Bärbel will keinen Stiefvater - Susanne Svanberg - E-Book

Bärbel will keinen Stiefvater E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Das kleine Mädchen blieb stehen. Verwundert schaute es auf das blitzende kleine Ding, das da auf dem Waldboden lag. Es wurde voll von den schräg durch die Tannen fallenden Sonnenstrahlen getroffen und funkelte geheimnisvoll. Heidi bückte sich und streckte ein wenig ängstlich die Hand aus. »Ein Ring«, murmelte sie. Staunend betrachtete sie ihren Fund von allen Seiten. »Heidi, wo bleibst du denn?«, rief ein großer dunkelhaariger Junge. Er stand mit einigen anderen Kindern bereits beim Forsthaus, das die muntere Schar zum Ziel ihres Ausflugs gewählt hatte. Das Mädchen mit den hellblonden Zöpfchen und den großen blauen Kinderaugen blieb stur stehen. Mit einer raschen Bewegung strich es sich die Haare aus der Stirn. Das tat Heidi Holsten immer, wenn sie aufgeregt war. »Schau doch mal, was ich habe«, rief sie halblaut. Heidi war noch zu klein, um von den anderen voll anerkannt zu werden. »Komm schon«, riefen Fabian Schöller und Henrik von Schoenecker im Chor. Doch Heidi dachte gar nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Sie betrachtete noch immer staunend ihren Fund.

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Sophienlust Bestseller – 114 –

Bärbel will keinen Stiefvater

Susanne Svanberg

Das kleine Mädchen blieb stehen. Verwundert schaute es auf das blitzende kleine Ding, das da auf dem Waldboden lag. Es wurde voll von den schräg durch die Tannen fallenden Sonnenstrahlen getroffen und funkelte geheimnisvoll.

Heidi bückte sich und streckte ein wenig ängstlich die Hand aus. »Ein Ring«, murmelte sie. Staunend betrachtete sie ihren Fund von allen Seiten.

»Heidi, wo bleibst du denn?«, rief ein großer dunkelhaariger Junge. Er stand mit einigen anderen Kindern bereits beim Forsthaus, das die muntere Schar zum Ziel ihres Ausflugs gewählt hatte.

Das Mädchen mit den hellblonden Zöpfchen und den großen blauen Kinderaugen blieb stur stehen. Mit einer raschen Bewegung strich es sich die Haare aus der Stirn. Das tat Heidi Holsten immer, wenn sie aufgeregt war. »Schau doch mal, was ich habe«, rief sie halblaut.

Heidi war noch zu klein, um von den anderen voll anerkannt zu werden. »Komm schon«, riefen Fabian Schöller und Henrik von Schoenecker im Chor.

Doch Heidi dachte gar nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Sie betrachtete noch immer staunend ihren Fund. Sie konnte fast nicht glauben, etwas so Schönes durch Zufall aufgestöbert zu haben.

»Was ist denn?«, mahnte nun auch Pünktchen ungeduldig. Eigentlich hieß das hübsche zierliche Mädchen Angelina – Angelina Dommin. Doch die kessen Sommersprossen auf der Stupsnase hatten ihm den Spitznamen Pünktchen eingebracht. Seit Jahren schon lebte Pünktchen im Kinderheim Sophienlust. Es war ihr zur zweiten Heimat geworden. Mit großer Selbstverständlichkeit kümmerte sie sich stets um die jüngeren Kameraden.

So lief sie auch jetzt den Weg zurück, um Heidi zu holen.

»Schau mal!« Heidi hielt ihr stolz den Ring mit dem großen glitzernden Stein entgegen.

»Wo hast du denn das her?« Pünktchen blies anerkennend die Backen auf.

»Es lag da.« Heidi deutete auf den mit Moos und Tannennadeln bedeckten Waldboden.

»Das gibt es doch gar nicht. So ein schöner Ring liegt doch nicht im Wald.« Pünktchen sah sich nach allen Seiten um. Weit und breit war niemand zu entdecken – außer den Kameraden natürlich, die nun ebenfalls neugierig näher kamen.

Beim Anblick des Schmuckstücks pfiff Nick, der älteste Junge der Gruppe, laut durch die Zähne. Das tat er nur, wenn er etwas besonderes beachtenswert fand.

»Das ist ein Brillant«, schnaubte sein jüngerer Bruder Henrik. »So einen Ring hat Mutti auch. Er war furchtbar teuer.«

»Der kostet mindestens hunderttausend Euro«, keuchte Fabian aufgeregt.

»Ausgeschlossen«, meinte Nick mit der Überlegenheit des Älteren. »Er kostet höchstens zehntausend.«

»Zehntausend«, wiederholte Vicky fast andächtig. »Das ist ja furchtbar viel Geld. Darf Heidi ihn behalten?« Aufmerksam schaute sie in die Gesichter der Kameraden.

Die Kinder standen im Kreis um Heidi herum und starrten alle auf den kostbaren Fund.

»Der Ring gehört doch Heidi überhaupt nicht«, belehrte Angelika ihre jüngere Schwester. »Jemand hat ihn verloren, und man muss ihn zurückgeben.«

»Aber wer hat ihn verloren?« Ratlosigkeit spiegelte sich auf Heidis süßem Kindergesicht.

»Vielleicht Frau Bullinger«, platzte Henrik heraus. »Na ja, ich meine nur, weil Heidi den Ring ganz in der Nähe des Forsthauses gefunden hat.«

»Fragen wir sie doch«, entschied Nick und stürmte los.

Die Buben und Mädchen von Sophienlust rannten hinter ihm her. ­Niemand dachte jetzt noch daran, dass sie den alten Oberförster eigentlich nur besuchen wollten, um eine seiner spannenden Jagdgeschichten zu hören.

Der pensionierte Förster hatte seine jungen Freunde längst gehört und trat gerade ins Freie. Gemütlich zog er an seiner Pfeife. Der Tabakdunst verfing sich in seinem dichten weißen Vollbart.

Aufgeregt trug die kleine Schar ihm ihr Anliegen vor. Es quasselten wieder einmal alle durcheinander. Deshalb hob Oberförster Bullinger, der wie ein gütiger Opa aus einer längst vergangenen Zeit wirkte, abwehrend beide Hände. »Mit eurem Lärm verscheucht ihr ja alle Tiere«, meinte er, lachte dabei aber verständnisvoll.

Sofort verstummten die lebhaften Buben und Mädchen. Nun sprach nur noch Nick, dem niemand seine Vorrangstellung streitig machte, denn schließlich war er der künftige Erbe von Sophienlust, auch wenn er das nie erwähnte oder betonte.

Auch angesichts der aufgeregten kleinen Schar verlor Oberförster Bullinger nichts von seiner Gemütlichkeit. Er nahm den Ring mit dem funkelnden Stein in die Hand und betrachtete ihn eingehend. »Ich verstehe nichts von solchen Dingen«, brummte er. »Aber es kann schon sein, dass der Ring sehr wertvoll ist. Jedenfalls besitzt meine Frieda kein so kostbares Stück. Das weiß ich genau.«

»Vielleicht hat ihn jemand verloren, der bei Ihnen zu Besuch war«, überlegte Henrik laut. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung schaute er zu dem alten Mann empor.

Lachend schüttelte der Alte den Kopf. »Ausgeschlossen. So vornehme Leute kommen nicht zu uns ins Forsthaus.«

»Aber wie kommt dann der Ring in den Wald?«, forschte Fabian.

»Das kann ich euch auch nicht sagen, Kinder.« Oberförster Bullinger wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Kein bisschen schmutzig ist er, der Ring. Deshalb kann er noch nicht lange im Wald liegen. Das ist sonderbar, denn ich habe keinen gesehen, der ihn verloren haben könnte.«

»Du hättest es bestimmt bemerkt, weil du hier immer aufpasst«, piepste die kleine Heidi. Sie kam sich sehr wichtig vor, denn schließlich hatte sie die Kostbarkeit entdeckt.

»Wenn der Ring keinem gehört, dann darf Heidi ihn auch behalten«, folgerte Fabian, der eigentlich lieber eine Geschichte des alten Försters gehört hätte.

»Dann ist sie so reich wie eine Prinzessin«, rief Vicky Langenbach, die eine Vorliebe für romantische Märchen hatte.

Heidi bekam ein rotes Köpfchen. »Nein. Ich schenke den Ring Tante Isi«, verkündete sie laut. Tante Isi, das war die von allen Kindern heiß geliebte Denise von Schoenecker, die Mutti von Nick und Henrik und die Verwalterin des ehemaligen Gutes Sophienlust. Denise von Schoenecker lebte mit ihrer Familie auf dem benachbarten Gut Schoeneich. Doch sie ließ es sich nicht nehmen, täglich nach ihren Schützlingen zu sehen und alle wichtigen Fragen mit der Heimleiterin, Frau Rennert, zu besprechen.

Denise opferte viel Zeit für die meist elternlosen Kinder und hatte großes Verständnis für sie. Mit allen Anliegen konnten die Kleinen zu ihr kommen. Tante Isi wusste immer Rat, hatte Trost für jede Situation. Die Kinder spürten sehr genau, dass Denise sie gern hatte.

»Das geht nicht«, widersprach Angelika ihr sofort. »Was man findet, darf man nicht behalten. Das hat die Lehrerin in der Schule zu uns gesagt. Du musst den Ring zum Fundamt bringen.«

»Was ist denn das?«, erkundigte sich Heidi enttäuscht. Sie hatte sich schon vorgestellt, wie sehr sich die geliebte Tante Isi über das schöne Geschenk freuen würde.

»Dort werden alle Fundsachen gesammelt und an die Verlierer zurückgegeben, sofern sie sich melden«, erklärte Nick.

Heidi konnte mit dieser Darstellung nicht viel anfangen. »Ich will aber nicht«, meinte sie trotzig. Sie nahm Fabian blitzschnell den Ring ab und ließ ihn in der Tasche ihrer dunkelblauen

Jeans verschwinden.

»Dann bekommst du auch keinen Finderlohn.« Nick schaute voll gutmütiger Überheblichkeit auf die Kleine.

»Und was ist das?«, wollte Heidi wissen. Sie zog ihre gerundete Kinderstirn in viele Falten.

»Geld«, belehrte Pünktchen die Kleine.

»Viel Geld?«, tuschelte Heidi vertrauensvoll.

»Mehr als du zählen kannst.« Fabian kam sich der Kleinen gegenüber schon sehr erwachsen vor.

»Dann bring ich ihn doch zum Finderbüro. Aber nur, wenn ihr mitkommt.« Heidi zog ihren Schatz wieder hervor.

»Na klar!«, ertönte es von allen Seiten.

»Da fällt mir etwas ein, was sich zugetragen hat, als ich noch ein junger Forstgehilfe war«, sagte Oberförster Bullinger, dem die Anwesenheit der Kinder stets viel Freude machte. So lebhafte, aufgeweckte Enkelkinder hatte er sich immer gewünscht. Doch leider war sein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. Um so mehr freute er sich, wenn Nick und dessen Kameraden auftauchten.

»Bitte, erzählen Sie!« Pünktchen schaute den Oberförster aus tiefblauen Augen treuherzig an.

»Dann setzt euch einmal dort auf die Bank.« Der alte Mann nahm den Tabakbeutel aus der Tasche, um seine Pfeife neu zu stopfen.

Für die Kinder war das ein sicheres Zeichen dafür, dass es eine lange spannende Geschichte werden würde. Erwartungsvoll ließen sie sich im Halbkreis vor der Bank nieder.

*

Die Musik klang aus, der Tanz war zu Ende. Ein bisschen außer Atem blieb Elke Steinhoff neben ihrem Partner stehen.

»Ich hätte nie gedacht, dass mir das Tanzen noch einmal so viel Spaß machen könnte.« Paul Tanner, der berühmte Dirigent, der mit seinem Orchester ganz Europa bereiste, hatte an diesem Abend nur Augen für seine hübsche jugendliche Partnerin. Gut sah er aus im dunklen Gesellschaftsanzug und blütenweißem Hemd. Wäre seine beachtliche Größe nicht gewesen, hätte man ihn für einen Südländer halten können. Denn Paul Tanner hatte fast schwarzes lockiges Haar, blitzende dunkle Augen und einen Charme, der die Herzen der Damen im Sturm eroberte.

»Daran ist nur die stimmungsvolle Atmosphäre dieses Abends schuld«, meinte Elke lächelnd. Begeistert schaute sie sich im festlich geschmückten Saal des Kurhauses um. Wie lange war sie nicht mehr ausgegangen? An diesem Tag hatte sie sich von einem befreundeten Ehepaar dazu überreden lassen. Doch nur, weil Bärbel, ihr vierzehnjähriges Töchterchen, an diesem Wochenende im Landschulheim war.

»Nein, das liegt an meiner bezaubernden Partnerin«, widersprach Paul Tanner ihr. »Sie sind nicht nur die eleganteste, Sie sind auch die hübscheste Dame des heutigen Abends«, meinte er galant. »Darf ich Sie zu einem Drink an die Bar einladen?« Obwohl der Dirigent sehr selbstbewusst auftrat, klang die Aufforderung schüchtern, fast ein bisschen linkisch. Paul Tanner fühlte sich auch nicht besonders wohl dabei. Jahrelang war er jedem Kontakt mit Damen ausgewichen und fast zu einem Einzelgänger geworden. Als er Elke Steinhoff gesehen hatte, war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder der Wunsch in ihm wach geworden, eine Frau näher kennenzulernen. Je länger er sich seitdem mit Elke Steinhoff befasste, um so mehr zog sie ihn in ihren Bann.

»Ja, gern«, murmelte Elke und wunderte sich selbst, wie bedenkenlos sie zustimmte – sie, die nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes vor zwölf Jahren allein lebte, nur für ihr Kind da war.

»Sie machen mir damit eine große Freude.« Bewundernd sah Paul auf die schlanke zierliche Dame in dem wunderschönen langen Kleid. Es war hell und brachte den rassigen dunklen Teint seiner Trägerin voll zur Geltung. Elkes kurz geschnittenes Haar schimmerte in einem warmen Braunton, der genau mit der Farbe ihrer Augen harmonierte.

»Maler möchte ich sein«, meinte Paul Tanner, als die beiden nebeneinander auf den hohen gepolsterten Hockern Platz genommen hatten. »Dann würde ich Ihr schönes Gesicht und Ihre herrliche Figur auf dem Zeichenblock festhalten.«

»Sie übertreiben«, antwortete Elke in ihrer natürlichen Art. »Als Besitzerin eines Modesalons habe ich einfach die Pflicht, gut auszusehen. Ich habe die Möglichkeit, ein Kleid zu wählen, das genau zu mir passt. Das ist alles.«

»Sie haben einen Modesalon?«, erkundigte sich der Dirigent interessiert.

»Ich habe nach dem Tod meines Mannes ganz klein angefangen. Irgendwie musste ich Geld verdienen. Und ein eigenes Geschäft erschien mir günstig, weil ich mein damals zweijähriges Töchterchen bei mir haben konnte. Es war nicht leicht, das dürfen Sie mir glauben. Wir mussten sehr sparsam sein. Aber inzwischen habe ich es geschafft. Der Umsatz wächst von Jahr zu Jahr. Ich kann den Salon laufend vergrößern und kann mir sogar Angestellte leisten.« Elke sagte das nicht ohne Stolz.

»Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen diese Aufgabe sehr viel Spaß macht. Sie passt zu Ihnen. Es gehört bestimmt viel Fingerspitzengefühl dazu, die Kundschaft in einem Ort wie Baden-Baden zufriedenzustellen.«

»Man muss schon etwas von der Branche verstehen. Das habe ich in den ersten Jahren gelernt.«

»Oh, da ist unsere Erfrischung. Trinken wir auf unsere Begegnung.« Paul Tanner hob sein Glas und sah dabei in Elkes glänzende braune Augen.

Elke Steinhoff nippte verwirrt an ihrem Glas. Es war sonderbar. Sie war in den vergangenen zwölf Jahren so vielen Menschen begegnet, doch niemand hatte solchen Eindruck auf sie gemacht wie Paul Tanner, der weltgewandte und doch ein bisschen verträumte Dirigent.

»Wir reden immer nur von mir. Sprechen wir doch lieber über Ihr Konzert. Es hat mir ausgezeichnet gefallen. Sie werden bestimmt hervorragende Kritiken bekommen. Aber daran sind Sie ja sicher gewöhnt.«

»Das darf sich kein Künstler erlauben«, antwortete der Dirigent bedächtig. »Man muss ständig an sich arbeiten und nach Vollkommenheit streben.«

»Gibt es denn überhaupt noch etwas, was Sie verbessern könnten? Das was Ihr Orchester spielt, ist von unvergleichbarer Harmonie und Reinheit.«

»Ich weiß nach jedem Auftritt etwas, was noch besser werden könnte, und ich versuche, es in den Proben zu ändern. Nur so lässt sich der Ruf eines Orchesters aufrechterhalten.«

»Ich habe Ihre Musik als großartig empfunden und sehr bedauert, dass das Konzert nicht länger dauerte.«

»Das freut mich unsagbar. Ihr Urteil ist mir wichtiger als alle Kritiken. Würde es Ihnen Spaß machen, wenn ich das nächste Mal nur für Sie spiele. Aber nicht mit meinem ganzen Orchester, sondern allein.« Pauls dunkle Augen glänzten.

»Es gibt doch sicher jemanden, dem das gar nicht recht wäre«, wehrte sich Elke.

»Nein, es gibt niemanden. Ich war verheiratet. Doch meine Frau starb vor sechs Jahren an einer schlimmen, unheilbaren Krankheit. Das Leben danach war nicht leicht für mich. Es galt, die Leere auszufüllen. Ich tat es mit Musik. Das, was zuvor nur Beruf war, wurde nun mein Hobby, mein einziger Lebensinhalt. Ich stieg vom Klavierspieler zum Dirigenten auf und gründete ein eigenes Orchester. Zuerst waren wir nur mittelmäßig, wurden dann aber immer besser.«

»Und heute stehen Sie an der Spitze, gehören Sie zu den ganz Großen«, ergänzte Elke leise. »Ich glaube, dass dies ein harter Weg war.«

»Ich bekomme Anfragen aus ganz Europa. Doch ich ziehe es vor, in Deutschland zu spielen. Manchmal sogar in verhältnismäßig kleinen Städten. Denn dort ist das Publikum am dankbarsten. Und das macht uns allen irgendwie Spaß.«

»Meine kleine Bärbel wird staunen, wenn sie hört, dass ich mit dem berühmten Dirigenten Paul Tanner getanzt und ein Glas Sekt getrunken habe.«

»Bärbel ist Ihr Töchterchen, nicht wahr? Ich habe mir auch immer ein Kind gewünscht, aber es sollte wohl nicht sein. Ich stellte es mir wunderschön vor, jemanden zu haben, für den man sorgen kann, jemanden, der einen gern hat.« Wieder war jene träumerische Verlorenheit in Tanners Blick, die Elke faszinierte.

»Ein Kind zu haben ist schön«, bestätigte die junge Frau leise. »Ich war nach dem Tod meines Mannes nie allein. Das Kind hat mir Mut und Kraft gegeben. Bärbel und ich hatten immer ein sehr gutes, liebevolles Verhältnis zueinander. Und jetzt, da sie im Begriff ist, erwachsen zu werden, sind wir so etwas wie Freundinnen.«

»Bärbel ist sicher stolz darauf, eine so junge gut aussehende Mutter zu haben.« Paul Tanner hätte seine Partnerin immerzu ansehen mögen, so vollendet und harmonisch war an ihr alles.

»Es macht sehr viel Freude, die Entwicklung eines jungen Menschen verfolgen zu können«, meinte Elke. Das Mutterglück strahlte dabei aus ihren schönen braunen Augen.

»Ich könnte mir vorstellen, dass das Töchterchen ebenso entzückend ist wie die Mama«, meinte der Dirigent mit offen gezeigter Begeisterung.

Elke Steinhoff hörte nicht das Kompliment heraus, sondern sah nur die Möglichkeit, von Bärbel zu sprechen. Und das tat sie natürlich sehr gern. »Bärbel gleicht mehr ihrem Vater. Obwohl sie schon vierzehn ist, wirkt sie noch wie ein Kind. Ich bin sehr froh darüber, denn ich mag die frühreifen Mädchen nicht, die schon mit zwölf hohe Schuhe tragen und sich schminken. Bärbel ist völlig natürlich. Sie hat kurz geschnittenes dunkles Haar, das sie fast wie ein kleiner Lausbub wirken lässt. Es steht ihr sehr gut, und es unterstreicht ihre Jugend.«

»Ich bin noch vier Tage in Baden-Baden. Glauben Sie, dass die Möglichkeit besteht, Bärbel kennenzulernen?«

»Sie kommt erst übermorgen aus dem Landschulheim zurück. Aber sie hätte bestimmt großes Interesse daran, Ihnen vorgestellt zu werden.«

»Dann möchte ich Sie beide für übermorgen Abend zum Essen in mein Hotel einladen. Aber ich habe noch einen großen Wunsch, Frau Steinhoff. Ich möchte Sie auch morgen wiedersehen, wenn ich Sie zu meinem Konzert abholen dürfte und wenn wir uns danach noch irgendwo gemütlich eine Stunde unterhalten könnten.«

»Ihr heutiges Konzert hat mir so gut gefallen, dass ich nicht nein sagen kann«, antwortete Elke und wunderte sich selbst, wie spontan sie zustimmte.

»Ich werde morgen nur für Sie spielen«, raunte Paul verliebt. Nur zu gern gab er sich diesen Gefühlen hin. Denn er wusste genau, eine Frau, die ihm so gut gefiel wie Elke Steinhoff, fand er nicht noch einmal. Das war die Chance für sein weiteres Leben. Er wollte sich die Gelegenheit, noch einmal die Einsamkeit abzustreifen, noch einmal mit einem Menschen alles zu teilen, Gutes und Böses, nicht entgehen lassen.

Elke Steinhoff dachte nicht so weit, aber sie fühlte sich hingezogen zu dem vielbewunderten Dirigenten und wehrte sich nicht gegen die Zuneigung, die in ihr keimte.

*

Bärbel Steinhoff war eine der besten Schülerinnen der Untertertia des traditionsbewussten Baden-Badener Gymnasiums. Durch ihre erfrischende Natürlichkeit und ihren mädchenhaften Liebreiz eroberte sie sich nicht nur die Sympathien der Lehrer, sondern auch die der Mitschüler.

Selbstverständlich brachte ihr das auch Neider ein. Zu ihnen gehörte Sylvia Jüngert, ein viel zu dickes rothaariges Mädchen. Sylvia stand etwas außerhalb der Klassengemeinschaft und war deshalb auch nicht mit ins Landschulheim gefahren.

»Na, wie war’s denn?«, erkundigte sie sich an diesem Morgen scheinheilig bei Bärbel.

»Spitze! Wir haben eine Nachtwanderung gemacht und den Sonnenaufgang beobachtet.« Bärbel strahlte die Klassenkameradin versöhnlich an. Obwohl Sylvia oft hässlich zu ihr war, half sie ihr doch immer wieder aus der Klemme. Sie ließ das Mädchen, das hinter ihr saß, bei Klassenarbeiten bereitwillig abschreiben, und sie flüsterte Sylvia beim Abhören oft die richtige Antwort zu.

»Das war ja sicher ganz nett, aber deine Mutter hat sich viel besser amüsiert.« Sylvia schaute Bärbel herausfordernd an. Richtig stolz war das rothaarige Mädchen darauf, auch einmal mehr zu wissen als Bärbel.