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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Mit fahrigen Bewegungen durchwühlte der große schlaksig wirkende Junge sein Gepäck. Wäschestücke, Socken und Sportschuhe flogen kreuz und quer durchs Zimmer. »Das Geld ist weg«, stöhnte Jürgen Gerstner und ließ dabei die Schultern hängen. Verzweifelt sah er die Schulkameraden, die mit ihm das Zimmer teilten, an. »Mann, das gibt es doch überhaupt nicht.« Nick schüttelte empört den Kopf. Er war vor zwei Tagen mit seiner Klasse im Schullandheim eingetroffen und gehörte zu der Gruppe, die mit Jürgen in das Vierbettzimmer eingewiesen worden war. Jeder der Jungs wußte, daß Frau Gerstern von einer kleinen Witwenrente lebte und sich als Putzhilfe noch etwas nebenbei verdiente. Wenn sie ihrem Sohn für den Schullandaufenthalt einhundert Euro Taschengeld mitgegeben hatte, war ihr das sicher nicht leichtgefallen. Schon aus diesem Grund fand es Nick unvorstellbar, daß jemand Jürgen etwas weggenommen haben sollte. »Der Schein ist nicht mehr da.« Jürgens Stimme klang weinerlich. Der Größe nach hätte man ihn für einen jungen Mann von Anfang Zwanzig halten können. Aber er war erst sechzehn und noch ein halbes Kind, leicht verletzlich und bei Schwierigkeiten sofort mutlos. »Schau doch mal in deinen Taschen nach«, schlug Nick ruhig vor. Er war fast noch größer als Jürgen, wirkte schlank und sportlich. Mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Locken und dem sonnenbraunen Teint war er ein ausgesprochen hübscher Junge. Manches Mädchenherz schlug rascher, wenn Nick auftauchte.
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Seitenzahl: 156
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Mit fahrigen Bewegungen durchwühlte der große schlaksig wirkende Junge sein Gepäck. Wäschestücke, Socken und Sportschuhe flogen kreuz und quer durchs Zimmer.
»Das Geld ist weg«, stöhnte Jürgen Gerstner und ließ dabei die Schultern hängen. Verzweifelt sah er die Schulkameraden, die mit ihm das Zimmer teilten, an.
»Mann, das gibt es doch überhaupt nicht.« Nick schüttelte empört den Kopf. Er war vor zwei Tagen mit seiner Klasse im Schullandheim eingetroffen und gehörte zu der Gruppe, die mit Jürgen in das Vierbettzimmer eingewiesen worden war. Jeder der Jungs wußte, daß Frau Gerstern von einer kleinen Witwenrente lebte und sich als Putzhilfe noch etwas nebenbei verdiente. Wenn sie ihrem Sohn für den Schullandaufenthalt einhundert Euro Taschengeld mitgegeben hatte, war ihr das sicher nicht leichtgefallen. Schon aus diesem Grund fand es Nick unvorstellbar, daß jemand Jürgen etwas weggenommen haben sollte.
»Der Schein ist nicht mehr da.« Jürgens Stimme klang weinerlich. Der Größe nach hätte man ihn für einen jungen Mann von Anfang Zwanzig halten können. Aber er war erst sechzehn und noch ein halbes Kind, leicht verletzlich und bei Schwierigkeiten sofort mutlos.
»Schau doch mal in deinen Taschen nach«, schlug Nick ruhig vor. Er war fast noch größer als Jürgen, wirkte schlank und sportlich. Mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Locken und dem sonnenbraunen Teint war er ein ausgesprochen hübscher Junge. Manches Mädchenherz schlug rascher, wenn Nick auftauchte. Doch das war ihm nicht bewußt. Noch war er weiblichen Wesen gegenüber unbefangen und unbekümmert.
»Hab’ ich doch schon.« Jürgen hockte inmitten seiner Sachen und hätte am liebsten losgeheult. Nur die Furcht, von den Kameraden ausgelacht zu werden, hielt ihn davon ab.
»Vielleicht in deiner Schulmappe.«
Axel, ein behäbiger Rotschopf, den nichts aus der Ruhe bringen konnte, gähnte gelangweilt.
»Du bist ja nicht ganz dicht«, brauste Jürgen auf. »Ich habe noch nie Geld in meine Schulmappe gesteckt. Es war im Geldbeutel. Ich weiß es ganz genau. Aber er ist leer...« Jürgen nahm die Börse zur Hand und hielt sie geöffnet nach unten.
»Zeig doch mal her.« Nick ging zu dem Klassenkameraden, der zwischen den Doppelstockbetten auf dem Boden kniete. Viel Platz bot das Holzhaus mit dem weit vorgezogenen Dach nicht. Alle Räume waren klein, und die meisten von ihnen hatten schiefe Wände. Doch dafür lag das Schullandheim in einer wunderschönen Landschaft. Gleich hinter dem Haus begann der Tannenwald, davor breiteten sich sanft abfallende Wiesen aus. Ein Bach rauschte plätschernd über glattgeschliffene Steine. Man hatte von hier oben einen weiten Blick in die reizvollen Schwarzwaldtäler. Vor allen Dingen aber hatte man klare, reine Luft und wohltuende Ruhe.
Letzteres interessierte die Schüler des Maibacher Gymnasiums, die für zwei Wochen mit drei ihrer Lehrer hier wohnten, weniger. Sie erfüllten die friedvolle Gegend mit ihrem Geschrei und lautstarker Musik aus den Kassettenrekordern, wobei sie die Ermahnungen der Erzieher weitgehend ignorierten.
Nick inspizierte das geöffnete Schrankabteil seines Schulkameraden, nahm Jacken und Regenkleidung heraus und faßte in alle Taschen. »Nichts«, stellte er resignierend fest.
»Hätte ich dir gleich sagen können. Das Geld ist futsch. Dabei wollte ich höchstens die Hälfte ausgeben.« Jürgen schnupfte.
»Verflixt, es kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.« Nick griff nach Jürgens Schuhe, um sie einzeln auszuschütteln. Doch es fiel aus keinem ein Geldschein, nicht einmal eine Münze.
»Weißt du genau, daß du es nicht ausgegeben hast?« erkundigte sich Axel mit einer Ruhe, die den nervösen Jungen ärgerte. Wäre er nicht so verzweifelt gewesen, hätte er sich bestimmt auf den Rothaarigen gestürzt, um Vergeltung für die beleidigende Äußerung zu fordern.
»Wann denn? Wir sind doch erst gestern angekommen. Außerdem pflege ich nicht alles auf den Kopf zu hauen wie du. Das Geld muß jemand geklaut haben.«
Jetzt fuhr Axel hoch. »Willst du damit sagen, daß einer von uns...«
»Gar nichts will ich sagen. Mein Geld ist weg. Ich kann mir hier nicht einmal ’ne Cola leisten. Das ist es.« Jürgen zischte vor Wut und Empörung. »Sch...«
»Ich fürchte, es stimmt.« Nick hob wahllos einige Sachen hoch und ließ sie wieder fallen.
»Spinnst du jetzt auch? In unserer Klasse ist noch nie etwas weggekommen. Warum ausgerechnet jetzt?« Axel warf sich wieder zurück.
»Ich kapiere es auch nicht. Aber wir sollten uns vielleicht doch überlegen, wer...«
»Bei mir könnt ihr ruhig nachsehen«, erklärte Axel und drehte sich zur Wand.
»Überlegt doch mal. Wer hat in unserer Klasse die höchsten Auslagen?« Peter Mack, der sich bis jetzt rausgehalten hatte, gesellte sich zu Jürgen und Nick. Er zeigte jenes unverschämte Grinsen, das viele seiner Lehrer in Wut versetzte. Peter war nicht nur kein guter Schüler, er fiel auch durch Frechheiten und Arroganz auf.
»Keine Ahnung.« Nick der sich mit allen Kameraden vertrug, sammelte Jürgens Sachen wieder ein.
»Martina natürlich. Lederkombi, flotte Stiefel, Schals, Pullis, Schmuck und Kosmetik. Mann, das kostet doch ein Vermögen.«
»Na und? Ihr Vater hat’s doch. Was glaubst du, was Johannes Sannwald mit seinen Büchern verdient. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller.« Nick sah Peter unerschrocken an. Die meisten Klassenkameraden mieden diesen Jungen. Doch Nick war kein Feigling und ging keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Vielleicht bemühten sich gerade deshalb so viele Gleichartige um seine Freundschaft.
»Mag sein. Aber glaubst du, er ist von ihr begeistert? Martina sieht doch aus wie ein abgetakelter Weihnachtsbaum. Sie glaubt wohl, daß sie mit dieser fürchterlichen Aufmachung jemanden imponieren kann. Aber ich möchte mal wissen, wem.« Peter zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Mit fast neunzehn Jahren hatte er schon einige Erfahrung mit Mädchen. Oft genug spielte er sich vor den jüngeren Kameraden ausgiebig damit auf. »Der alte Sannwald gibt Martina bestimmt keinen einzigen Euro für all den Krimskrams, den sie an sich hängt. Also besorgt sie sich die Moneten auf andere Weise.«
Nick schüttelte unwillig den Kopf. »Es ist nicht fair, jemand zu verdächtigen, der sich überhaupt nicht rechtfertigen kann.«
»Gut, dann fragen wir sie doch.« Peter stürmte auf den engen Flur und rannte die knarrende Treppe hinunter. Nick und Jürgen folgten ihm, und sogar der bequeme Axel erhob sich und stolperte hinterher.
Die Mädchen spielten im Aufenthaltsraum Tischtennis. Sie standen in Gruppen zusammen und schwatzten wie gewöhnlich durcheinander. Nur Martina Sannwald stand abseits am Fenster und starrte aus schwarzumrandeten Augen in die Dämmerung. Sie war oft allein, denn mit der modischen Punkfrisur, dem grell bemalten Gesicht und der exklusiven Kleidung stach Martina merkwürdig von ihren Klassenkameraden ab. Das eitle Mädchen glaubte, daß alle sie glühend bewunderten und beneideten und ahnte nicht im geringsten, wie unangenehm ihr Äußeres im Vergleich mit den natürlich wirkenden Kameradinnen auffiel. Diese Arroganz trug dazu bei, daß Martina keine Freundin hatte, obwohl sie sich sehr darum bemühte und versuchte, durch immer neue ausgefallene Mode zu imponieren und aufzufallen.
Peter Mack stellte sich neben Martina. »Na, was machst du mit den geklauten hundert Euro?« fragte er kumpelhaft.
Martina drehte langsam den Kopf. Der glitzernde Modeschmuck an ihrem rechten Ohr klirrte dabei. Im Licht der Strahler leuchtete die grünlich gefärbte Seite ihrer sonst blonden Haare intensiv auf. »Mit was bitte?« erkundigte sie sich und verzog die knallig roten Lippen zu einem üppigen Schmollmund.
»Mit der Knete, die du dem Jürgen gemopst hast.«
»Ich?« Martinas türkisfarben bemalten Augenlieder flatterten.
»Du brauchst es nicht zu leugnen, wir wissen es alle.«
»Was wißt ihr?« Zufrieden bemerkte Martina, daß auch Nick, Jürgen und Axel sie umstanden und neugierig musterten. Einige der Mädchen wurden aufmerksam und kamen ebenfalls herüber. Im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, war Martinas größter Wunsch. Nur aus diesem Grund kaufte sie sich all diese auffälligen Kleidungsstücke, malte sie sich an wie ein Indianer auf dem Kriegspfad.
»Daß du die Moneten aus Jürgens Geldbeutel genommen hast.«
»Ach ja.« Es wurde Martina schlagartig klar, daß diese Verdächtigung sie außerordentlich interessant machte. Warum sollte sie also leugnen?
»Laßt sie doch, wenn sie nichts davon weiß.« Nick wollte vermitteln. Er mochte zwar Martina auch nicht so richtig, hatte aber doch Mitleid mit ihr. Denn er wußte, daß sie ohne Mutter aufgewachsen war. Irene Sannwald war bei der Geburt der Tochter gestorben, und der damals noch unbekannte Schriftsteller hatte nicht mehr geheiratet.
»Sie verstellt sich doch«, behauptete Peter mit unverschämtem Grinsen.
*
Sehr selbstbewußt und mit einem Schwung, der Kraft und Elan verriet, öffnete Nestor Jüngert für seine Sekretärin die Glastür des modernen Bürohauses und ließ Jutta Lindemann den Vortritt. Zufrieden stellte er wieder einmal fest, daß sie sich sicher und harmonisch bewegte, was ihrer reizvollen Erscheinung den letzten Schliff gab.
Der gutaussehende Junggeselle Nestor hatte allerhand Erfahrungen im Umgang mit hübschen Frauen. Mit seinen sechsunddreißig Jahren erinnerte er sich längst nicht mehr an jede seiner vielen Freundinnen. Er wußte nur, daß keine so vollkommen war wie Jutta Lindemann. An ihr gab es nichts auszusetzen, das überprüfte Jüngert mit dem kühlen Verstand des reichen Kaufmanns immer wieder.
Jutta hatte nicht nur ein schönes Gesicht und eine ideale Figur, sondern sie besaß auch Charme und Intelligenz. Deshalb nahm Nestor sie gern auf Geschäftsreisen mit. Sie war eine ausgezeichnete Dolmetscherin und verstand es darüber hinaus auch, die Geschäftspartner durch ihr Wesen zu faszinieren. Zum ersten Mal in seinem Leben dachte Nestor ernstlich daran, seine geliebte Freiheit aufzugeben und zu heiraten.
»Diesen Abschluß haben wir rascher und besser unter Dach und Fach bekommen, als ich je gedacht hätte«, murmelte Jüngert, als er mit seiner Sekretärin zum Parkplatz ging. »Bouvier nimmt die doppelte Menge ab und hat nicht mal versucht, den Preis zu drücken.«
»Er weiß eben, daß er für seine Produktion keine besseren Motoren bekommen kann.«
»Unsere Motoren sind nicht besser und nicht billiger als andere«, widersprach Nestor. »Bouvier wollte dir mit diesem Abschluß imponieren, das ist alles. Das war bei Larini in Mailand nicht anders. Du bringst mir Glück,
Jutta.« Nestor hätte seine Sekretärin jetzt gerne verliebt auf die Wange geküßt. Doch er war sicher, daß sein französischer Geschäftspartner Bouvier oben am Fenster seines Büros stand und ihnen nachsah. Deshalb ließ er es lieber sein.
»Nimmst du mich deshalb auf deine Geschäftsreisen mit?« Jutta lachte und zeigte dabei zwei Reihen hübscher weißer Zähne. Auf ihren Wangen erschienen reizvolle Grübchen, die sie jünger, fast kindlich aussehen ließen. In solchen Augenblicken hätte niemand geglaubt, daß Jutta bereits siebenundzwanzig Jahre alt war und einen neunjährigen Sohn hatte.
»Ich nehme dich mit, weil ich dich liebe, und weil ich jede Minute deiner Gesellschaft genieße«, erwiderte der Mann, der überall durch seine elegante Kleidung und sein gepflegtes Äußeres auffiel.
Das Paar hatte den schnittigen Sportwagen, den Nestor mit der Gelassenheit des erfolgsgewohnten Managers fuhr, erreicht. Galant war Jüngert seiner Sekretärin beim Einsteigen behilflich und setzte sich dann schwungvoll hinters Steuer. Er liebte schnelle Autos ebenso wie schöne Frauen und edle Pferde.
»Weißt du, was wir jetzt tun? Wir fahren hinaus zum Bois de Boulogne und feiern den Erfolg. Ich kenne dort ein ganz entzückendes Hotel.« Nestor ließ das Fahrzeug vom Parkplatz rollen und passierte unmittelbar danach das Tor des Fabrikgeländes.
»Einverstanden. Aber zuerst wollte ich noch eine Kleinigkeit für Heiko besorgen.«
»Muß das sein?« erkundigte sich Nestor und sah stur auf das graue Band der Landstraße, die an diesem Vormittag kaum befahren war. An Heiko, Juttas kleinen Sohn, wurde der Unternehmer nicht gerne erinnert. Das Kind aus Juttas Ehe mit einem Journalisten störte ihn. Er, der zu Kindern ohnehin keine Beziehung hatte, empfand Heiko als lästig.
Obwohl er die Abneigung geschickt verbarg, spürte Jutta sie doch. Denn sie liebte ihr Kind heiß und innig, obwohl ihre Ehe alles andere als glücklich verlaufen war. Ihr Mann hatte sie nicht nur ausgenutzt und betrogen, er hatte sie sogar geschlagen. Erst als die Ehe vor einem Jahr geschieden wurde, konnte Jutta aufatmen, verlor sie nach und nach die Angst. Mit ihrem Mann, der inzwischen nach Australien ausgewandert war, verband sie absolut nichts mehr. Er kümmerte sich auch nicht um den kleinen Sohn, und das war Jutta ganz recht.
»Heiko freut sich über jedes kleine Geschenk, und ich fühle mich irgendwie verpflichtet, denn ich kann mich ja so selten um ihn kümmern.« Juttas Stimme klang weich und sehnsüchtig. Viele Jahre lang hatte sie durch Übersetzungen die sie zu Hause machen konnte, den Lebensunterhalt für die Familie verdient. Als ihr Mann dann über Nacht verschwand, hinterließ er ihr eine Menge Schulden, und sie war gezwungen gewesen, einen Job außer Haus anzunehmen, da sie auf diese Weise mehr verdienen konnte. Um Heiko nicht sich selbst zu überlassen, gab sie ihn zu Pflegeeltern aufs Land und holte ihn nur an freien Wochenenden zu sich. Jutta litt unter der Trennung ebenso wie ihr kleiner Sohn. Denn sie waren sich nicht nur äußerlich, sondern auch vom Charakter her sehr ähnlich. Heiko hatte das dunkle Haar und die schönen blauen Augen seiner Mutti geerbt. Er teilte aber auch ihre Liebe zur Natur, zu Tieren und allen schönen Dingen.
»Was willst du ihm kaufen?« erkundigte sich Nestor sachlich. Er fand Juttas Fürsorge übertrieben, wußte jedoch, daß sie jede Kritik empört zurückgewiesen hätte.
»Vielleicht ein hübsches Buch. Im nächsten Jahr kommt Heiko ins Gymnasium. Er hat eine ausgesprochene Begabung für Fremdsprachen. Deshalb wird ihm ein französisches Jugendbuch auch ganz bestimmt Freude machen.«
»Dann werden wir uns eben eine Auswahl ins Hotel bringen lassen«, meinte der Fabrikant, der unangenehme Dinge immer so rasch wie möglich erledigen wollte.
Jutta schüttelte den Kopf mit dem halblangen dunklen Haar, das mit seiner glänzenden, lockigen Fülle einen wundervollen Anblick bot. »Nein, ich möchte das Buch lieber selbst aussuchen. Es macht mir Spaß, die Buchläden zu durchstöbern.«
»Leider werden wir kostbare Zeit mit der Suche nach einem Parkplatz vergeuden.« Nestor gab sich Mühe, seine Verärgerung zu unterdrücken. Schon mehrmals hatte er bemerkt, daß sich seine und Juttas Interessen grundlegend unterschieden.
»Auf diese Weise sehen wir wenigstens noch etwas von Paris, bevor wir wieder nach Hause fahren.«
»Aber du kennst die Stadt doch. Immerhin hast du hier ein Jahr lang studiert.«
»Gerade deshalb. Ich mag diese Stadt und freue mich über jedes Wiedersehen.«
»Und ich mag dich, Jutta. Wir haben so wenig Zeit füreinander. Das macht mich oft richtig unglücklich. Die Woche über ist es die Arbeit im Büro, die uns in Anspruch nimmt und sonntags beschäftigst du dich mit dem Jungen.« Es klang ein bißchen vorwurfsvoll.
»Du wirst doch nicht eifersüchtig sein«, entgegnete Jutta lachend. Sie war bester Stimmung, denn dieser Tag in Paris war wunderschön.
»Natürlich bin ich das. Ich bin auf alles eifersüchtig, was deine Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch nimmt.« Nestor überholte gewagt, hatte sein schnelles Fahrzeug aber einwandfrei unter Kontrolle.
Auf der Straße, die zum Zentrum führte, wurde es immer immer enger. Rechts und links von ihnen stauten sich Laster, Lieferwagen, PKWs und dreirädrige Fahrzeuge. Es wurde gehupt, geschimpft und gedroht.
»Wir sollten den Wagen hier irgendwo abstellen und zu Fuß gehen oder die Metro benutzen«, schlug Jutta Lindemann vor.
»Keine schlechte Idee.« Der Unternehmer schielte hinüber zum Straßenrand. Zwei Reihen Fahrzeuge trennten ihn davon. Er setzte den Blinker und schob sich langsam aber sicher auf die andere Seite. Vor einem kleinen Café fand er schließlich einen Parkplatz.
»Was hältst du von einer Erfrischung, ehe wir weiterziehen?« Nestor lächelte gewinnend.
»Viel.« Jutta nickte zustimmend.
Jetzt legte der Mann den Arm um Juttas schmale Schultern. Nebeneinander stiegen sie die wenigen Stufen hoch und betraten das kleine Lokal. Das junge Paar nahm an einem winzigen runden Tisch Platz und trank wenig später Kaffee aus großen, henkellosen Tassen. Dazu gab es knusprige Croissants.
»Hm, schmeckt sagenhaft«, versicherte Nestor kauend. In seiner eleganten Kleidung wirkte er in diesem schlichten Lokal völlig deplaziert, und doch fühlte er sich erstaunlicherweise wohl.
»Eigentlich wollte ich heute mit dir über etwas reden, das mir sehr am Herzen liegt.« Nestor Jüngert beugte sich weiter herüber. Zärtlichkeit schwang in seiner Stimme mit.
Es war der Ton, der Jutta sofort aufhorchen ließ. Doch sie glaubte nicht an die Richtigkeit ihrer Gedanken. Etwas mehr als ein Jahr arbeitete sie jetzt schon für die Motorenfabrik Jüngert und wußte, daß der Juniorchef auch in den vermögendsten, einflußreichsten Familien als gute Partie angesehen wurde. Es gab eine ganze Menge reicher junger Damen, die sich um seine Gunst bemühten.
»Geht es um unser Angebot in Kanada? Ich habe die Übersetzung bereits gemacht. Es fehlen nur noch die Fotos, die wir beifügen wollten.«
»Nichts Geschäftliches. Es geht um uns beide. Du weißt, daß ich dich sehr mag. Aber du weißt noch nicht, daß ich mich entschlossen habe, dich zu heiraten. Dein Einverständnis natürlich vorausgesetzt.«
Jutta sah den Mann groß an. Sie war einfühlsam genug, zu wissen, daß er mit diesem Gedanken schon geraume Zeit spielte. Und doch erschrak sie jetzt. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
Nestor faßte über den Tisch nach
Juttas schmalen, sehr gepflegten Händen. »Es ist mein größter Wunsch«, raunte er ihr leise und eindringlich zu.
»Überlege doch, wer ich bin! Eine geschiedene Frau mit einem neunjährigen Sohn. Ich habe kein Vermögen, kein Ansehen, keinen Einfluß.« Jutta lächelte gequält. In diesem Moment hatte sie Angst. Angst vor einer neuen Ehe, vor all den Schwierigkeiten, die auftauchen konnten. Gewiß, sie mochte Nestor. Er gefiel ihr. Aber genügte das, um ein Leben lang harmonisch miteinander zu leben? In Juttas erster Ehe war es kaum ein Jahr lang gutgegangen. Noch vor Heikos Geburt hatten die Streitigkeiten begonnen. Nein, Jutta wollte nicht, daß sich dies wiederholte.
»Was du aufzählst, brauche ich alles nicht. Geld, Einfluß und Ansehen besitze ich selbst. Trotzdem habe ich mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Wenn ein Mann sechsunddreißig ist wie ich, gibt er seine Freiheit nicht gerne auf. Und wenn er es tut, ist er ganz sicher, daß alles stimmt, daß es sich lohnt. Bei dir sind die Vorraussetzungen gegeben, Jutta. Du bist für mich die ideale Partnerin. Noch keine Frau hat mir so gut gefallen wie du. Wir ergänzen uns in jeder Beziehung fabelhaft. Mit dir an meiner Seite werde ich all meine Pläne verwirklichen. Wir werden die Firma weiter ausbauen, werden uns aber genügend Zeit für unser Privatleben vorbehalten. Wir werden reisen, die ganze Welt kennenlernen. Könnte ich mir eine angenehmere Begleitung wünschen als dich?« Sehr zärtlich strichen seine Finger über Juttas Hände. Es war eine angenehme, liebevolle Berührung.
Und doch hätte die Sekretärin ihre Hände am liebsten zurückgezogen. Sie war über diese Reaktion selbst verblüfft. Hätte sie sich über den Heiratsantrag dieses reichen, gutaussehenden Mannes nicht wahnsinnig freuen müssen? Warum war sie so zimperlich? Warum sah sie Schwierigkeiten, wo es keine gab? In ihrer ersten Ehe hatte der Mangel an Geld eine große Rolle gespielt. Nestor Jüngert besaß mehr Geld, als er oder sie jemals verbrauchen konnte. In dieser Hinsicht waren also keinerlei Probleme zu erwarten. Was befürchtete sie dann?
»Du vergißt, daß ich nicht so frei bin, wie du glaubst. Ich trage die Verantwortung für mein Kind und werde mich deshalb immer nach Heiko richten. Ich möchte den Jungen gerne wieder zu mir nehmen, denn ich habe den Eindruck, daß er sich bei den Pflegeeltern nicht wohlfühlt. Er klagt zwar nie, aber ich spüre es doch.«