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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Zwei dünne Kinderärmchen verschränkten sich vor der schmalen Brust. Krampfhaft hielten die Händchen eine verwaschene Jacke zusammen, die sich merkwürdig ausbeulte. »Komm, sei lieb und gib mir das Kätzchen«, bat Eva Essbach, eine Angestellte des Jugendamtes, freundlich. Das Kind reagierte nicht, sah stur zu Boden. »Du kannst das Kätzchen nicht ins Heim mitbringen. Hier sind Tiere aus hygienischen Gründen verboten«, mischte sich jetzt Schwester Gaby ein, die seit vielen Jahren im Städtischen Kinderheim arbeitete. »Schau mal, wenn jedes Kind ein Tier mitbringen würde, hätten wir einen regelrechten Zoo.« Schwester Gaby ging in die Hocke, um dem »Neuzugang« ins Gesicht sehen zu können. Es war ein schmales blasses Gesichtchen, schon lange nicht mehr gewaschen, vor allen Dingen aber traurig, unendlich traurig. Der Blick der hellen Augen war finster, fast feindselig. Noch enger drückte das Mädchen die Katze, von der nur ein Stückchen zu sehen war, an sich. »Frau Essbach bringt dein Kätzchen ins Tierheim. Dort wird es gut gefüttert und gepflegt. Du darfst es auch besuchen, so oft du magst.« Die freundlichen Worte fanden keinen Widerhall. Das Kind rührte sich nicht. Als Schwester Gaby die Hände ausstreckte, um unter die Jacke zu fassen, wich es blitzschnell zurück.
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Zwei dünne Kinderärmchen verschränkten sich vor der schmalen Brust. Krampfhaft hielten die Händchen eine verwaschene Jacke zusammen, die sich merkwürdig ausbeulte.
»Komm, sei lieb und gib mir das Kätzchen«, bat Eva Essbach, eine Angestellte des Jugendamtes, freundlich.
Das Kind reagierte nicht, sah stur zu Boden.
»Du kannst das Kätzchen nicht ins Heim mitbringen. Hier sind Tiere aus hygienischen Gründen verboten«, mischte sich jetzt Schwester Gaby ein, die seit vielen Jahren im Städtischen Kinderheim arbeitete.
»Schau mal, wenn jedes Kind ein Tier mitbringen würde, hätten wir einen regelrechten Zoo.« Schwester Gaby ging in die Hocke, um dem »Neuzugang« ins Gesicht sehen zu können.
Es war ein schmales blasses Gesichtchen, schon lange nicht mehr gewaschen, vor allen Dingen aber traurig, unendlich traurig. Der Blick der hellen Augen war finster, fast feindselig.
Noch enger drückte das Mädchen die Katze, von der nur ein Stückchen zu sehen war, an sich.
»Frau Essbach bringt dein Kätzchen ins Tierheim. Dort wird es gut gefüttert und gepflegt. Du darfst es auch besuchen, so oft du magst.«
Die freundlichen Worte fanden keinen Widerhall. Das Kind rührte sich nicht. Als Schwester Gaby die Hände ausstreckte, um unter die Jacke zu fassen, wich es blitzschnell zurück.
Seufzend richtete sich die Kinderschwester wieder auf, dabei wechselte sie mit der Frau vom Jugendamt einen vielsagenden Blick. »Sieht aus, als ob wir eine Menge Ärger bekommen würden«, murmelte sie. »Dabei haben wir ohnehin zu wenig Personal. Woher kommt die Kleine eigentlich?«
Frau Essbach zuckte die Achseln.
Keine Ahnung.
Es war nichts aus ihr herauszubringen. Ich habe sie in der Stuttgarter Bahnhofsmission abgeholt. Sie wurde im D-Zug Amsterdam-Basel-Mailand ohne Begleitung aufgegriffen. Kein Gepäck, natürlich auch keine Papiere.« Mitleidig sah die Mitarbeiterin des Jugendamtes auf das bedauernswerte kleine Geschöpf.
»Wie alt mag sie sein?«
»Sechs oder sieben Jahre. Die Ermittlungen laufen. Bis jetzt hat man allerdings keinerlei Anhaltspunkte.«
»Wenn sie Angehörige hat, wird man sie suchen.«
Eva Essbach schüttelte den Kopf.
»Sieht mir nicht danach aus. Ich habe schon manches Kind aus miesen Verhältnissen geholt, aber so verwahrlost war noch keines.« Die kleine Fremde war tatsächlich nicht nur ungepflegt, sondern regelrecht verdreckt. Sie trug zerrissene, längst verwachsene Kleidung und Schuhe, die einige Nummern zu groß sein mußten.
»Vielleicht versteht sie überhaupt kein Deutsch«, überlegte Schwester Gaby laut.
»O doch. Sie hat die Beamten der Bahnpolizei ganz schön beschimpft.«
Schwester Gaby atmete hörbar durch. »Auweia, uns bleibt auch nichts erspart.«
»Sie kann ja nichts dafür«, gab Frau Essbach zu bedenken und wandte sich wieder an das kleine Mädchen. »Warum bist du weggelaufen?«
Keine Antwort.
»Möchtest du uns nicht wenigstens deinen Namen sagen? Wir wollen dir doch helfen. Ich verspreche dir auch daß du nicht zurück mußt wenn du nicht willst. Dieses Heim hier ist sehr schön. Es gibt viele Kinder in deinem Alter, viele Spielsachen und nette Schwestern, die sich um euch kümmern. Es wird dir gefallen. Aber das Kätzchen kann nicht mitkommen. Gib es mir. Ich tu ihm nichts.« Schwester Gaby sah das Kind eindringlich an. Das verstockte Mädchen brachte den ganzen Zeitplan durcheinander.
Die Kinderschwester faßte nach der kleinen Katze, die so verzweifelt festgehalten wurde.
»Pfoten weg!« zischte das Kind böse und wich noch weiter zurück.
Die Frau richtete sich achselzuckend auf.
Jetzt versuchte es Eva Essbach wieder. »Wie heißt denn dein Kätzchen?« erkundigte sie sich im Plauderton. »Darf ich es mal streicheln?«
»Geh weg und laß mich in Ruhe«, kreischte das Kind.
Eva Essbach ließ sich nicht davon beeindrucken. »Dein Kätzchen hat doch sicher Hunger, denn ihr beide seid bestimmt seit heute morgen unterwegs. Sollen wir ihm Milch holen?«
»Sie wollen es mir wegnehmen, aber ich gebe es nicht her«, zischte das blonde Mädchen.
»Nein«, versicherte die Jugendpsychologin so überzeugend, wie es nur möglich war. »Ich mache dir einen Vorschlag. Wir fahren miteinander zum Tierheim und bringen dein Kätzchen hin. Dann siehst du, wie es untergebracht ist. Und morgen hole ich dich ab, und wir besuchen deinen kleinen Freund.«
»Ich will nicht, ich will nicht«, schluchzte das Kind.
Schwester Gaby glaubte, lange genug Geduld geübt zu haben. Sie hatte an diesem Nachmittag noch eine ganze Menge zu tun. In einem Heim, in dem 180 Kinder versorgt wurden, konnte man auf die Marotten eines kleinen Mädchens keine Rücksicht nehmen.
»Sei endlich vernünftig«, mahnte die Pflegerin. »Wenn du mir dein Kätzchen nicht freiwillig gibst, muß ich es dir wegnehmen. Ich tu das nicht gern, aber…«
Schwester Gaby griff erneut unter die dünne, verwaschene Jacke und fühlte den mageren Tierkörper.
»Nein!« schrie das Kind gellend.
Plötzlich spürte die Kinderschwester einen heftigen Schmerz am Handgelenk. Im ersten Moment glaubte sie, die Katze hätte zugebissen und zog rasch ihre Hand zurück. Dann aber sah sie zwei Reihen kleiner Zähne auf ihrer Haut. Ohne Zweifel war das der Biß des Kindes.
»Schäm dich«, schimpfte die Frau ärgerlich. »Glaube ja nicht, daß du dich gegen uns durchsetzen kannst. Hier gibt es Vorschriften, die eingehalten werden müssen, und auch du machst darin keine Ausnahme. Wir sind schon mit ganz anderen fertig geworden. Wenn du auf Freundlichkeit nicht reagierst, muß es eben mit Strenge gehen. Gib jetzt endlich die Katze her.«
Wie ein Befehl klangen diese Worte. Und doch machten sie auf das Kind keinerlei Eindruck.
Schwester Gaby zog mit hartem Griff die verschränkten Ärmchen auseinander.
Das blonde Mädchen schrie und strampelte, versuchte zu beißen und zu kratzen.
Doch die Frau in der blütenweißen Kittelschürze war natürlich stärker. Sie hielt die Kinderhände auf dem Rücken fest und griff jetzt nach der halbwüchsigen Katze, die sich an die Kleidung ihrer kleinen Freundin klammerte.
Jetzt ließ sich das Kind zu Boden fallen und trat mit den viel zu großen, derben Schuhen gegen die Beine seines Widersachers.
Das getigerte Katzentier sprang mit einem weiten Satz unter den Tisch des Besuchszimmers.
Frau Essbach konnte es ohne Schwierigkeiten an sich nehmen. Eigentlich war ihr Auftrag damit erfüllt. Sie hatte das Kind abgegeben, mußte nun nur noch die Katze ins Tierheim bringen und konnte dann in ihr Büro zurückkehren.
Doch was sich jetzt zwischen Schwester Gaby und dem blonden Mädchen abspielte, würde sie noch lange beschäftigen. Das Kind kämpfte mit erstaunlicher Kraft und Ausdauer. Dabei kam klar zum Ausdruck, daß sie sich nicht dagegen wehrte, ins Kinderheim gebracht, sondern nur von ihrem Kater getrennt zu werden.
*
Am nächsten Morgen kam Eva Essbach wieder. Sie wartete im Besuchszimmer auf Schwester Gaby.
»Nanu, seit wann arbeiten Sie samstags?« erkundigte sich die Kinderschwester lachend.
»Die Sache mit der Klelnen aus dem D-Zug hat mir keine Ruhe gelassen«, antwortete die Frau vom Jugendamt ernst.
»Mir auch nicht«, bekannte Schwester Gaby ironisch. »Die halbe Nacht war ich auf den Beinen, weil unser Neuling getobt hat. Schließlich mußte ich, mit Rücksicht auf die anderen Kinder, den Arzt rufen damit er der Kleinen eine Beruhigungsspritze gab. Noch schläft der Schreihals, aber mir ist richtig Angst vor dem Moment, in dem er aufwacht. Ich bin nun schon so viele Jahre im Beruf, aber ein so widerspenstiges, widerwärtiges Kind habe ich noch nicht betreut. Allein die Ausdrücke, die dieses Mädchen benutzt sind haarsträubend.«
»Ich glaube, die Kleine wäre friedlich, wenn man ihr nur die Katze lassen würde.«
»Das ist bei uns völlig unmöglich.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich Frau von Schoenecker angerufen. Sie leitet das private Kinderheim Sophienlust.«
»Die Chefin hat mir davon erzählt. Sie wollen unseren Neuling also dort unterbringen. Mir kann’s nur recht sein. Andererseits glaube ich nicht, daß sich dieses Kind zur Aufnahme in Sophienlust eignet.« Schwester Gaby schüttelte den Kopf.
»Man will es versuchen.«
»Ein Kind, das in so einem Milieu aufgewachsen ist, stellt eine unzumutbare Belastung für ein Heim wie Sophienlust dar. Das Haus hat einen ausgezeichneten Ruf. Was glauben Sie, wie rasch der Findling aus dem D-Zug ihn ruinieren wird. Ganz abgesehen davon, daß die Angestellten in Sophienlust mit so schwierigen Kindern bestimmt nicht umgehen können. Ich wette, daß Sie das Mädchen in den nächsten Tagen wieder zurückbringen.«
»Nach Sophienlust darf die Kleine ihre Katze mitnehmen. Ich hoffe, daß dies die Voraussetzung dafür schafft, daß sie sich ohne Probleme einlebt.« Eva Essbach kannte Denise von Schoenecker persönlich und hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, was sie der charmanten Verwalterin von Sophienlust, die sich ehrenamtlich und selbstlos für ihre Schützlinge einsetzte, mit diesem Kind aufbürdete.
»Ich beneide die Kolleginnen in Sophienlust um diese Aufgabe nicht. Dort ist man in der glücklichen Lage sich die Kinder die man aufnimmt aussuchen zu können, was wir nicht dürfen. Um so mehr wundert es mich, daß man sich darauf eingelassen hat.«
»Sobald feststeht, daß das Kind keine Angehörigen mehr hat, werden wir versuchen, es in eine Familie zu vermitteln. Genügend Anträge liegen ja vor.«
»Ich wollte die Kleine nicht. Sie hat meines Erachtens nicht nur eine schlechte Erziehung und schreckliche Angewohnheiten, sondern auch einen miesen Charakter. Sehen Sie doch dem kleinen Mädchen mal in die Augen, dann wissen Sie alles.«
»Wer weiß, was sie alles erlebt hat Sie ist noch jung genug, alles zu ver gessen und sich den Menschen anzupassen, die gut zu ihr sind.«
»Glauben Sie das wirklich?« Schwester Gaby schnaubte verächtlich. »Ich glaube eher, daß diese Göre im Erziehungsheim landet.«
»Möglich. Aber man darf nichts unversucht lassen.«
»Wie schaffen Sie es nur, nach vielen Berufsjahren noch so optimistisch zu sein? Wenn ein etwa siebenjähriges Kind trotz liebevollem Zureden nicht bereit ist, auch nur seinen Vornamen preiszugeben, dann ist das in meinen Augen eine Verstocktheit, die nicht mehr zu reparieren ist.«
»In Sophienlust ist schon manches störrische Kind wieder vernünftig geworden.«
»Das ist kein Kind, sondern eine kleine Bestie. Wenn Sie sich die blauen Flecken und Kratzer an meinen Armen und Beinen betrachten, werden Sie mir recht geben.«
»Mir tut sie trotzdem leid.«
Ein Geräusch ließ sie sich umdrehen. Eine junge Helferin schob das blonde Mädchen ins Besuchszimmer. Man hatte die Kleine gebadet, gekämmt und frisch eingekleidet. Trotzdem wirkte sie erbärmlich dünn, bleich und unglücklich. Die hellen Kinderaugen waren ohne Glanz.
»Hallo«, begrüßte Eva das Kind mit der ihr eigenen Herzlichkeit. »Du siehst, ich löse mein Versprechen ein und hole dich ab. Wir fahren zu deinem kleinen Kater und besuchen ihn nicht nur, sondern nehmen ihn sogar mit nach Sophienlust.«
Der Ausdruck des kleinen, blassen Gesichtchens wechselte rasch von Freude zu Trauer und Verzweiflung.
Eva Essbach wollte die Kleine an der Hand nehmen, doch das blonde Kind zog sofort feindselig seine Finger zuruck.
»Sophienlust ist ein ehemaliges Gutshaus mit einem großen Park und einem eigenen Spielplatz. Es gibt eine Menge Tiere dort. Ponys, Hunde Hasen, einen Papagei, der sprechen kann…«
»Uns brauchen Sie ja nicht mehr«, unterbrach Schwester Gaby. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Sie reichte Eva die Hand und drängte gleichzeitig die junge Helferin, die neugierig lauschte, zur Tür.
Eva wandte sich wieder der Kleinen zu. »Komm, dein Kätzchen wartet sicher schon auf dich. Wie heißt es doch gleich?«
Irgendwie schien das Kind zu spüren, daß man es gut mit ihm meinte. Es folgte nach kurzem Zögern, verließ mit der Frau vom Jugendamt das Haus und stieg, ohne sich zu sträuben, in ihren Wagen.
»Smarty« piepste es später, als es auf dem Rucksitz saß und aufmerksam zuschaute, wie die Frau ihr Auto durch den Verkehr der Großstadt steuerte.
»Das ist aber ein hübscher Name.« Eva freute sich über dieses eine Wort, das vermutlich der Anfang einer Freundschaft war.
Eva Essbach unterhielt zu fast allen Kindern, die sie an Familien vermittelt hatte, enge Beziehungen, und sie war stolz darauf.
»Ich hab Smarty aus dem Kanal gezogen, als er noch ganz winzig war«, berichtete die helle Kinderstimme.
»Aus welchem Kanal?«
»Weiß ich nicht.«
»Du hast sicher auch einen hübschen Namen. Möchtest du ihn mir nicht verraten? Sonst weiß ich doch gar nicht, wie ich dich ansprechen soll. Zu mir kannst du Eva sagen. Soll ich mal raten, wie du heißt? Vielleicht Sabine?« Sie beobachtete die Kleine immer wieder im Rückspiegel. »Oder Tanja?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Meike«, gab es leise Auskunft. In diesem Augenblick hatte dieses Kind, das eigentlich mehr abstoßend als anziehend war, ihre Zuneigung erobert. Sie nahm sich vor, sich auch weiterhin für das Wohlergehen dieses Kindes einzusetzen, und sie wußte, daß Frau von Schoenecker sie darin unterstützen würde.
*
Heidi, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, sah mit großen Augen zu Schwester Regine auf.
»Warum muß sich Meike nicht waschen?« erkundigte sie sich erstaunt.
»Weil sie im Moment noch eine unüberwindliche Abneigung dagegen hat. Aber das wird sich ändern«, erklärte Regine Nielsen mit verständnisvollem Lächeln.
»Ich mag mich auch nicht waschen, und ich hab auch eine un... un... unwinterliche Abneigung.«
»Unüberwindlich, heißt das«, korrigierte Vicky gutmütig.
»Ihr seid doch vernünftig und wißt, daß man sich wohler fühlt, wenn man gewaschen ist.« Schwester Regine sammelte im Waschraum die gebrauchten Handtücher ein und ersetzte sie durch frische. Eine Arbeit, die normalerweise eines der Hausmädchen übernahm. Doch sonntags hatten sie frei.
Die Tätigkeit hier hatte ihr damals, als sie durch einen Unfall ihren Mann und ihr Töchterchen verlor, sehr geholfen, das Weiterleben zu ertragen. Wo quicklebendige Kinder den ganzen Tag über Forderungen stellten, Ideen entwickelten und Fürsorge brauchten, da blieb keine Zeit zum Nachdenken.
»Aber wenn man mit den Fingern ißt, fühlt man sich nicht wohler«, erklärte Vicky in leicht vorwurfsvollem Ton. Sie war die jüngste der drei Langenbach-Geschwister, die nach dem Tod ihrer Eltern in Sophienlust eine neue Heimat gefunden hatten.
Ein Lächeln huschte über Regine Nielsens hübsches Gesicht, das sie jünger und fraulicher wirken ließ.
»Es stimmt, unser Neuling benimmt sich bei Tisch nicht gerade gut. Aber vorerst wollen wir darüber hinwegsehen und Meike nicht durch Kritik vergranlen. Das versteht ihr doch.«
»Na ja«, gab Angelika, Vickys ältere Schwester, zögernd zu. »Aber daß sie ihre Katze mit ins Bett nehmen darf, verstehe ich nicht.«
»Überhaupt«, mischte sich jetzt Fabian, ein schmächtiger Junge mit mittelblondem Haar und graugrünen Augen, ein, »habt ihr schon gehört, was für Ausdrücke sie benutzt?«
Fabian hatte seine Eltern bei einem Zugunglück verloren und war als verhaltensgestörtes Kind nach Sophienlust gekommen. Es hatte lange gedauert und viel Geduld und Nachsicht erfordert, bis er wieder normal reagiert hatte.
»Kommt doch für ein paar Minuten in mein Zimmer, dann reden wir über alles«, schlug Schwester Regine vor.
Die Kinder zeigten sich begeistert, denn in Schwester Regines Zimmer eingeladen zu werden, bedeutete nicht nur heimelige Gemütlichkeit, sondern auch einen besonderen Gaumengenuß, das wußten sie alle. Regine Nielsen hatte stets besonders beliebte Leckereien für ihre Schützlinge in Vorrat.
Die Kinder ließen sich im Kreis auf dem Berberteppich nieder, und Regine Nielsen setzte sich ganz selbstverständlich zu ihnen.
»Ich wollte mit euch über Meike reden«, begann sie nachdenklich.
Sie wurde sofort von der kleinen Heidi, die sich das Mündchen mit getrockneten Aprikosen vollgestopft hatte, unterbrochen. »Weißt du eigentlich, daß sie den Teller ausgeleckt hat?«
Vicky stieß die Kleine unsanft in die Seite. »Mann, petz doch nicht immer.«
»Wenn es aber wahr ist. Die Schuhe hat sie auch nicht ausgezogen. Dabei hat Tante Ma gesagt…«
»…daß du mit vollem Mund nicht reden sollst.« Vicky kam sich der kleinen Heidi gegenüber schon sehr erwachsen vor.
Die Kleine protestierte empört.
»Wenn ihr nicht still seid, fliegt ihr beide raus«, drohte Fabian. Doch seine Warnung wurde natürlich nicht ernst genommen.
Alle Kinder drehten jetzt die Köpfe in Richtung Türe, wo es eben geklopft hatte. Nick und Pünktchen erschienen.
»Ach, hier seid ihr. Wir haben euch überall gesucht«, sagten sie fast gemeinsam.
Nick, der künftige Erbe von Sophienlust, und Pünktchen, das Mädchen mit den kessen Sommersprossen, waren unzertrennlich. Sie verstanden sich fabelhaft und hatten nur ganz selten Meinungsverschiedenheiten. Sicher lag das auch daran daß Pünktchen heimlich für den hübschen, dunkelhaarigen Jungen schwärmte.
»Wir sprechen über Meike.« Schwester Regine machte eine einladende Handbewegung, die Nick und Pünktchen sofort verstanden.
»Als Mutti und ich eben von Schoeneich kamen, wollte Meike gerade weglaufen. Mutti hat sie festgehalten und wurde prompt von ihr gebissen. Jetzt sitzt Meike im Biedermeierzimmer und heult«, berichtete Denise von Schoeneckers Sohn.
Denise, die von ihren Schützlingen liebevoll »Tante Isi« genannt wurde, lebte mit ihrer Familie auf dem benachbarten Gut Schoeneich. Gewöhnlich kam sie morgens nach Sophienlust und fuhr abends wieder heim. Daß sie auch sonntags herüberkam, war eigentlich eine Ausnahme.
»Wir wissen nicht, was Meike erlebt hat. Auf jeden Fall müssen es schlimme Dinge gewesen sein. Deshalb ist sie verängstigt und aggressiv. Sie sieht in jedem Menschen einen Feind.
Vielleicht hat man ihr sehr weh getan. Irgendwann werden wir es erfahren. Im Moment ist Meikes Angst noch zu groß, um über alles, was sie erlebt hat, sprechen zu können.« Schwester Regine redete so eindringlich, daß die Kinder still und nachdenklich wurden.
»Hat man Meike gehauen?« In Heidis großen blauen Kinderaugen war Mitgefühl zu erkennen.
»Ich weiß es nicht. Es gibt Schlimmeres als Schläge. Wenn man zum Beispiel einen Menschen verliert den man sehr lieb hat, dann tut das mehr weh, als jede Mißhandlung. Das wißt ihr doch alle.« Regine Nielsen sah ihre Schutzbefohlenen an.