Pflicht ernst nahm. Keine Sekunde lang hatte er an Zärtlichkeit gedacht. Er hatte den Nacken der Patientin abgetastet, weil sie über Schmerzen in diesem Bereich geklagt hatte.
»Ich werde Ihnen eine Salbe aufschreiben, die Sie zweimal am Tag einmassieren.«
»Warum sind Sie nur immer so sachlich, Doktor?«, flötete die rotblonde Schönheit und wippte gekonnt mit den falschen Augenwimpern. »Heute ist doch Ihre Sprechstundenhilfe nicht da, heute können wir uns endlich privat unterhalten. Ich weiß doch, dass Sie mich seit Langem lieben. Ich spüre es, wenn Sie mich berühren, und ich merke es, wenn Sie mich ansehen.«
Die Patientin, eine etwas rundliche Büroangestellte Ende der dreißig, fasste nach den Händen des Arztes. Sanft entzog er sie ihr und meinte ernst: »Ärztliche Sorge und menschliche Freundlichkeit sollte man nicht mit Liebe verwechseln.«
»Sie sind allein, Doktor, und ich bin es auch. Sie sehnen sich doch bestimmt nach einer liebevollen Partnerin, genau wie ich von einem Mann träume, der Ihnen ähnlich ist. Genauer gesagt, von Ihnen, Doktor.«