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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Bevor Heiner Thiele das Büro der Lokalredaktion des »Maibacher Tagblatts« betrat, sah er gewöhnlich in den Spiegel, der im Flur hing. Er tat es, weil er wusste, dass der Chefredakteur Adrian Dürr Wert auf Mitarbeiter mit gepflegtem Äußeren legte. Und fester Mitarbeiter dieser kleinen Zeitung wollte Heiner werden. Bis jetzt war Heiner nur in freier Mitarbeit für die Lokalzeitung tätig, wurde eingesetzt, wenn die übrigen Redakteure überlastet waren. Zum Jahresende schied nun einer der Journalisten aus, und Heiner hoffte, seinen Platz zu bekommen. Das schon etwas blinde Spiegelglas gab ein schmales sonnenbraunes Gesicht eines jungen Mannes mit graublauen Augen wider. Seufzend versuchte der Mann, die widerspenstigen Locken mit einem kleinen Taschenkamm zu bändigen. Er musste dabei in die Knie gehen, denn der Spiegel war für einen Mann seiner Größe viel zu niedrig angebracht. Der Chefredakteur sah nur kurz auf, als Heiner sein Büro betrat. »Ach, Sie sind's«, stellte Dürr missvergnügt fest. »Haben Sie was für mich?«, erkundigte sich Heiner mit höflichem Lächeln. Die Unterwürfigkeit fiel ihm schwer, denn er war ein Mensch, der davon träumte, frei und unabhängig zu sein. »Hm, Moment mal.« Adrian Dürr durchwühlte den Papierkram auf seinem Schreibtisch. Da gab es eine Menge eng beschriebener Blätter, Fotos von hübschen Mädchen, von Unfällen, vom Oberbürgermeister und den Stadträten. »Da ist eine Telefonnotiz.« Er reichte Heiner einen Zettel.
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Seitenzahl: 156
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Bevor Heiner Thiele das Büro der Lokalredaktion des »Maibacher Tagblatts« betrat, sah er gewöhnlich in den Spiegel, der im Flur hing. Er tat es, weil er wusste, dass der Chefredakteur Adrian Dürr Wert auf Mitarbeiter mit gepflegtem Äußeren legte. Und fester Mitarbeiter dieser kleinen Zeitung wollte Heiner werden.
Bis jetzt war Heiner nur in freier Mitarbeit für die Lokalzeitung tätig, wurde eingesetzt, wenn die übrigen Redakteure überlastet waren. Zum Jahresende schied nun einer der Journalisten aus, und Heiner hoffte, seinen Platz zu bekommen.
Das schon etwas blinde Spiegelglas gab ein schmales sonnenbraunes Gesicht eines jungen Mannes mit graublauen Augen wider. Seufzend versuchte der Mann, die widerspenstigen Locken mit einem kleinen Taschenkamm zu bändigen. Er musste dabei in die Knie gehen, denn der Spiegel war für einen Mann seiner Größe viel zu niedrig angebracht.
Der Chefredakteur sah nur kurz auf, als Heiner sein Büro betrat.
»Ach, Sie sind’s«, stellte Dürr missvergnügt fest.
»Haben Sie was für mich?«, erkundigte sich Heiner mit höflichem Lächeln. Die Unterwürfigkeit fiel ihm schwer, denn er war ein Mensch, der davon träumte, frei und unabhängig zu sein.
»Hm, Moment mal.« Adrian Dürr durchwühlte den Papierkram auf seinem Schreibtisch. Da gab es eine Menge eng beschriebener Blätter, Fotos von hübschen Mädchen, von Unfällen, vom Oberbürgermeister und den Stadträten. »Da ist eine Telefonnotiz.« Er reichte Heiner einen Zettel. »Machen Sie eine hübsche Aufnahme von dem Baby und schreiben Sie einen kurzen Bericht.«
Ein bisschen verständnislos sah Heiner auf das Stück Papier, auf dem nur zwei Worte standen: ›Findelkind – Bernharduskirche‹.
»Ein Findelkind?«, fragte er ungläubig. »Hier, in dieser Kleinstadt, in der einer den anderen kennt? Das ist doch nicht drin.«
»Wie wollen Sie das beurteilen? Sie sind ja erst seit ein paar Wochen hier.« Über den oberen Rand seiner Brille hinweg musterte Dürr den jungen Journalisten. Gut sah er aus, das musste der Neid ihm lassen.
»Man hat also vor der Kirche einen Säugling gefunden, womöglich auf den Stufen vor dem Portal. Ganz wie in einem schlechten Film.«
»Ja, zum Donnerwetter«, brummte Adrian Dürr ungeduldig. »Ich weiß auch nicht mehr, und deshalb schicke ich Sie hin. Und bitte analysieren Sie nicht die Hintergründe, sondern bringen Sie mir einen sachlichen Bericht. Wir sind eine Tageszeitung, kein Regenbogenblatt.«
»Darf ich fragen, wann das war und wo das Baby jetzt ist?«, fragte Heiner in ironischem Ton.
»Kann ich Ihnen auch nicht sagen. Vielleicht wenden Sie sich diesbezüglich an den Pfarrer oder ans Jugendamt.« Dürr strich sich über die nur noch spärlich vorhandenen Haare und überlegte, dass er früher eine ähnlich volle Haarpracht wie dieser junge Journalist gehabt hatte. »Sie müssen versuchen, möglichst viel in Erfahrung zu bringen«, meinte er.
Heiner wagte es, versöhnlich zu grinsen und vertraulich zu fragen: »Haben Sie denn nichts anderes für mich? Babys zu fotografieren liegt mir nicht besonders. Das ist doch eher etwas für die Kolleginnen.«
Dürr lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich richtig informiert bin«, meinte er hochmütig, »bewerben Sie sich um einen Posten in unserer Regionalredaktion. Und ich darf doch annehmen, dass Ihnen klar ist, dass Sie dort über alles zu berichten haben, was sich in Maibach und Umgebung abspielt. Alles habe ich gesagt, nicht nur Sport und Stadtratsitzungen. Also gehen Sie schon. Den Bericht und das Foto brauche ich bis spätestens vierzehn Uhr.«
*
Dagmar Horn schüttelte die langen blonden Locken zurück und legte die Stirn in viele Falten. »Ich begreife nicht, wie man sein eigenes Baby so schmählich im Stich lassen kann. Jedes Tier besitzt doch den Instinkt, seinen Nachwuchs vor Gefahren zu schützen und ihm die beste Pflege zu geben. Wie kann da ein Mensch, der denkt und fühlt, so hart, so egoistisch handeln? Selbst wenn eine Frau ein Kind anfänglich ablehnt, so vergisst sie doch normalerweise alle feindseligen Gedanken spätestens nach der Geburt. Wenn sie sieht, wie hilfsbedürftig, wie zart und verletzlich so ein kleines Wesen ist, erwacht unweigerlich die Mutterliebe in ihr.« Dagmar bekam vor Eifer rote Wangen, und ihre blauen Augen blitzten voll Empörung. Dagmar war klein, zierlich und wirkte mit ihren vierundzwanzig Jahren wie ein süßer blonder Engel. Doch der Eindruck täuschte. Sie war eine sehr intelligente, energische und ehrgeizige junge Dame, die sich zum Ziel gesetzt hatte, einmal Chefredakteurin einer großen Frauenzeitschrift zu werden. Im Moment allerdings bemühte sie sich, ebenso wie Heiner, um die Stelle als Redakteur beim Maibacher Tagblatt. Obwohl sie in dieser Hinsicht Konkurrenten waren, verstanden sich Heiner und Dagmar ausgezeichnet. Dazu trug viel Dagmars Bereitschaft bei, dem bequemen Heiner ab und zu die eine oder andere Arbeit abzunehmen.
Jetzt beobachtete er seine kleine Freundin mit leicht schief gelegtem Kopf und einem amüsierten Lächeln. »Es steht dir zwar fabelhaft, wenn du dich so ereiferst, aber im Prinzip geht es überhaupt nicht darum, mein Schatz. Es sind lediglich ein Foto von dem Baby zu machen und ein paar Zeilen zu schreiben.« Heiner zuckte mit einem halb schuldbewussten, halb hilflosen Gesichtsausdruck die Achseln. Er kannte die Mädchen und wusste, dass dies immer ankam.
Doch Dagmar beachtete die sonst so wirkungsvolle Geste nicht. »Dir geht es nicht darum, ich weiß. Aber mir schon. Für mich ist es ein Skandal, wenn sich eine Frau dazu entschließt, ihr Baby vor die Kirchentür zu legen und einfach zu verschwinden. Was wäre wohl passiert, wenn man es nicht rechtzeitig gefunden hätte, wenn vielleicht ein streunender Hund vorbeigekommen wäre oder wenn es über Nacht Frost gegeben hätte.«
»Hat es aber nicht, Schätzchen.« Heiner nahm seine Freundin in den Arm und streichelte ihre erhitzten Wangen. »Komm, sei lieb. Tu mir den Gefallen und mach ein hübsches Bild von dem Kind und notiere dir die Fakten. Du weißt doch, mir liegt das nicht. Ich baue bestimmt Mist.« Heiner versuchte, Dagmars rosa geschminkte Lippen zu küssen.
Doch sie wich aus, lehnte sich weit zurück. »Tut mir leid, heute geht das nicht, es sei denn, du vertrittst mich beim Hausfrauenbund. Die Damen haben 40-Jahr-Feier mit allerlei Aktivitäten. Vielleicht liegt es dir mehr, die Gründungsmitglieder des Vereines zu interviewen, lauter Damen über sechzig.« Dagmar lachte.
»Puh, das ist ja noch schlimmer. Da muss man den selbst gebackenen Kuchen loben und Schonkaffee trinken. Nee, du, das schaff ich nicht. Dauert denn das den ganzen Vormittag? Ich brauche den Bericht und das Foto bis vierzehn Uhr.« Heiner schaute enttäuscht und ratlos drein.
»Es dauert sogar den ganzen Tag«, erklärte Dagmar unbeeindruckt. »Empfang bei der Stadtverwaltung, Ehrungen, Ansprachen … Du kennst das ja.«
»Dann hast du am Nachmittag überhaupt keine Zeit für mich? Ich wollte dich ins Kino einladen, danach dir meine neuen Platten vorspielen. Mann, Dagmar, musst du denn alle Kuchen probieren? Ist doch viel zu schade um deine Figur.« Heiner zog die schlanke Dagmar enger an sich und sah ihr tief in die Augen.
Die junge Dame zog einen Schmollmund, was ihr ausgezeichnet stand. »Du weißt doch, dass Dürr nur darauf wartet, mich rauswerfen zu können. Seit er bei mir abgeblitzt ist, liest er jeden meiner Artikel zweimal durch. Aber ich gebe nicht auf. Ich brauche die Anstellung, wenn sie für mich auch nur ein Sprungbrett ist. Dieses Appartement ist verdammt teuer, und ich weiß nicht, wie ich es bezahlen soll.«
»Wenn wir zusammenziehen und uns die Miete teilen, ist es völlig gleichgültig, wen von uns beiden Dürr einstellt«, schlug Heiner vor. Er sah in dieser Lösung für sich mehrere Vorteile, denn er drückte sich nicht nur gerne vor beruflichen Verpflichtungen, sondern auch vor der Hausarbeit.
»Und was sollen meine Eltern und erst die Nachbarn denken?« Dagmar schüttelte leicht den Kopf. »Ich hab dich unheimlich gern, Heiner. Aber ich bin zu konservativ, um mich über Vorurteile hinwegzusetzen. Anders wäre es, wenn du dich entschließen könntest …« Dagmar lächelte verträumt. Sie war klug genug, um zu wissen, dass Heiner kein Typ zum Heiraten war. Er sah viel zu gut aus, um treu zu sein. Das Mädchen, das mit ihm befreundet war, machte er glücklich, glücklich wie kein anderer. Aber es war ein Glück auf Zeit, das wusste Dagmar.
Heiner bezeichnete sich selbst oft als ›cool‹. Aber er war es nicht. Er war äußerst empfindsam und stets darauf bedacht, niemandem wehzutun. Freunde fragten ihn immer wieder, wie er es fertigbrachte, seine zahlreichen Verbindungen zu lösen, ohne dass ihm die Mädchen böse waren. Er konnte ihnen keine Antwort geben, es klappte eben. Auch jetzt wurde ihm abwechselnd kalt und heiß, denn er ahnte, was Dagmar von ihm erwartete. Dabei liebte er nichts so sehr wie seine Freiheit, und die wollte er nicht opfern. Auch nicht für Dagmar.
»Du denkst an eine Heirat, nicht wahr?«, stellte er mit leiser, schmeichelnder Stimme fest. »So sehr ich dich liebe, Dagmar, ich glaube, es wäre nicht vernünftig, wenigstens nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Keiner von uns hat einen festen Job, und wir wissen noch nicht einmal, ob wir hierbleiben können. Du weißt ja, in unserem Beruf muss man flexibel sein. Wenn ich heirate, will ich meiner Frau etwas bieten können.«
Dagmar nickte. »Schon gut, Heiner. Ich hab verstanden. Am besten wird es sein, wir reden nicht mehr darüber, denn eigentlich denke ich genau wie du.«
»Bitte, nicht traurig sein, Kleines. Bei uns ist es auch ohne Trauschein schön, nicht wahr?« Voll Zärtlichkeit küsste Heiner die blonde Frau.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. »Ja, Heiner«, raunte sie und fühlte sich tatsächlich nicht verletzt. Wahrscheinlich ist es besser so, sagte sie sich.
Es folgte ein langer, inniger Kuss, der die Bestätigung dieser Gedanken zu sein schien.
»Wo ist eigentlich dieses Baby jetzt?«, erkundigte sich Dagmar, während sie die Glaskanne von der Kaffeemaschine nahm und zwei Tassen mit dem aromatisch duftenden Getränk füllte.
»Das Findelkind?« Heiner stieß geräuschvoll die Atemluft aus, wie er es immer tat, wenn er an etwas Unerfreuliches erinnert wurde. »In einem privaten Kinderheim. Sophienlust heißt es. Du, mir graut es, dorthin zu gehen. Die Heimleiterin ist sicher so eine würdige hochgeschlossene Dame mit strenger Frisur und Brille. Wahrscheinlich verdächtigt sie mich sofort, der Vater des armen Kindes zu sein. Am liebsten würde ich den Termin einfach absagen. Soll Dürr doch selbst hinfahren.« Heiner hob die Tasse hoch und sog genussvoll den Kaffeeduft ein.
»Hinsichtlich Sophienlust täuschst du dich gewaltig«, widersprach Dagmar, die in Maibach aufgewachsen war und sich deshalb besser auskannte. »Es ist kein Kinderheim im üblichen Sinn, sondern vielmehr eine zweite Heimat für Kinder ohne Eltern oder Kinder in Not. Sie fühlen sich dort wie zu Hause, wie in einer großen Familie. Und die Verwalterin ist keineswegs eine ältere Dame, sondern eine verständnisvolle Mutter, die sehr aktiv und sympathisch ist und außerdem verblüffend gut aussieht. Das Findelkind hat Glück gehabt, gerade in Sophienlust aufgenommen worden zu sein.«
Heiner trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken. »Du schwärmst ja geradezu davon. Muss ja eine tolle Institution sein«, meinte er spöttisch.
»Ist es auch«, bestätigte Dagmar. »Ein ehemaliges Gutshaus, das eigentlich wie ein Schloss aussieht, und das man sehr geschickt umfunktioniert hat, ohne daraus ein Heim nach gängigem Muster zu machen. Denise von Schoeneckers Sohn aus erster Ehe hat den Besitz von seiner Urgroßmama geerbt, und seine Mutter hat nach den Vorstellungen der alten Dame das Kinderheim gegründet und verwaltet es bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes.«
Heiner setzte die leere Tasse ab. »Danke für deine Information. Ich muss jetzt gehen. Und denk daran, beim Hausfrauenbund nicht zu viel Kuchen essen. Pack lieber ein Stück für mich ein.« Heiner beugte sich zu Dagmar hinüber, die neben ihm an der Küchenbar Platz genommen hatte. Er küsste sie auf die Schläfe und strich ihr die blonden Locken hinters Ohr zurück.
*
Denise von Schoenecker liebte Kinder. Aus dieser echten Zuneigung heraus fand sie für jeden kleinen Jungen und jedes Mädchen die richtigen Worte, gelang es ihr immer, das Vertrauen der Kleinen zu gewinnen. Durch ihr liebevolles Wesen eroberte sie die Herzen vieler Kinder im Sturm, wurde sie von ihren Schützlingen, die in Sophienlust eine zweite Heimat gefunden hatten, heiß und innig geliebt.
Die Beamtin vom Jugendamt hatte Denise von Schoenecker bereits darüber informiert, dass Marco Clausnitzer, der heute für einige Zeit nach Sophienlust kommen sollte, ein schwieriges Kind war. Aus diesem Grund hatte Denise Besorgungen, die sie eigentlich erledigen wollte, verschoben und war in Sophienlust geblieben, um sich sogleich mit dem Neuankömmling befassen zu können.
Da es an diesem Oktobermorgen kalt und regnerisch war, hielten sich die jüngeren Kinder, die noch nicht zur Schule gingen, mit Schwester Regine im Spielzimmer auf. In der Halle hörte man ihr fröhliches Singen und Schwatzen. Denise ging rasch durch den großen Raum mit dem offenen Kamin und trat aus dem Haus. Unwillkürlich presste sie die Arme an den schlanken Körper, denn es war unangenehm kühl.
Auf dem Parkplatz, nur wenige Schritte vom Portal entfernt, bemühte sich die Fürsorgerin, einen kleinen Jungen zum Verlassen des Autos zu überreden … Vergeblich.
»Hallo, Marco«, begrüßte Denise den Neuankömmling freundlich. »Wie ich sehe, kommst du nicht allein. Du hast deinen kleinen Freund mitgebracht.« Denise lächelte so sanft und charmant wie nur sie es konnte.
Doch das Kind im Fond verzog nicht einmal das Gesicht, sondern starrte die Frauen finster und feindselig an. Obwohl es im Auto natürlich nicht regnete, hatte es sich die Kapuze über den Kopf gestülpt und ein kleines Häschen in seinen Kleidern halb versteckt. Trotzig übersah Marco die ihm zur Begrüßung entgegengestreckte Hand.
»Wie heißt denn dein Häschen?«, fragte Denise und beugte sich in den Wagen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich Kinder auf diese Weise schnell ablenken ließen.
Doch Marco presste nur trotzig die Lippen zusammen und schaute böse unter dicht zusammengezogenen Brauen hervor.
»Bitte, steig jetzt aus, damit wir ins Haus gehen können. Du kannst von uns nicht erwarten, dass wir hier noch länger im Regen stehen«, mischte sich die Beamtin ein.
Der Junge, knapp zehn Jahre alt, rührte sich nicht. Nur seine dunklen Augen funkelten drohend.
»Du willst den anderen Kindern doch sicher dein Häschen zeigen«, lockte Denise.
Warm und weich klang ihre Stimme, und ihr Lächeln war verständnisvoll und verzeihend.
»Nein«, zischte Marco und drückte seinen kleinen Freund noch enger an sich.
»Was soll der Trotz. Du kannst froh sein, dass du hierbleiben darfst, solange deine Mutter zur Kur ist.« Die Fürsorgerin betonte das Wörtchen Kur ganz besonders und sah Denise dabei an, als wollte sie sie um Verständnis bitten. Gleichzeitig fasste sie nach Marcos Handgelenk und versuchte, das Kind aus dem Wagen zu ziehen.
Im Augenblick der Berührung begann Marco zornig zu schreien wie ein Kleinkind.
Denise erkannte, dass es Angst und Hilflosigkeit waren, die das Verhalten des Jungen bestimmten. Da jetzt jedes Wort, das man an Marco richtete, im Geschrei unterging, wollte es Denise mit zärtlicher Fürsorge versuchen. Sie stieg in das Auto, um sich neben das Kind zu setzen, den Arm um die kleine Gestalt zu legen, und sie zu trösten. Doch schon bei der ersten Berührung begann Marco noch lauter zu brüllen. Er steigerte sich derart in sein Weinen, dass sich Denise schleunigst wieder zurückzog.
Ein zweites Fahrzeug hielt jetzt auf dem Parkplatz. Es war ein wenig altersschwach, aber dennoch gepflegt. Der junge Mann, der ausstieg, griff nach seiner Fototasche und sah sich dann suchend um. Er schien sich nicht darüber im Klaren zu sein, welche der beiden Damen er ansprechen sollte.
»Sie kommen sicher von der Zeitung«, half ihm Denise aus der Verlegenheit.
»Ja. Ich soll …, soll das Findelkind fotografieren.« Heiner war tatsächlich verlegen. Zwar hatte ihm Dagmar gesagt, dass diese Frau von Schoenecker eine äußerst attraktive Person war, trotzdem war er jetzt überrascht. Die jugendliche Frau mit dem glänzenden schwarzen Haar, den ausdrucksvollen Augen und der tadellosen Figur hätte man für eine Schauspielerin halten können. Frauen wie sie hatten Heiner schon immer beeindruckt.
»Kommen Sie, ich gehe mit Ihnen ins Säuglingszimmer.« Denise nickte dem Journalisten zu. »Marco kann sich inzwischen schon ein bisschen umschauen und kommt dann sicher gerne nach«, meinte sie zu der Dame vom Jugendamt gewandt.
Das Baby war ein Neugeborenes wie viele andere, mit einem faustgroßen Köpfchen, einem zerknitterten Gesichtchen, einem platt gedrückten Näschen und einem dürftigen Flaum dunkler Haare über der runzligen Stirn.
Heiner fand es hässlich, bemühte sich aber, den Säugling so vorteilhaft wie möglich zu fotografieren.
»Was weiß man über das Baby?«, erkundigte er sich bei Denise von Schoenecker, die das Kind bereitwillig so ins Tageslicht hielt, dass man auf das Blitzgerät verzichten konnte.
»Leider nicht viel.« Denise zuckte die Achseln. »Man fand nur einen Zettel mit dem Namen Bianca bei dem Baby.«
»Ein Mädchen also. Und die Mutter hat sich noch nicht gemeldet?«
»Bis jetzt wissen wir nichts von ihr, nur, dass sie nicht in einer Klinik entbunden hat. Das Kind war nicht fachmännisch abgenabelt. Sonst aber ist es völlig gesund. Unsere Hausärztin hat die Kleine gründlich untersucht.« Mitleidig sah Denise auf den winzigen Säugling in ihrem Arm.
»Was geschieht mit dem Baby?«, erkundigte sich Heiner ohne echtes Interesse am Schicksal der Kleinen. Dagegen fand er es außerordentlich interessant, sich mit Denise von Schoenecker zu unterhalten. Er war sicher, noch nie eine so charmante Frau getroffen zu haben.
»Wir behalten es, bis sich Angehörige melden.«
»Und wenn sich niemand meldet?«, forschte Heiner weiter.
»Dann bleibt Bianca bei uns. Unsere Kinder freuen sich über sie. Wir müssen bestimmt höllisch aufpassen, dass sie nicht zu sehr verwöhnt wird.«
»Wer kommt dann für die Unkosten auf?«, erkundigte sich der junge Mann skeptisch.
»Wir haben für solche Fälle einen Fond und kennen deshalb glücklicherweise keine finanziellen Sorgen.« Behutsam wie eine besorgte Mutter legte Denise den Säugling ins Bettchen zurück. »Trotzdem hoffen wir natürlich, dass Bianca zu ihrer Familie zurückkehren kann. Denn zwischen Eltern und Kindern besteht jene natürliche Bindung, die wir nicht nachvollziehen können.« Die jugendliche Frau lächelte wehmütig. Immer wieder kam es vor, dass man in Sophienlust ein Kind lieb gewann, auf das man dann wieder verzichten musste, weil es zu seiner Familie zurückkehrte. Solch ein Abschied war oft sehr schmerzlich. Denise begleitete Heiner Thiele zur Tür.
Der junge Journalist hätte sich gerne noch länger mit der Verwalterin von Sophienlust unterhalten, doch es war eigentlich alles gesagt. Er verabschiedete sich höflich und ging zu seinem Wagen.
Auf dem Parkplatz war die Dame vom Jugendamt noch immer damit beschäftigt, den zehnjährigen Marco zum Aussteigen zu bewegen, der sich nach wie vor weigerte. Als sie Heiner erblickte, wurde der Beamtin wohl bewusst, wie lächerlich es wirken musste, mit einem kleinen Jungen wie diesem nicht fertig zu werden. Deshalb packte sie Marco nun entschlossen am Handgelenk und zog ihn aus dem Fond.
Das Kind schrie vor Wut und Zorn so laut, dass außer Denise von Schoenecker nun auch zwei Kinderpflegerinnen die breite Treppe herabliefen, um sich des Jungen anzunehmen.