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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Das Baby im Arm der eleganten Dame schrie aus Leibeskräften. Sein kleines rundes Gesichtchen war krebsrot. Wild fuchtelten die geballten Fäustchen durch die Luft. Denise von Schoenecker ging der Besucherin lächelnd entgegen. Charmant reichte sie der Frau in dem auffallend modischen Kleid die Hand. Doch jeder Versuch einer Verständigung war durch das ohrenbetäubende Geschrei des Säuglings unmöglich. Die Besucherin zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. »Geben Sie mir das Kleine«, meinte Denise und streckte in ihrer mütterlichen Art die Hände aus. Nur zu gern kam die vornehme Dame diesem Vorschlag nach. Sie war sichtlich froh, von der ungewohnten Last befreit zu werden. Und dann zeigte sich, dass sie das Baby nicht ungern, sondern auch äußerst ungeschickt gehalten hatte. Bei Denise beruhigte sich das Kind sofort. »Ich bin Astrid Langenburg. Mein Mann ist Eigentümer des bedeutendsten Verlagshauses in diesem Raum«, stellte sich die brünette Dame mit der tadellos sitzenden Frisur vor. Es hätte dieser Erläuterungen nicht bedurft. Denise kannte die Langenburgs und wusste, dass sie zu den reichsten Familien von Maibach gehörten. Der Verlag Max Langenburg beschäftigte etwa sechshundert Arbeiter und Angestellte. Die jugendliche Denise von Schoenecker bot ihrer Besucherin einen Platz im Biedermeierzimmer an und setzte sich ihr gegenüber.
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Seitenzahl: 150
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Das Baby im Arm der eleganten Dame schrie aus Leibeskräften. Sein kleines rundes Gesichtchen war krebsrot. Wild fuchtelten die geballten Fäustchen durch die Luft.
Denise von Schoenecker ging der Besucherin lächelnd entgegen. Charmant reichte sie der Frau in dem auffallend modischen Kleid die Hand. Doch jeder Versuch einer Verständigung war durch das ohrenbetäubende Geschrei des Säuglings unmöglich. Die Besucherin zuckte die Schultern und verdrehte die Augen.
»Geben Sie mir das Kleine«, meinte Denise und streckte in ihrer mütterlichen Art die Hände aus.
Nur zu gern kam die vornehme Dame diesem Vorschlag nach. Sie war sichtlich froh, von der ungewohnten Last befreit zu werden. Und dann zeigte sich, dass sie das Baby nicht ungern, sondern auch äußerst ungeschickt gehalten hatte. Bei Denise beruhigte sich das Kind sofort.
»Ich bin Astrid Langenburg. Mein Mann ist Eigentümer des bedeutendsten Verlagshauses in diesem Raum«, stellte sich die brünette Dame mit der tadellos sitzenden Frisur vor.
Es hätte dieser Erläuterungen nicht bedurft. Denise kannte die Langenburgs und wusste, dass sie zu den reichsten Familien von Maibach gehörten. Der Verlag Max Langenburg beschäftigte etwa sechshundert Arbeiter und Angestellte.
Die jugendliche Denise von Schoenecker bot ihrer Besucherin einen Platz im Biedermeierzimmer an und setzte sich ihr gegenüber. Immer wieder sah sie auf den Säugling in ihrem Arm. Es war ein bildhübsches Kind mit einer glatten rosigen Haut und erstaunlich klaren dunklen Augen.
»Ich wollte Sie bitten, das Kind bei sich aufzunehmen, bis man Adoptionseltern gefunden hat«, begann Astrid Langenburg geschäftsmäßig. Ihre schlanken gepflegten Hände lagen dabei ruhig auf der Kroko-Ledertasche. An ihren etwas langen Fingern glitzerten mehrere geschmackvoll ausgewählte Ringe. Auffallend war ein großer Diamant von bemerkenswerter Reinheit.
Denise zog fragend die Augenbrauen hoch. Wie kam die Frau des reichen Verlegers zu diesem hübschen Baby? Dass es nicht ihr eigenes Kind sein konnte, war sofort klar.
Astrid bemerkte den fragenden Blick und lachte gekünstelt. »Ich weiß, dass ich Ihnen eine Erklärung schuldig bin. Sie werden es nicht glauben, Frau von Schoenecker, aber ich habe das Kind gefunden. Gefunden wie eine Geldbörse oder einen Regenschirm.«
»Das ist allerdings erstaunlich«, sagte Denise überrascht. »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es eine Mutter gibt, die ein so süßes kleines Wesen herzlos aussetzt.«
»Möglicherweise ein armes unverheiratetes Mädchen …«
»Und Sie haben keinerlei Anhaltspunkte dafür, wem das Kleine gehören könnte?« Mitleidig sah Denise auf den Säugling. Er war erst wenige Tage alt und doch schon ganz allein auf der Welt. Ein Kind, das Hilfe und Liebe brauchte. Ein Kind, das auf die Güte mitleidiger Menschen angewiesen war.
»Überhaupt keine. In der Decke lag lediglich ein Zettel mit einem einzigen Wort: Tim. Es soll wohl der Name sein.«
»Tim«, wiederholte Denise leise. Sie schaute in das kleine Gesichtchen mit den dicken Bäckchen und drückte das Bündel sanft an sich.
»Stellen Sie sich vor, ich gehe im Park meines Hotels am See spazieren und sehe auf einer Bank plötzlich eine karierte Decke. Zuerst dachte ich, ein Gast hätte sie liegenlassen. Doch dann sah ich, dass sich die Decke bewegte. Ich ging näher, weil ich mir das nicht erklären konnte. Ja, und da fand ich das Kind.« Die elegante Besucherin machte eine Pause und atmete tief durch. Dann fuhr sie fort: »Zunächst habe ich natürlich geglaubt, die Mutter oder eine andere Bezugsperson würde sich in der Nähe aufhalten. Ich habe den Park abgesucht, habe gerufen und habe den Portier um Unterstützung gebeten. Man hat die ganze Gegend abgesucht, aber leider vergeblich.«
»Sie fanden das Kind also nicht hier?«, erkundigte sich Denise interessiert.
Astrid Langenburg verneinte. »Ich war für einige Tage in Seewalchen am Attersee, einem kleinen ruhigen Ferienort, den ich sehr mag. Wissen Sie, ich bin Österreicherin und liebe meine Heimat sehr.«
Denise von Schoenecker bettete das Baby auf die Couch und holte sich Schreibzeug, um sich einige Notizen zu machen.
»Ich hätte mich auf den Standpunkt stellen können, dass mich das alles nichts angeht«, erklärte Astrid Langenburg selbstgefällig. »Aber das habe ich einfach nicht fertiggebracht. Tim wäre dann in ein staatliches Waisenhaus gekommen, in dem er wahrscheinlich eine traurige Zukunft gehabt hätte. Um das zu vermeiden, habe ich ihn kurzerhand hierhergebracht. Ich habe von Ihrem Kinderheim schon viel Gutes gehört und bin überzeugt, dass der Kleine hier die Pflege bekommt, die er braucht. Selbstverständlich komme ich für alle Unkosten auf.« Die Besucherin lächelte gewinnend. »Sie werden mich fragen, weshalb ich das Baby nicht behalte. Das ist nicht so einfach zu beantworten. Sehen Sie, mein Mann legt sehr viel Wert auf ein ruhiges gepflegtes Heim. Schon deshalb könnte ich es nicht verantworten, ein Kleinkind ins Haus zu nehmen. Außerdem hat er eine Tochter aus erster Ehe, die wahrscheinlich wenig Wert auf Familienzuwachs legen würde. Jedenfalls halte ich es für besser, wenn das Baby recht schnell von einem jungen Ehepaar adoptiert wird und so in einer Familie aufwächst. Ich glaube, dass Sie, Frau von Schoenecker, in der Vermittlung solcher Adoptionen einige Erfahrung haben. Bitte, regeln Sie alles Nötige. Sie sollen es nicht umsonst tun.«
»Das wird nicht so einfach sein, Frau Langenburg. Ich nehme Tim selbstverständlich gern auf. Allerdings bräuchte ich noch die Bestätigung der österreichischen Behörden, dass Tim als Findelkind gilt.«
Astrid Langenburg schluckte mehrmals. Eine hektische Röte brannte plötzlich auf ihren Wangen. »Genügt es, wenn ich diese Bescheinigung von meinem nächsten Besuch in Österreich mitbringe?«, fragte sie hastig.
Denise nickte lächelnd. »Schwieriger ist es mit der Adoption. Nach bestehendem Recht brauchen wir dafür das Einverständnis der Eltern, zumindest der Mutter.«
»Wenn man sie aber nicht kennt?«
»Es müssten entsprechende Nachforschungen angestellt werden.«
»Und wenn man nichts herausfindet?« Die Besucherin war jetzt lange nicht mehr so ruhig wie zuvor.
»Dann wird das Jugendamt darüber entscheiden. Vermutlich muss man sich auch mit den Behörden in Österreich absprechen. Auf jeden Fall wird man eine lange Wartezeit verstreichen lassen.«
»Und daran ist gar nichts zu ändern?«
»Nichts.«
»Aber es liegt doch gewiss im Interesse des Kindes, dass es möglichst rasch in eine Familie vermittelt wird.«
»Man geht davon aus, dass Kinder bei ihren eigenen Eltern die beste Pflege erfahren. Stellen Sie sich das Leid beider Parteien vor, wenn die Mutter nach vollzogener Adoption auftaucht und ihr Kind zurückfordert. Um solche Härtefälle zu vermeiden, wartet man lieber etwas länger.«
»Aber wenn sich nun herausstellen sollte, dass die Mutter im See ertrunken ist, dass sie Selbstmord begangen hat, wie man vermutete?« Frau Langenburg ließ nicht locker.
»Wenn die Mutter ledig war, ginge natürlich alles sehr schnell. Dann wäre Tim ja als Waise anzusehen.« Denise sah hinüber zur Couch. Der Säugling schlief friedlich. Er hatte von seinem schlimmen Schicksal keine Ahnung.
»Dann hängt also alles von der Klärung des Falles ab.« Astrid Langenburg legte mit spitzen Fingern einen Scheck auf die Tischplatte und erhob sich rasch. »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen«, sagte sie reserviert. »Selbstverständlich erkundige ich mich wieder nach meinem Schützling.«
Ein wenig hochmütig neigte die reiche Frau den Kopf und verließ dann stolz und aufrecht das Zimmer. Denise läutete nach der Kinderschwester.
*
Nick, der hübsche Junge mit dem blauschwarzen Haar und den blitzenden dunklen Augen, stürmte temperamentvoll in die Halle. Er sah gerade noch, dass Pünktchen und Angelika eilig die Treppe emporrannten.
»Moment!«, rief Nick halblaut. »Ich gehe baden. Kommt ihr mit?« Er schwenkte die Badehose.
Die beiden Mädchen wandten sich um und kamen dann rasch zurück. Eigentlich hatten sie eine derartige Einladung noch nie abgeschlagen, doch jetzt schüttelte Pünktchen, die Kleine mit dem langen blonden Haar, den leuchtend blauen Augen und den vielen lustigen Sommersprossen auf dem Stupsnäschen, bedauernd den Kopf.
»Schwester Regine hat uns versprochen, dass wir das Baby spazieren fahren dürfen«, berichtete Angelika aufgeregt.
»Welches Baby denn?«, fragte Nick verblüfft. Als künftiger Erbe von Sophienlust kümmerte er sich eifrig um alles, was das Kinderheim betraf. Eigentlich war es noch nie vorgekommen, dass es auf Sophienlust etwas gab, was er nicht wusste. Obwohl er mit seiner Mutti, seinem Stiefvater und dem Halbbruder Henrik auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, kam er jeden Tag nach Sophienlust. Meist benutzte er für die kurze Strecke das Fahrrad, manchmal kam er aber auch hoch zu Ross, oder Denise nahm ihn im Wagen mit.
»Weißt du denn noch nichts von dem Findelkind?« Pünktchen blies erstaunt die Backen auf. Sie war seit vielen Jahren in Sophienlust. Das große schöne Haus war ihr zur zweiten Heimat geworden, und Nick war fast so etwas wie ein Bruder für sie. Von Anfang hatte er sich liebevoll um sie gekümmert. Viele gemeinsame Erlebnisse verbanden die beiden Kinder, ließen sie fast unzertrennlich werden.
»Ein Findelkind? Bei uns?« Nick strich sich die dunklen Locken aus der Stirn. »Ich habe immer gedacht, so etwas gäbe es nur in Büchern.«
»Nein, es gibt Tim wirklich. Und Frau Langenburg hat ihn tatsächlich gefunden. Einfach auf einer Bank am See.« Angelika reckte sich ein wenig. Sie war sehr stolz darauf, endlich einmal mehr zu wissen als Nick.
»Willst du ihn sehen?« Für Pünktchen stand bereits fest, dass sie an diesem Nachmittag auf ein erfrischendes Bad verzichten würden.
»Blöde Frage«, murmelte Nick gekränkt und wandte sich der Treppe zu.
Im Säuglingszimmer drängten sich bereits die übrigen Kinder von Sophienlust. Alle wollten sehen, wie Tim gewickelt wurde.
Schwester Regine hatte den Buben und Mädchen das Zuschauen lächelnd erlaubt. Sie wusste, dass schon in wenigen Tagen die Neugierde verflogen sein würde.
»Na, was sagst du nun? Ist das nicht ein süßer kleiner Junge?« Pünktchen stupste ihren Freund Nick in die Seite.
»Es geht.« Nick war noch immer verärgert. Außerdem beschäftigte ihn Tims Herkunft. Wer mochte den kleinen hilflosen Kerl ausgesetzt haben? Das musste man doch herausfinden. Jedes Kind hatte Eltern. Auch der kleine Tim. Wo waren sie? Warum kümmerten sie sich nicht um ihn?
Das Interesse der übrigen Kinder galt dem Baby. Niemand kümmerte sich um Nick. Auch Pünktchen schien dessen Anwesenheit völlig vergessen zu haben.
Schwester Regine erläuterte den kleineren Kindern die wichtigsten Begriffe der Babyhygiene, und Tim ließ alles geduldig über sich ergehen. Er quietschte ein bisschen, als Schwester Regine flink und geschickt seine Nasenlöcher säuberte und die Hautfalten an seinem Hals mit einem ölgetränkten Wattebausch abrieb. Doch dann war er sofort wieder friedlich. Überhaupt schien er ein sehr ruhiges, zufriedenes Baby zu sein.
Eine Weile sah Nick der Kinderschwester über die Schultern der Kameraden hinweg zu. Er stellte fest, wie sehr sie sich freute, wieder einmal ein Baby versorgen zu dürfen. Jeder Handgriff schien ihr Freude zu machen. Dann wandte sich Nick ab. Irgendwie fühlte er sich überflüssig. Er ging langsam die teppichbelegte Treppe hinunter und hinaus in den gepflegten Park.
Obwohl es draußen heiß war, hatte Nick keine Lust mehr, schwimmen zu gehen. Allein machte es ihm keinen Spass. Missmutig setzte er sich in den Schatten einer alten Rotbuche, zog die Beine an und wartete.
Er sah, dass der alte Justus den Kinderwagen vors Portal brachte und schließlich Schwester Regine sehr gewissenhaft und vorsichtig das Baby hineinpackte. Pünktchen und Angelika ergriffen voll Stolz gemeinsam den Schiebegriff. Die übrigen Buben und Mädchen hielten sich zurück und wandten sich schließlich dem Spielplatz zu. Nick war das ganz recht. Er wartete noch etwas, dann lief er den beiden Mädchen nach.
»Hör mal, wir haben ausgelost, wer Tim spazieren fahren darf. Und wir haben den Treffer gezogen«, meinte Angelika ein wenig aggressiv.
»Ach, lass ihn doch«, beschwichtigte Pünktchen. »Nick will bestimmt nicht den Wagen fahren. Dazu ist er doch schon viel zu groß.« Heimlich bewunderte sie den bildhübschen Nick, der schon ein bisschen erwachsen war. Und manchmal wünschte sie sich, dass er mehr in ihr sehen sollte als nur ein kleines Mädchen.
»Genau.« Nick blieb absichtlich an der Seite der Mädchen. »Weiß man denn gar nichts Näheres über Tim?«, fragte er neugierig.
»Doch. Alle vier Stunden bekommt er das Fläschchen. Und genauso oft wird er gewickelt.«
Angelika fühlte sich recht erwachsen. Ein lebendiges Baby zu betreuen, das war doch etwas ganz anderes, als mit Puppen zu spielen. Tim war auch viel hübscher als die schönste Puppe. Wenn er schlief, wie jetzt, sah er wie ein Barockengel aus.
»Das meine ich doch nicht.« Nick verdrehte die Augen. »Wo hat man ihn gefunden? Und wie?«
»Ist doch nicht so wichtig«, antwortete Angelika. »Die Hauptsache, er ist hier.«
»Finde ich auch«, pflichtete Pünktchen ihr bei. »Wenn man seine Mutti findet, holt sie ihn wieder weg. Also möchte ich gar nicht wissen, wer sie ist.«
»Mit Mädchen kann man sich einfach nicht richtig unterhalten.« Nick verzog den Mund und blieb stehen. Natürlich fand er Tim auch nett, doch das Getue der Mädchen war ihm einfach zu albern.
Nick ging langsam den Weg zurück. Er würde mit seiner Mutti über alles sprechen. Sie hatte ganz bestimmt Verständnis für die Fragen, die ihn quälten.
*
Das Abendbrot im Hause Langenburg wurde ungewöhnlich still eingenommen. Nur das Klappern der Bestecke war zu hören. Eben verließ das Hausmädchen das Esszimmer, um die Vorspeise-Schalen hinauszubringen.
Max Langenburg hob den Kopf und sah seine Tochter forschend an. Das Mädchen schaute stur auf seinen Teller und stocherte lustlos im Essen herum.
»Ich hätte gedacht, dass du nach sechs Wochen Erholungsaufenthalt in Österreich frischer und gesünder zurückkommen würdest, Sissi«, meinte der Verleger in liebenswürdigem Ton. Er hing sehr an seiner Tochter aus erster Ehe, hatte jedoch kaum Gelegenheit, ihr das zu zeigen. Die Arbeit im Verlag beanspruchte ihn zu sehr. Da er sich alle Entscheidungen selbst vorbehielt, war er dort unabkömmlich. Aber er hatte es verstanden, das Unternehmen ständig zu vergrößern, seinen Reichtum zu mehren. Doch das alles war auf Kosten seines Privatlebens gegangen. Max Langenburg hatte weder Zeit für seine zweite Frau noch für seine Tochter. Abende, an denen er – wie jetzt – zum Nachtmahl zu Hause war, hatten Seltenheitswert.
»Das Kind hat sich doch fabelhaft erholt«, mischte sich Astrid Langenburg ein. »Nur die lange Fahrt hat Elisabeth ein wenig blass gemacht. Morgen ist das schon wieder ganz anders. Das wirst du sehen.«
Astrid Langenburg nannte das junge Mädchen noch immer ein Kind, obwohl Sissi schon siebzehn Jahre alt war, und genauso behandelte sie ihre Stieftochter auch. Immer und überall zwang sie ihr ihren Willen auf. Streng und unerbittlich achtete sie darauf, dass Sissi ihren Wünschen nachkam. Da Max Langenburg keine Zeit hatte, sich um die Erziehung zu kümmern, hatte seine Frau ein leichtes Spiel.
Sissi sah nicht hoch. Sie fühlte sich grenzenlos einsam und verlassen. Es gab niemanden, mit dem sie über ihre Sorgen sprechen konnte, niemanden, der Verständnis für sie gehabt hätte.
Seit ihr Vater vor sieben Jahren Astrid geheiratet hatte, hatte er sich mehr und mehr zurückgezogen. Wenn Sissi mit einem kindlichen Kummer zu ihm kommen wollte, verwies er sie stets an die Stiefmutter. So oft hatte Max Langenburg sein Töchterchen schon abgewiesen, dass es Sissi schließlich gar nicht mehr versuchte, ihn zu einem Gespräch zu bewegen.
Zu Astrid hatte das Mädchen noch nie ein herzliches Verhältnis gefunden. Vielleicht lag es daran, dass die zweite Frau ihres Vaters ihr verboten hatte, von der verunglückten Mutter zu sprechen. Doch für Sissi, die sehr an ihrer Mutti gehangen hatte, war das ein fast unmenschliches Verlangen. Sie konnte ihre Mutti nicht vergessen, auch wenn Astrid das von ihr verlangte, auch wenn sie ihr die Besuche auf dem Friedhof verbot.
Gerade in dieser Stunde sehnte sich die zarte blonde Sissi schmerzlich nach ihrer Mutti. Mit einer resignierenden Bewegung strich sie sich das lange blonde Haar zurück. Tränen glänzten in ihren blauen Augen. Tränen, die niemand sehen durfte. Denn Max Langenburg wünschte nicht, dass in seinem Haus jemand traurig war. Er arbeitete hart für Luxus und Reichtum, und er erwartete, dass das gewürdigt wurde.
»Na, dann wird Sissi also in den nächsten Tagen wieder zur Schule gehen. Hoffentlich hast du nicht zu viel versäumt, mein Kind. Du weißt doch, dass ich Wert darauf lege, dass du ein ausgezeichnetes Abitur schaffst. Das bist du unserem Namen schuldig.«
»Ja, Papa«, antwortete Sissi, folgsam wie ein Kind, obwohl sie ahnte, dass ihr das Lernen in der nächsten Zeit sehr schwerfallen würde. Denn es gab etwas, was sie sehr beschäftigte, was sie einfach nicht würde abstreifen können. Doch ihre Stiefmutter hatte von ihr verlangt, dass sie ihren Kummer nie mehr erwähnte. Bisher hatte sich Sissi diesen Wünschen stets gefügt. Sie würde es auch diesmal tun. Doch sie würde nie mehr so unbeschwert fröhlich sein können, wie ihr Vater das von ihr erwartete.
Max Langenburg nahm einen Schluck Wein und schüttelte dann leicht den Kopf. Eigentlich hatte er sich schon lange nicht mehr mit seiner Tochter befasst, doch jetzt betrachtete er Sissi etwas genauer als sonst.
»Etwas sehr ernst erscheinst du mir«, meinte er nachdenklich. »War denn der Aufenthalt nicht angenehm? Gibt es denn nichts von Österreich zu erzählen?«
Sissi, das zierliche Mädchen, mit dem reizvollen, fast noch kindlich wirkenden Gesicht, sah nicht auf. Sie konnte einfach nicht sprechen. Nicht in dieser Umgebung, in der man tat, als sei nichts geschehen.
»Elisabeth hat täglich weite Wanderungen gemacht, ist im See geschwommen oder lag auf der Terrasse, um in ihren Büchern zu lesen. Es gab auch ein paar nette junge Leute, die sich sehr um sie bemüht haben«, antwortete Astrid an Sissis Stelle.
Das junge Mädchen hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Es hasste nichts so sehr wie Lügen.
Interessiert sah Max Langenburg auf. »Doch nicht etwa ein erster kleiner Flirt?«, fragte er halb erstaunt, halb belustigt.
»Wo denkst du hin! Elisabeth ist doch noch viel zu jung dafür. Wenn sie ausgeht, dann höchstens mit einem jungen Mann, den sie gut kennt und zu dem wir Vertrauen haben können.«
Auch Astrid hatte an diesem Abend keinen Appetit. Immer wieder sah sie beschwörend auf ihre Stieftochter. Doch Sissi schien nichts zu bemerken. Es musste etwas geschehen, um das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen!
»Mein Neffe Heiko zum Beispiel würde Elisabeth gern einladen. Er hat die ganze Zeit über ungeduldig auf ihre Rückkehr gewartet.«