Das unerwünschte Enkelkind - Susanne Svanberg - E-Book

Das unerwünschte Enkelkind E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Unsanft stieß Henrik den gleichaltrigen Jörg in die Seite. »Drängle nicht so«, flüsterte er ungeduldig. »Ich möchte doch auch die Braut sehen«, seufzte Jörg und begab sich wieder auf seinen Platz im Chor. »Ist ja keine da!« belehrte Pünktchen den Jüngeren. »Immer noch nicht? Die Orgel spielt doch schon seit einer Stunde.« »Seit einer halben Stunde«, berichtigte Nick, der Größte in dieser Runde. Er stand ganz hinten, hatte aber trotzdem, über die Köpfe der Kameraden hinweg, eine recht gute Sicht ins Kirchenschiff. Das Gotteshaus des kleinen Ortes Wildmoos war bis auf den letzten Platz besetzt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, daß ein reicher Aristokrat diese romantische Hochzeit in der kleinen Dorfkirche arrangiert habe. Alle wollten dabeisein, alle wollten das beneidenswerte Brautpaar sehen. Der Bürgermeister selbst hatte sich dafür eingesetzt, daß die kleine Kirche prächtig mit Blumen geschmückt worden war und daß hoch vom Turm die Fahnen wehten. Er war es auch gewesen, der Denise von Schoenecker gefragt hatte, ob die Kinder von Sophienlust zu diesem feierlichen Anlaß singen könnten. Selbstverständlich hatte Denise von Schoenecker zugestimmt. So war es gekommen, daß die Buben und Mädchen nun in ihren Sonntagskleidern im Chor standen und ungeduldig auf ihren Einsatz warteten. Doch nicht nur ihnen wurde die Zeit lang. Auch die Schaulustigen waren unruhig. Das Raunen in der kleinen Kirche wurde immer lauter. Schließlich war es nicht üblich, daß eine Hochzeit mit solcher Verspätung begann. Herr Rennert, der Leiter des Kinderchors, legte den Zeigefinger über die Lippen, um so seinen Schützlingen anzudeuten, daß nicht gesprochen werden dürfte. Er hatte

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Sophienlust – 193 –

Das unerwünschte Enkelkind

Was soll nur aus Simon werden?

Susanne Svanberg

Unsanft stieß Henrik den gleichaltrigen Jörg in die Seite. »Drängle nicht so«, flüsterte er ungeduldig.

»Ich möchte doch auch die Braut sehen«, seufzte Jörg und begab sich wieder auf seinen Platz im Chor.

»Ist ja keine da!« belehrte Pünktchen den Jüngeren.

»Immer noch nicht? Die Orgel spielt doch schon seit einer Stunde.«

»Seit einer halben Stunde«, berichtigte Nick, der Größte in dieser Runde. Er stand ganz hinten, hatte aber trotzdem, über die Köpfe der Kameraden hinweg, eine recht gute Sicht ins Kirchenschiff.

Das Gotteshaus des kleinen Ortes Wildmoos war bis auf den letzten Platz besetzt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, daß ein reicher Aristokrat diese romantische Hochzeit in der kleinen Dorfkirche arrangiert habe. Alle wollten dabeisein, alle wollten das beneidenswerte Brautpaar sehen. Der Bürgermeister selbst hatte sich dafür eingesetzt, daß die kleine Kirche prächtig mit Blumen geschmückt worden war und daß hoch vom Turm die Fahnen wehten. Er war es auch gewesen, der Denise von Schoenecker gefragt hatte, ob die Kinder von Sophienlust zu diesem feierlichen Anlaß singen könnten.

Selbstverständlich hatte Denise von Schoenecker zugestimmt. So war es gekommen, daß die Buben und Mädchen nun in ihren Sonntagskleidern im Chor standen und ungeduldig auf ihren Einsatz warteten.

Doch nicht nur ihnen wurde die Zeit lang. Auch die Schaulustigen waren unruhig. Das Raunen in der kleinen Kirche wurde immer lauter. Schließlich war es nicht üblich, daß eine Hochzeit mit solcher Verspätung begann.

Herr Rennert, der Leiter des Kinderchors, legte den Zeigefinger über die Lippen, um so seinen Schützlingen anzudeuten, daß nicht gesprochen werden dürfte. Er hatte mit den Kindern von Sophienlust die Brautmesse einstudiert und war stolz darauf, daß bei der Probe alles so gut geklappt hatte. Doch langsam wurden die Kinder nervös, und damit war der Erfolg der Darbietung in Frage gestellt.

Besorgt schaute deshalb auch Herr Rennert immer wieder hinab ins Kirchenschiff. Warum kam das Brautpaar nicht? Die mit rotem Samt gepolsterte Gebetsbank direkt vor dem Altar blieb leer.

Es war schon für Erwachsene nicht leicht, so lange ruhig und gelassen zu warten. Für lebhafte Kinder war das noch viel schwieriger. Heidi, das jüngste Kind der kleinen Schar, trat von einem Füßchen aufs andere und spielte nervös mit den Schleifen an ihrem langen Kleidchen.

»Wann singen wir denn?« erkundigte sich Vicky nun schon zum dritten Mal.

»Sobald das Brautpaar durch den Mittelgang geht«, gab Wolfgang Rennert leise Auskunft.

»Und wann ist das?« wollte Fabian, ein schmächtiger Junge mit mittelblondem Haar und graugrünen Augen wissen.

»Eigentlich müßte es längst soweit sein.« Herr Rennert drehte sich um und sah wieder hinab ins Kirchenschiff. Die Neugierigen in den Bänken und in den schmalen Seitengängen wurden mit jeder Minute unruhiger. Manche äußerten schon laut ihre Vermutungen. Nur der Organist ließ sich von der allgemeinen Ungeduld nicht anstecken. Unbekümmert spielte er ein Stück nach dem anderen.

Denise von Schoenecker und Schwester Regine, die Betreuerin der Kinder, hatten in der letzten Kirchenbank Platz genommen. Sie hatten sich darauf gefreut, die Schützlinge singen zu hören. Doch nun wurde wohl nichts daraus, denn eben trat der Pfarrer zu der jungen Braut, die blaß und ängstlich an der Kirchentür wartete.

Etwas verloren sah das Mädchen in dem langen weißen Kleid, geschmückt mit einem winzigen Blütenkrönchen, aus. Ängstlich schauten die sanften braunen Augen dem Geistlichen entgegen.

Der Pfarrer hatte das festliche Kirchengewand wieder mit dem einfachen schwarzen Anzug vertauscht und machte ein bekümmertes Gesicht. Obwohl Denise, die charmante, noch sehr jugendliche Frau des Gutsbesitzers Alexander von Schoenecker, es gar nicht wollte, wurde sie Zeuge seines Gesprächs mit der Braut.

»Ich glaube, wir sollten nicht länger warten«, meinte der Pfarrer halblaut. »Sicher ist Ihr Bräutigam aufgehalten worden.«

»Er mußte heute morgen noch einmal weg, wollte aber pünktlich zurück sein. Ich verstehe nicht, weshalb…« Martinas Stimme klang kläglich. Tränen glänzten in ihren Augen. Einsam und verlassen kam sie sich unter all den fremden Leuten vor, die sie sensationslüstern anstarrten. »Andy wollte die Trauzeugen mitbringen…« Ratlosigkeit spiegelte sich auf Martina Fabers hübschem Gesicht.

»Es wird am besten sein, Sie gehen in den Gasthof zurück und warten dort auf Ihren Bräutigam. Wenn alles in Ordnung ist, können wir in den nächsten Tagen einen neuen Termin vereinbaren.«

Der Geistliche bemühte sich um einen gütigen, väterlichen Ton. Trotzdem fühlte Martina sehr genau, daß ein ganz bestimmter Verdacht hinter seinen Worten lauerte. Jener Verdacht, der auch aus den schadenfrohen Blicken der Neugierigen sprach.

Als Ereignis des Jahres hatte die Flüsterpropaganda die Hochzeit des Millionärs angekündigt. Nun war sie geplatzt, und alle waren enttäuscht. Der Bürgermeister, der sich eine beträchtliche Aufbesserung der Gemeindekasse versprochen hatte, verließ als erster die kleine Kirche.

»Ich werde den Anwesenden eine kurze Erklärung geben. Im übrigen sollten Sie sich nicht ängstigen. Es kommt sicher alles wieder in Ordnung.« Überzeugend klang die Stimme des Pfarrers nicht. Seit vierzig Jahren versah er den Dienst in der kleinen Pfarrei Wildmoos. Weit über hundert Paare hatte er schon getraut. Doch so etwas war ihm noch nicht passiert. Dabei hatte er die Kirche für diese Hochzeit auf Hochglanz bringen lassen. Es waren Kosten entstanden, die er durch eine angemessene Spende des vermögenden Bräutigams wieder hereinzuholen gehofft hatte. Nun war auch er enttäuscht.

Martina nickte kaum merklich. Steif und unbeweglich stand sie neben der schweren eichenen Kirchentür. Dabei wäre sie am liebsten geflohen. Geflohen vor den vielen neugierigen Blicken, vor den unverschämten Fragen, die man an sie stellen würde. Wie im Traum hörte sie die Stimme des Pfarrers, die von einem unvorhergesehenen Zwischenfall sprach. Die kleine Dorfkirche verschwamm vor ihrem Blick. Tränen rannen über ihre bleichen Wangen.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte da eine elegante jugendliche Dame.

Martina wollte ablehnen, doch dann sah sie in zwei faszinierende dunkle Augen. Mitgefühl und Verständnis spiegelten sich darin.

»Ich glaube, Sie sind allein hier. Es wäre aber nicht gut, wenn sich jetzt niemand um Sie kümmern würde. Ich würde Sie gern nach Sophienlust einladen. Dort hätten Sie sehr viel Abwechslung. Bitte, sagen Sie nicht nein. Wir werden im Gasthof hinterlassen, wo Sie zu finden sind.«

»Aber ich kann doch nicht…« Martina fand Denise von Schoenecker sofort sympathisch. Sie spürte, daß diese Einladung nicht aus Sensationslust, sondern aus echter Anteilnahme erfolgte.

»Ich wäre glücklich, wenn Sie für einige Zeit unser Gast sein würden.« Offen und ehrlich klangen diese Worte. Gewinnend war das Lächeln um Denises hübschen Mund. Sie konnte sehr gut ermessen, was Martina Faber in dieser Stunde empfinden mußte. Der Tag, der für sie zum schönsten in ihrem Leben hatte werden sollen, hatte ihr nur Enttäuschung und Leid gebracht.

»Kommen Sie, dort drüben steht mein Wagen.« Besorgt führte Denise das Mädchen aus dem Kreis der neugierigen Gaffer. »Ich muß Ihnen noch sagen, daß Sophienlust ein privates Kinderheim ist«, meinte sie, als Martina auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. »Falls Sie der Lärm unserer Schützlinge stört, könnten Sie nach Gut Schoeneich übersiedeln. Dort wohne ich mit meinem Mann und unseren zwei Jüngsten, Nick und Henrik. Allerdings sind die beiden mehr in Sophienlust als zu Hause.«

»Ich mag Kinder sehr gern. Sie stören mich ganz bestimmt nicht«, versicherte Martina. Mit einer müden Bewegung streifte sie das Blütenkrönchen vom Kopf. Wo war Andy? Andy, den sie vor einem halben Jahr in Hamburg kennengelernt hatte und der ihr den Himmel auf Erden versprochen hatte. Ihm zuliebe hatte sie ihre Stelle als Dolmetscherin bei einer Hamburger Exportfirma aufgegeben, hatte ihre Wohnung gekündigt und war mit ihm nach Wildmoos gefahren, wo die Hochzeit hatte stattfinden sollen. Andy hatte diesen sonderbaren Einfall mit seinem Hang zur Romantik erklärt, und Martina hatte ihm geglaubt.

»Eigentlich gehört Sophienlust meinem Sohn Nick«, fuhr Denise fort. »Er hat es von seiner Urgroßmutter geerbt, die verfügt hat, daß ein Heim für elternlose Kinder daraus entstehen soll. Wir bemühen uns, dieses Vermächtnis nach Kräften zu erfüllen. Bis Nick volljährig ist, verwalte ich den Besitz für ihn.«

Martina war froh und dankbar, daß Denise von Schoenecker sie nichts fragte.

»Da kommen sie ja, unsere Kinder.« Denise wies auf die muntere kleine Schar, die aus der Kirche ins Freie drängte.

Martina vergaß vor Überraschung ihren Kummer. Wie Waisenkinder sahen diese Kleinen ganz bestimmt nicht aus. Sie waren nicht nur sehr geschmackvoll gekleidet, sondern wirkten auch sehr gepflegt und ausgesprochen fröhlich.

*

Die Kinder hatten es nicht eilig, in den roten Kleinbus einzusteigen. Da sie so lange hatten stillhalten müssen, wollten sie jetzt am liebsten den Weg nach Sophienlust zu Fuß zurücklegen. Doch das ließ Herr Rennert nicht zu. Mit Geduld und Ausdauer brachte er die quirlige kleine Schar schließlich ins Fahrzeug.

»Das war eine komische Hochzeit«, piepste Heidi, als sie endlich zwischen Fabian und Henrik saß.

»Das war überhaupt keine«, murrte Angelika von hinten. »Fünfmal haben wir geprobt, und nun war alles umsonst.« Angelika zog einen Schmollmund.

»Vielleicht können wir die Messe zu einem anderen Zeitpunkt singen«, tröstete Herr Rennert die Kinder. Er war selbst ein bißchen unzufrieden, als er hinter dem Lenkrad Platz nahm und den Kleinbus startete.

»Warum ist eigentlich nur die Braut gekommen?« wollte Jörg, ein kleiner Rotschopf wissen.

Wolfgang Rennert, der gerade in die Hauptstraße einbog, gab keine Antwort.

»Keine Ahnung!« Henrik zuckte die Schultern.

»Muß die Braut jetzt noch einmal heiraten?« erkundigte sich Vicky. Ihre romantischen Vorstellungen von einer Hochzeit waren etwas durcheinandergekommen.

»Vielleicht kannst du sie fragen«, meinte Pünktchen, die eigentlich Angelina hieß. Den Spitznamen hatte sie den vielen Sommersprossen auf ihrem Näschen zu verdanken. »Sie fährt mit Tante Isi.«

Sofort drehten sich alle Kinder um. Durchs Rückfenster konnten sie Denises Wagen erkennen. Tatsächlich saß das weißgekleidete Mädchen auf dem Beifahrersitz. Hübsch sah es aus mit dem schulterlangen blonden Haar und den wunderschönen dunklen Augen.

»Glaubst du, sie kommt zu uns?« Henrik sah treuherzig zu seinem großen Halbbruder empor. Trotz

des beträchtlichen Altersunterschiedes verstanden sich die beiden tadellos.

»Keine Ahnung«, gab Nick, der sonst über alle Vorgänge in Sophienlust informiert war, kleinlaut zu.

»Na, klar. Herr Rennert hat uns doch erzählt, daß es eine Waise ist, die der Millionär heiratet.« Irmela, das älteste der Mädchen, sah beifallheischend zu Nick hinüber.

»Aber wer heiratet, kann doch kein Waisenkind sein«, empörte sich Vicky.

»Warum denn nicht?«

Niemand nahm zu dieser Frage Stellung, denn im nächsten Moment passierte etwas, was die Aufmerksamkeit der Kinder noch weit mehr in Anspruch nahm als die geplatzte Hochzeit.

»Schau mal, da hinten…!« schrie Henrik entsetzt.

»Das Auto fährt ja Schlangenlinien!« Pünktchen preßte beide Hände auf den Mund, um nicht vor Schreck aufzuschreien.

»Jetzt kommt es direkt über die Straße!« Fabian drückte die Stirn an die Scheibe des Rückfensters.

»Du meine Güte, der Fahrer muß betrunken sein.« Pünktchen wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Wagen, der hinter Denises Fahrzeug jetzt auf den Randstreifen der Landstraße geriet.

Im nächsten Augenblick erfolgte ein dumpfer Knall. Blech barst, Glas splitterte, der Motor erstarb. Das Auto war gegen einen Baum gefahren.

Herr Rennert, der den Vorgang im Außenspiegel beobachtet hatte, fuhr sofort rechts heran. Auch Denise von Schoenecker hielt ihr Fahrzeug an und stieg aus.

Wolfgang Rennert sicherte den Kleinbus und wandte sich ernst an die Kinder. »Bitte, bleibt im Wagen!« forderte er.

»Vielleicht können wir helfen«, wandte Nick ein.

»Dann werde ich euch Bescheid sagen. Vorerst bleiben alle sitzen!« Es klang wie ein Befehl, und die Kinder fügten sich. Sie wußten, daß Herr Rennert sehr viel Geduld mit ihnen hatte. Andererseits aber forderte er unbedingten Gehorsam. Er konnte sehr böse werden, wenn die Kinder sich seinen Anordnungen widersetzten.

»Glaubst du, die Leute sind jetzt tot?« piepste Jörg und sah ängstlich zu Nick empor.

»Eigentlich war es kein schlimmer Aufprall. Das Auto fuhr nur noch langsam.« Nick bemühte sich, Einzelheiten zu erkennen. Doch das war nicht möglich, da der Unglückswagen von Denises parkendem Auto verdeckt wurde.

»Ich habe Angst«, wisperte Heidi und schob ihr kaltes Händchen zwischen Pünktchens Finger.

Pünktchen, die sich von jeher liebevoll um die Kleinen kümmerte, zog Heidi auf ihren Schoß und legte tröstend die Arme um den kleinen Körper. »Es ist sicher gar nicht so schlimm«, raunte sie.

»Das Auto ist ganz kaputt.« Fabian biß sich auf die Lippen.

»Das sieht nur so aus«, mischte sich Nick ein. Auch ihm war klar, daß es nun darauf ankam, die Kleineren unter ihnen zu beruhigen. Pünktchen benahm sich in dieser Hinsicht wieder einmal vorbildlich. Überhaupt reagierte die hübsche Kleine mit den kessen Sommersprossen stets sehr vernünftig. Und Nick war wieder einmal sehr stolz darauf, daß dieses Mädchen zum Kinderheim Sophienlust gehörte. Von allen Kameraden mochte er Pünktchen am liebsten. Manchmal zogen ihn die Mitschüler deshalb auf. Vielleicht würde sogar das, was sie manchmal behaupteten, in Erfüllung gehen. Nämlich, daß er Pünktchen einmal heiraten würde. Doch bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Noch war er selbst Gymnasiast.

Eben kam Herr Rennert wieder zurück. Eilig stieg er in den Wagen ein.

»Was ist?« Mehr als ein Dutzend ängstliche Augenpaare waren auf den Zeichen- und Musiklehrer gerichtet.

»Wir müssen schnellstens Hilfe holen.« Herr Rennert drehte bereits den Zündschlüssel um, gab Gas und legte den Gang ein. Im nächsten Moment brauste er davon. Sophienlust war das nächste Anwesen auf dieser Strecke. Von dort aus wollte er das Krankenhaus und die Polizei anrufen.

»Ist es sehr schlimm?« erkundigte sich Irmela, die auf dem Beifahrersitz saß.

Wolfgang Rennert konzentrierte sich voll auf die Fahrbahn und gab keine Antwort.

»Sind die Leute schwer verletzt?« piepste Angelika furchtsam.

»Oder sogar tot?« wisperte Fabian.

»Nein, nein!« Herr Rennert bog bereits in den Park von Sophienlust ein. Kurz darauf hielt er vor dem ehemaligen Herrenhaus. Wie ein Schloß wirkte das helle langgestreckte Gebäude mit den vielen blanken Fensterscheiben. »Die Fahrerin ist verletzt, doch dem Jungen, der auf dem Rücksitz saß, fehlt nichts.«

»Wolfgang Rennert rannte über die Freitreppe zum Portal. Dort stieß er fast mit der etwas fülligen Köchin Magda zusammen. Verblüfft stemmte diese die drallen Arme in die Seite und schimpfte: »Wenigstens entschuldigen könnten Sie sich.« Zwischen den beiden gab es ab und zu ein kleines Wortgeplänkel, das jedoch nie ernst gemeint war. Auch jetzt blitzte der Schalk aus Magdas gutmütigen Augen.

Herr Rennert hörte den Vorwurf nicht. Er war schon beim Telefon und wählte den Notruf.

»Wir haben einen Unfall gesehen«, berichtete Henrik, der als erster die Treppe heraufgestürmt kam, der Köchin. Im nächsten Augenblick war Magda von einer plappernden Kinderschar umringt.

Die Mädchen und Buben von Sophienlust liebten Magda heiß und innig. Das beruhte einmal auf den unvergleichlichen Kochkünsten der lang­jährigen Angestellten, zum anderen aber auch auf der Güte und dem Verständnis, das Magda den Kleinen entgegenbrachte. Wann immer ein Kind traurig war, fand die Köchin den richtigen Leckerbissen, der es tröstete.

»Wenn ihr alle durcheinanderredet, kann ich kein Wort verstehen.« Magda verdrehte in komischer Verzweiflung die Augen. Ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich, als sie einen bekümmerten Seufzer ausstieß.

»Das Auto hat in einer Kurve geschleudert. Wir haben es genau gesehen«, kreischte Henrik in dem Bestreben, alle anderen an Lautstärke zu übertrumpfen.

»Und dann ist es gegen einen Baum geknallt. Wumm!« Jörg hielt sich die Ohren zu, denn in der Erinnerung hörte er noch einmal das unangenehme Geräusch.

»Du meine Güte! Doch nicht der Wagen von Frau von Schoenecker?« Magda hielt vor Angst den Atem an.

»Nein. Das Auto, in dem der Junge saß.« Angelika drängte sich vor.

Magda konnte aus den Aussagen der Kinder nicht schlau werden. Hilfesuchend sah sie zu Herrn Rennert hinüber. Doch auch er hatte keine Zeit für Erklärungen. Er legte eben den Telefonhörer zurück und rannte Sekunden später an der kleinen Gruppe vorbei. »Ich fahre zurück. Vielleicht kann ich helfen«, rief er über die Schulter.

»Und die Hochzeit war auch nicht. Tante Isi bringt die Braut mit«, berichtete Heidi mit ihrem hellen Stimm­chen.

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, seufzte die gutmütige Köchin.

*

Das Erlebnis auf der Landstraße hatte Martina ihren eigenen Kummer ein wenig vergessen lassen. Es hatte ihr gezeigt, daß es schlimmere Dinge gab, als eine geplatzte Hochzeit.

Bewußtlos hatte man die Fahrerin des Unglückswagens aus dem demolierten Fahrzeug gezogen und mit Blaulicht nach Maibach ins Krankenhaus gebracht.

Zurückgeblieben war ein weinendes Kind, das nun ganz allein war. Denise von Schoenecker hatte sich sofort erboten, den Jungen mit nach Sophienlust zu nehmen. Die Beamten von der Verkehrspolizei waren damit gern einverstanden gewesen. Natürlich kannten sie Sophienlust und wußten auch, daß Kinder dort die bestmögliche Betreuung fanden.

Etwa acht Jahre mochte der blonde Junge mit dem kurzgeschnittenen Haar sein. Voll Angst und Mißtrauen sahen seine blauen Kinderaugen in die Welt.

Martina fühlte sich sofort zu dem Kleinen hingezogen. Er war fremd und allein hier, genau wie sie selbst. Schutz und Geborgenheit brauchte er, ebenso wie sie.

Ganz selbstverständlich hatte sich Martina zu dem Kleinen auf die Rückbank gesetzt und zärtlich den Arm um seine zuckenden Schultern gelegt. Noch hatte das Kind kein Wort gesprochen.

Martina ließ dem Jungen Zeit.

»Nicht mehr weinen, bitte«, raunte sie und strich behutsam über die vom Schweiß feuchten blonden Haare. »Deine Mutti ist nicht schwer verletzt. Sie wird sicher ganz schnell gesund werden, und dann kannst du wieder bei ihr sein.«

Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Sie ist nicht meine Mutti«, stieß er heftig hervor. »Nur meinte Tante.«

»Dann wartet deine Mutti zu Hause auf dich.« Martina lächelte. Ihr eigener Kummer erschien ihr gar nicht mehr so wichtig. Sie hatte sich vor dem Spott und der Schadenfreude der Leute gefürchtet. Doch bei Denise von Schoenecker würde sie vor beidem sicher sein.

»Meine Mutti ist im Himmel«, jammerte der Junge. Seine Tränen flossen nun doch reichlicher. »Sie war ganz, ganz lieb. So lieb wie niemand auf der ganzen Welt.« Das Köpfchen des Kindes sank immer tiefer zur Brust.

Martina erschrak. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie leise. »Ich habe meine Eltern verloren, als ich neun Jahre alt war. Sie kamen durch eine Gasexplosion ums Leben. Das Haus wurde zum Teil zerstört. Nur die Seite, in der mein Zimmer war, blieb erhalten.«

»Und dann?« flüsterte das Kind. Irgendwie hatte es Vertrauen zu dem hübschen Mädchen im weißen Kleid.