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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der hübsche dunkelhaarige Junge kniete auf dem Waldboden. Er hatte sich gebückt, um einen großen Steinpilz abzuschneiden. Doch nun ließ er das bleiben und hob lauschend den Kopf. Sein jüngerer Bruder Henrik, der den Pilz ebenfalls entdeckt hatte, eilte herbei, um die Beute in seinen Korb zu bringen. Stolz stellte der Kleine fest, dass er fast so viele Pilze gesammelt hatte wie der Gymnasiast Nick. Natürlich hatte Henrik mit einem Protest seines Bruders gerechnet. Als dieser ausblieb, sah er den großen Jungen verwundert an und fragte: »Was hast du denn?« Nick legte den Zeigefinger über die Lippen. »Pst! Hörst du denn nichts?« »Nein!« Henrik schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Seine grauen Augen sahen fragend auf den Bruder. »Glaubst du, da ist irgendwo ein wildes Tier?«, erkundigte er sich ängstlich. »Nein. Aber es weint jemand. Eben habe ich es deutlich gehört!« Nick sah aufmerksam in die Runde. Er stand auf und spähte hinüber zu dem dichten Gebüsch am Waldrand. Es war alles still und friedlich. Schräg fielen die Strahlen der Herbstsonne durch das Geäst der hohen Tannen. Das Moos am Waldboden leuchtete in einem satten Grün. »Wer soll denn weinen? Hier ist doch niemand.« Henrik zuckte die Achseln und hielt Ausschau nach weiteren Pilzen. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass seinem älteren Bruder nichts entging. Nicks Interesse für seine Umgebung war stets hellwach. Deshalb wusste er gewöhnlich viel mehr als die anderen Buben seines Alters. Henrik bewunderte ihn und versuchte, ihm nachzueifern. Doch manchmal fand er das recht anstrengend. »Da ist es wieder! Hör doch!«,
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Seitenzahl: 148
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Der hübsche dunkelhaarige Junge kniete auf dem Waldboden. Er hatte sich gebückt, um einen großen Steinpilz abzuschneiden. Doch nun ließ er das bleiben und hob lauschend den Kopf.
Sein jüngerer Bruder Henrik, der den Pilz ebenfalls entdeckt hatte, eilte herbei, um die Beute in seinen Korb zu bringen. Stolz stellte der Kleine fest, dass er fast so viele Pilze gesammelt hatte wie der Gymnasiast Nick.
Natürlich hatte Henrik mit einem Protest seines Bruders gerechnet. Als dieser ausblieb, sah er den großen Jungen verwundert an und fragte: »Was hast du denn?«
Nick legte den Zeigefinger über die Lippen. »Pst! Hörst du denn nichts?«
»Nein!« Henrik schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Seine grauen Augen sahen fragend auf den Bruder. »Glaubst du, da ist irgendwo ein wildes Tier?«, erkundigte er sich ängstlich.
»Nein. Aber es weint jemand. Eben habe ich es deutlich gehört!« Nick sah aufmerksam in die Runde. Er stand auf und spähte hinüber zu dem dichten Gebüsch am Waldrand.
Es war alles still und friedlich. Schräg fielen die Strahlen der Herbstsonne durch das Geäst der hohen Tannen. Das Moos am Waldboden leuchtete in einem satten Grün.
»Wer soll denn weinen? Hier ist doch niemand.« Henrik zuckte die Achseln und hielt Ausschau nach weiteren Pilzen. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass seinem älteren Bruder nichts entging. Nicks Interesse für seine Umgebung war stets hellwach. Deshalb wusste er gewöhnlich viel mehr als die anderen Buben seines Alters. Henrik bewunderte ihn und versuchte, ihm nachzueifern. Doch manchmal fand er das recht anstrengend.
»Da ist es wieder! Hör doch!«, wisperte Nick. Er drehte den Kopf nach allen Seiten, um festzustellen, woher die jämmerlichen Töne kamen. »Komm, wir sehen nach.« Nick ließ vor Eifer seinen Korb stehen.
»Wir sagen lieber erst Herrn Rennert Bescheid«, meinte Henrik, der das Weinen nun auch gehört hatte, ängstlich. Suchend sah er sich nach dem erwachsenen Begleiter und den Kameraden um. Doch von ihnen war weit und breit nichts zu entdecken. Auf der Suche nach immer neuen Pilzplätzen hatten sich Nick und Henrik zu weit von der Gruppe entfernt.
Nick lief den steilen Hang hinab. Trockene Zweige krachten unter seinen Füßen, Steine rollten bergab. Schon bahnte er sich einen Weg durch das Dickicht. Dornen zerkratzten seine Hände, blieben an seinem hellen Pulli hängen. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, doch das störte ihn nicht. Er hörte das Weinen jetzt deutlicher, wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.
Henrik überlegte, ob er dem Bruder folgen solle, oder ob es besser sei, Hilfe zu holen. Dann siegte seine Neugierde. Er lief hinter Nick her. »Siehst du etwas?«, flüsterte er furchtsam.
Nick gab keine Antwort. Er hatte eben festgestellt, dass der Wald hinter dem Gestrüpp nicht zu Ende war, sondern sich dort lediglich eine Lichtung befand. Eine kleine Waldwiese war es, auf der blaue Glockenblumen und roter Fingerhut blühten, über der bunte Schmetterlinge in der Sonne schaukelten. Ein Bächlein murmelte, Vögel zwitscherten.
Man hätte das alles für ein heiteres Fleckchen Erde halten können, wenn das jämmerliche Weinen des Kindes nicht gewesen wäre, das zusammengesunken im Gras kauerte. Es hatte die Beine angezogen, die Arme darumgelegt und den Kopf darin verborgen und schien ganz in seinen Kummer versunken zu sein.
Die Kleine bot einen so jämmerlichen Anblick, dass Nick erschrocken zögerte. Henrik, der seinen Bruder inzwischen eingeholt hatte, klammerte sich an Nicks Arm und versuchte den Größeren zurückzuziehen. »Lass sie«, wisperte er. »Vielleicht ist sie verzaubert wie das Mädchen in ›Brüderchen und Schwesterchen‹.«
»Ach, du mit deinen Märchen.« Nick befreite sich und war mit zwei langen Schritten bei der zusammengesunkenen kleinen Gestalt. Vorsichtig berührte er deren Arm. »Hast du dich verlaufen?«, fragte er leise.
Das kleine Mädchen zuckte zusammen. Ruckartig hob es den Kopf mit dem langen wirren Haar. Zwei große blaue Kinderaugen starrten Nick angstvoll an. Der Körper des Kindes war starr vor Schreck. Das kleine Mündchen war wie zum Schrei geöffnet. Doch es kam kein Laut über die blassen Lippen.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir tun dir nichts. Wir bringen dich wieder nach Hause.« Nick hatte grenzenloses Mitleid mit dem mageren erschöpften Kind. Seine Stimme klang sanft und beruhigend.
Trotzdem begann das Mädchen in panischer Furcht zu schreien. Wilde, fast tierische Laute waren es, die aus dem kleinen Mund kamen. Sie steigerten sich zu einem schauerlichen Schrillen. Nur in Todesangst konnte ein Mensch solche Töne hervorbringen. Sie hallten grausig durch den Wald, wurden vom Echo zurückgetragen.
Henrik bekam eine Gänsehaut. Am liebsten wäre er davongelaufen. Doch seine Knie waren ganz weich und zittrig.
»Warum schreist du denn so furchtbar?«, erkundigte sich Nick und erwog, ob es nicht besser sei, Herrn Rennert zu holen. »Wir wollen dir doch nur helfen. Wenn du uns sagst, woher du kommst, bringen wir dich nach Hause – und alles ist wieder gut.«
Statt einer Antwort streckte das Kind ein dünnes Ärmchen aus, zeigte zuerst auf Nick, dann auf Henrik und steigerte sein unmenschliches Schrillen zu einem wahrhaft grausigen Getöse. Es war verwunderlich, woher die Kleine die Kraft zu einem solchen Geschrei nahm.
»Sei doch still«, bat Henrik und hielt sich die Ohren zu. »Wir tun dir bestimmt nichts. Wir kommen von Sophienlust. Das ist ein Heim für Kinder, die keine Eltern mehr haben. Vielleicht hast du schon davon gehört. Früher war es ein Gut und hat Nicks Urgroßmama gehört. Sie hat es ihm geschenkt. Und unsere Mutti verwaltet es, bis Nick erwachsen ist.«
Das fremde Kind schrie in unverminderter Lautstärke weiter. Trotzdem fuhr Henrik in seiner Rede fort. Irgendwie war er überzeugt, dass die Angst der Kleinen nur auf diese Weise zu besiegen war.
»Mutti war Witwe und heiratete dann meinen Vati. Aber da gab es mich noch nicht«, gestand Henrik treuherzig. »Deshalb sind Nick und ich auch nur Halbgeschwister. Und Sascha und Andrea auch. Sascha ist Student und kommt nur in den Ferien nach Hause. Und Andrea ist schon verheiratet. Ihr Mann ist der Tierarzt Dr. von Lehn. Er hat ein richtiges Tierheim. Möchtest du es einmal sehen?«
Nick stand mit hängenden Schultern vor dem schreienden Mädchen. Er wusste sich für gewöhnlich in jeder Situation zu helfen, doch hier war er tatsächlich ratlos. Wie sollte er das fremde Kind dazu bewegen, sein schreckliches Schreien einzustellen?
Henrik ließ sich nun neben der Kleinen im Gras nieder und erzählte unbeirrt weiter: »Im Tierheim gibt es Hunde, Katzen, einen Esel, ein Reh und sogar richtige Affen. Das ist manchmal sehr lustig. Peterle, das ist Andreas kleiner Sohn, hat überhaupt keine Angst vor all den Tieren. Nicht einmal vor dem großen Pferd Fortuna, das früher ein berühmtes Turnierpferd war.«
Das Schrillen wurde leiser, verstummte schließlich. Doch noch immer war der Blick des Kindes voll Angst. Noch immer ging sein Atem schnell und rasselnd. Es hielt den Kopf ein wenig schief und lauschte auf Henriks Worte.
Nick kauerte sich nun ebenfalls neben den kleinen Findling. Wie sichtlich, dass die Kleine die Frage nicht verstanden hatte.
»Bist du von zu Hause weggelaufen?«
»Oder hat man dich im Wald allein gelassen wie Hänsel und Gretel?«, ergänzte Henrik. Er war in einem Alter, in dem Märchen eine große Rolle spielten.
Das Kind antwortete nicht. Es starrte die beiden Jungen unverwandt an, als wollte es sich jede Einzelheit einprägen.
»Sie ist doch verzaubert«, raunte Henrik seinem Bruder zu und rückte gleichzeitig ein wenig weg.
»Wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sich der ältere Junge leise.
»Weil sie nicht sprechen kann.« Henrik bereute jetzt, dass er nicht gleich zu Herrn Rennert gelaufen war. Die Sache begann ihm richtig unheimlich zu werden.
*
Der Atem der Pferde stieg wie eine kleine weiße Wolke in die klare frische Luft des Herbstmorgens. Es war kühl, doch die im Osten rot aufgehende Sonne versprach einen wunderschönen Tag. Tau glitzerte auf Sträuchern und Gräsern. Auf den weiteren Wiesen, die zu Gut Schoeneich gehörten, blühten die ersten Herbstzeitlosen.
Gemächlich trabten die beiden Holsteiner nebeneinander. Der Blick des Gutsherrn glitt über die abgeernteten Felder hinweg zu den neu angelegten Obstplantagen. Dort würde man schon in diesem Jahr köstliche Pfirsiche und rotwangige Äpfel ernten. Der Ertrag versprach besser zu werden, als Alexander von Schoenecker zu hoffen gewagt hatte.
»So ein Ausritt mit dir am Morgen ist der beste Tagesanfang«, meinte der breitschultrige hochgewachsene Mann, der im Sattel eine tadellose Figur machte. Bewunderung war in seinen Augen. Bewunderung für Denise, seine hübsche Frau.
Obwohl die beiden schon viele Jahre miteinander verheiratet waren, wurde in dieser Ehe nichts zur Gewohnheit, nichts zur Routine. Alexander und Denise liebten einander noch so wie am ersten Tag ihres Beisammenseins und zeigten das auch bei jeder Gelegenheit.
»Es ist für mich immer wieder ein wundervolles Erlebnis, das Erwachen der Natur zu beobachten. Schau nur hin …« Alexander deutete auf einen Feldhasen, der, in eine Ackerfurche geduckt, wohl noch geschlafen hatte. Durch das Pferdegetrappel aufgeschreckt hoppelte er jetzt eilig davon.
Die sonst so tierliebe Denise sah kaum auf. Ein bisschen verträumt saß sie im Sattel.
»Was ist? Was beschäftigt dich?«, fragte Alexander, der seine Frau so nicht kannte.
»Ich denke gerade an unser Findelkind«, antwortete Denise zerstreut.
»Hat sich noch immer nicht herausgestellt, wohin die Kleine gehört?« Obwohl Alexander durch die Arbeit auf dem großen Gut sehr beansprucht war, hatte er stets Interesse an den Belangen des Kinderheims, das seine Frau verwaltete. Auch er liebte Kinder. Außerdem wusste er, dass Denise mit ihrer verantwortungsvollen Aufgabe glücklich war.
»Leider wissen wir noch nicht mehr. Auch die Polizei kann uns nicht weiterhelfen. Es gibt keine Vermisstenanzeige, keine Suchmeldung. Der öffentliche Aufruf, den man in Maibach durch die Tageszeitung und in den umliegenden Ortschaften durch den Ortsfunk verbreitet hat, war ein Misserfolg. Es hat sich niemand gemeldet. Niemand kennt die Kleine.«
»Aber ein Kind fällt doch nicht vom Himmel.« Alexander klopfte den Hals seines Pferdes.
»Das habe ich auch gedacht. Es scheint fast, als habe man die Kleine ausgesetzt.«
»Aber dann müsste sie doch Angaben machen können über die Familie, in der sie bisher gelebt hat, über die Person, die sie in den Wald gebracht hat, und über den Ort, an dem sie zu Hause war.«
Denise hielt die Zügel straff und veranlasste damit ihr Pferd, noch langsamer zu gehen. »Das ist es ja, was mir am meisten Kummer macht. Zuerst dachte ich, es wäre der Schock, dass die Kleine nicht spricht, sondern nur weint. Doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass sie nicht sprechen kann.«
Alexander wandte sich verblüfft seiner Frau zu. »Das gibt es doch nicht! Ein Mädchen von schätzungsweise vier Jahren kann doch schon sprechen.«
»Man sollte es annehmen. Unser Findling bringt wohl Laute hervor, aber keine Worte. Auch wenn man mit der Kleinen spricht, begreift sie nichts. Sie starrt einen nur an und versucht, die Dinge, die ihr fremd erscheinen, zu betasten. Man hat den Eindruck, es mit einem Kleinkind zu tun zu haben.«
»Und was sagt Frau Dr. Frey dazu?« Alexander von Schoenecker schüttelte verständnislos den Kopf. Das Mädchen, das Nick und Henrik im Wald gefunden hatten, löste begreiflicherweise viel Aufregung in Sophienlust aus. Es fürchtete sich vor Menschen und Tieren und hatte einen Schreikrampf bekommen, als sich ihm der gutmütige Bernhardiner Barri genähert hatte. Man hatte die Ärztin rufen müssen, die dem Kind eine Beruhigungsspritze gegeben hatte.
»Frau Dr. Frey hat unseren Findling gründlich untersucht und festgestellt, dass er aufgrund seiner körperlichen Entwicklung etwa vier Jahre alt sein muss. Er hat jedoch den Bildungsstand eines Babys.«
»Also ein geistig behindertes Kind.« Alexander war plötzlich sehr ernst, denn er ahnte, was damit für Probleme auf Denise zukommen würden.
»Das ist nicht anzunehmen. Die Tests, die Frau Dr. Frey mit dem kleinen Mädchen gemacht hat, lassen auf eine normale Intelligenz schließen. Allerdings wurde die geistige Entwicklung der Kleinen in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Und dafür habe ich einfach keine Erklärung. Welche Mutter zieht ein Kind auf, ohne es je beim Namen zu nennen? Unser Findling weiß nämlich nicht einmal, wie er heißt.«
»Das ist doch nicht möglich.«
»Die Kleine hatte ein Taschentuch bei sich, in das der Name Stefanie eingestickt ist. Doch sie reagiert nicht, wenn wir sie mit diesem Namen anreden.« Denise seufzte tief.
»Die Kleine muss ja nicht Stefanie heißen. Das Tuch kann ebenso gut jemand anderem gehören.«
»Du hast wieder einmal recht.« Denise lächelte Alexander zu.
Die beiden waren jetzt auf einer Anhöhe angelangt, von der man einen weiten Blick über die ganze Gegend hatte. Zwischen den dicht belaubten Wipfeln alter Bäume schimmerte das Dach von Sophienlust. Man sah auch die Verbindungsstraße von dort nach Gut Schoeneich, dahinter die Felder, Wiesen und Wälder, die dazugehörten. Am Horizont waren die Orte Bachenau und Wildmoos zu erkennen.
Alexander hielt sein Pferd an, sprang ab und war seiner Frau beim Absitzen behilflich. Liebevoll behielt er ihre Hand in der seinen und sah ihr in die Augen.
»Wurde das Kind nicht in der Nähe von Schloss Reschberg gefunden? Soll ich den Grafen einmal anrufen? Vielleicht weiß er etwas über die Herkunft des Mädchens.«
»Das wäre nett von dir, Alexander. Allerdings verspreche ich mir nicht viel davon. Herr Rennert, der die Kinder damals beim Pilzesuchen begleitete, sprach mit dem Verwalter. Man versicherte ihm, dass man das Kind noch nie gesehen habe. Ich glaube fast, wir werden das Rätsel nicht lösen.«
»Seit wann gibst du so rasch auf?« Langsam gingen Alexander und Denise zu Fuß weiter. Die Pferde, die gewohnt waren, bei solchen Gelegenheiten brav zu warten, knabberten gemütlich die saftigen Gräser am Waldrand ab.
»Ach, Alexander, ich habe in den letzten Tagen alle möglichen Leute angerufen, um etwas über Stefanie zu erfahren, doch niemand konnte mir Auskunft geben. Außerdem habe ich auf den Standesämtern der umliegenden Orte alle Geburtsregister durchsehen lassen. Es gibt auch dort keinen Hinweis.«
»Und was hältst du davon, dass ich weitersuche?« Alexander hatte zärtlich den Arm um die schmalen Schultern seiner Frau gelegt.
»Aber du hast doch gar keine Zeit!« Denise schmiegte sich eng an ihren Mann. Es war eine große Erleichterung für sie, mit ihm über alles reden zu können.
»Deine Probleme sind auch die meinen, das weißt du doch. Und dafür muss man eben Zeit haben.« Alexander schmunzelte. Es war jenes kleine Lächeln, das Denise so sehr an ihm mochte. Sie blieb stehen, legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn liebevoll auf den Mund. Es war ein Kuss, wie ihn nur Menschen tauschten, die einander wirklich verstanden und liebten. Ein Kuss, der den beiden zeigte, wie sehr sie zusammengehörten, wie sehr sie einander brauchten.
*
Etwas hilflos stand Franka Weigel mit ihrem Gepäck in der riesigen Hotelhalle. Es herrschte ein reger Betrieb hier. Gäste kamen und gingen, und der Portier hatte alle Hände voll zu tun. Krampfhaft hielt Franka das Schreiben des Reisebüros in der rechten Hand. Sie hatte diese Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen. Ihre erste Fahrt ins Ausland, ihre erste Urlaubsreise überhaupt!
Franka war neunzehn Jahre alt und seit einem Jahr als Sprechstundenhilfe tätig. In einem Waisenhaus aufgewachsen, hatte das junge Mädchen bisher so gut wie nichts von der Welt gesehen. Umso mehr hatte es sich vorgenommen, sich recht gewandt und erfahren zu geben. Das hatte auch geklappt, bis Franka vor einer Stunde in Paris angekommen war. Die Hektik der Weltstadt hatte ihre Vorsätze zunichtegemacht, und sie in das unerfahrene kleine Mädchen zurückverwandelt, das sie eigentlich war.
Natürlich hatte Franka in der Schule Französisch gelernt, doch hier klang alles so anders. Hier wurde auch so schnell gesprochen, dass Franka kein einziges Wort verstand. Der Taxifahrer hatte sie hier abgesetzt, aber sie wusste nicht einmal, ob sie hier richtig war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte da eine sympathische Stimme in einwandfreiem Deutsch. Franka sah auf und blickte geradewegs in ein Paar lustige braune Augen. Sie gehörten einem schlanken blonden Mädchen, das Franka irgendwie bekannt vorkam. »Ich bin Claudine und erst seit einigen Stunden in Paris. Die Stadt verwirrt mich ebenso wie Sie. Aber trotzdem finde ich sie wunderbar.« Jetzt hörte man ein wenig den französischen Akzent des jungen Mädchens heraus.
Franka hielt ihr Schreiben hoch. »Es muss in diesem Hotel ein Zimmer für mich reserviert sein«, sagte sie und war froh, jemand gefunden zu haben, mit dem sie reden konnte.
»Moment, das haben wir gleich.« Claudine nahm Franka das Schreiben ab und ging damit zur Rezeption.
Ein bisschen ängstlich sah Franka dem jungen Mädchen nach. Ihr Chef, der alte Landarzt Dr. Specht, hatte sie eindringlich vor dieser Reise gewarnt und ihr alle Gefahren der Großstadt drastisch geschildert. Doch diese Claudine war bestimmt keine Schwindlerin. Dafür war sie viel zu sympathisch. Erst jetzt fiel Franka jedoch auf, dass sie ihr selbst sehr ähnlich war.
Schon kam Claudine zurück, hinter ihr ein Boy, der Frankas Koffer ergriff. »Zimmer einhundertvierzehn. Das ist genau ein Stockwerk unter meinem Appartement. Der Portier hat mich für Sie gehalten und Deutsch mit mir gesprochen. Lustig, nicht wahr?« Claudines dunkle Augen blitzten Franka an.
In dieser fröhlichen Gesellschaft fasste Franka wieder Mut. Sie wollte diese acht Urlaubstage genießen, wollte sich einmal so richtig verwöhnen lassen. »Ich glaube, wir sind einander sehr ähnlich«, meinte sie, als sie mit Claudine in dem hübschen Hotelzimmer war und der Boy ihre Koffer abgestellt hatte, die ein bisschen billig in der vornehmen Umgebung wirkten.
»Das ist mir auch sofort aufgefallen. Wir sind gleich alt, und wir sind beide fremd hier. Wollen wir Freundinnen sein?« Schon streckte die lebhafte Claudine Franka die Hand hin.
»Aber wir kennen einander ja kaum«, meinte das junge Mädchen vorsichtig.
»Oh, das kommt rasch. Ich entstamme der Familie de Bouvard. Alter Landadel. Meine Mutter war Deutsche, mein Vater Franzose. Leider sind beide sehr früh umgekommen. Ich wurde von meiner Großmutter erzogen, einer sehr strengen alten Dame. Vor einem Monat starb sie. Ich soll nun künftig beim Bruder meiner Mutter in Deutschland leben. Graf Reschberg heißt er und ist auch schon über sechzig.« Claudine machte ein trauriges Gesicht.
»Magst du den nicht?«, fragte Franka mitleidig.