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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Schwer atmend blieb der alte Oberförster Bullinger stehen. Er war zwar noch rüstig, doch wenn es galt, Steigungen auf unebenem Gelände zu überwinden, merkte er doch, daß er schon seit vielen Jahren im Ruhestand war. Er hätte sich ein bequemes Dasein leisten können. Doch wer wie er ein Leben lang hart gearbeitet hatte, legte auch im Alter die Hände nicht in den Schoß. In der vergangenen Nacht war ein schweres Unwetter niedergegangen. Mehrmals hatte der Blitz eingeschlagen und große Schäden im Wald verursacht. Deshalb war der pensionierte Oberförster jetzt unterwegs, um seinem jungen Kollegen Hinweise geben zu können. Denn Klaus Schröder konnte, bei aller Tüchtigkeit, dieses große Revier nicht so rasch inspizieren, wie es im Interesse der Sicherheit nötig war. Bullinger hatte sich bereits eine Menge Notizen gemacht. Jetzt stützte sich Bullinger auf seinen Stock, den er seit einiger Zeit brauchte. Der Oberförster kniff die Augen zusammen. Drüben, in der Nähe des Baches, bewegte sich etwas. Es war kein Wild, das erkannte Bullinger auch jetzt noch sofort. Es waren auch keine Beerensammler oder Pilzsucher. Dafür war das Objekt zu klein. Unwillkürlich beugte sich der Mann in der grünen Jägerkleidung etwas vor. Das Gebiet hier war so entlegen, daß man nur äußerst selten jemanden traf. Deshalb glaubte Bullinger seinen Augen nicht trauen zu können. Am Steilhang neben dem Bach kletterte ein Kind bergan. Nein, zwei waren es.
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Schwer atmend blieb der alte Oberförster Bullinger stehen. Er war zwar noch rüstig, doch wenn es galt, Steigungen auf unebenem Gelände zu überwinden, merkte er doch, daß er schon seit vielen Jahren im Ruhestand war. Er hätte sich ein bequemes Dasein leisten können. Doch wer wie er ein Leben lang hart gearbeitet hatte, legte auch im Alter die Hände nicht in den Schoß. In der vergangenen Nacht war ein schweres Unwetter niedergegangen. Mehrmals hatte der Blitz eingeschlagen und große Schäden im Wald verursacht.
Deshalb war der pensionierte Oberförster jetzt unterwegs, um seinem jungen Kollegen Hinweise geben zu können. Denn Klaus Schröder konnte, bei aller Tüchtigkeit, dieses große Revier nicht so rasch inspizieren, wie es im Interesse der Sicherheit nötig war. Bullinger hatte sich bereits eine Menge Notizen gemacht.
Jetzt stützte sich Bullinger auf seinen Stock, den er seit einiger Zeit brauchte. Der Oberförster kniff die Augen zusammen. Drüben, in der Nähe des Baches, bewegte sich etwas. Es war kein Wild, das erkannte Bullinger auch jetzt noch sofort. Es waren auch keine Beerensammler oder Pilzsucher. Dafür war das Objekt zu klein. Unwillkürlich beugte sich der Mann in der grünen Jägerkleidung etwas vor. Das Gebiet hier war so entlegen, daß man nur äußerst selten jemanden traf. Deshalb glaubte Bullinger seinen Augen nicht trauen zu können. Am Steilhang neben dem Bach kletterte ein Kind bergan. Nein, zwei waren es. Ganz deutlich erkannte der Förster nun die beiden kleinen Gestalten. Sie kamen in dem morastigen, vom Bach überschwemmten Gelände nur mühsam vorwärts. Oberförster Bullinger hielt nach den Begleitpersonen Ausschau, konnte aber niemanden entdecken. Jetzt blieben die Kinder stehen, sahen sich unsicher um, nahmen aber gleich darauf die beschwerliche Kraxelei wieder auf. Den Mann, der unten am Weg stand und von einigen Tannen verdeckt wurde, konnten sie nicht sehen.
»Hallo, ihr beiden«, schrie Bullinger herüber, »kommt zurück! Weiter oben ist nur Fels, da gibt’s ohnehin kein Durchkommen.« Der alte Förster hatte eine kräftige, laute Stimme, die das Rauschen des Baches übertönte. In dem engen, von Felsen begrenzten Tal hallte sie besonders laut.
Überrascht und verwundert blieben die Kinder stehen und schauten in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Sie schienen sich nicht zu fürchten, sondern eher erleichtert darüber zu sein, in dieser Einsamkeit eine menschliche Stimme zu vernehmen.
Der Mann ging ihnen entgegen, marschierte am Bachufer entlang tapfer aufwärts. Sein Atem ging dabei rasch und laut, und sein Herz klopfte wild vor Anstrengung. Doch das beachtete er nicht. In vielen Berufsjahren hatte er im Wald so manches erlebt. Ergreifende Tiertragödien, verirrte Wanderer, Verbrecher, die sich und ihr Diebesgut versteckten, ja, sogar Selbstmörder. Noch nie aber hatte Bullinger zwei Kinder allein im Wald getroffen. Unwillkürlich mußte er an das Märchen von Hänsel und Gretel denken. Denn die beiden, ein kleiner Junge von etwa fünf und ein Mädchen, das vermutlich nicht älter als vier Jahre alt war, wirkten wie diese Märchengestalten.
»Kommt langsam zurück«, bat der Förster freundlich. Er war jetzt den Kindern schon so nahe, daß er nicht mehr schreien mußte. »Keine Angst, ich tu’ euch nichts. Ich helfe euch.«
Die Kinder versuchten, abwärts zu steigen, rutschen aber auf dem nassen Untergrund aus und blieben dann ängstlich stehen.
»Hinauf geht es meistens leichter als hinunter«, verriet der Förster mit gutmütigem Lachen. Sein weißer Vollbart wippte dabei, und sein rundes noch immer frisches Gesicht strahlte.
»Bist du der Nikolaus?« erkundigte sich das kleine Mädchen. Sein dünnes, helles Stimmchen klang rührend.
Bullinger blieb keuchend stehen. Der Aufstieg strengte ihn doch mehr an, als man sich in seinem Alter zumuten durfte. »Nein, ich bin ein alter Förster, der auf seine Pirschgänge im Wald nicht verzichten kann«, erklärte er japsend. »Kommt, kommt herunter, ich bringe euch zu euren Eltern.« Das Sprechen fiel dem ehemaligen Oberförster sichtlich schwer.
»Wir haben aber keine Eltern mehr«, berichtete der Junge mit trotzig vorgeschobener Unterlippe. »Wir sind ganz allein.« Der Gedanke schien ihm Angst einzuflößen, denn er griff hilfesuchend nach der Hand seiner Schwester.
Daß die beiden Geschwister waren, erkannte man auf den ersten Blick. Die Kinder trugen Lederhosen und kleine Rucksäcke, schienen also für eine Wanderung ausgerüstet zu sein.
»Mami und Papi sind in der Erde«, berichtete die Schwester, die wohl noch zu klein war, die Endgültigkeit dieser Aussage zu begreifen. »Da waren ganz viele Leute im Park.«
»Das war kein Park, das war der Friedhof«, berichtete der Bruder. »Die Omi hatte ein schwarzes Kleid, und der Opa hat geweint«, erzählte die Kleine mitteilungsbedürftig.
»Und weil sie sich dann gezankt haben, sind wir weggelaufen«, ergänzte der kleine Junge. »Wir gehen zur Fee.«
Keuchend stieg Bullinger weiter hoch. »Zu welcher Fee?« japste er, völlig außer Atem.
»Sie wohnt im Wald und hilft allen Kindern. Ganz hoch oben auf dem Berg hat sie ein Schloß.« Der Kleine sah in die Luft, als könnte er irgendwo zwischen den Wolken den Palast der Traumgestalt erblicken.
»Wie heißt ihr denn?« Bullinger hatte die Kinder jetzt bis auf wenige Meter erreicht.
»Michael und Anica.«
»Und woher kommt ihr?«
»Von der Omi. Bei ihr waren wir, weil Mami und Papi verreisen wollten.« Anica setzte sich jetzt in Bewegung und zog den Bruder mit. Vertrauensvoll sah sie zu dem älteren Mann auf.
Der greise Förster ahnte schon, daß er von den Geschwistern kaum mehr erfahren würde. Sie waren noch zu klein, um ihre vollständige Adresse zu kennen. Wenn sie tatsächlich ohne jede Begleitung waren, was der Fall zu sein schien, würde man die Polizei einschalten müssen, um ihre Angehörigen ausfindig zu machen.
»Seid ihr den ganzen Weg gelaufen?«
Bullinger schüttelte besorgt den Kopf. Dieses Waldgebiet war viele Kilometer weit vom nächsten Ort entfernt, und an Wochentagen traf man kaum jemanden hier draußen. Daß er hier vorbeigekommen war, war eigentlich mehr Zufall gewesen. Bullinger wagte sich nicht vorzustellen, was geschehen wäre, wenn er die Kinder nicht entdeckt hätte. Die Chance, daß sie allein wieder aus dem unwegsamen Gelände herausgefunden hätten, war sehr gering.
»Wir sind mit einem Laster gefahren und ausgestiegen, als er Pause gemacht hat«, berichtete Anica mit ihrer hellen Kinderstimme.
»Dann weiß also niemand, wo ihr seid?« Noch glaubte Bullinger die Geschichte nicht ganz. Denn welche Oma versäumte es schon, zwei so reizende Enkelkinder ausreichend zu beaufsichtigen?
»Doch, die Fee. Sie weiß es immer, wenn ein Kind sie braucht. Mami hat uns das oft erzählt.« Michael war in einem Alter, in dem er Wirklichkeit und Märchen nicht auseinanderhalten konnte. Die Gestalten der Erzählungen seiner Mutter existierten für ihn.
»Hat dich die Fee gesandt?« erkundigte sich Anica.
»Nein. Aber ich möchte euch trotzdem bitten mitzukommen. Wir gehen zu mir nach Hause. Meine Frau wird euch etwas zu essen geben, und dann sehen wir weiter. Sie ist sehr lieb und mag Kinder sehr gern«, ergänzte er, als er bemerkte, daß die Geschwister zögerten. Fürsorglich faßte er die Kleinen bei der Hand.
Der Abstieg war schwierig, aber Bullinger ließ sich Zeit. Er legte immer wieder Pausen ein und unterhielt sich mit den Kindern so nett, daß sie jede Scheu verloren.
Frieda Bullinger, die wußte, wie kinderlieb ihr Mann war, wunderte sich kaum, als sie ihn mit den beiden Kleinen kommen sah.
»Du warst wohl in Sophienlust drüben und hast dir Zuhörer für deine Geschichten mitgebracht?« erkundigte sie sich lachend. »Kommt nur herein, ihr beiden. Ich hole euch Milch und frisch gebackenen Kuchen.«
»Sophienlust? Nein. Aber das ist die Idee. Versorge du die Kinder, ich muß mal rasch telefonieren.« An seiner Frau vorbei ging Bullinger ins Haus.
Die resolute Frau des Oberförsters schüttelte den Kopf. »Moment mal. Würdest du mir bitte erklären…«
»Ja, aber später.« Bullinger verschwand in seinem kleinen Arbeitszimmer, wo sich das Telefon befand. Er wußte, daß Michael und Anica bei seiner Frau in bester Obhut waren.
Die beiden streiften sich eben die schmutzigen Schuhe ab und betraten ohne Scheu das Haus.
»Ist dieser Ast von einem Hirsch?« erkundigte sich der Junge und blieb staunend im Flur stehen, wo über einer alten Truhe ein riesiges Geweih hing.
»Ja, das ist ein Kronenzwölfer. Er hat dem schönsten Hirsch gehört, der hier im Revier war.« Frieda lächelte wehmütig, denn die Trophäe erinnerte sie an die Zeit, als ihr Mann und sie als junges Ehepaar in dieses Revier gekommen waren. Damals hatten sie oft mit Stolz und Freude den kapitalen Hirsch beobachtet.
»Hat er ihn totgeschossen?« wollte Michael wissen. Er deutete dabei auf die Tür, hinter der Bullinger verschwunden war.
»Nein. Der Hirsch war alt und hat sein Geweih bei einem Kampf verloren.« Frau Bullinger mochte den Kleinen nicht erzählen, daß ihr Mann das Tier wenig später verendet gefunden hatte. »Kommt jetzt. Drüben im Wohnzimmer gibt es noch mehr, das euch interessieren wird.« Frau Bullinger hatte sich bereits daran gewöhnt, daß die Kinder von Sophienlust, die ab und zu zu Besuch kamen, immer wieder die ausgestopften Tiere bewunderten. Auch Michael und Anica waren sofort davon begeistert.
*
»Was gibt denn das?« erkundigte sich Vicky und betrachtete Nicks Produktion von allen Seiten.
»Wachsengel«, war die knappe, etwas unfreundliche Antwort. Nick ließ sich in seiner Arbeit nicht stören, obwohl er es nicht gerne hatte, daß ihm jemand zuschaute. Vor allen Dingen deshalb nicht, weil ihm die Wachsgießerei nicht so richtig gelingen wollte. Die Figuren lösten sich nicht vollständig aus den Formen und waren deshalb kaum zu erkennen.
»Jetzt haben wir doch erst Juni, da ist aber noch sehr viel Zeit bis Weihnachten.« Vicky war die jüngere der Langenbach-Geschwister, die ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten und danach in Sophienlust Aufnahme gefunden hatten. Was zunächst als Notlösung gedacht war, wurde zum Dauerzustand. Michael, Angelika und Vicky fanden in dem ehemaligen Gutshaus Sophienlust, das Denise von Schoenecker zu einem privaten Kinderheim umfunktioniert hatte, eine zweite Heimat. Michael studierte inzwischen in Heidelberg und kam nur noch in den Semesterferien »nach Hause«. Seine beiden jüngeren Schwestern fühlten sich in der großen Gemeinschaft sehr wohl, entwickelten sich völlig normal und verbrachten eine unbeschwerte, fröhliche Kindheit.
»Die Engel sind nicht für Weihnachten, sondern für den Schulbasar«, erklärte Nick, Denise von Schoeneckers Sohn aus erster Ehe, etwas ungehalten. Ihm hatte die Urgroßmama Sophienlust samt den dazu gehörenden Ländereien vererbt. Bis zu seiner Volljährigkeit verwaltete seine Mutti den Besitz und kümmerte sich liebevoll um die kleinen Schutzbefohlenen. Da sie sich tagsüber häufig in Sophienlust aufhielt, waren auch ihre Söhne, Nick und Henrik, meistens nur abends zu Hause auf dem nahegelegenen Gut Schöneich. »Unser Gymnasium feiert doch ein Jubiläum. Es existiert schon 100 Jahre, der blöde Kasten. Zum Fest im Juli macht jede Klasse einen Stand und verkauft selbstgefertigte Dinge. Die Klasse, die den höchsten Gewinn erzielt, ist Sieger.«
»Jetzt weiß ich, weshalb Pünktchen ständig Strohblumen und Gräser sammelte und Irmela immer neue Figuren zeichnet, die sie aus Salzteig machen will.«
»Kluges Mädchen«, meinte Nick in mitleidigem Ton. Normalerweise war er der beste Kamerad der Kinder und ein treuer Beschützer der Kleinen. Doch heute war er mit sich selbst nicht zufrieden und deshalb launisch. Wieder war er dabei, eine Figur aus der Form zu lösen. Es war wohl noch etwas zu früh. Was ein Kunstwerk hatte werden sollen, zerbrach in seinen Händen. »Sch…«, zischte Nick verärgert. Er warf die Brocken in den Schmelztiegel zurück.
Vicky ließ sich weder von Nicks finsterem Gesicht, noch von seinen groben Antworten beeindrucken. »Was bekommt eigentlich der Sieger?« erkundigte sie sich interessiert.
»Es gibt nicht nur einen Sieger, sondern eine ganze Klasse. Sie darf gemeinsam einen Ausflug machen, dessen Ziel sie bestimmen kann.«
»Das kann sie doch auch mit dem Geld, das sie aus dem Verkauf einnimmt«, überlegte Vicky laut. Sie besuchte noch die Grundschule und beneidete heimlich die älteren Kameraden, die bereits zu Realschule oder ins Gymnasium gingen.
»Stellst du dich aber an«, brummte Nick ungehalten. »Dieses Geld dürfen wir doch nicht behalten. Es gehört der Schule. Dafür werden neue Geräte für den Physiksaal angeschafft.«
»Hm.« Vicky nickte ehrfürchtig, denn sie wußte von ihrer älteren Schwester, daß Physik eine schwierige Materie war. »Kann ich dir helfen, Nick?« erbot sie sich mit kindlichem Eifer.
»Ja. Du kannst verschwinden. Mach ’ne Fliege.« Nick unterstrich diese Bemerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung, denn eben war er dabei, wieder eines seiner Produkte aus der Form zu heben. Es war ein Augenblick höchster Spannung und Konzentration. Bis jetzt war noch kein einziger Wachsengel richtig gelungen. Dabei hatte sich Nick alles so schön vorgestellt. Er wollte seine Figuren bemalen und mit einem kleinen Aufhänger versehen. Wieder zerbrach das Wachs in seinen Hände. »So ein Mist! Ich muß irgend etwas falsch machen!« Nick war froh, daß sich Vicky inzwischen beleidigt zurückgezogen hatte und so nicht Zeuge des erneuten Mißerfolgs wurde.
Entschlossen stand der große, dunkelhaarige Junge auf und rannte aus dem Bastelraum. Er wollte zu Frau Rennert, der Heimleiterin, die über sehr viel Geschick in Handarbeiten verfügte und viele hübsche Dinge selbst fertigte.
Nick klopfte kurz an Frau Rennerts Bürotür, trat ein und blieb dann stehen, denn die Heimleiterin telefonierte gerade.
»Es tut mir aufrichtig leid, Herr Bullinger«, sagte sie gerade. »Wir sind im Moment voll gelegt und haben kein einziges Bett mehr frei. Wir hätten die Geschwister sonst gerne bei uns aufgenommen. Vielleicht versuchen Sie es im Städtischen Kinderheim. Dort kann man Ihnen sicher helfen.« Frau Rennert lauschte noch einige Minute, grüßte und legte auf.
»Was wollte der Oberförster denn?« erkundigte sich Nick, für den das Problem mit den Bastelarbeiten plötzlich nicht mehr so wichtig war.
»Er hat im Wald zwei Kinder gefunden. Einen Jungen von fünf und ein Mädchen von knapp vier Jahren.«
»Im Wald? Einfach so? Das gibt es doch nicht.« Nick schüttelte verständnislos den Kopf. Er war ein ausgesprochen hübscher Junge, und das war auch schon vielen Mädchen aufgefallen. Doch für Flirts interessierte er sich noch nicht.
»Die beiden sind vermutlich von zu Hause weggelaufen, weil ihre Eltern verunglückt sind.« Frau Rennert war sehr ernst. Sie leitete dieses Heim seit vielen Jahren und hatte schon so manches miterlebt.
»Und da landen sie ausgerechnet bei uns im Wald? Das ist doch mehr als merkwürdig. Ich glaube eher, daß sie ausgesetzt wurden, ähnlich wie…« Hänsel und Gretel hatte Nick sagen wollen. Aber das kam ihm dann doch zu kindisch vor. »Na ja, es gibt doch solche Eltern. Wenn ich nur an Harald denke. Den hat seine Mutter hier auch nicht mehr abgeholt, weil er ihr im Weg war.«
»Es war nicht seine Mutter, sondern seine Stiefmutter«, berichtigte Frau Rennert. »Das ist ein großer Unterschied. Eine Mutter könnte so etwas nicht tun.« Else Rennert dachte an die vielen Mütter, die sich schützend vor ihre Kinder stellten, obwohl diese Kinder zum Teil gemein und häßlich zu ihnen waren, wenn sie Unrecht taten oder hochmütig wurden. Eine Mutter war normalerweise ihr ganzes Leben lang um das Wohl ihres Kindes besorgt.
»Auf jeden Fall können wir sie hier nicht aufnehmen«, wiederholte Nick unzufrieden.
»Du weißt doch, daß wir zur Zeit außergewöhnlich viele Kinder haben. Sämtliche Fremdenzimmer sind belegt. Selbst auf der Couch in Schwester Regines Appartement schläft ein Kind.«
»Und was ist mit meinem Zimmer? Ich brauche es ja nicht unbedingt. Ich habe meinen Platz drüben auf Gut Schoeneich. In meinem Zimmer stehen ein Bett und eine Couch. Sie können dort ruhig die beiden Kinder einquartieren. Wenn sie tatsächlich keine Eltern mehr haben, muß man ihnen doch helfen.«
»Du willst also vorübergehend dein Zimmer zur Verfügung stellen?« Schon oft hatte Frau Rennert die Erfahrung gemacht, daß Nick ein gutes Herz besaß. Das zeigte sich auch jetzt wieder.
»Ja. Rufen Sie doch bitte den Oberförster an und sagen Sie ihm, daß er die Kinder bringen kann.«
»Ich weiß aber nicht, wie lange wir dein Zimmer brauchen werden.« Frau Rennert zögerte.
»Das macht doch nichts. Es sind ohnehin bald Ferien, dann komme ich morgens einfach mit dem Fahrrad von Gut Schoeneich herüber und abends radle ich zurück.«
»Gut.« Else Rennert griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. »Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh, daß wir Herrn Bullinger helfen können, denn er war uns auch schon sehr oft gefällig. Danke, Nick.«
»Ich bin ja mal gespannt auf die beiden.« Er ließ sich im Besuchersessel nieder, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Geduldig wartete er, bis die Heimleiterin das Telefongespräch beendet hatte.
*
Das schwarze Kleid, das der neuesten Mode entsprach und ausgesprochen jugendlich wirkte, stand Gerda Barsen ausgezeichnet. Es unterstrich ihren schlanken, wohlgeformten Körper und brachte das schulterlange blonde Haar voll zur Geltung. Trotz ihrer siebenundvierzig Jahre war Gerda noch immer eine sehr schöne Frau, der mancher Mann begeistert nachschaute. Ihre Haut war glatt, sehr gepflegt und dezent geschminkt. Ihre Augen hatten den jugendlichen Glanz ebensowenig verloren wie ihre Bewegungen den Schwung und die Elastizität.
Liebenswürdig und charmant verabschiedete Gerda Barsen die Trauergäste. Sie meisterte solche Aufgaben mit beneidenswerter Lässigkeit, denn als Frau des reichen Fabrikanten Barsen war sie es gewohnt, ein selbstsicheres Auftreten an den Tag zu legen. Auch nachdem ihr Mann vor vier Jahren unerwartet an einem Herzschlag gestorben war, hatte Gerda diese Gewohnheit nicht aufgegeben. Ihre Parties waren stets gelungene private Feste. Dazu eingeladen zu werden, bedeutete eine Auszeichnung.
Selbst bei diesem traurigen Anlaß spielte die Frau die vollendete Gastgeberin. Sie bedankte sich bei all den vornehmen und einflußreichen Leuten, die zur Beerdigung ihres Sohnes und der Schwiegertochter gekommen waren. Fast kam diese Beerdigung einem gesellschaftlichen Ereignis gleich, und Gerda ließ es sich nicht nehmen, es würdig zu begehen. Sie wußte, was sie ihrem Namen schuldig war. Da mußte selbst die Trauer zurückstehen. Zum Trauern würde in den nächsten Wochen und Monaten noch Gelegenheit genug sein. Natürlich hatte Frau Barsen ihren Sohn geliebt und war über seinen Tod erschüttert. Doch ihre gesellschaftliche Stellung forderte ihrer Meinung nach Selbstdisziplin, und das zeigte Gerda in erstaunlichem Maße.
Sie versäumte es nicht, mit allen wichtigen Gästen, zu denen auch der Oberbürgermeister und der Landrat zählten, zu reden. Nur mit einem sprach sie nicht: mit dem Vater der Schwiegertochter. Sie hielt ihn nicht nur für unbedeutend, sondern auch für ungebildet und uninteressant. Von Anfang an hatte sie den biederen Handwerker Otto Greiner nicht leiden können. Deshalb war sie dagegen gewesen, daß ihr Sohn Norbert die damals erst neunzehnjährige Tochter Greiners heiratete. Sie war zwar hübsch, die Schwiegertochter, doch das war in Gerdas Augen nicht genug. Ihr Norbert hätte ganz andere Verbindungen eingehen können. Mädchen aus bestem Haus, vermögend und gebildet, hatten sich für ihn interessiert. Gerda fand sich mit dieser Ehe nie richtig ab und hatte deshalb auch kein besonders herzliches Verhältnis zu dem jungen Paar. Selbst den Enkelkindern gegenüber verhielt sie sich distanziert, obwohl Michael und Anica ganz reizende Geschöpfe waren.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor Puhl.« Frau Barsen ließ es lächelnd geschehen, daß der greise Amtsgerichtsrat, der früher zu ihren glühendsten Verehrern gehört hatte, sich über ihre Hand beugte und einen Kuß auf ihre Haut drückte.
»Wenn Sie es erlauben, werde ich Sie nächste Woche wieder besuchen.«
»Selbstverständlich, ich freue mich.« Die Redewendungen kamen wie von selbst über Gerdas Lippen.