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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. In den Sitzreihen um die Manege sprangen die Besucher der Zirkusvorstellung auf. Manche von ihnen schrien hysterisch. Die meisten aber sahen sich nach einem Fluchtweg um, denn neben dem Eingang zur kreisrunden Bühne stand ein mächtiger Tiger und fauchte feindselig. Sein schlanker, geschmeidiger Körper duckte sich zum Sprung, und seine grüngelben Augen funkelten bösartig. Während die Helfer noch damit beschäftigt waren, das hohe Gitter, das man zur Vorführung der Raubtiernummer errichtet hatte, abzubauen, war eines der Tiere durch den Gittertunnel zurückgelaufen. Auch der Dompteur konnte nicht verhindern, daß es die Manege betrat. Um die aufkommende Panik zu unterdrücken, spielten die Musiker lauter als in den übrigen Pausen. Doch angesichts des knurrenden Raubtieres interessierte sich niemand dafür. Die Leute drängten zu den Gängen, stießen sich gegenseitig rücksichtslos zur Seite. »Bitte, meine Herrschaften, behalten Sie doch Platz«, meldete sich der Ansager über den Lautsprecher. »Es besteht keine Gefahr. Unser Simba ist ein gutmütiges Tier, das sich schnell wieder in seinen Käfig zurückbringen lassen wird.« So gutmütig allerdings sah die gestreifte Bestie nicht aus. sich jedem Annäherungsversuch des Dompteurs mit kräftigen Pratzenschlägen zur Wehr. Geschickt wich sie den Schlingen, die man nach ihr warf, aus. Auch das Netz verfehlte die Wildkatze. Immer mehr Leute drängten zum Ausgang. Sie stiegen über die Stuhlreihen und benutzten gegen andere, die ihnen im Weg standen, die Ellenbogen. Die Ausgänge waren bereits verstopft.
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Seitenzahl: 149
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In den Sitzreihen um die Manege sprangen die Besucher der Zirkusvorstellung auf. Manche von ihnen schrien hysterisch. Die meisten aber sahen sich nach einem Fluchtweg um, denn neben dem Eingang zur kreisrunden Bühne stand ein mächtiger Tiger und fauchte feindselig. Sein schlanker, geschmeidiger Körper duckte sich zum Sprung, und seine grüngelben Augen funkelten bösartig.
Während die Helfer noch damit beschäftigt waren, das hohe Gitter, das man zur Vorführung der Raubtiernummer errichtet hatte, abzubauen, war eines der Tiere durch den Gittertunnel zurückgelaufen.
Auch der Dompteur konnte nicht verhindern, daß es die Manege betrat.
Um die aufkommende Panik zu unterdrücken, spielten die Musiker lauter als in den übrigen Pausen.
Doch angesichts des knurrenden Raubtieres interessierte sich niemand dafür. Die Leute drängten zu den Gängen, stießen sich gegenseitig rücksichtslos zur Seite.
»Bitte, meine Herrschaften, behalten Sie doch Platz«, meldete sich der Ansager über den Lautsprecher. »Es besteht keine Gefahr. Unser Simba ist ein gutmütiges Tier, das sich schnell wieder in seinen Käfig zurückbringen lassen wird.«
So gutmütig allerdings sah die gestreifte Bestie nicht aus. Sie setzte
sich jedem Annäherungsversuch des Dompteurs mit kräftigen Pratzenschlägen zur Wehr. Geschickt wich sie den Schlingen, die man nach ihr warf, aus. Auch das Netz verfehlte die Wildkatze.
Immer mehr Leute drängten zum Ausgang. Sie stiegen über die Stuhlreihen und benutzten gegen andere, die ihnen im Weg standen, die Ellenbogen. Die Ausgänge waren bereits verstopft.
Die Angestellten des Zirkus versuchten ordnend einzugreifen, doch sie kamen gegen die aufgebrachte Menge nicht an.
Die Besucher der Nachmittagsvorstellung hatten Angst und wollten sich in Sicherheit bringen. Niemand achtete mehr auf seinen Nachbarn, niemand schaute zurück zur Manege.
Dort widersetzte sich der Tiger noch immer allen Anstrengungen, ihn in den Käfig zu bringen. Je mehr man ihn bedrängte, um so wilder und gereizter wurde er.
Seit dem Auftauchen des Tieres war knapp eine Minute vergangen. In Sekundenschnelle hatte sich die Panik ausgebreitet. Niemand saß mehr auf seinem Platz.
Auch Luise Rhomberg, eine sehr gepflegte, elegant wirkende Dame mit grauen, sportlich geschnittenen Haaren hatte sich sofort erhoben. Sie faßte nach der Hand ihrer Enkelin Saskia und umschloß die kleinen Finger mit festem Griff.
Die Fünfjährige, die überaus tierlieb war, empfand keinerlei Furcht vor der fauchenden Raubkatze und wäre deshalb noch gerne geblieben.
»Omi, ist der Löwe böse?« wollte sie wissen.
Frau Rhomberg gab keine Antwort und verzichtete auch darauf, die Kleine darüber aufzuklären, daß es sich nicht um einen Löwen, sondern um einen Tiger handelte.
Statt dessen nahm sie das Kind auf den Arm und drängte zum Gang. Dort war allerdings kein Durchkommen mehr. Es wurde geschubst und geschoben, gejammert und geweint.
Das Fauchen, Zischen, Brüllen und Knurren des inzwischen überwältigten Raubtieres schürte die ausgebrochene Panik. Niemand reagierte mehr normal. Auch die beschwörenden Beteuerungen des Zirkusdirektors, der jetzt hinters Mikrophon getreten war, änderten nichts daran.
Sämtliche Stuhlreihen waren leere. Dafür behinderten sich die Menschen in den Gängen.
Frau Rhomberg wurde getreten und gestoßen, ja sogar geschlagen. Trotzdem ließ sie sich nicht zurückdrängen. Sie konnte, wenn es nötig war, recht energisch sein, und ihre rundliche Figur war dabei von Vorteil. Auch sie dachte nicht daran, auf ihren Platz zurückzukehren, obwohl die Stimme aus dem Lautsprecher so eindringlich darum bat.
Es wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn im allgemeinen Gedränge wurde sie vorwärtsgeschoben, immer nur vorwärts.
Luise preßte die kleine Saskia eng an sich und legte schützend beide Arme um den schmalen Kinderkörper. Eine Freude hatte sie der Enkelin mit diesem Zirkusbesuch machen wollen. Und nun wurde ein derart schlimmes Erlebnis daraus. Wenn sie nur endlich das Freie erreicht hätten.
Frau Rhomberg fühlte sich von hinten auf die Menschen vor ihr gedrückt, daß sie kaum Luft zum Atmen bekam. Sie stolperte über eine Schwelle. Umfallen konnte sie allerdings nicht. Zu dicht waren die Menschen zusammengedrängt.
Jeder war bemüht, den Ausgang schneller als sein Nachbar zu erreichen. Viele stürzten draußen die Stufen hinunter, verletzten sich dabei.
Luise Rhomberg wurde nach draußen geschubst, wo alle so rasch wie möglich dem Zirkusbereich zu entkommen versuchten.
Obwohl Saskia in Frau Rhombergs Armen inzwischen so schwer geworden war, daß diese die Last kaum mehr tragen konnte, ließ sie das Kind nicht zu Boden, sondern rannte mit ihm zu ihrem Auto. Längst galt es nicht mehr, sich vor dem ausgebrochenen Tiger, sondern vor den in Panik geratenen Menschen in Sicherheit zu bringen.
Erst als Luise Rhomberg ihren Wagen bereits erreicht hatte und dabei war, ihn mit zitternden Fingern aufzuschließen, bemerkte sie, daß sich jemand krampfhaft an ihrem Rock festhielt.
Es war ein kleiner, dünn und krankhaft aussehender Junge mit angstvoll geweiteten grauen Augen und spärlichem, struppigem Blondhaar, das ungekämmt nach allen Seiten stand und so aussah, als sei es schon monatelang nicht mehr gewaschen worden. Schmutzig, zerrissen und abgetragen war die Kleidung des Kleinen.
Alles in allem machte der kleine Kerl einen erbärmlichen Eindruck. Doch das registrierte Luise kaum. Sie wollte das Kind am Einsteigen hindern, doch es war noch vor Saskia im Fond des Wagens.
Da es Frau Luise für ratsam hielt, möglichst rasch dem allgemeinen Durcheinander zu entfliehen, nahm sie ohne weitere Verzögerung hinterm Steuer Platz und manövrierte ihr Auto aus der Parklücke.
Sie war eine geschickte Fahrerin, und deshalb gelang es ihr auch, verhältnismäßig schnell die Straße zu erreichen.
Natürlich wußte sie, daß es eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre, mit dem kleinen Fremdling an der Hand nach seinen Angehörigen zu suchen. Doch in der bestehenden Aufregung wäre das nicht nur aussichtslos, sondern auch gefährlich gewesen. Luise hielt es deshalb für besser, zunächst einen angemessenen Abstand zum Tumult zu erreichen.
So hielt sie ihren Wagen am Ende der Straße an und atmete voll Erleichterung auf. Erst jetzt fühlte sie das Zittern ihrer Glieder und das rasende Herzklopfen. Nicht auszudenken wäre es gewesen, wenn Saskia etwas passiert wäre…
Für einen Augenblick legte die Frau die Hand über die Augen, um die Erregung in sich abklingen zu lassen. Dann wandte sie sich nach den beiden Kindern um, die vor Schreck stumm und steif auf den Rücksitzen verharrten.
»Wer bist du?« erkundigte sie sich bei dem kleinen Jungen, der in ihrem Auto Schutz gesucht hatte.
Keine Antwort. Das Kind drückte sich nur tiefer in die Polster, und seine grauen Augen wurden noch größer.
»Du hast im allgemeinen Gedränge sicher deine Mutti oder deinen Vati verloren. Wenn du mir jetzt sagst, wo du wohnst, fahre ich dich nach Hause.« Luise wußte nicht, ob sie Mitleid oder Widerwillen für den Jungen empfinden sollte. Sehr vertrauenswürdig sah das Kind neben Saskia bestimmt nicht aus. Nicht die schlechte Kleidung und der Schmutz störte Frau Rhomberg, sondern die Verschlagenheit, die aus dem kleinen Gesicht sprach.
Wie erwartet, bekam Frau Rhomberg auch diesmal keine Antwort.
»Weißt du denn noch nicht, wo du wohnst?« mischte sich jetzt Saskia ein, die ihre Verwirrung inzwischen überwunden hatte.
Dieses selbstbewußte Verhalten war verständlich, wenn man wußte, daß sie das einzige Töchterchen des reichen Brauereibesitzers Rhomberg war und deshalb von allen Seiten verwöhnt wurde, ganz besonders nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren. Damals hatte man alles getan, um das Kind den Verlust nicht zu sehr fühlen zu lassen.
Der Junge preßte die Lippen aufeinander und tat, als habe er die Frage nicht verstanden.
»Aber deinen Namen kennst du doch?« fragte Luise so freundlich, wie es ihr in dieser Situation möglich war. Sie hoffte, die Anschrift durch das Adreßbuch ausfindig machen zu können.
Der Junge schwieg, und Luise Rhomberg wurde sich klar darüber, daß sie sich eine Menge Unannehmlichkeiten eingehandelt hatte. Andererseits wäre es unverantwortlich gewesen, das Kind im allgemeinen Trubel stehenzulassen.
Noch einmal versuchte sie ihr Glück. »Wie ruft man dich denn?« erkundigte sie sich geduldig.
»Das mußt du doch wissen, du bist doch kein Baby mehr«, kritisierte Saskia und musterte den Jungen neben ihr von oben herab mit finsterem Blick.
»Tommy«, murmelte das Kind und preßte die dünnen Ärmchen eng an den schwächlichen Körper.
»Gut. Und weiter? Tommy…« Luise seufzte. Sie hatte den Wunsch, nach der Aufregung im Zirkuszelt so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Aber es sah nicht aus, als ob sich dieser Wunsch erfüllen würde. Warum, um Himmels willen, hatte sie nur geduldet, daß dieses verstockte Kind zu ihnen ins Auto stieg?
Schweigen.
»Omi, er weiß es nicht. Dabei ist er sicher fast so alt wie ich«, stellte Saskia schadenfroh fest.
»Nein, er ist vermutlich etwas jünger.« Sie schüttelte den Kopf.
»Aber mit vier hab’ ich auch schon…«
»Sicher, Liebes.«
Stolz betrachtete Luise ihre kleine Enkelin. Saskia war nicht nur ein besonders hübsches, sondern auch ein auffallend intelligentes Kind. Gerade gegenüber dem fremden Jungen wurde das überdeutlich.
»Wenn du uns keine Auskunft gibst, muß ich dich zur Polizei bringen«, warnte Frau Rhomberg.
Doch ihre Ankündigung schien auf Tommy keinerlei Eindruck zu machen. Er schwieg beharrlich.
*
Die kleine Heidi lag auf dem Bauch, um mühelos unter alle Möbel schauen zu können.
»Munzi, Munzii«, lockte sie bald leise, bald laut. »Munzi, wo bist du?« Heidis rundes Kindergesichtchen wurde immer bekümmerter.
Fabian, ein schmächtiger, etwa elfjähriger Junge mit dunkelblondem Haar und graugrünen Augen, sah unwillig von seinem Heft auf.
»Heidi, bei so einem schönen Frühlingswetter mußt du deinen Kater draußen suchen, nicht im Haus«, belehrte er das Mädchen mit den Schaukelzöpfen ungeduldig.
»Munzi ist aber nicht draußen. Ich hab’ schon überall nachgesehen«, berichtete die Kleine weinerlich.
»In den Ställen warst du sicher noch nicht.«
»Doch. Ich hab’ auch Justus schon gefragt. Er hat Munzi seit gestern nicht mehr gesehen«, berichtete das jüngste Dauerkind von Sophienlust unglücklich. Vor knapp einem Jahr hatte Heidi das rabenschwarze Haustier geschenkt bekommen und liebte es seither verständlicherweise über alles.
Das Kinderheim Sophienlust, das Denise von Schoenecker vor vielen Jahre in dem ehemaligen Gutshaus eingerichtet hatte, bot nicht nur elternlosen Kindern, sondern auch vielen Tieren eine neue Heimat. Denise, die mit ihrer Familie im nahen Gut Schoeneich wohnte, vertrat die Ansicht, daß Kinder zu ihrer normalen Entwicklung auch den Umgang mit Tieren brauchten, und so hatte sie nichts dagegen, wenn sich ab und zu ein neuer vierbeiniger Hausgenosse einfand.
»Dann lauf’ mal zum Pavillon.« Fabians Absicht, die Kleine aus dem Aufenthaltsraum zu verbannen, war leicht zu durchschauen.
Doch Heidi ließ sich nicht abschieben. Sie zog die Mundwinkel nach unten und schob schmollend die Unterlippe vor.
»Da war ich schon.« Das Kind richtete sich auf und kam langsam zu dem kleinen Tisch, auf dem sich Fabians Schulbücher häuften. Zwei große Tränen kullerten über Heidis dicke Bäckchen.
»Trotzdem kannst du noch einmal nachsehen. Auf jeden Fall wäre ich dir dankbar, wenn du endlich verschwinden würdest. Ich muß nämlich Mathe lernen. Wir schreiben morgen ’ne Arbeit.«
Heidi schnupfte, senkte das Köpfchen und trippelte zur Tür. Obwohl sie selbst noch nicht zur Schule ging, wußte sie von den größeren Kindern, wie wichtig es war, auf eine Arbeit zu lernen.
Einen Augenblick blieb Heidi unschlüssig in der Halle stehen. Im Wintergarten wurde gelacht und geschwatzt. Dort waren einige Mädchen dabei, Bastelarbeiten fürs Frühjahrsfest anzufertigen. Heidi wußte, daß sie viel zu beschäftigt waren, um an ihrem Kummer teilzunehmen.
Die Feste in Sophienlust wurden gewöhnlich zu unvergeßlichen Erlebnissen. Deshalb beteiligten sich auch alle mit großem Eifer und Vorfreude an den Vorbereitungen.
Aus dem Musikzimmer war Klavierspiel zu hören. Dort studierten Nick und Pünktchen ihren Vortrag ein. So verständnisvoll sich die beiden den jüngeren Kindern gegenüber gewöhnlich zeigten, jetzt war auch von ihnen keine Hilfe zu erwarten. Schwester Regine hatte gesagt, daß man sie nicht stören durfte.
Heidi zog das Näschen hoch und nagte traurig an der Unterlippe. Jetzt gab es nur eine Person, an die sie sich wenden konnte: Tante Isi.
Tante Isi, so wurde Denise von Schoenecker von ihren Schützlingen zärtlich genannt. Nachmittags traf man sie gewöhnlich im Biedermeierzimmer an, wo sie schriftliche Arbeiten erledigte und Telefongespräche führte.
Das Biedermeierzimmer war ein Raum, den die Kinder mit geheimem Respekt betraten. Denn hier hing das Porträt der Stifterin, Sophie von Wellentin. Sie hatte Sophienlust ihrem Urenkel Nick vererbt und gleichzeitig einen Fonds hinterlassen, aus dem der Unterhalt des Kinderheims bestritten wurde.
Denise von Schoenecker, die für ihren Sohn das Vermächtnis der alten Dame erfüllte, engagierte sich so sehr für diese Aufgabe, daß Alexander, ihr Mann, der Ansicht war, daß sie sich zuviel zumutete. Schließlich hatte sie selbst Kinder und einen großen Haushalt zu versorgen.
Sascha und Andrea, die Kinder aus Alexanders erster Ehe, lebten zwar nicht mehr in der Familie, aber Nick und der neunjährige Henrik, beide von lebhaftem Temperament, beanspruchten die Mutter wie alle anderen Kinder.
Daß es Denise von Schoenecker verstand, ihre Aufgaben in der Familie und ihre Arbeit in Sophienlust auf so ideale Weise zu verbinden, trug ihr überall größte Bewunderung ein.
Heidi klopfte zaghaft an und schob sich dann schüchtern in den stilvoll eingerichteten Raum.
»Tante Isi…«
Die hübsche dunkelhaarige Frau sah überrascht von ihrer Arbeit auf. Natürlich war ihr sofort klar, daß das klägliche Stimmchen nur einem Kind gehören konnte, das Kummer hatte. Und für die Kümmernisse ihrer Schützlinge fühlte sich Denise immer zuständig.
»Heidi, was hast du denn?« fragte sie teilnahmsvoll. Ihr Blick umfaßte die kleine Gestalt voll Zuneigung und Stolz. Heidi war ein reizvolles kleines Geschöpf, ein echter Sonnenschein. Als ihre Eltern auf tragische Weise verunglückten, fand sie in Sophienlust Aufnahme und ein neues Zuhause.
»Mein Munzi ist weg«, jammerte das kleine Persönchen und kam dabei vertrauensvoll näher. »Ich hab’ ihn schon überall gesucht und hab‘ alle nach ihm gefragt.« Wieder rollten Tränen über ihr Gesicht. Sie war zum Schreibtisch getreten und schmiegte sich nun trostsuchend an Denise.
Die Verwalterin von Sophienlust hob das kleine Mädchen auf ihren Schoß und legte in mütterlicher Fürsorge die Arme um das schmächtige Körperchen.
Den Kindern Geborgenheit und Liebe zu schenken war in Sophienlust oberstes Gebot. Dafür ließ Denise zu jeder Zeit ihre Arbeit im Stich, opferte gerne ihre freien Stunden. Wie in einer großen Familie wuchsen die Buben und Mädchen in Sophienlust auf. Das war die beste Garantie dafür, daß sie glücklich waren und nichts vermißten.
»Nicht traurig sein, Heidi. Dein Munzi macht bei diesem schönen Wetter sicher einen langen Ausflug. Vielleicht bleibt er sogar über Nacht weg. Aber er kommt bestimmt zurück.«
»Martin hat gesagt, daß in Maibach wieder ein Zirkus ist. Und die Leute vom Zirkus…« Heidi schluchzte und schmiegte sich dabei schutzsuchend an Denise, »… sie fangen manchmal Tiere ein. Vielleicht haben sie… meinen… meinen… Munzi…«
Unglücklich drückte Heidi ihr tränennasses Gesichtchen an Denises Oberkörper.
Die Frau dachte flüchtig daran, wie viele Kinder sich bei ihr schon ausgeweint hatten. Auch Martin, der erst seit einigen Wochen in Sophienlust lebte, kam oft traurig und verzweifelt hierher. Seine Eltern wollten sich trennen und hatten die Scheidung beantragt. Ein Schock für den Zehnjährigen. Inzwischen hatte er sich beruhigt und nahm alles viel gelassener hin.
Sanft und voll Zärtlichkeit strich Denise über den blonden Schopf des Waisenkindes.
»Ich glaube, Martin hat ein bißchen übertrieben. Außerdem ist dein Munzi viel zu schlau, um sich einfangen zu lassen.«
»Aber wo ist er, Tante Isi? Er ist heute noch gar nicht zum Fressen gekommen.«
»Katzen verschwinden oft für einige Tage und sind plötzlich wieder da«, erklärte Denise in der Absicht, die Kleine zu trösten.
»Aber mein Munzi ist noch nie so lange weggeblieben. Ich hab’ Angst, Tante Isi, daß er überhaupt nicht wiederkommt.« Heidi schnupfte und rieb sich mit beiden Händchen die Augen aus.
»Es ist noch viel zu früh, sich Sorgen zu machen. Munzi kommt bestimmt zurück.« Denise wußte, daß sie damit eine Hoffnung weckte, die sich vielleicht nicht erfüllen würde. Trotzdem erschien es ihr als die beste Lösung, Heidi auf diese Weise zu trösten.
»Wenn du das sagst, Tante Isi, dann glaub’ ich es auch.« Heidi nickte zuversichtlich und so heftig, daß die blonden Schaukelzöpfchen wippten.
»Wollen wir mal nachsehen, ob Magda Hilfe beim Backen brauchen kann?« schlug Denise vor, um die Kleine abzulenken.
»Au, ja!« schrie Heidi und rutschte sofort zu Boden. Magdas Reich, die Küche, war normalerweise für die Kinder tabu. Dort helfen zu dürfen, bedeutete immer eine besondere Auszeichnung. Wenn man dann noch so klein war wie Heidi, war man natürlich doppelt stolz.
Vertrauensvoll faßte das kleine Mädchen nach Frau von Schoeneckers Fingern und hatte es plötzlich sehr eilig, das Biedermeierzimmer zu verlassen. Wußte es doch ganz genau, daß Köchin Magda, deren Backkünste bei den Kindern in hohem Ansehen standen, ebenfalls Vorbereitungen für das Frühlingsfest traf. Dabei helfen oder wenigstens zusehen zu dürfen, war ein ganz toller Spaß.
*
»Richard, du mußt unbedingt mitkommen.« Michaela Rhoden fiel dem Mann, der ihr in der Halle der Villa Rhomberg entgegenkam, temperamentvoll um den Hals. Ihre blauen Augen sprühten vor Lebensfreude. »Diese Frühjahrstournee durch Italien wird für mich nicht nur ein großartiger beruflicher Erfolg, es wird auch privat eine wunderschöne Zeit werden. Die Termine liegen nicht so eng beieinander. Es wird also fast ein Urlaub sein. O Richard, ich freue mich wahnsinnig darauf.« Michaela küßte Rhomberg auf beide Wangen und auf den Mund.
In seinen Armen wirkte sie zierlich und schutzbedürftig, denn Richard war gut einen Kopf größer als sie, breitschultrig und kräftig im Körperbau, dennoch ein sportlicher Typ.
Richard schüttelte lächelnd den Kopf.
»Wie stellst du dir das vor, Liebling? Ich kann doch hier nicht alles im Stich lassen, um für sechs Wochen Urlaub zu machen.« Richard lehnte sich etwas zurück und betrachtete die junge Dame amüsiert. Sie war nicht nur auffallend hübsch, sondern auch auf dem besten Weg, als Konzertpianistin berühmt zu werden. Mit achtundzwanzig Jahren ein nicht alltäglicher Erfolg.
Seit etwa einem Jahr bestand zwischen Richard und Michaela die enge Freundschaft. Die Initiative dazu war von ihr ausgegangen. Bei Rhomberg war es zunächst nur Interesse gewesen, und er wußte selbst nicht so recht, ob inzwischen mehr daraus geworden war. Die Zuneigung der blonden Michaela schmeichelte dem um zehn Jahre älteren Unternehmer, und das war ganz natürlich. Es machte ihm Spaß, sich mit der talentierten Künstlerin in der Öffentlichkeit zu zeigen, Freude, seine Freizeit mit ihr zu verbringen.