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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Mit donnernden Hufen jagte das Pony über den Feldweg. Seine Mähne flog und sein Schweif wehte wie eine Siegesfahne. Die kleine Reiterin beugte sich weit über den Hals des Tieres und feuerte es durch Zurufe noch mehr an. Sie saß erstaunlich sicher auf dem Rücken des Ponys. So, als gäbe es überhaupt keine Gefahr. Am Gatter zur Weide brachte sie ihr Reittier zum Stehen und sprang geschickt zu Boden. Werner Dehmer klatschte begeistert. Er war stolz auf sein achtjähriges Töchterchen May-Britt. Sie glich nicht nur äußerlich ihm, sie war auch charakterlich mehr Junge als Mädchen: wild und ungestüm, den Kopf stets voll dummer Streiche. Mit den anderen Mädchen konnte May-Britt nicht viel anfangen. Eher schon mit den Jungs, die in Sophienlust lebten. Ihr bester Freund aber war King, das schwarze Pony. Vor etwa einem Jahr hatte Werner es seiner kleinen Tochter geschenkt. Damals war seine Frau, May-Britts Mutter, durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Der Architekt, der beruflich sehr viel unterwegs war, hatte sein Kind in die Obhut des Heims geben müssen. Anfangs war er skeptisch gewesen, doch dann hatte er eingesehen, daß es May-Britt nirgends besser haben konnte. »King wird immer besser.« Lachend kam Werner näher. Seine braunen Augen strahlten. »Das sagt Nick auch.«
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Mit donnernden Hufen jagte das Pony über den Feldweg. Seine Mähne flog und sein Schweif wehte wie eine Siegesfahne. Die kleine Reiterin beugte sich weit über den Hals des Tieres und feuerte es durch Zurufe noch mehr an. Sie saß erstaunlich sicher auf dem Rücken des Ponys. So, als gäbe es überhaupt keine Gefahr.
Am Gatter zur Weide brachte sie ihr Reittier zum Stehen und sprang geschickt zu Boden.
Werner Dehmer klatschte begeistert. Er war stolz auf sein achtjähriges Töchterchen May-Britt. Sie glich nicht nur äußerlich ihm, sie war auch charakterlich mehr Junge als Mädchen: wild und ungestüm, den Kopf stets voll dummer Streiche. Mit den anderen Mädchen konnte May-Britt nicht viel anfangen. Eher schon mit den Jungs, die in Sophienlust lebten. Ihr bester Freund aber war King, das schwarze Pony.
Vor etwa einem Jahr hatte Werner es seiner kleinen Tochter geschenkt. Damals war seine Frau, May-Britts Mutter, durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Der Architekt, der beruflich sehr viel unterwegs war, hatte sein Kind in die Obhut des Heims geben müssen. Anfangs war er skeptisch gewesen, doch dann hatte er eingesehen, daß es May-Britt nirgends besser haben konnte.
»King wird immer besser.« Lachend kam Werner näher. Seine braunen Augen strahlten.
»Das sagt Nick auch.« May-Britt klopfte mit der flachen Hand liebevoll den Hals des Tieres. »Er meint, wenn King erst etwas älter ist, würde er spielend jedes Rennen gewinnen. Aber das will ich nicht. King soll frei sein und nur laufen, wenn es ihm Spaß macht.« Das Mädchen strich liebevoll über das glänzende schwarze Fell des Pferdchens.
»Ganz recht so!« Werner war neben seine kleine Tochter getreten und streichelte nun ebenfalls das Tier. Er war mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache. Immerzu dachte er an das, was er May-Britt sagen wollte. Er hatte ein bißchen Angst vor ihrer Reaktion.
Das kleine Mädchen strich sich das feuchte dunkelblonde Haar aus der Stirn und führte das schwarze Pony auf die Weide zu den anderen Tieren. King wieherte, als wollte er sich bedanken.
»Ich bin gekommen, um mit dir zu reden«, meinte der große, kräftige Mann, als May-Britt zurückkam.
»Um was geht es?« May-Britt setzte sich auf eine Querstange des Gatters und baumelte mit den Beinen.
Werner Dehmer nahm neben ihr Platz. Wenn er nach Sophienlust hinausfuhr, um seine kleine Tochter zu besuchen, trug er Jeans, ein einfaches T-Shirt und Sandalen und wirkte darin wesentlich jünger, als er war. Dehmer wurde im Herbst, das war in drei Monaten, 38 Jahre alt. Doch wenn er fröhlich lachte, wirkte er noch immer wie ein großer Junge, und das machte ihn so ungeheuer sympathisch.
»Du kennst doch Karin Kranz, deine frühere Lehrerin.« Werner sah stur auf seine Zehen.
»Hm. Sie ist sehr nett. Sie hat mich sogar dreimal in Sophienlust besucht.« May-Britt hatte eine für ein Mädchen erstaunlich dunkle Stimme.
»Das ist auch der Grund, weshalb wir uns nähergekommen sind. Karin Kranz hat mir damals Sophienlust empfohlen, und ich muß sagen, es war ein guter Rat. Trotzdem möchtest du doch sicher wieder nach Hause. Dort hast du dein Zimmer, deine Spielsachen, deine Bücher, und vor allen Dingen können wir uns jeden Tag sehen.«
»Ja, Vati.« May-Britt fiel die Nervosität ihres Vaters nicht auf.
»Deshalb habe ich mich entschlossen, wieder zu heiraten.« Es klang nicht besonders glücklich, und Werner war auch nicht froh über seinen Entschluß. Er glaubte, daß er es seiner kleinen Tochter schuldig war, dafür zu sorgen, daß sie wieder eine Mutter bekam. May-Britt sollte nicht im Kinderheim aufwachsen.
May-Britts braune Augen wurden groß und kugelrund. »Ich soll eine Stiefmutter bekommen?« fragte sie entsetzt. Unwillkürlich dachte sie an die Märchen, die ihnen Schwester Regine manchmal vorlas. Darin waren die Stiefmütter immer böse.
»Der Begriff Stiefmutter ist veraltet. Karin ist eine sehr hübsche junge Frau mit einem ausgesprochen liebevollen Wesen.« Wenn Werner daran dachte, hatte er ein schlechtes Gewissen. Denn es fiel ihm schwer, Karin gegenüber mehr zu zeigen als distanzierte Höflichkeit. Er liebte sie nicht, das wußte er vom ersten Augenblick an. Nur weil er jemanden brauchte, der den Haushalt führte und May-Britt betreute, hatte er Karin gefragt, ob sie seine Frau werden wollte. Sie hatte glücklich zugestimmt. Glücklich, weil sie verliebt war, und weil sie glaubte, daß er ebenso empfand.
»Ich will keine Stiefmutter«, kam es trotzig von den Lippen des Kindes.
»Aber du magst Karin doch. Als sie dich noch unterrichtete, warst du ganz begeistert von ihr.« Werner schüttelte verständnislos den Kopf. Er hatte sich bei der Auswahl seiner Partnerin ausschließlich von May-Britts Interessen leiten lassen. Niemals hatte er mit einer derartigen Reaktion des Kindes gerechnet. »Ich mag sie als Lehrerin, aber nicht als Mutti. Bitte, sag’ ihr, daß du sie nicht heiraten kannst.« Flehend sah das Mädchen seinen Vater an.
Es war ein Blick, der ihm weh tat. »So einfach ist das nicht, May-Britt«, antwortete er seufzend. »Ich habe mit Karin bereits alles besprochen, und ich kann nicht aus einer Laune heraus alles wieder rückgängig machen. Wenn du erst wieder zu Hause bist und Kontakt mit Karin hast, versteht ihr euch bestimmt ganz wunderbar.« Werner wußte, daß man seiner kleinen Tochter schlecht etwas ausreden konnte. May-Britt hatte ein recht stures Köpfchen.
»Ich will nicht, daß Karin bei uns zu Hause ist. Sie soll nicht auf Mamas Platz sitzen und in ihrem Bett liegen«, verlangte das kleine Mädchen stürmisch. Seine Wangen waren vor Aufregung heiß und rot.
»Wir werden alles umräumen und neu einrichten. Du wirst unsere Wohnung kaum wiedererkennen.« Werner betrachtete bekümmert seine Tochter. Ihr zuliebe hatte er sich zu diesem Schritt entschlossen. Und nun wollte ihm gerade May-Britt Schwierigkeiten machen. »Freust du dich denn nicht darauf, wieder nach Hause zu kommen? Du gehst wieder in deine alte Schule, hast wieder deine alten Freundinnen. Das ist es doch, was du immer wolltest.« Werner legte den Arm um die schmalen Schultern seines Töchterchens.
»Ja. Aber ich möchte keine andere Mutti.« May-Britt schob schmollend die Unterlippe vor.
»Du weißt, daß wir es zweimal mit einer Haushälterin versucht haben. Es hat einfach nicht geklappt. Eine Angestellte ist zu teuer und hat zu wenig Interesse.«
»Vati, wir beide könnten doch allein...« Schmeichelnd schmiegte sich May-Britt an Werner. Sie rieb ihr zartes Gesicht an seinem Arm und sah flehend zu ihm auf.
»Nein, mein Schatz, das funktioniert nicht. Du bist noch zu klein, um tagsüber allein zu sein, und ich kann im Büro nicht weg. Ich bin sogar abends häufig unterwegs. Es gibt viele Bauherren, die erst abends Zeit für den Architekten haben.«
»Und... und dann soll ich immer mit Fräulein Kranz allein sein?« jammerte May-Britt und zog die Schultern nach vorne, als fürchte sie sich. Die Art, in der sie diese Frage aussprach, zeigte deutlich ihre Ablehnung.
Werner erschrak. Mit dieser Reaktion seines Töchterchens hatte er wirklich nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, daß er May-Britt eine Freude machen würde, wenn er ihr die Möglichkeit bot, wieder in einer richtigen Familie zu leben. Denn so gerne das Kind in Sophienlust war, es sehnte sich doch immer nach seinem Zuhause.
»Karin wird dir vorlesen, wird mit dir spielen oder spazierengehen. Warte ab, du wirst begeistert sein.« Es klang nicht überzeugend. Denn so sehr Werner von Karins pädagogischen Fähigkeiten überzeugt war, so wußte er doch, daß es ihr kaum gelingen würde, das Kind umzustimmen.
»Und was wird aus King?« fragte May-Britt weinerlich.
»Darüber habe ich schon mit Frau von Schoenecker gesprochen. King darf vorerst in Sophienlust bleiben und wird wie bisher von Justus versorgt. Selbstverständlich werde ich einen angemessenen Pensionspreis bezahlen.«
»Nein!«, kreischte May-Britt aufgebracht. Sie richtete sich steil auf, und ihre Augen funkelten Werner zornig an. »Wenn King hier bleibt, bleibe ich auch!«
Ein bißchen ratlos blickte Dehmer auf seine kleine Tochter. Er wußte, daß er jetzt nicht nachgeben durfte. Schließlich konnte er sich nicht von den Launen einer Achtjährigen tyrannisieren lassen. »Hast du vergessen, wie sehr wir es uns gewünscht hben, wieder beisammen sein zu können? Ich möchte dich wieder zu Hause haben, mein Kleines. Weißt du, ich habe genug davon, morgens im Stehen eine Tasse Kaffee zu trinken, mittags im Lokal zu essen und abends eine kalte, stille Wohnung vorzufinden, in der man sich einsam und verlassen fühlt. Ich freue mich darauf, daß du wieder bei mir bist. Und an den Wochenenden fahren wir nach Sophienlust und besuchen King. Na, ist das ein Vorschlag?« Werner griff dem kleinen Mädchen unters Kinn und hob ihr Gesichtchen etwas an.
»Ich will ja, Vati. Aber ich will nicht, daß Karin bei uns...«
Weiter kam May-Britt nicht. Werner legte ihr den Zeigefinger auf den Mund.
»Pst!« Du wirst sehen, es klappt besser als du glaubst.«
*
»Hat deine neue Mutti ein weißes Kleid an, wenn ihr in die Kirche geht?« wollte Vicky wissen. Sie und ihre um zwei Jahre ältere Schwester Angelika waren in Sophienlust, seit sie ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten.
»Weiß ich nicht«, gab May-Britt grob zur Antwort. Sie war ein verträgliches Mädchen, solange man sie nicht auf die bevorstehende Hochzeit ansprach. Die älteren Kinder wußten das und vermieden das Thema. Die Kleinen allerdings begriffen nicht, weshalb sich May-Britt gegen die neue Mutter wehrte.
Karin Kranz war mehrmals in
Sophienlust gewesen und hatte es
verstanden, rasch die Zuneigung
der Buben und Mädchen zu gewinnen.
Man beneidete May-Britt allgemein um ihre künftige Mutter.
»Ich finde es wahnsinnig aufregend, wenn man dabei ist, wenn die eigenen Eltern heiraten«, meinte Angelika und sah May-Britt bewundernd an. So schön es auch in Sophienlust für die Kinder war, die meisten von ihnen hörten nie auf, sich nach einer intakten Familie zu sehnen. May-Britt durfte nach Hause zurück, weil ihr Vater wieder heiratete. Das war es, was allen imponierte.
Um so unverständlicher war den Kindern das Verhalten des Mädchens. Als die junge Lehrerin vor einigen Tagen zu Besuch in Sophienlust gewesen war, hatte sich May-Britt im Bett verkrochen und behauptet, Kopfschmerzen zu haben. Sie wollte Karin Kranz überhaupt nicht sehen. Die Kinder von Sophienlust fanden das unerklärlich, denn Karin Kranz imponierte ihnen allen sehr. Sie war jung, sportlich, fröhlich und lachte gerne. Sie fand genau den Ton, der nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Jugendlichen ankam und verstand es, die Jungen und Mädchen in interessante Gespräche zu verwickeln. Dabei sah die junge Lehrerin gut aus, ohne eitel zu sein.
»Ich finde es gräßlich«, behauptete May-Britt und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Teppich. »Ich würde am liebsten nicht hingehen.«
»Das wäre aber schade. Wann solltest du denn dann dein neues langes Kleid tragen?«
»Das Kleid mag ich ohnehin nicht.« May-Britt zog einen Schmollmund. Seit sie wußte, daß die
Hochzeit auch gegen ihren Willen stattfinden würde, ließ sie alle ihre Verärgerung spüren. Nur King gegenüber war sie lieb und zärtlich wie früher.
»Das Kleid ist Spitze«, erklärte Pünktchen, die ihre Schularbeiten unterbrochen hatte und zuhörte.
»Fräulein Kranz hat es besorgt.« May-Britt weigerte sich stur, ihre künftige Mutti mit dem Vornamen anzusprechen.
»Man, so ein Kleid möchte ich auch haben«, schwärmte Vicky und verdrehte dabei die Augen.
»Du kannst ja für mich zur Kirche gehen«, gab May-Britt gelassen zu-rück. »Ich möchte das Theater ohnehin nicht sehen.«
»Weißt du was, du bist ganz schön blöd.« Fabian tippte sich vielsagend an die Stirn. »So eine Hochzeit ist doch ’ne tolle Sache. Das Essen ist große Klasse, und man darf aufbleiben, solange man will.«
»Sie darf sogar mit auf die Hochzeitsreise. Man, das sollte mir mal jemand bieten«, schwärmte Irmela, das älteste Mädchen von Sophienlust. Irmela besuchte bereits die Oberstufe des Gymansiums und war fleißig und vernünftig.
»Ich darf, aber ich will nicht«, schmollte May-Britt. »Deshalb hat mein Vati jetzt auch die Reise abgesagt.« Die Tochter war über den Erfolg sehr zufrieden.
»Und was sagt Karin dazu?« fragte Fabian verblüfft. Wie alle Kinder von Sophienlust, so nahm auch er an May-Britts Schicksal lebhaften Anteil.
»Weiß ich nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Sie interessiert mich nicht.«
Irmela zog die Stirn in Falten und schaute May-Britt ernst an. »Du bist ungerecht, denn Karin Kranz mag dich wirklich. Sie hat fast geweint, als du dich geweigert hast, sie zu sehen.«
»Geschieht ihr ganz recht«, trumpfte das dunkelblonde Mädchen, das immer nur Hosen trug, auf. »Ich habe sie nicht gebeten, sich um mich zu kümmern. Überhaupt mag ich nicht, daß sie mir hinterherläuft. Soll sie doch in ihrer Schule bleiben. Vati und ich kommen sehr gut allein zurecht.« Unerschrocken blickte May-Britt in die Runde. Nicht nur die Kinder von Sophienlust, sondern auch Tante Isi, Tanta Ma und Schwester Regine hatten bereits versucht, sie umzustimmen. Doch bei May-Britts Sturheit konnte bisher niemand etwas erreichen.
»Hast du eigentlich schon überlegt, daß du durch deine Haltung deinen Eltern das Leben unnötig schwer machst?« mischte sich jetzt Pünktchen ein, die eigentlich Angelina hieß. Die vielen Sommersprossen auf ihrem Stubsnäschen hatten ihr den Spitznamen ›Pünktchen‹ eingebracht. Auch sie hatte nach dem Verlust ihrer Eltern in Sophienlust eine neue Heimat gefunden.
»Ich habe keine Eltern mehr. Nur noch meinen Vati. Und er versteht mich schon. Mit ihm bin ich ja auch nicht böse.«
»Aber er ist sicher traurig, daß du Karin nicht magst.«
»Aah... Er mag sie auch nicht. Er braucht sie nur, um die Wohnung in Ordnung zu halten. Und er heiratet sie, weil das mit den Haushälterinnen nie geklappt hat.« Es klang schnippisch und herzlos.
Jetzt fühlte sich Schwester Regine, die im Aufenthaltsraum die Aufsicht hatte, verpflichtet, einzugreifen.
»Was du da sagst, hört sich gar nicht schön an, May-Britt. Ich bin sicher, daß dein Vater sehr traurig wäre, wenn er deine Äußerungen hören würde. Mit dem Kleid wollte dir Frau Kranz eine Freude machen. Ebenso mit den anderen Sachen, die sie dir geschenkt hat. Es ist nicht recht, daß du das alles nicht beachtest.«
»Ich will sie nicht«, stieß das Kind leidenschaftlich hervor.
»Komm, gehen wir in den Wintergarten. Dort können wir uns ungestört unterhalten.« Schwester Regine nahm das kleine Mädchen an der Hand.
May-Britt ging nur widerwillig mit.
Schwester Regine hielt es für ihre Pflicht, mit May-Britt zu sprechen. Sie führte ihren Schützling in die Nische am Fenster, das von üppig gedeihenden Pflanzen fast verdeckt wurde. Papagei Habakuk, der seinen Platz im Wintergarten hatte, freute sich über die Abwechslung. Er schüttelte seine bunten Federn und krächzte herausfordernd.
»Warum bist du auf Karin Kranz so böse?« forschte die Erzieherin behutsam. »Hat sie dir etwas getan?«
»Ich mag sie nicht«, lautete die verstockte Antwort.
»Das muß doch einen Grund haben. Ich habe deine künftige Mutti ja auch kennengelernt und fand sie sehr nett.«
»Alle sagen das, weil sie mich ärgern wollen. Aber ich mag sie trotzdem nicht.«
»Bist du vielleicht eifersüchtig und möchtest deinen Vati lieber für dich allein haben?« Schwester Regine sprach ruhig mit liebevollem Unterton. »Das wäre durchaus verständlich, denn...«
»Nein, das ist es nicht«, unterbrach May-Britt temperamentvoll. »Ich kann sie nicht leiden. Und deshalb würde ich am liebsten hier bleiben. Kann ich das nicht, Schwester Regine?«
»Das würde deinen Vati kränken, und das willst du doch nicht. Vielleicht kannst du ihm zuliebe vergessen, daß du eine solche Abneigung gegen deine neue Mutter hegst.« Es war Schwester Regine ein echtes Anliegen, May-Britt umzustimmen.
Doch das schien unmöglich zu sein. »Das kann ich nicht«, beharrte das Kind eigensinnig. »Ich werde immer daran denken, daß sie meine Lehrerin war und eigentlich in die Schule gehört. Warum bleibt sie nicht dort?«
»Es gibt sehr viele Kinder, die glücklich wären, wenn sie eine so nette Mutti bekommen würden, die dafür sorgt, daß sie wieder ein Zuhause haben.«
»Dann kann sie ja zu diesen anderen Kindern gehen«, erklärte die Kleine feindselig.
Schwester Regine schüttelte den Kopf. Sie wußte, daß sich auch schon Frau von Schoenecker, die Schirmherrin von Sophienlust und Frau Rennert, die Heimleiterin, darum bemüht hatten, May-Britt umzustimmen. Auch sie hatten keinen Erfolg gehabt.
»Gibt es denn jemand anderen, den du dir als Mutti wünschst?«
»Meine Mutti ist tot. Ich habe nur noch meinen Vati und King«, antwortete May-Britt stur.
»Hallo, zum Essen kommen«, schnarrte Habakuk, der sich zu wenig beachtet fühlte. Er streckte die bunten Flügel aus und tat, als wolle er von seinem Platz fliegen. Doch in Wirklichkeit verließ er seine Stange selten freiwillig.
»Vielleicht hat Habakuk Hunger. Darf ich ihm ein paar Nüsse geben?« May-Britt lief zu dem bunten Papagei. Ihr war es ganz recht, daß sie dem ernsten Gespräch entkommen konnte. Denn sie wußte natürlich, daß die Argumente der anderen richtig waren und daß sie selbst von niemandem Unterstützung erwarten konnte. Das tat sie auch nicht. Sie würde es schon allein schaffen, Karin Kranz wieder hinauszuekeln. Das war May-Britts Ziel. Doch darüber konnte sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrem Vati reden. Nur King konnte sie ihr Geheimnis anvertrauen.
»Hier ist die Büchse mit dem Futter.« Schwester Regine sah zu, wie May-Britt den Papagei fütterte. Das Mädchen tat ihr leid. Doch wie sollte man ihm helfen?
*
Es war eine stille, bescheidene Hochzeitsfeier. Die einzigen Gäste waren die beiden Trauzeugen. May-Britt saß neben ihrem Vater und lehnte alle Speisen, die man ihr anbot, ab. Ihr Gesicht war finster.
Frau von Schoenecker hatte sie immerhin dazu bewegen können, das neue lange Kleid anzuziehen, doch sie konnte nicht verhindern, daß sich May-Britt am Morgen des Hochzeitstages die Haare so kurz abschnitt, daß jeder glaubte, einen Jungen vor sich zu haben. Jeder, der May-Britt sah, schüttelte den Kopf. Sie sah aus wie ein Bub in einem Kleid mit Rüschen und Spitzen.
Werner erschrak, als er sein Töchterchen sah. Karin jedoch lachte.
»Der kurze Haarschnitt steht dir gut«, meinte sie gegen ihre Überzeugung. An den Tatsachen konnte man ohnehin nichts mehr ändern. In einigen Wochen würden die Haare nachgewachsen sein, und alles war wieder in Ordnung.
»Was möchtest du zum Nachtisch?« fragte jetzt Werner das Kind. Er war an diesem Tag sehr nachdenklich. War es doch falsch gewesen, was er getan hatte? Hätte er mit der zweiten Heirat noch etwas warten sollen? Immerhin war May-Britts Mutter erst ein Jahr tot. Für ihn war es gleichgültig, wieviel Zeit vergangen war. Denn er würde auch fünf Jahre oder zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau ebenso empfinden, wie heute: Er würde sie vermissen, würde um sie trauern, würde sich als Verräter fühlen.