Spatz im fremden Nest - Susanne Svanberg - E-Book

Spatz im fremden Nest E-Book

Susanne Svanberg

0,0

Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Der D-Zug fuhr durch eine verschneite Landschaft. Rauhreif glitzerte auf den tiefhängenden Zweigen der Bäume, auf Zäunen und Gräsern. Mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren Straßen und Wege. Die Glätte zwang viele Autofahrer, die Bahn zu benutzen. Auch Dr. Hans-Joachim von Lehn, dem jungen Tierarzt, ging es so. Er kam von einem Veterinär-Kongreß in Wiesbaden. Die fachlichen Diskussionen mit den Kollegen waren sehr interessant gewesen. Die Gedanken des gutaussehenden Mannes mit dem dichten blonden Haar und den klaren blauen Augen beschäftigten sich noch mit dem Problem der Gesunderhaltung des Mastviehs auf Schweine- und Geflügelfarmen. Ein bekannter Professor hatte darüber ein umfassendes Referat gehalten. Gedruckte Auszüge daraus waren später unter die Anwesenden verteilt worden. Dr. von Lehn nahm die eng beschriebenen Seiten zur Hand, um einige Stellen noch einmal nachzulesen. Doch er konnte sich nicht richtig auf seine Lektüre konzentrieren. Denn ihm gegenüber saß eine junge Frau und hielt ein lebhaftes Kind auf dem Schoß. Es mochte etwa eineinhalb bis zwei Jahre alt sein und sah ganz reizend aus. Blonde Locken umrahmten ein pausbäckiges Gesichtchen, das von großen blauen Augen beherrscht wurde. Immer wieder lachte die Kleine. Unwillkürlich wurde Hans-Joachim an seinen kleinen Sohn Peterle erinnert. Peterle war ungefähr im gleichen Alter, hatte ebenfalls blondes Haar und war genauso quicklebendig.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 146

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust Bestseller – 103 –

Spatz im fremden Nest

Warum Klein-Katrin für Aufregung sorgte

Susanne Svanberg

Der D-Zug fuhr durch eine verschneite Landschaft. Rauhreif glitzerte auf den tiefhängenden Zweigen der Bäume, auf Zäunen und Gräsern. Mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren Straßen und Wege.

Die Glätte zwang viele Autofahrer, die Bahn zu benutzen. Auch Dr. Hans-Joachim von Lehn, dem jungen Tierarzt, ging es so. Er kam von einem Veterinär-Kongreß in Wiesbaden. Die fachlichen Diskussionen mit den Kollegen waren sehr interessant gewesen.

Die Gedanken des gutaussehenden Mannes mit dem dichten blonden Haar und den klaren blauen Augen beschäftigten sich noch mit dem Problem der Gesunderhaltung des Mastviehs auf Schweine- und Geflügelfarmen. Ein bekannter Professor hatte darüber ein umfassendes Referat gehalten. Gedruckte Auszüge daraus waren später unter die Anwesenden verteilt worden.

Dr. von Lehn nahm die eng beschriebenen Seiten zur Hand, um einige Stellen noch einmal nachzulesen. Doch er konnte sich nicht richtig auf seine Lektüre konzentrieren. Denn ihm gegenüber saß eine junge Frau und hielt ein lebhaftes Kind auf dem Schoß. Es mochte etwa eineinhalb bis zwei Jahre alt sein und sah ganz reizend aus.

Blonde Locken umrahmten ein pausbäckiges Gesichtchen, das von großen blauen Augen beherrscht wurde. Immer wieder lachte die Kleine.

Unwillkürlich wurde Hans-Joachim an seinen kleinen Sohn Peterle erinnert. Peterle war ungefähr im gleichen Alter, hatte ebenfalls blondes Haar und war genauso quicklebendig.

Obwohl der junge Tierarzt nur zwei Tage von seiner Familie getrennt gewesen war, hatte er Sehnsucht nach ihr und freute sich unbändig auf das Wiedersehen. Jede Trennung von seiner jungen Frau machte ihn unruhig und ungeduldig. Er liebte die hübsche Andrea mit der ganzen Kraft seiner Jugend. Sie war für ihn die Verkörperung alles Schönen und Guten auf dieser Welt. Peterle war die vollkommene Ergänzung ihres Glücks.

Gewissenhaft versuchte der junge Tierarzt, sich wieder auf seinen Bericht zu konzentrieren. Gegenüber quietschte das Kind laut und übermütig. Es war ein freundliches kleines Wesen, das zu allen Mitreisenden Kontakt suchte. Doch der ältere Herr in der Ecke stellte sich schlafend, und die beiden Mädchen am Fenster unterhielten sich so gut, daß sie die Annäherungsversuche des Kindes überhaupt nicht bemerkten.

Hans-Joachim blinzelte hinter seinem Bericht hervor. Zu Hause spielte er oft mit Peterle und wußte sehr gut, wie Kinder in diesem Alter darauf reagieren. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Kleine mit den goldblonden Locken bemerkte seinen Blick sofort. Vergnügt kicherte sie, wie es nur Kinder in diesem Alter können.

Die Brücke war geschlagen. Hans-Joachim von Lehn kam von dem Kind nicht mehr los. Er brauchte nur den kleinen Finger zu bewegen, schon wurde es gegenüber registriert. Die Kleine mit ihrem sorglosen Lachen forderte ihn zu immer neuen Spielchen heraus. Vorbei war es mit dem Lesen.

Dr. von Lehn war nicht böse deshalb. Was konnte schöner sein als diese strahlenden blauen Kinderaugen?

»Katrin hat Vertrauen zu Ihnen. Dürfte ich Sie deshalb um einen großen Gefallen bitten?« sagte da eine rauh klingende Stimme.

Der junge Tierarzt, der die Mutter des Kindes bisher gar nicht beachtet hatte, ließ seinen Bericht sinken. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, gern.«

»Ich… ich müßte mal rasch raus. Könnten Sie Katrin bitte so lange halten?« Die junge Frau schien sehr nervös zu sein. Ängstlich schaute sie immer wieder zur Tür. Zitterten nicht ihre Hände?

»Selbstverständlich«, willigte Hans-Joachim ohne Bedenken ein. Er war überzeugt, daß das Anliegen dieser jungen Frau sehr dringend war und daß sich damit auch ihre Nervosität erklären ließ.

Er übernahm das kleine Mädchen, das keinen Moment traurig darüber zu sein schien, daß sich seine Mutti entfernte. Dr. von Lehn war erleichtert. Aus Erfahrung wußte er, daß es oft sehr schwierig war, ein weinendes Kleinkind zu beruhigen.

»Wie heißt du denn?« erkundigte er sich lächelnd. Irgendwie mußte er seinen Schützling ja beschäftigen.

Groß sahen ihn die blauen Kinderaugen an. Dicke, noch etwas unbeholfene Händchen tasteten sein Gesicht ab, rissen an seiner Krawatte.

Hans-Joachim mußte seine Frage wiederholen.

Jetzt lächelte die Kleine spitzbübisch. Sie schien ihre Erkundigungen abgeschlossen zu haben und mit dem Ergebnis sehr zufrieden zu sein.

»Tatrin!« erklärte sie laut und deutlich.

»Und weiter?«

»Tatrin lieb!« Schmeichelnd lehnte das Kind sein Lockenköpfchen an Hans-Joachims Brust.

»Ja, das bist du«, bestätigte der Tierarzt amüsiert. Inzwischen war ihm klargeworden, daß dieses Kind noch zu klein war, um seinen ganzen Namen zu kennen.

»Schau mal, magst du das?« Hans-Joachim zog eine Schachtel Kekse aus der Aktentasche, die er eigentlich für Peterle gekauft hatte. Doch er konnte ja am Bahnhof von Maibach Ersatz besorgen.

Sofort griff Katrin zu. »Mamamm! Mamamm! Mamamm!« krähte sie und öffnete verlangend das Münd­chen.

Hans-Joachim öffnete das Päck­chen und fütterte seinen kleinen Schützling.

Daß Katrin Hunger hatte, stand bald außer Zweifel. Denn sie futterte einen Keks nach dem anderen. Als die Schachtel leer war, hob Dr. von Lehn den Kopf und schaute zum ersten Mal zur Tür, ob Katrins Mutter wohl zurückkäme.

Der Tierarzt reckte in der nächsten Viertelstunde noch mehrmals den Hals und schaute durch die Scheiben hinaus auf den Flur. Katrins Mutti kam nicht.

Bereits zweimal hatte der Zug inzwischen gehalten. Die junge Frau erschien nicht mehr. Müde geworden, legte Katrin das Köpfchen in Hans-Joachims Armbeuge, schloß die Augen und schlief kurz darauf fest und ruhig.

Jetzt wurde Dr. Hans-Joachim von Lehn unruhig. Der alte Herr hatte das Zugabteil inzwischen verlassen, die beiden jungen Damen am Fenster unterhielten sich noch immer. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten.

Der Tierarzt stand auf und ging mit dem Kind auf dem Arm durch die langen Gänge zum Abteil des Zugführers. Ruhig und sachlich berichtete er über den Vorfall.

»Warten Sie hier«, empfahl der Mann in Uniform ihm. »Ich werde die junge Mutter ausfindig machen. Sie muß ja irgendwo im Zug sein. Vielleicht hat sie Bekannte getroffen und wurde aufgehalten.«

Hans-Joachim blieb in dem kleinen Büro.

Er wartete fünf Minuten, zehn, eine Viertelstunde. Immer nervöser wurde er. Heimlich verfluchte er jetzt seine Gutmütigkeit.

Endlich kam der Bahnbeamte zurück. Er war sichtlich erregt.

»Wir haben den ganzen Zug durchsucht und auch eine entsprechende Durchsage gemacht. Leider ohne Erfolg. Es muß angenommen werden, daß die Frau ausgestiegen ist.«

»Sie meinen, daß sie das Kind absichtlich im Stich gelassen hat?« Hans-Joachim fühlte, daß seine Stirn feucht wurde.

»Das ist schwer zu sagen.« Der Beamte zuckte hilflos die Schultern. »Vielleicht wollte die Mutter des Kindes auf dem Bahnsteig etwas besorgen und hat dabei den Zug verpaßt. Wir wenden uns auf jeden Fall sofort an die Bahnpolizei der nächsten Station.«

»Aber ich muß doch umsteigen.« Ratlos schaute Dr. von Lehn auf das Kind in seinen Arm, das von der ganzen Aufregung nichts bemerkte. Es schlief selig.

»Es tut mir leid, aber wir können verständlicherweise auf Ihre Angaben nicht verzichten. Es wird Sie etwas Zeit kosten. Das läßt sich nicht ändern.«

Hans-Joachim dachte sofort an Andrea, die ihn am Bahnhof von Maibach erwartete. Wie sollte er sie jetzt benachrichtigen, daß er nicht komme? Andrea hatte das Haus bestimmt schon verlassen.

»Und was geschieht, wenn die Bahnpolizei von der Mutter auch nichts weiß?« erkundigte sich der Tierarzt, in sein Schicksal ergeben.

»Dann wird das Kind der Bahnhofsmission übergeben. Meldet sich die Mutter auch dort nicht, bringt man es vorübergehend in ein Heim. Doch damit haben Sie nichts mehr zu tun. Im übrigen sind wir gleich da.« Der Zugführer deutete auf die ersten Häuser.

»Ich muß noch meine Tasche holen. Würden Sie bitte die Kleine übernehmen?« Hans-Joachim wollte das Kind vorsichtig auf eine gepolsterte Bank legen. Doch dabei erwachte Katrin und klammerte sich sofort ängstlich an ihn. Der Mann in der dunkelblauen Uniform schien ihr Angst einzuflößen. Sobald ihr Blick auf ihn fiel, begann sie laut zu weinen.

Was blieb Hans-Joachim anderes übrig, als Katrin mitzunehmen? Seufzend quälte er sich durch die Gänge, in denen die Reisenden bereits zu den Türen drängten.

*

Schwester Luzie legte einen Stoß Krankenblätter auf den Schreibtisch des Oberarztes. »Sie kommen doch heute abend?« erkundigte sie sich forsch.

»Wohin?« Zerstreut schaute Dr. Jörg Warding auf seine beste Mitarbeiterin.

Luzie Bernauer war Oberschwester der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses. Seit sechs Jahren schon verteidigte sie die Stellung gegen alle ehrgeizigen Kolleginnen. Die ständige Angst vor der Konkurrenz hatte sie über sich selbst hinauswachsen lassen. Sie wußte alles, hörte alles, konnte alles. Auf sie konnte man sich unbedingt verlassen. Sie war so etwas wie eine wandelnde Registratur. Dabei sah sie immer nett und gepflegt aus. Unter dem weißen Häubchen sahen rotblonde Locken hervor, und die vielen Sommersprossen auf der kessen Nase nahmen Luzies Gesicht die Strenge.

»Ins Schwesternheim natürlich. Dort ist doch heute Faschingsball.« Luzie Bernauer schaute den Oberarzt treuherzig an. Er gefiel ihr. Obwohl der große, sportlich wirkende Arzt mit dem dunklen Haar und den klugen dunklen Augen mit seinen achtunddreißig Jahren ein Jahr jünger war als sie, dachte sie ab und zu daran, daß es schön wäre, seine Frau zu sein.

Jörg Warding gehörte nicht zu jenen Ärzten, die mit jeder Schwester flirteten und dann doch eines Tages das Töchterchen eines Unternehmers heirateten. Er war ein stiller, gewissenhafter Mensch.

»Ich werde leider keine Zeit haben«, wich er aus. Ihm waren Vergnügungen dieser Art zuwider. Er konnte nicht begreifen, daß andere so lustig und ausgelassen sein konnten, wo es doch so viel Leid und Elend auf der Welt gab. Schon auf dieser Station gab es so viele schwere, erschütternde Schicksale. Auf den anderen Stationen des Hauses war es nicht besser. Und es gab so viele Krankenhäuser, überall auf der Welt. Dr. Warding konnte es nicht vergessen.

Schwester Luzie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie haben keinen Dienst, Herr Oberarzt. Diese Partys drüben im Schwesternhaus sind immer besonders nett. Es wäre wirklich schade, wenn Sei nicht kämen.« Sie verzichtete darauf, Jörg Warding durch Blicke oder Gesten zu verstehen zu geben, wie sehr sie ihn mochte. Sie beherrschte diese Kunst, die den meisten jungen Kolleginnen angeboren zu sein schien, einfach nicht. Dafür stand sie im OP genauso ihren Mann wie bei der Beurteilung von auftretenden Schwierigkeiten. Mit den Jahren hatte sie ein absolut sicheres Gefühl dafür entwickelt, wann ein Patient in Gefahr war, wann man den Arzt ins Krankenzimmer rufen mußte und wann nicht. Keine der Kolleginnen hatte ein so umfassendes medizinisches Wissen wie sie.

Der Mann im weißen Kittel fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das wellige dunkle Haar. »Es tut mir leid, aber mir fehlt die nötige Stimmung.«

»Das ist doch nur eine Ausrede«, meinte Schwester Luzie, die ohne Hemmungen auch unliebsame Dinge aussprach. »Ihnen fehlt der Wille. Glauben Sie denn wirklich, daß sich an Ihrem Schicksal etwas ändert, wenn Sie mit todernstem Gesicht herumlaufen und sich von früh bis spät in die Arbeit vergraben? Jeder Mensch braucht etwas Abwechslung und Entspannung. So bedauerlich der Unfall damals war, es sind inzwischen immerhin zwei Jahre vergangen.« Schwester Luzie bohrte die Hände in die Taschen ihres weißen Kittels. So energisch und offen sprach sie manchmal auch mit Patienten, denen der Wille zur Gesundung fehlte. Meistens hatte sie Erfolg damit.

Jörg Warding drehte langsam den Kopf und wandte sein schmales, etwas kantiges Gesicht der Oberschwester zu. »Zwei Jahre schon?« fragte er, als könnte er es nicht glauben. »Mir ist, als wäre meine Frau erst gestern ums Leben gekommen.«

»Sie gönnen sich keine Minute Freizeit. Das ist es. Ihr Dasein besteht aus Arbeit und Schlaf. So kann es doch nicht weitergehen.«

»Vielleicht haben Sie recht.« Mit einer müden Handbewegung fuhr sich Dr. Warding über die hohe Stirn.

»Es wird Ihnen guttun, einmal nicht an Ihren Kummer zu denken und auch nicht an die Patienten. Sie kommen also?« Freude schwang in Schwester Luzies Stimme mit. Vielleicht, so dachte sie, würde dieser Abend sie einander näherbringen.

Luzie Bernauer hatte zwar beruflich viel erreicht, aber privat hatte sie alles verpaßt. Wenn andere Mädchen zum Tanzen gegangen waren, hatte sie über medizinischen Fachbüchern gesessen. Ihr Wissen war fast so umfassend wie das eines Arztes, aber ihr Herz war einsam.

»Nun gut.« Dr. Wardings Antwort klang nicht eben begeistert. Fast war er froh, daß es im nächsten Moment in der Gegensprechanlage knackte.

»Dr. Warding bitte sofort in die Aufnahme«, meldete die Stimme einer jungen Schwester.

Jörg drückte einen Knopf. »Ich komme«, antwortete er kurz.

»Dr. Brehm wird Sie ablösen«, sagte Luzie Bernauer, die über die Dienstzeit der Ärzte stets informiert war.

Doch das hörte Dr. Warding schon nicht mehr. Eilig ging er durch den langen, blankgebohnerten Flur. Es roch nach Wachs und Desinfektionsmitteln. Der weiße gestärkte Kittel flatterte um seine Beine. Zwei Schwesternschülerinnen grüßten lächelnd.

Jörg erreichte den Fahrstuhl und ließ sich von ihm ins Erdgeschoß bringen. Die Aufnahme bestand aus zwei großen, gekachelten Räumen, die mit den wichtigsten Geräten ausgestattet waren. Jeden Tag gab es mehr oder weniger schwer Verletzte, die hier zunächst untersucht wurden.

»Ein Fall für Sie«, meldete der junge Kollege, der heute hier Dienst tat. »Sieht übel aus.«

Dr. Warding schaute die Schwester hinter der Schreibmaschine fragend an. Sie nahm das Protokoll auf und konnte ihm wichtige Informationen liefern.

»Auto-Unfall auf dem Kaiser-Friedrich-Ring. Frontal-Zusammenstoß durch falsches Überholen eines anderen Verkehrsteilnehmers. Die Verletzte heißt Julia Petri und ist siebenundzwanzig Jahre alt. Das wissen wir aus den Papieren. Sie war allein im Wagen.«

»Ist sie bewußtlos?« Dr. Warding trat an den Untersuchungstisch. Er beugte sich über die junge Frau und hob vorsichtig ihre Augenlider etwas an, um die Reflexe zu prüfen.

»Kopfverletzung, Rippenbrüche, innere Blutungen«, meldete der junge Arzt. »Sie werden operieren müssen, Herr Oberarzt.«

»Haben wir schon Röntgenaufnahmen?«

»Noch nicht. Ich dachte, daß Sie selbst…«

»Gut. Lassen Sie die Patientin sofort in die Röntgenabteilung bringen. Ich sorge inzwischen dafür, daß im OP alles vorbereitet wird.« Dr. Warding gab Schwester Luzie über die Gegensprechanlage genaue Anweisungen. Er wußte, daß sie kaum nötig gewesen wären, denn Luzie Bernauer kannte jeden Handgriff, der getan werden mußte. Sie war einfach unbezahlbar.

Schon waren Jörgs Gedanken wieder bei der Schwerverletzten. Selbstverständlich würde er alles tun, um deren Leben zu retten. Jeder Arzt hätte es getan. Doch bei Dr. Warding hatte es noch einen anderen Grund, wenn er mehr tat, als seine Pflicht war. Er hatte durch die Nachlässigkeit eines Kollegen seine Frau verloren, und er wollte dafür kämpfen, daß so etwas nie mehr passierte.

Die Röntgenaufnahmen bestätigten die erste Diagnose. Der Verdacht eines Schädelbruchs blieb allerdings nicht bestehen. Jörg Warding war froh darüber. Denn damit waren die Chancen für die junge Frau viel besser.

Zehn Minuten später half Schwester Luzie dem Oberarzt in den grünen Kittel, band ihm den Mundschutz vor und stülpte ihm die sterilen Gummihandschuhe über. Wie schon so oft vertrat sie die OP-Schwester. Die beiden Assistenzärzte und die Narkoseärztin warteten bereits. Man hatte Blutkonserven bereitgestellt, das Beatmungsgerät war einsatzbereit.

Das kleine Team war bestens aufeinander eingespielt. Man arbeitete Hand in Hand.

Aufmerksam verfolgte Schwester Luzie jeden Handgriff des Chirurgen.

Das Operationsgebiet war mit sterilen Tüchern abgedeckt. Nur eine schmale Stelle zwischen dem rechten unteren Rippenbogen und dem Unterbrach war freigeblieben, wurde jetzt vom Assistenzarzt mit Desinfektionsmittel abgerieben.

Schwester Luzie reichte ihrem Chef das Skalpell. Ruhig und sicher durch­trennte er die obere Hautschicht. Die Blutung war minimal. Der Assistent zog die Wundränder mit Hauthaken auseinander.

Gewissenhaft und sorgfältig durchschnitt Jörg das Fett- und Muskelgewebe, öffnete die Bauchhöhle, Blut quoll ihm entgegen.

»Absaugen«, murmelte der Chirurg.

Schon reichte Schwester Luzie den Sauger hinüber, schon brummte das Gerät. Ein unangenehmes schmatzendes Geräusch entstand.

»Blutdruck sinkt.« Das war die Stimme der Narkoseärztin.

»Unterstützen Sie den Kreislauf.« Dr. Warding drehte nicht einmal den Kopf. Er wußte, er konnte sich auf seine Mitarbeiter verlassen, konnte sich voll auf seine Aufgabe konzentrieren.

Noch immer quoll unaufhörlich Blut aus der Tiefe des Bauchraumes. Es war unmöglich, an das verletzte Organ heranzukommen. Ein weiterer Sauger wurde eingesetzt.

»Blutdruck fällt weiter ab.« Die Besorgnis in der Stimme der Narkoseärztin war nicht zu überhören.

Dr. Warding wußte sehr genau, daß er die Blutung so rasch wie möglich zum Stillstand bringen mußte. Würde es ihm gelingen?

*

Ungeduldig ging Andrea von Lehn im großen Wohnraum auf und ab. Sie blieb immer wieder am Fenster stehen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Obwohl Schnee lag, konnte man kaum ein paar Meter weit sehen.

Marianne, das Hausmädchen, kam und sah verwundert auf den gedeckten Tisch im Eßzimmer. »Ist Herr Dr. von Lehn noch nicht da?«

Rasch wandte sich Andrea um. »Nein. Er hat angerufen, daß es etwas später wird. Ich mache mir Sorgen, Marianne.« Andrea seufzte. Mit einer ungeduldigen Bewegung strich sie sich das lange dunkelbraune Haar zurück. Wenn sie dieses Haar wie jetzt offen trug, dazu eine weiße Bluse und einen Faltenrock, sah sie aus wie eine Gymnasiastin, so jung und unerfahren.

Marianne hatte die hübsche Hausherrin vom ersten Augenblick an bewundert. Besonders aber mochte sie deren heiteres, lebhaftes Wesen. So bekümmert wie jetzt hatte sie die junge Frau eigentlich noch nie erlebt. »Dazu haben Sie ganz bestimmt keinen Grund«, versuchte sie zu trösten. »Der Herr Doktor wird verhindert sein.«

»Aber wodurch? Die Konferenz hat doch schon gestern abend geendet.« Ratlosigkeit spiegelte sich in Andreas schönen blauen Augen.

»Sicher ist es gestern spät geworden. Deshalb kommt Ihr Mann erst heute.«

»Hm. Aber ich habe ihn am Nachmittag erwartet, nicht so spät.«

»Sie sollten sich keine Gedanken machen. Er wird Ihnen sicher alles erklären.« Marianne lächelte zuversichtlich. Sie war gern bei dem jungen Tierarzt und dessen Familie. Und seit es Peterle gab, hätte sie mit niemandem tauschen mögen. Richtig stolz war sie, wenn Andrea ihr das Kind anvertraute.

»Sie haben recht, Marianne. Gehen Sie ruhig schlafen.«

»Aber ich könnte doch noch die Wäsche…«

»Das hat Zeit bis morgen«, unterbrach Andrea sie freundlich. Merkte Marianne denn nicht, daß sie allein sein wollte, wenn Hans-Joachim kam?

Doch Marianne spürte es und zog sich mit freundlichem Gute-Nacht-Gruß zurück.