Hab keine Angst - Susanne Svanberg - E-Book

Hab keine Angst E-Book

Susanne Svanberg

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Das Brummen des Motors erstarb. Die Tür des alten, schon etwas klapprigen Wagens flog auf, ein junger Mann stieg aus. Er war auffallend groß und sportlich schlank. Über engen Jeans trug er ein einfaches T-Shirt. Glücklich breitete er die Arme aus und sah sich mit strahlenden dunklen Augen um. »Endlich wieder zu Hause!« »Sascha!« Die noch immer jugendliche Denise von Schoenecker kam dem Studenten lachend entgegen. Liebevoll schloß sie den Stiefsohn in die Arme. Der junge Mann küßte sie schallend auf beide Wangen, lehnte sich etwas zurück und betrachtete die schlanke, dunkelhaarige Frau genau. »Du siehst gut aus, Mutti. Wie machst du das nur?« »Ich halte mich jeder Arbeit fern«, tuschelte Denise mit vergnügtem Augenzwinkern. Sascha von Schoenecker schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. »Schwindeln kannst du immer noch nicht. Aber das halte ich für durchaus positiv.« Die Köchin Martha und das Hausmädchen Gusti kamen herbeigelaufen, um den heimgekehrten Sohn des Hauses zu begrüßen. Beide kannten ihn schon seit der Zeit, als er noch ein Lausbub gewesen war und die Umgebung des Gutes unsicher gemacht hatte. Kein Baum war ihm zu hoch.

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Sophienlust – 286 –

Hab keine Angst

Das Schicksal meint es gut mit dir

Susanne Svanberg

Das Brummen des Motors erstarb. Die Tür des alten, schon etwas klapprigen Wagens flog auf, ein junger Mann stieg aus. Er war auffallend groß und sportlich schlank. Über engen Jeans trug er ein einfaches T-Shirt.

Glücklich breitete er die Arme aus und sah sich mit strahlenden dunklen Augen um.

»Endlich wieder zu Hause!«

»Sascha!« Die noch immer jugendliche Denise von Schoenecker kam dem Studenten lachend entgegen. Liebevoll schloß sie den Stiefsohn in die Arme.

Der junge Mann küßte sie schallend auf beide Wangen, lehnte sich etwas zurück und betrachtete die schlanke, dunkelhaarige Frau genau.

»Du siehst gut aus, Mutti. Wie machst du das nur?«

»Ich halte mich jeder Arbeit fern«, tuschelte Denise mit vergnügtem Augenzwinkern.

Sascha von Schoenecker schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. »Schwindeln kannst du immer noch nicht. Aber das halte ich für durchaus positiv.«

Die Köchin Martha und das Hausmädchen Gusti kamen herbeigelaufen, um den heimgekehrten Sohn des Hauses zu begrüßen. Beide kannten ihn schon seit der Zeit, als er noch ein Lausbub gewesen war und die Umgebung des Gutes unsicher gemacht hatte. Kein Baum war ihm zu hoch. Kein Graben zu breit und kein Pferd zu wild gewesen. Vielleicht kam es daher, daß Martha und Gusti ihn noch immer ohne Einschränkung bewunderten.

»Mager ist er geworden«, stellte die Köchin bedauernd fest. »Auf der Terrasse stehen schon die Schinken­brötchen. Du hast doch sicher Hunger.« Martha strahlte den jungen Mann an.

Dafür erhielt sie von Gusti einen leichten Stoß in die molligen Hüften. »Typisch Köchin. Sie denkt immer nur ans Essen.«

Sascha lachte nur und umarmte die beiden guten Geister des Hauses.

An der Seite seiner hübschen Stiefmama betrat er danach die Halle von Gut Schoeneich und stellte mit einem raschen Blick und tiefer Zufriedenheit fest, daß alles unverändert war. Er liebte das alte Haus mit seiner geschmackvollen Einrichtung und dem Hauch von Tradition.

»Wo sind Nick, Henrik und Vati?« wunderte sich der Student.

»Vati mußte dringend in die Stadt, aber er wird jeden Augenblick zurück sein. Nick und Henrik sind in der Schule. Für sie beginnen die Ferien nicht so früh wie für dich.«

»Stimmt! Komm, setzen wir uns ein wenig auf die Terrasse. Ich bin tatsächlich hungrig.«

»Habe ich’s doch gewußt«, murmelte Martha und zog sich zufrieden in die Küche zurück.

Die bequemen Gartenstühle auf der Terrasse des Gutshauses standen im Schatten. Gusti brachte eisgekühlten Fruchtsaft und goß das Getränk in blitzende Gläser.

»Wie herrlich es hier draußen ist, merkt man erst, wenn man wie ich im obersten Stockwerk eines Stadthauses wohnt und nur auf Dächer und in Hinterhöfe schaut. Diese Ruhe ist wirklich einmalig. In keinem Kurort kann man sich besser erholen.«

Sascha lehnte sich bequem zurück und streckte gemütlich die Beine von sich.

Denise, die ihren Stiefsohn recht gut kannte, betrachtete ihn aufmerksam. Es war ihr klar, daß er etwas auf dem Herzen hatte und nur wartete, bis Gusti, die sich im Moment am Sonnenschirm zu schaffen machte, gegangen war.

»Was macht das Studium?« erkundigte sich Denise.

»Die Zwischenprüfung zum Semesterende war recht einfach. Ich habe sie mit ’ner glatten Eins bestanden«, erzählte der junge Mann.

»Sascha war schon immer so klug«, schwärmte Gusti und beschloß, die Neuigkeit sofort Martha zu erzählen.

Kaum war das Hausmädchen verschwunden, beugte sich Sascha etwas vor. Sein junges, sonnenbraunes Gesicht wirkte bekümmert.

»Ich muß etwas mit dir besprechen, Mutti. Es geht um Ulrike. Sie studiert wie ich in Heidelberg. Allerdings Chemie. Ihre Eltern besitzen ein großes Chemiewerk in Friedrichshafen am Bodensee. Da sie die einzige Tochter ist, soll sie den Laden wohl später übernehmen. Sie ist ein prima Kumpel, die Ulrike. Wirklich Spitze…«

Na, na, dachte Denise. Das klingt wirklich ziemlich schwärmerisch. Er hat sich wohl verliebt, unser guter Sascha?

»Nun hatte sie Pech. Sie hat ein Baby bekommen. Er ist gerade vier Wochen alt, der kleine Benjamin.«

Denise zog fragend die Augenbrauen hoch und verbarg so ihr Erschrecken.

»Ulrikes Eltern haben keine Ahnung davon, da Uli im letzten Semester überhaupt nicht zu Hause war. Sie hatte nicht den Mut, ihnen zu schreiben, oder ihnen am Telefon davon zu erzählen.«

»Warum?« erkundigte sich Denise jetzt vorsichtig. »Hat das Mädchen kein gutes Verhältnis zu seinen Eltern?«

»Doch. Aber die Kaltenbachs sehen in ihrer Tochter ein kleines, unschuldiges Mädchen, das Faltenröcke und Zöpfe trägt. Vermutlich sind sie sehr stolz auf Ulrike, vergessen aber, daß sie inzwischen erwachsen ist. Mein Gott, ich weiß auch nur, was Uli mir erzählt hat. Sie will ihren Eltern nicht weh tun, will ihnen die Enttäuschung ersparen. Aber wie, das weiß sie auch noch nicht.«

Saschas angenehme Stimme klang leidenschaftlich.

Denise von Schoenecker machte sich ihre eigenen Gedanken. »Was ist mit demVater des Babys?« erkundigte sie sich leise.

»Darüber möchte Uli nicht sprechen, und ich meine, die Frage ist auch zweitrangig. Wichtig ist nur, daß sie einen Platz findet, an dem ihr Baby gut versorgt wird, denn sie möchte ja das Studium beenden. Ich habe versprochen, mich dafür einzusetzen und mit dir zu reden, Mutti. Könntest du das Kind vielleicht in Sophienlust aufnehmen?«

Denise nickte.

»Selbstverständlich. Schwester Regine ist ausgebildete Säuglingspflegerin. Sie wird den kleinen Benjamin bestens versorgen.«

»Aber Uli kann vorerst nicht viel bezahlen. Von dem Geld, das ihr die Eltern monatlich überweisen, kann sie nur wenig abzweigen.« Bekümmert sah Sascha auf seine jugendliche Stiefmama.

»Das spielt keine Rolle. Du weißt ja, wir haben einen Fonds, aus dem wir Mittel für solche Fälle entnehmen können.«

»Dann darf ich Uli also sagen, daß sie ihren Kleinen bringen kann?« Sascha freute sich ehrlich. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Denise stürmisch umarmt.

»Ja.« Hinter Denises Stirn wirbelten die Gedanken bunt durcheinander. Steckte hinter Saschas Interesse nicht mehr als nur der Wille, einer Kommilitonin zu helfen?

»Dann fahre ich gleich morgen nach Heidelberg zurück, um Uli und das Baby zu holen.« Ungeduldig rutschte Sascha auf seinem Sitz hin und her. »Uli wird überglücklich sein. Sie hat sich nämlich große Sorgen darüber gemacht, wo sie Benjamin lassen soll, wenn das neue Semester beginnt. Sie ist ein sehr nettes Mädchen, Mutti. Bestimmt wird sie dir gefallen. Und der kleine Benjamin ist ein ganz süßer Bengel. Wir sind alle Paten, Mutti. Oh, und noch etwas. Die Kaltenbachs in Friedrichshafen dürfen natürlich von allem nichts erfahren. Wenigstens vorerst nicht. Das verstehst du doch?« In Saschas dunklen Augen war eine flehende Bitte.

»Du kannst ganz beruhigt sein, Sascha. Ich werde nichts verraten.« Denise fühlte sich nicht ganz wohl bei dieser Zusage. Sie konnte sich nur zu gut in die Lage von Ulrikes Eltern versetzen.

»Ich habe ja gewußt, daß ich auf dich zählen kann«, freute sich der Student. »Wie geht es übrigens drüben in Sophienlust?«

»Es ist alles bestens«, erzählte Denise und war nicht ganz bei der Sache. »Die Kinder freuen sich auf die Ferien. Aus Rimstein bekommen wir ein Zwillingspärchen, dessen Eltern eine Weltreise unternehmen werden. Die Kinder sind in Heidis Alter, was unsere Jüngste natürlich besonders freut.«

»Weißt du, Mutti, ich bin schon sehr gespannt darauf, alle wiederzusehen.« Erst jetzt biß Sascha herzhaft in ein Schinkenbrötchen.

*

»Heute bin ich unheimlich glücklich«, erklärte Alexander, als er am Abend im Schlafzimmer am Fenster stand und in die laue Sommernacht hinaushorchte. Es war spät, aber er war trotzdem kein bißchen müde.

Denise trug den leichten Hausmantel, der ihre schlanke Figur vollendet zur Geltung brachte. Sie saß vor dem kleinen Frisiertisch, über dem ein Barockspiegel hing, und bürstete ihre dunklen Locken. Weich, anmutig, fast mädchenhaft wirkte ihr Profil im warmen Licht der Wandlampen.

»Endlich war die Familie wieder einmal vollständig beisammen. Sascha, Andrea mit ihrem Mann, Nick und unser Nesthäkchen Henrik. Es war ein wunderschöner Abend. Findest du nicht, Denise? Sascha und Andreas Mann verstehen sich neuerdings ausgezeichnet. Ich bin froh, daß Sascha die anfängliche Eifersucht Hans-Joachim gegenüber überwunden hat. Er hat seine hübsche Schwester eben keinem anderen gegönnt. Und ich muß sagen, ich kann das verstehen. Es erging mir fast ebenso.« Alexander fuhr sich nachdenklich über das wohlrasierte Kinn. Stark und männlich wirkte er in seinem leichten Sporthemd und den hellen Hosen.

»Welcher Vater verliert schon gern eine hübsche Tochter? Aber vielleicht bekommst du schon bald eine nette Schwiegertochter?« antwortete Denise gelassen.

»Das kann noch Jahre dauern.« Alexander schaute in den stillen Park hinab, der Gut Schoeneich umgab. Hinter den mächtigen alten Bäumen schimmerte die glänzende Sichel des Mondes. Es war ein wunderschönes, friedliches Bild. »Zuerst muß Sascha sein Studium beenden und sich einen eigenen Wirkungskreis aufbauen.«

»Sascha ist erwachsen. Es könnte doch auch sein, daß er sich schon früher verliebt.«

Alexander drehte sich um, schaute zu seiner Frau hinüber.

»Du machst so geheimnisvolle Andeutungen. Sag mal, weißt du etwas? Hat Sascha dir ein kleines Geheimnis anvertraut?« Aufmerksam sah Alexander in den Spiegel, versuchte in Denises reizvolles Gesicht zu lesen.

Schon den ganzen Tag über hatte Denise auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihrem Mann über das reden zu können, was Sascha ihr am Vormittag anvertraut hatte. Der Junge wußte genau, daß sie alles mit Alexander besprach. Also war das kein Vertrauensbruch. Außerdem würden sowieso alle davon erfahren, sobald die Studentin Ulrike den kleinen Benjamin nach Sophienlust brachte.

»Sascha hat mich gebeten, das Baby einer Kommilitonin in Sophienlust aufzunehmen«, berichtete Denise.

»Und?«

»Sascha sprach sehr viel und sehr begeistert von dem Mädchen. Den Vater des Kindes erwähnte er allerdings nicht. Als ich ihn danach fragte, lenkte er rasch ab. Ich kann mich täuschen, Alexander, aber…«

»Du glaubst, daß dieses Baby Saschas Kind ist?« unterbrach er seine Frau erschrocken.

»Ich bin nicht sicher, aber es gab einige Hinweise, die gewisse Vermutungen rechtfertigen. Sascha scheint in dieses Mädchen verliebt zu sein. Er findet das Baby süß und erzählte, daß er Ulrike Kaltenbach während der Schwangerschaft umsorgt habe, daß er sie sogar zur Entbindung in die Klinik gefahren habe.« Denises Blick, der im Spiegel dem von Alexander begegnete, war unsicher.

»Das ist allerdings merkwürdig.« Alexander von Schoenecker biß sich auf die Lippen. Er hatte Sascha immer für einen verantwortungsbewußten jungen Mann gehalten. Die Sache mit dem Baby paßte eigentlich gar nicht zu ihm. »Und weshalb hat der Junge uns bisher von allem gar nichts gesagt?«

Denise zuckte leicht die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber ich habe den Eindruck, daß zwischen dieser Ulrike und Sascha nicht alles stimmt. Vielleicht mag sie ihn gar nicht.«

»Ich bitte dich, Denise! Sascha ist ein hübscher, intelligenter junger Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es ein Mädchen gibt, das ihn ablehnt.« Aus Alexanders Worten sprach gekränkter Vaterstolz.

»Ulrike Kaltenbach ist das einzige Kind sehr vermögender Eltern«, gab Denise zu bedenken.

»Kaltenbach? Sind das vielleicht die Kaltenbach-Chemiewerke am Bodensee?«

Denise nickte. Fester umfaßte ihre Rechte den Griff der Haarbürste.

»Dann hätte sich unser Ältester allerdings eine Prinzessin geangelt. Diese Leute sind tatsächlich sagenhaft reich. Ich weiß das, weil ich regelmäßig Schädlingsbekämpfungsmittel der Kaltenbach-Werke beziehe. An den Eigentümer selbst ist überhaupt nicht heranzukommen. Er macht seine besten Geschäfte mit der Dritten Welt. Und seine Tochter soll ein uneheliches Kind…? Na, was sagt denn Kaltenbach dazu?« Alexander schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ulrikes Eltern wissen nichts von dem Baby. Das Mädchen war im letzten halben Jahr nicht zu Hause, und die Eltern sind zu sehr beschäftigt, um die Tochter in Heidelberg zu besuchen.«

Alexander von Schoenecker pfiff leise durch die Zähne. »Peinliche Geschichte. Und ausgerechnet unser Sascha soll der Missetäter sein? Also, weißt du, dem Jungen werde ich gleich morgen ordentlich den Kopf waschen.« Alexander war ärgerlich.

»Bitte nicht. Du weißt doch, wie empfindlich junge Menschen sind, wenn es um die Liebe geht.« Besorgt sah Denise zu ihrem Mann empor.

»Hör mal, Sascha bringt sich und uns in eine unmögliche Situation.«

»Aber, Alexander«, mahnte Denise leise.

»Außerdem hätte ich von Sascha erwartet, daß er für sein Tun einsteht«, brummte der Gutsbesitzer empört. »Es wäre seine Pflicht gewesen, alles in Ordnung zu bringen. Das heißt: Die Eltern zu informieren und das Mädchen zu heiraten, damit das Kind in einer Ehe geboren wird.«

Alexander hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Er war von seinem Ältesten schwer enttäuscht.

»Ich bin fest überzeugt, daß Sascha bemüht ist, alles in Ordnung zu bringen. Aber wahrscheinlich ist die Beziehung der beiden jungen Leute nicht ganz ohne Probleme.«

»Probleme«, wiederholte Alexander abfällig, »die sie selbst geschaffen haben.« Alexander griff sich an den Kopf.

»Seit wann urteilst du so hart?« erkundigte sich Denise mit sanft klingender Stimme. Sie wollte ihren Mann auf keinen Fall noch mehr verärgern. »Du bist doch sonst immer derjenige, der sich sehr für ledige Mütter einsetzt und sie verteidigt.« Denise hatte sich umgewandt und lächelte Alexander an.

»Ja, ja. Aber wenn mein Sohn die Tochter eines angesehenen Geschäftsmannes in Schwierigkeiten bringt, dann hört doch der Spaß auf. Dann muß doch ein Machtwort gesprochen werden.«

»Nein, Alexander. Wir dürfen uns da nicht einmischen. Sascha ist volljährig. Er soll selbst über seine Zukunft bestimmen. Wir können ihm nicht vorschreiben, was er zu tun hat.«

»Sollte man nicht annehmen, daß er sich längst entschieden hat?« Zwei steile Falten teilten Alexanders hohe Stirn. Seine kräftigen dunklen Augenbrauen standen dicht beisammen, wie immer, wenn er wütend war.

Denise legte die Bürste weg, stand auf und schlang liebevoll die Arme um den Hals ihres Mannes. »Wir wissen ja nichts Genaues. Wir vermuten ja nur. Und deshalb dürfen wir keinen verurteilen.«

»Du hast für alle Entschuldigungen.« Dankbar sah Alexander seine Frau an. »Trotzdem hätte ich gern Klarheit. Ich werde Sascha morgen fragen.«

»Du würdest ihn nicht nur in Verlegenheit bringen, sondern richtig bockig machen. Tu es nicht, Alexander. Sascha hat Vertrauen zu uns. Er wird von selbst kommen.«

»Du hast natürlich recht wie immer.« Alexander küßte seine Frau behutsam auf die Stirn.

»Es wird bestimmt alles gut. Wir müssen Sascha nur vertrauen.«

»Ich weiß, du kannst es. Ich bewundere dich, Denise. Du verstehst es, immer die guten Seiten der Menschen zu sehen, und – was noch viel erstaunlicher ist – du wirst nie enttäuscht.« Voll Zärtlichkeit zog Alexander seine Frau enger an sich.

Denise schmiegte sich trostsuchend in die Arme ihres Mannes, legte den Kopf an seine Schultern. »Hoffentlich habe ich dich nicht zu sehr beunruhigt, Liebster. Ich wollte mit dir über diese Sache reden, weil sie mir den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf ging.«

»Ich bin froh, daß du es getan hast«, antwortete Alexander lächelnd. »Einmal macht es mich glücklich, wenn es keine Geheimnisse zwischen uns gibt, zum anderen ist doch alles viel leichter, wenn man miteinander spricht.« Tief sah Alexander seiner Denise in die Augen. »Weißt du, daß ich mich täglich neu in dich verliebe?« fragte er leise. »Mal in deine hübsche Stimme, mal in dein Lächeln, mal in eine reizvolle Bewegung.«

»Und heute?« erkundigte sich Denise erwartungsvoll.

»Heute sind es deine wunderschönen, dunklen Augen, die mich faszinieren und die mein Herz rascher schlagen lassen. Ich sehe so vieles in deinen Augen. Liebe, Hingabe, Zärtlichkeit, aber auch Mut und Treue.« Alexander zeichnete mit einem Finger die schmalen Bögen von Denises Augenbrauen nach.«

»Das stimmt alles«, antwortete die hübsche Frau leise. »Ich liebe dich, Alexander, und ich vertraue dir in allen Dingen. Denn ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen. Das gibt mir Sicherheit, Zuversicht und Mut. Gemeinsam haben wir schon sehr viele Probleme gemeistert und werden es auch in Zukunft können.«

»Wir sind schon so viele Jahre verheiratet, und doch entdecke ich immer wieder Neues an dir. Wie machst du das nur? Kannst du zaubern?«

»Nein. Vielleicht möchte ich dir nur gefallen. Dir ganz allein.« Denise lächelte.

»Damit bist du allerdings außerordentlich erfolgreich. Du gefällst mir, Denise. Du gefällst mir heute noch genauso gut wie an dem Tag, an dem ich mich in dich verliebt habe. Nein, eigentlich finde ich dich jetzt noch viel hübscher. Du bist eine der wenigen Frauen, die mit zunehmendem Alter an Schönheit gewinnen. Deshalb bin ich ja auch so unendlich stolz auf dich.«

Alexander faßte zart und behutsam unter Denises Kinn, hob ihren Kopf etwas an, beugte sich tiefer und küßte innig den lockenden roten Mund. Immer und immer tat er es und fühlte, wie Denise die Zärtlichkeit erwiderte.

Es war eine Harmonie, deren Vollkommenheit sich mit Worten nicht ausdrücken ließ. Man konnte sie nur empfinden. Empfinden mit ganzem Herzen, ganzer Seele, mit allen Gedanken, allen Gefühlen.

*

Schreiend klammerten sich die Zwillinge Inge und Ingo an ihre Eltern.

»Nimm uns mit«, beschwor das blonde Mädchen mit dem wippenden Pferdeschwanz seinen Vati. Vor lauter Aufregung war Inges hübsches Gesichtchen hochrot. Tränen rannen aus ihren blauen Kinderaugen.

»Laß uns nicht hier!« jammerte Ingo und preßte sich mit aller Kraft an den zierlichen Körper seiner Mutti.

Frau Rennert, die Heimleiterin von Sophienlust, stand diesen Gefühlsausbrüchen etwas hilflos gegenüber. Sie hatte es bereits mit jener Diplomatie versucht, die bei Kindern dieses Alters sonst eigentlich nie versagte. Sie hatte Inge und Ingo das Spielzimmer des Kinderheims mit der großen Eisenbahn gezeigt, den Bastelraum, die Spielwiese mit den Sandkästen, den Schaukeln und Rutschen. Doch die Zwillinge hatten für nichts Interesse gezeigt. Nicht einmal der lustige Papagei Habakuk und die vielen Ponys oder die Hunde hatten den Zwillingen imponiert. Inge und Ingo hatten auf nichts reagiert, verbohrten sich immer mehr in den Trennungsschmerz.

Das junge Ehepaar Volk war von der Reaktion der Kinder ebenso überrascht wie die Heimleiterin.