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Notting Hill im Mai: In Cornwall Gardens, einem von exklusiven Stadthäusern gesäumten Park in bester Lage, wird die Leiche einer 24-jährigen Frau entdeckt. Wie sich herausstellt, hat Reagan Keating als Kindermädchen in einer der angrenzenden Villen gearbeitet. Und schon bald erfährt Inspector Gemma James von einem weiteren mysteriösen Todesfall in dem Park: Vor einigen Monaten starb der kleine Henry Su unter mysteriösen Umständen. Hinter den schönen Fassaden der noblen Wohnanlage scheint so manches abgründige Geheimnis zu lauern, und Gemma könnte bei den Ermittlungen die Hilfe ihres Mannes Superintendent Duncan Kincaid gebrauchen. Doch der muss sich derweil den Geistern seiner Vergangenheit stellen: Duncan befürchtet, dass er seine Frau und seine Kinder unüberlegt in große Gefahr gebracht hat. Eine Angst, die sich nur zu bald bewahrheiten könnte ...
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Seitenzahl: 684
Buch
Notting Hill im Mai: In Cornwall Gardens, einem von exklusiven Stadthäusern gesäumten Park in bester Lage, wird die Leiche einer 24-jährigen Frau entdeckt. Wie sich herausstellt, hat Reagan Keating als Kindermädchen in einer der angrenzenden Villen gearbeitet. Und schon bald erfährt Inspector Gemma James von einem weiteren mysteriösen Todesfall in dem Park: Vor einigen Monaten starb der kleine Henry Su unter mysteriösen Umständen. Hinter den schönen Fassaden der noblen Wohnanlage scheint so manches abgründige Geheimnis zu lauern, und Gemma könnte bei den Ermittlungen die Hilfe ihres Mannes Superintendent Duncan Kincaid gebrauchen. Doch der muss sich derweil den Geistern seiner Vergangenheit stellen: Duncan befürchtet, dass er seine Frau und seine Kinder unüberlegt in große Gefahr gebracht hat. Eine Angst, die sich nur zu bald bewahrheiten könnte …
Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter:
www.deborahcrombie.com.
Deborah Crombie
Beklage deine Sünden
Roman
Deutsch vonUrban Hofstetter
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Garden of Lamentations«
bei William Morrow & Company, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2017
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Deborah Crombie
Published by Arrangement with Deborah Crombie.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
Covermotive: © Arcangel Images/Andy Aughey, FinePic®
Gestaltung des Stadtplans von London: © Laura Hartman Maestro
Redaktion: Lisa Wolf
BH · Herstellung: kw
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-20004-6 V005
www.goldmann-verlag.de
Für Wren
1
Sie stand an der Haltestelle und trat von einem Fuß auf den anderen. Mittlerweile wartete sie schon seit zwölf Minuten, und es war immer noch kein Bus aufgetaucht. Dabei sollte man doch eigentlich meinen, dass man am Freitagabend an der Kensington High Street einen Bus erwischen würde. Das war so ätzend.
Ganz zu schweigen von dem unheimlichen Typen mit dem Kapuzensweatshirt und den Ohrhörern. Er glaubte wohl, sie würde nicht bemerken, wie er zu ihr herüberschaute. In ihrem dünnen weißen Kleid fühlte sie sich seinen Blicken vollkommen ausgeliefert, und sie hatte nicht einmal eine Strickjacke dabei, die sie sich über die Schultern legen konnte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Warum hatte sie dieses verdammte Teil nur angezogen? Aber natürlich wusste sie, warum sie es getan hatte. Zum einen war es ein wunderschöner Abend, ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, und außerdem hatte sie geglaubt, er würde sich anders entwickeln.
Demonstrativ kehrte sie dem Kapuzentypen den Rücken zu und checkte ihr Handy. Keine Nachrichten. Und auch keine verpassten Anrufe. Anscheinend hatte sie sich geirrt.
Und immer noch kein Bus in Sicht. Der Kapuzentyp rückte ihr noch ein bisschen dichter auf die Pelle.
Das gab den Ausschlag. Sie beschloss, zur Kensington Church Street hinüberzugehen und dort den 52er zu nehmen – womit sie sich auch das Umsteigen am Notting Hill Gate sparen würde. Allerdings musste sie dann noch mal an der Pianobar vorbei, und sie wollte die anderen nicht mehr sehen.
Sie marschierte rasch los und blickte kurz über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass ihr der Kapuzentyp nicht folgte. Als sie am Club vorüberkam, wummerte Musik aus den offenen Fenstern im ersten Stock. Und sie senkte den Kopf, als ob sie so unsichtbar würde. Als sie vorhin hinausgestürmt war, hatte sie halb gehofft, irgendwer käme ihr nachgelaufen, aber mittlerweile wollte sie keinen von ihnen mehr sehen. Auf gar keinen Fall heute Nacht. Vielleicht nie wieder.
Und mit Hugo war sie wirklich ein für alle Mal fertig. Beim Gedanken an die letzte Nacht errötete sie vor Scham. Sie hatte Schluss machen wollen und sich deswegen schuldig gefühlt. Und nur aus diesem Grund hatte sie noch mal mit ihm geschlafen. Aber heute Abend hatte sie herausgefunden, was er für einer war. O Gott. Dieser Arsch.
Als sie über den Vorplatz der St. Mary Abbots Church abkürzte, klatschten ihre Sandalen auf die Pflastersteine. Jetzt im Dunkeln und da der Blumenstand geschlossen war, wirkte es hier sehr verlassen, und sie war heilfroh, als sie endlich um die Ecke biegen und zur 52er-Haltestelle hinauflaufen konnte.
Erleichtert sah sie, dass der Bus heranrollte. Nachdem er quietschend und seufzend zum Stillstand gekommen war, stieg sie ein. Mit ihrem weit ausgestellten Kleid wollte sie auf keinen Fall die Wendeltreppe hochsteigen und suchte sich einen Platz im Unterdeck. Als sie saß, wandte sie sich von ihrem Spiegelbild im Fenster ab. Zuvor erhaschte sie jedoch noch einen Blick auf die dunklen Locken, die ihr über die Wange fielen, und den unbedeckten Hals. Sie zitterte.
Sie hatte von dem grässlichen Drink, den der Barkeeper ihr vorhin im Club gemacht hatte, nur einen winzigen Schluck genippt und das Glas dann bei irgendwelchen Leuten auf den Tisch gestellt. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich die Nase zugehalten und ihn ausgetrunken. Zumindest hätte er ihr vielleicht beim Einschlafen geholfen.
Als der Bus holpernd an der Haltestelle Elgin Crescent anhielt, stieg sie aus und ging den Rest der Strecke zu Fuß. Die Gärten waren dunkel, und auf den Straßen herrschte Stille. Als sie beim Haus ankam, war es ebenfalls unbeleuchtet. Abgesehen vom schwachen Licht in der Souterrainküche.
Sie fischte ihren Schlüssel aus der Handtasche und blieb noch einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen. Plötzlich hatte sie es gar nicht mehr eilig hineinzugehen. Wie gerne hätte sie jemanden zum Reden gehabt! Vielleicht ihre Mum. Von ihr würde sie einen guten Ratschlag bekommen. Aber die war meilenweit entfernt, und sie konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie hatte versprochen, niemandem zu erzählen, was sie erfahren hatte. Und dieses Versprechen würde sie auch halten.
Ihr war klar, dass sie sich mit Hugo zum Trottel gemacht hatte. Aber sie wusste auch, dass das auf lange Sicht keine Rolle spielte. Hugo war nie mehr als eine Ablenkung gewesen, und ihr Leben würde ohne ihn genauso weitergehen.
Es war diese andere Sache, die Folgen haben würde, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Und die ihr Leben, ganz gleich was passierte, auf die eine oder andere Weise verändern würde.
Jean Armitage stellte sich niemals einen Wecker. Ihr gesamtes Erwachsenenleben war sie, komme, was wolle, jeden Morgen pünktlich um fünf Uhr aufgewacht. Darauf war sie sehr stolz. Ihrer Meinung nach mangelte es Leuten, die den Tag nicht früh begannen, an innerer Stärke.
Als ihr Ehemann Harold noch gelebt hatte, war sie, um ihn nicht zu stören, immer leise aus dem Bett geschlüpft und zum Anziehen auf Zehenspitzen ins Bad geschlichen. Er war Banker gewesen und hatte es für unzivilisiert gehalten, vor sechs aufzustehen.
Inzwischen genoss sie die Freiheit, die Nachttischlampe einschalten zu können, sich anzuziehen, wie es ihr gefiel, und das Bett mit der Genauigkeit einer Internatsschülerin zu machen, ehe sie ins Erdgeschoss hinunterging. An diesem Samstagmorgen im Mai schüttelte sie die Kissen auf und gab dem blumengemusterten Bettbezug einen letzten zufriedenen Klaps. Dann ging sie zum Fenster, zog die Vorhänge auf und blickte einen Moment lang auf den Gemeinschaftsgarten hinaus. Der wolkenlose Himmel schimmerte zartrosa, und gerade in diesem Augenblick vergoldeten die ersten Sonnenstrahlen die Baumwipfel.
Ihre Freude über den Ausblick wurde jedoch von dem halbfertigen Anbau getrübt, der von der Rückseite ihres Nachbarhauses bis in den Garten hineinragte. Jean runzelte die Stirn und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Nur weil diese Leute einen Verlust erlitten hatten, gab ihnen das noch lange nicht das Recht, sich auf dem Gemeinschaftseigentum auszubreiten. Sie hatte sich bei der Eigentümerversammlung darüber beschwert, genau wie ein paar andere Gartenanwohner. Bislang war dagegen zwar noch nichts unternommen worden. Aber sei’s drum. Sie war keine Person, die in einem Konflikt klein beigab.
Ein paar Minuten später öffnete sie mit einer Tasse in der Hand das Eisentor, das ihre kleine Privatterrasse vom Gemeinschaftsgarten trennte. Bei schönem Wetter genoss sie es, den Pfad entlangzuspazieren, der um die Gartenanlage herumführte, und alles genau zu inspizieren, während sie an ihrem Kaffee nippte. Der perfekt geharkte Kiesweg knirschte unter ihren Schritten, während ihr gleichzeitig der betörende Duft der Climbing-Cécile-Brunner-Rosen in die Nase stieg. Clive Glenn, der Gärtner, hatte sich dieses Jahr selbst übertroffen. Die Hecken waren makellos geschnitten, die Bäume zierten dichte Laubkronen, und die Spätfrühlingsblumen blühten in voller Pracht. Cornwall Gardens hatte nie prächtiger ausgesehen und war zweifellos der schönste Garten in Notting Hill.
Jean zog sich die Strickjacke enger um die Schultern. Es war noch etwas kühl, aber der Tag versprach sonnig und warm zu werden. Vielleicht würde sie bei dem milden Wetter Gelegenheit haben, bei den anderen Anwohnern um Unterstützung zu werben.
Sie hatte gerade begonnen, sich einen Plan zurechtzulegen, als ihr Blick an etwas hängen blieb. Stirnrunzelnd blieb sie stehen und betrachtete den leuchtend grünen Rasenstreifen, der sich durch die Mitte des Gartens schlängelte. Der Ausblick wurde von etwas Weißem verschandelt, das unter einer Platane lag – in dem dicht mit Bäumen bewachsenen Bereich, den sie insgeheim das Wäldchen nannte. Die verdammten Bauarbeiter von diesem Anbau, schimpfte sie in Gedanken vor sich hin, ließen ihren Müll so rumliegen, dass er durch die Gegend geweht wurde.
Oder hatte es vielleicht einen Einbruch gegeben? Bei diesem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls ein wenig. Was immer das für ein Gegenstand war, er lag nicht weit weg vom Gartenschuppen. Und in letzter Zeit hatte es in einer ganzen Reihe von Londoner Gemeinschaftsgärten Einbrüche in solche Schuppen gegeben.
Aber wenn es Einbrecher gewesen waren, hatten sie inzwischen bestimmt schon längst das Weite gesucht, mahnte sie sich selbst zur Ruhe, während sie den Pfad verließ und mit wiedergewonnener Entschlossenheit über das taufeuchte Gras marschierte. Doch als sie näher kam, verlangsamte sie ihre Schritte. Was aus der Ferne wie ein Haufen weißes Plastik oder Papier ausgesehen hatte, erinnerte allmählich verstörend an eine menschliche Gestalt. Bestürzt erkannte Jean, dass es eine Frau war. Eine junge Frau in einem weißen Kleid, ausgestreckt auf der Wiese unter den dicken Ästen einer Platane.
Sie lag auf dem Rücken und hatte das Gesicht ein wenig abgewandt, doch schon als Jean nur noch wenige Schritte entfernt war, erkannte sie bereits am Profil und den schulterlangen dunklen Haaren, um wen es sich handelte. Es war das Kindermädchen, das auf der anderen Seite des Gartens arbeitete.
Erbost stürmte Jean Armitage auf sie zu und holte tief Luft für eine ordentliche Gardinenpredigt. Was für ein dummer Streich! Die jungen Leute von heute schreckten doch wirklich vor gar nichts zurück. Anscheinend hatte sie sich nach einer Nacht in der Stadt zum Schlafen in den Garten gelegt. So ein Verhalten konnte in Cornwall Gardens nicht geduldet werden, nicht unter zivilisierten Menschen. Sobald sie die junge Rumtreiberin erst aufgescheucht hatte, würde sie als Nächstes mit der Arbeitgeberin des Mädchens ein ernstes Wort reden müssen.
In diesem Moment stieg die Sonne über die Baumwipfel und besprenkelte das grüne Gras und das weiße Kleid mit tanzenden Lichttupfen.
Jean blieb stehen, wobei ihre Schuhsohlen auf den nassen Grashalmen quietschten. Der intensive Geruch der Rosen war ihr plötzlich widerwärtig, und sie legte sich unwillkürlich eine Hand auf die Brust. Die Haltung der jungen Frau erschien ihr irgendwie unnatürlich. Und sie lag so regungslos. Ein Spatz flatterte über sie hinweg und streifte dabei fast ihre dunklen Haare, aber sie rührte sich trotzdem nicht.
Sämtliche Vorwürfe erstarben auf Jeans Lippen. Sie trat einen Schritt näher, dann, ganz langsam, noch einen weiteren … und erkannte, dass die Frau gar nicht schlief.
»Für einen Samstagmorgen bist du ganz schön früh auf«, sagte Gemma, als sie barfuß und noch im Nachthemd in die Küche tappte. »Wusst ich’s doch, dass ich dich gehört habe.«
Kincaid wandte sich von der Kaffeemaschine ab und sah sie an. Er hatte sich rasch geduscht, eine Jeans angezogen und das leicht verknitterte Hemd vom Vortag übergestreift. »Ich wollte dich nicht wecken.« Die Maschine zischte, als der erste Kaffee in die Kanne tropfte.
Seine Frau ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und unterdrückte ein Gähnen, während sie ihr zerzaustes kupferrotes Haar zurückstrich und mit einem Haargummi fixierte. Dann atmete sie tief das Kaffeearoma ein. »Das duftet himmlisch.«
»Möchtest du auch einen?« Kincaid nahm vom Regal neben dem Herd ihre Lieblingstasse. Sie war mit grellpinken Rosen verziert, die zum Teil über den abgeplatzten Trinkrand ragten. Aber im Müll würde sie nie landen. Toby hatte diese Tasse von seinem Taschengeld auf dem Markt für sie erstanden.
»Gern.« Sie beobachtete, wie er einen Schuss Milch in ihren Kaffee gab. »Aber ich dachte eigentlich, wir schlafen heute aus. Es ist Samstag.«
»Stimmt.« Er reichte Gemma ihren Kaffee und rang sich ein Lächeln ab. Dann schenkte er sich seinen eigenen ein. Da er zu unruhig war, um sich hinzusetzen, lehnte er sich an den Herd. »Aber ich konnte nicht schlafen. Von diesem verdammten Fall bekomme ich Albträume.«
»Ist der nicht abgeschlossen und zu den Akten gelegt?« Unsicher sah sie ihn an.
Er zuckte mit den Schultern und versuchte, sich gelassen zu geben. »Ich möchte nur noch mal alles überprüfen, bevor die Staatsanwaltschaft übernimmt. Was, wenn ich irgendetwas übersehen habe?« Es waren keine besonders komplizierten Ermittlungen gewesen. Ein Kokaindealer in Camden, den man erschossen in seiner Wohnung aufgefunden hatte.
»Du hast versprochen, mit den Kindern und dem Hund im Park spazieren zu gehen«, sagte Gemma mit wenig Begeisterung. Als ob er ihre Worte unterstreichen wollte, kam in dem Moment Geordie herein und ließ sich schwanzwedelnd vor Gemma auf den Boden fallen.
»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich mach auch nicht lange.« Kincaid sah Gemmas ungläubigen Blick. »An einem Samstagmorgen und ohne laufende Ermittlungen wird niemand da sein. Ich brauche nur …« Er verstummte.
Er konnte ihr nicht sagen, was er brauchte. Wie sollte er ihr auch erklären, dass er sich dazu zwingen wollte, die Fotos vom Tatort anzuschauen … oder dass er hoffte, so seine Träume von einem anderen Tatort loszuwerden … und die von dem Mann, der ihm ein Freund geworden war, tot, mit einer Pistole in der Hand?
Als er sich umdrehte und die Tasse in die Spüle stellte, schwappte ihm Kaffee über die Finger. Er wischte sich die Hand an dem frischen Geschirrtuch ab und ging zu Gemma, um sie auf die Wange zu küssen.
Aber sie hielt den Kopf gesenkt. »Was denkst du dir bloß dabei?«, fragte sie spitz. »Was soll ich denn den Kindern sagen?«
Kincaid spürte, wie ihm in jäher Wut die Hände zitterten. »Was du für richtig hältst. Seit wann muss ich mich denn dafür entschuldigen, dass ich meinen Job mache?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er hinaus. Und als er das Haus verließ, fiel die Tür hinter ihm mit einem Knall ins Schloss, der wie ein Pistolenschuss klang.
»Pass auf, dass die Kätzchen nicht entwischen.« Gemma sah auf, als die gläserne Terrassentür aufging, und wischte sich mit dem schmutzigen Gartenhandschuh über die Stirn. Sie hatte entweder mit Toby oder Charlotte gerechnet, die mit sieben beziehungsweise drei Jahren (oder genauer dreieinhalb, wie Charlotte ihr regelmäßig ins Gedächtnis rief) für die winzigen samtpfötigen Entfesselungskünstler keine ernsthaften Gegner waren. Aber stattdessen sah sie Kit, auf dessen Schulter ihr schwarz-weißes Kätzchen Captain Jack lag.
»Äh, brauchst du vielleicht Hilfe?« Sein Blick fiel auf den halb ausgeschütteten Sack Blumenerde und die leeren Plastikbehälter, die überall auf der kleinen Steinterrasse verstreut lagen. Dahinter erstreckte sich ihr Gemeinschaftsgarten in Notting Hill, der mit wunderbaren Schattenplätzen lockte. Wie gut hätte man es sich dort in einem Liegestuhl bequem machen und eine Limonade genießen können. Nach den schönen Vormittagsstunden war es um die Mittagszeit herum heiß geworden, und obwohl ihre Nase mit Erde verschmiert war, spürte sie dort allmählich einen Sonnenbrand.
»Du hast heute schon mehr als genug getan.« Seufzend setzte sie sich zurück und fragte sich, ob das knackende Geräusch eben aus ihrem Knie gekommen war. Die Gartenarbeit war nicht halb so vergnüglich, wie sie es sich ausgemalt hatte. Die Begonie, die sie gerade behutsam eingetopft hatte, war am Stamm zerbrochen und sah auch sonst reichlich zerzaust aus. Außerdem tat ihr der Rücken weh.
Kit zuckte mit den Schultern und hielt das Kätzchen am Nackenfell fest. Er hatte auf die jüngeren Kinder aufgepasst, während sie alle im Rassells, dem Gartencenter an der Earl’s Court Road, gewesen waren. Gott sei Dank, weil Toby ansonsten bestimmt die Rosen und Rhododendren verwüstet hätte.
Gemmas Begeisterung für ihr Gartenprojekt hatte deutlich nachgelassen. Als jemand, der über einer Bäckerei an einer Hauptstraße in North London aufgewachsen war, hatte sie die Gartenarbeit auch nicht gerade mit der Muttermilch aufgesogen.
»Hat Dad angerufen?«, fragt Kit betont beiläufig. Ob er sich wohl darüber ärgerte, dass Kincaid nicht wie versprochen mit ihnen in den Hyde Park gegangen war?
»Nein«, sagte sie und unterdrückte einen Seufzer. »Noch nicht.« Sie hatte ihren Ärger auf ihn bereits bereut, als Kincaid die Haustür hinter sich zugeschlagen hatte. Danach hatte sie dagestanden und stirnrunzelnd zugesehen, wie er in seinen alten grünen Astra gestiegen und davongefahren war.
Sie hatten einander nie die vielen Überstunden vorgeworfen, die sie im Dienst machten. Dass sie beide bei der Polizei arbeiteten, war einer der Gründe, warum ihre Beziehung funktionierte. Aber das … Bei dieser Sache ging es nicht um den Job, sondern um irgendwas anderes. Und das machte ihr Sorgen. Seit damals im März, als sie von Ryan Marshs Tod erfahren hatten, war er nicht mehr der Gleiche.
Gemma hatte versucht, mit Kincaid darüber zu reden, aber er hatte sie bloß mit ausdrucksloser Miene angesehen und das Thema gewechselt. Sie hatten immer miteinander sprechen können, erst als Dienstpartner, dann als Liebespaar und schließlich als Eheleute. Sie wusste nicht, wie sie mit der Mauer umgehen sollte, die er in letzter Zeit zwischen ihnen hochgezogen hatte.
Kit legte sich das herumwuselnde Kätzchen auf die andere Schulter und sah auf die Uhr. »Es ist bloß so, dass ich für einen Geschichtstest lernen muss und ein paar Freunden versprochen habe, dass wir uns heute Nachmittag im Starbucks treffen.« Jack ließ ein protestierendes Miauen hören, als Kit die spitzen kleinen Krallen von seinem Hemd löste. »Ach«, sagte Kit noch, als er zum Haus zurückging, »denkst du dran, dass Toby in einer halben Stunde Ballettunterricht hat und Charlotte zu MacKenzie soll?«
Gemma sah auf ihre schmutzigen Hände, die Jeans und das verschwitzte T-Shirt hinunter. »Mist.«
Kincaid blickte durch die gläserne Wand seines Büros im Polizeirevier Holborn in den CID-Raum hinaus, der während der ruhigen Mittagszeit vorübergehend leer war. Im Laufe des Vormittags waren immer wieder mal Beamte aufgetaucht, doch Kincaids eigenes Team befand sich, solange nicht irgendwelche neuen Fälle hereinkamen, im Wochenende. Und bislang schien es im Stadtbezirk Camden für einen Samstag relativ ruhig zuzugehen.
Ein halbes Dutzend Mal hatte er seinen Bericht zur Schießerei in Camden bereits überarbeitet, hier ein Wort verändert, da eines ergänzt, und ihm war klar, dass er nur Zeit schindete. Die Abzüge der Tatortfotos lagen nach wie vor unberührt ganz unten im Ordner. Was für eine Sorte Polizist war er eigentlich, dass er sich keine Schusswunde anschauen konnte?
Sein Handy lag auf seinem viel zu ordentlich aufgeräumten Schreibtisch. Er streckte die Finger danach aus und veränderte dessen Ausrichtung an der Kante der Schreibtischunterlage um einen Millimeter, ehe er die Hand wieder zurückzog. Er wusste, dass er Gemma anrufen sollte, aber je länger er das Telefonat hinauszögerte, desto schwerer fiel es ihm. Was könnte er ihr auch sagen?
Vielleicht würde er ihr auf dem Heimweg einfach Blumen besorgen. Das war zwar nicht besonders einfallsreich, aber vielleicht würden ein Strauß und eine Entschuldigung ja genügen.
Und was war mit den Kindern? Er verzog das Gesicht. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie enttäuscht Charlotte sein musste. Angewidert von sich selbst stand er auf und ließ das Handy in die Hosentasche gleiten. Es war höchste Zeit, dass er sich wie ein richtiger Vater benahm. Und wie ein guter Ehemann. Vielleicht konnte er sein Versprechen an die Kinder ja doch noch wahrmachen.
Er hatte gerade seine Jacke vom Haken genommen und die Bürotür hinter sich geschlossen, als sein Vorgesetzter Detective Chief Superintendent Thomas Faith das CID-Büro betrat. Groß und schlank, wie er war, mit seinen allmählich ergrauenden blonden Haaren und dem gestutzten Schnauzbart sah Faith sogar in seiner Freizeitkleidung so aus, als steckte er in einer Uniform.
»Duncan«, sagte er, »ich bin froh, dass ich Sie noch erwische. Der Sergeant am Empfang sagte, Sie seien hier.«
»Ich bin gerade auf dem Sprung.« Hätte er sich doch bloß schon einen Moment früher auf den Weg gemacht, dachte Kincaid.
Doch wie es schien, war Faith nicht in wichtiger Mission unterwegs. »Gute Ermittlungsarbeit«, sagte er. »Der DAC wird erfreut sein.«
Der Deputy Assistant Commissioner Crime hatte vor Kurzem die Parole ausgegeben, dass alle Mordermittlungsteams ihre Aufklärungsraten zu erhöhen hatten. Kincaid verstand durchaus, welches politische Kalkül dahintersteckte, aber er wusste auch, dass überhöhter Ergebnisdruck zu schlampiger Polizeiarbeit führte. Und nach allem, was zuletzt passiert war …
Faith unterbrach seinen Gedankengang. »Richten Sie Ihrem Team aus, dass sie gute Arbeit geleistet haben. Und das werde ich auch gegenüber Ihrem ehemaligen Vorgesetzten erwähnen, wenn ich ihn sehe.«
»Sir?« Kincaid war verwirrt. Sein früherer Chef, Detective Chief Superintendent Denis Childs, hatte im Februar aus persönlichen Gründen eine Auszeit von seinem Job bei Scotland Yard genommen – kurz nachdem er noch Kincaids Versetzung zum Mordermittlungsteam im Polizeirevier Holborn veranlasst hatte. Childs hatte ihm seine Entscheidung damals nicht erklärt und danach auch auf keinen von Kincaids Versuchen reagiert, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
»Ach, ich dachte, das wüssten Sie bereits.« Faith sah ebenso überrascht aus, wie Kincaid sich fühlte. »Chief Superintendent Childs ist wieder im Dienst.«
Gemma hatte es geschafft, eine cremefarbene Sommerbluse anzuziehen, sich ansonsten allerdings nur noch den Dreck von den Knien ihrer Jeans klopfen und kaltes Wasser ins Gesicht spritzen können.
Hätte sie genug Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre sie mit den beiden Kindern zu Fuß losgegangen, aber in ihrer Eile hatte sie die zwei stattdessen in ihren kleinen Ford Escort bugsiert. Der Wagen hatte die ganze Zeit in der prallen Sonne gestanden, und die Sitzpolster waren so aufgeheizt, dass sie sich beim Hinsetzen die Rückseiten ihrer Oberschenkel versengte.
Ihre Freundin MacKenzie Williams wohnte nur ein Stück die Straße hinunter, in einem Haus, das eine dunkelblaue Vordertür hatte und hinter einer hohen Gartenmauer verborgen lag. Es war von blühenden Rosen umgeben und sah eher wie ein Märchenhaus als wie eine typische viktorianische Villa in Notting Hill aus. Während Gemma einparkte, kamen MacKenzie und Oliver ans Tor, um sie zu begrüßen.
»Bleib im Auto«, ermahnte Gemma Toby, während sie Charlotte aus ihrem Kindersitz losschnallte.
»Aber ich möchte Bouncer sehen«, protestierte er. Bouncer war das grau gefleckte Kätzchen, das sie an die Familie Williams abgegeben hatten, eines der vier, die Kit und Toby im März aus dem Schuppen in ihrem Gemeinschaftsgarten gerettet hatten.
»Toby, möchtest du gar nicht tanzen?«, fragte Gemma, während Charlotte von ihrem Sitz herunterkletterte, aus dem Auto sprang und mit laut klatschenden Sohlen auf dem Gehsteig landete.
»Dooooch«, erwiderte Toby nach kurzem Schweigen und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.
Charlotte zog an Gemmas Hand. »Mummy, kann ich gehen?«
»Na klar, Süße. Aber du hörst auf MacKenzie, ja?« Gemma küsste ihre Tochter und wollte ihr zur Verabschiedung noch einen leichten Klaps auf den Po geben, aber Charlotte rannte bereits zu Oliver ans Tor.
MacKenzie zerzauste Charlottes dichten karamellfarbenen Haarschopf. Dann sagte sie leise, mit einem Nicken in Richtung Auto: »Ist das da drinnen wirklich dein Kind? Wo ist der Junge mit den tausend Widerworten geblieben?«
Gemma grinste und verdrehte die Augen. »Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder. Dank dir.«
Tobys neu entdecktes Interesse am Ballett war MacKenzies Verdienst. Ihr Sohn Oliver war Charlottes bester Freund an der Vorschule, und MacKenzie hatte sie und Toby zu Olivers Bambini-Ballettkurs mitgenommen. Charlotte hatte sich nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, obwohl sie gerne ein Tutu gehabt hätte. Bei Toby war es dagegen Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und seit einem weiteren Ausflug mit MacKenzie zum Royal Ballet war Toby noch entschlossener, das zu lernen, was er dort auf der Bühne gesehen hatte.
Doch die anschließende Suche nach einer geeigneten Ballettschule erwies sich als deutlich schwieriger, als Gemma gedacht hatte. Denn zum einen gab es in der Nähe keine reinen Kurse für Jungs, und die gemischtgeschlechtlichen Kurse, die angeboten wurden, waren alle sehr teuer.
Als Gemma ihrer Freundin MacKenzie von der Misere erzählt hatte, riet die ihr, Toby im Tabernacle anzumelden.
»Das Tabernacle bietet Ballett an?«, hatte Gemma überrascht gefragt. Das runde Ziegelgebäude am Powis Square hatte eine lange Tradition in Notting Hill, anfangs als Kirche, später als ein Mekka der Gegenkultur und mittlerweile als Gemeindezentrum und Hauptquartier des Notting Hill Carnival. Dort gab es einen Garten, ein Café, eine Kunstgalerie und – offensichtlich – auch Tanzkurse.
»Während der Woche übt dort eine Ballettschule«, hatte MacKenzie ihr erklärt. »Samstags gibt es dann immer erstklassige Kurse von Portobello Dance, in denen übrigens auch viele Jungs sind. Und die Preise halten sich absolut im Rahmen.«
MacKenzie hatte wie immer recht behalten. In Tobys Kurs waren noch zwei weitere Jungs, und er wurde von einem Mann geleitet, einem gefeierten Profitänzer und Choreografen.
Während Gemma nun am Powis Square nach einem Parkplatz Ausschau hielt, wurde Toby ganz hibbelig. »Ich möchte nicht zu spät kommen. Mr Charles wird sonst bestimmt was sagen.«
Toby, den eine kleine Standpauke bisher noch nie sonderlich beeindruckt hatte, nahm sich die Ermahnungen seines freundlichen Trainers sehr zu Herzen.
»Okay«, sagte Gemma und hielt vor dem schmiedeeisernen Tor des Tabernacle an. »Dann geh du schon mal rein. Aber vergiss deine Tasche nicht.« Sie sah Toby hinterher, bis er im Gebäude verschwunden war, und machte sich dann wieder auf die Jagd nach einem Parkplatz.
Als sie endlich einen gefunden hatte, ging sie zurück zum Powis und in den gut gefüllten Vorgarten des Tabernacle, wo Leute an den Tischen saßen und etwas aßen oder einfach nur die Sonne genossen. In der Sicherheit des umzäunten Geländes tollten Kinder herum, während ein paar an die Tische geleinte Hunde ihrem ausgelassenen Treiben interessiert zusahen.
Der runde Mittelbau des Gebäudes erinnerte sie an die Trockenhäuser, die sie in Kent gesehen hatte. Obwohl die beiden Türme, die das Tabernacle links und rechts einfassten, höher waren als bei Trockenhäusern und außerdem einen quadratischen Grundriss hatten. Eigentlich sah das Tabernacle plump und ungemütlich aus, aber dennoch strahlte es einen gewissen Charme aus. Die orangeroten Ziegel leuchteten in der Sonne und bildeten einen gefälligen Kontrast zu den laubgrünen Bäumen im Garten.
Gemma hätte sich gerne sofort einen Platz in der Sonne gesucht, aber erst musste sie etwas gegen ihren Durst tun. Sobald sich ihre Augen an das Schummerlicht im Gebäudeinneren gewöhnt hatten, ging sie zur Theke im hinteren Bereich und kaufte sich eine frisch gepresste Limonade. Während sie langsam die Stufen auf der rechten Seite des Raumes hochstieg und wohlig seufzend an ihrem Getränk nippte, betrachtete sie die Fotos der Prominenten von Notting Hill, die die Wände des Treppenhauses zierten.
Das Ballettstudio befand sich hinter dem Theater, im rückwärtigen Teil des ersten Stocks. Eltern durften während der Stunden nicht hinein, aber vielleicht konnte sie ja durch die Glasfenster in den Türen spähen, die vom Vorraum in das Studio führten. Sie hatte sich noch immer nicht an Toby in seinem weißen T-Shirt und den schwarzen Leggings gewöhnt oder an den Anblick seines kleinen hochkonzentrierten Gesichts. Und immer wenn sie ihn so sah, spürte sie ein eigenartiges Ziehen in ihrem Herzen. Wieso wirkte ihr ungestümes Kind auf einmal so ernsthaft und zielstrebig? Nicht dass sie sich darüber beschweren wollte, dachte sie lächelnd und stieß die Tür zum Vorraum auf.
Wenn sie bisher zu den Kursen mitgekommen war, hatten hier immer auch ein paar andere Eltern gewartet, aber heute war der Raum verwaist, bis auf einen einzelnen Jungen, den sie auf neun oder zehn Jahre schätzte. Er trug den üblichen Aufzug aus weißem T-Shirt und schwarzen Leggings, aber seine Waden steckten in schäbigen, halb aufgedröselten Stulpen, und seine weißen Ballettschuhe sahen schmutzig und abgewetzt aus. Seine aschblonden Haare berührten den T-Shirt-Kragen, und er hatte eine leichte Stupsnase mit Sommersprossen.
In der Stille, die auf das Klicken der schließenden Tür folgte, hörte Gemma, wie er leise zählte. Er übte verschiedene Positionen, und da es hier keine Ballettstange gab, stützte er sich stattdessen mit ausgestreckten Fingerspitzen an der Lehne eines Holzstuhls ab. Sie erkannte ein paar der Grundpositionen, die Toby gerade lernte, aber die Eleganz und Präzision, mit der dieser Junge sie ausführte, zeugten von jahrelangem Training.
Während er vom Stuhl zurücktrat, murmelte er: »Eins, zwei, drei, Drehung.« Dann stieß er sich mit einem Fuß vom Boden hoch, und Gemma verfolgte staunend, wie er eine Reihe von Pirouetten vollführte. Einen Moment hielt er inne und wandte Gemma das Gesicht zu, allerdings ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, und setzte gleich darauf zu einer weiteren Serie von Drehungen an.
Er schaffte zehn, bevor er schließlich das Gleichgewicht verlor und den erhobenen Fuß mit einem deutlich vernehmbaren »Scheiße« auf den Boden setzte. Danach sah er sie an, mit einem argwöhnischen Blick.
»Ach, wie schade«, sagte Gemma, ohne auf seinen Fluch einzugehen. »Ich hab dich wahrscheinlich abgelenkt. Versuch’s doch noch mal.«
Nach kurzem Zögern nickte er und erhob sich zu einer neuen Abfolge von Pirouetten. Diesmal gelangen ihm zwölf. Gemma fiel auf, dass er dabei ganz ruhig und entspannt atmete.
»Wird dir nicht schwindlig?«, fragte sie, als er sich ohne erkennbare Mühe dehnte.
Er schüttelte den Kopf und strich sich die blondbraunen Haare aus der Stirn. »Nicht mehr, seit ich klein war. Man muss den Blick nur fest auf etwas richten. Gerade habe ich den Aufkleber an der Tür im Auge behalten.«
Gemma sah kurz über die Schulter zu dem ovalen blauen Notausgangszeichen, dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu. »Du tanzt also schon lange.«
»Seit ich drei bin.«
Toby war also ein Spätzünder, dachte sie. Aus dem Studio erklangen die gedämpften Töne des Klaviers, und durch das Glasfenster in der Tür erhaschte sie einen Blick auf Tobys hüpfenden Blondschopf. »Mein Sohn hat gerade erst angefangen. Er ist sieben.«
»Er kann es vielleicht trotzdem noch lernen«, entgegnete er mit der gleichgültigen Herablassung, die er als Profi für einen Amateur übrighatte.
»Wartest du auf einen Kurs?«, fragte Gemma.
Er nickte. »Nicht auf den nächsten, sondern den danach – für Fortgeschrittene. Unter der Woche nehme ich Stunden in Finsbury Park.«
»Du tanzt so häufig?« Mit leichtem Grausen überlegte Gemma, was es wohl für ihre Familie bedeuten würde, falls Toby diese Angelegenheit jemals so ernsthaft betreiben wollte. »Würdest du den Samstag nicht lieber mit deinen Freunden verbringen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Mr Charles ist ein großartiger Choreograf, und ich kann allein hierherkommen.«
»Nach Finsbury Park fährst du nicht allein?«
Sein freundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Meine Mum meint, dafür sei ich nicht alt genug.«
»Ja, manchmal sind Mums so«, gab Gemma vorsichtig zu. »Wie alt bist du denn? Elf?« Sie schätzte bewusst am oberen Ende der Skala.
»Fast.« Seine Miene entspannte sich wieder. »Meine Mum möchte, dass ich mit elf beim Royal Ballet vortanze. Deswegen muss ich so viel üben.« Als wäre es ihm bei seinen eigenen Worten gerade erst wieder eingefallen, ging er zum Stuhl zurück und hielt sich mit einer Hand an der Lehne im Gleichgewicht. Gleichzeitig hob er ein Bein in einer Position ans Ohr, die Gemma eigentlich für anatomisch unmöglich gehalten hätte.
Aus dem Studio hörte sie deutlich Mr Charles’ Stimme: »Gut, gut. Dasselbe noch mal.« Und auch das Klavierspiel klang gleich ein wenig beherzter.
»Dann lasse ich dich mal in Ruhe weitermachen.« Gemma vermutete, dass sie die Gesprächsbereitschaft des Jungen bereits erschöpft hatte. Allerdings gab es in dem Raum nicht genug Platz, um sich gegenseitig zu ignorieren. »Ich gehe einfach runter. Viel Glück beim Vortanzen. Ich bin sicher, dass du das ganz toll machen wirst.«
Über sein sommersprossiges Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. »Danke.«
Zum Abschied winkte sie ihm kurz zu und ging dann wieder hinaus. Vielleicht würde sie sich ja doch noch in den Garten setzen und dort ihre Limonade austrinken, bis Tobys Kurs vorbei war.
Gemma öffnete die Tür und wollte gerade in den Garten hinaustreten, als sie mit jemandem zusammenstieß, der in die Gegenrichtung lief. Noch während sie eine erschrockene Entschuldigung stammelte, wurde ihr klar, dass sie gerade mit MacKenzie Williams kollidiert war. »Alles in Ordnung, MacKenzie?«, fragte sie, während sie ihrer Freundin sacht den Arm tätschelte. Dann wurde sie plötzlich unruhig. »Was machst du denn hier? Wo ist Charlotte? Geht es ihr gut?«
MacKenzie sah sie an und runzelte die Stirn. »Ich habe ganz vergessen, dass du auch hier bist, Gemma. Nein, nein, den Kindern geht’s gut. Ich habe sie bei Bill gelassen. Aber …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf.
»Was ist denn los?« Gemma legte MacKenzie einen Arm um die Schultern und zog sie sanft aus dem Strom der Leute im Eingangsbereich. Ihre Freundin zitterte. »Setz dich hierhin«, sagte sie und führte MacKenzie zu einem leeren Tisch in einer dunklen Nische. Als ihr auffiel, dass sie immer noch den halb ausgetrunkenen Becher Limonade in der Hand hielt, reichte sie ihn MacKenzie. »Trink das.« Gemma wartete, bis MacKenzie gehorsam ein paar Schlucke genommen hatte, und setzte sich dann neben sie. »Und jetzt erzähl mir, was passiert ist.«
»Es … Es ist furchtbar. Es geht um Reagan«, begann MacKenzie stockend. Unter ihrer schwarzen Lockenmähne wirkte ihr Gesicht so weiß wie Papier. »Ich glaube, du kennst sie nicht. Sie arbeitet als Model für uns und passt manchmal auf Oliver auf.« MacKenzie und ihrem Mann Bill gehörte eine sehr erfolgreiche Bekleidungsmarke namens Ollie, die sie online und mit einem Katalog vertrieben. »Aber sie …« MacKenzie holte tief Luft. »Reagan lebt bei einer Familie in Cornwall Gardens. Sie ist das Kindermädchen ihres Sohnes.«
»Verstehe.« Gemma nickte, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.
MacKenzie umklammerte den Becher mit beiden Händen. »Sie ist tot. Reagan ist tot. Sie haben sie heute Morgen unter einem Baum in Cornwall Gardens entdeckt. Aber Jess – der Junge, um den sie sich kümmert – weiß es noch nicht. Seine Mum hat mich gebeten, nach ihm zu suchen.«
»Verstehe«, wiederholte Gemma. »Das ist wirklich schrecklich. Aber warum bist du hier?«
»Ach.« MacKenzie schien überrascht, dass Gemma noch nicht selbst darauf gekommen war. »Weil er tanzt. Jess ist ein Tänzer. Wegen ihm wusste ich, dass das Tabernacle eine gute Ballettschule für Jungs hat. Jess nimmt hier jeden Samstag Unterricht.«
2
Noch bis vor ein paar Monaten hatte sich Kincaid bei New Scotland Yard ganz zu Hause gefühlt. Als er jetzt den hohen Glasturm an der Victoria Street betrat, kam er sich jedoch wie ein Eindringling vor. Die Sicherheitsbeamten im Erdgeschoss waren ihm nicht vertraut, und auch sie schienen nicht zu wissen, wer er war, als sie seine Identität überprüften.
Nachdem sie den Türöffner für ihn betätigt hatten, fuhr er mit dem Aufzug in das Stockwerk, wo das Büro von Detective Chief Superintendent Childs lag. Er war direkt vom Revier Holborn zum Yard gefahren, da er Childs am Samstag bei der Arbeit zu erwischen hoffte. Immerhin war es sein ehemaliger Vorgesetzter gewesen, der ihm diese Arbeitseinstellung vorgelebt hatte.
Kincaid konnte zwar nicht behaupten, dass er Denis Childs während ihrer gemeinsamen Dienstzeit wirklich gut kennengelernt hätte. Aber bis zum vergangenen Herbst hatte er ihn respektiert und ihm vertraut. Kincaid hätte ihn damals vielleicht sogar als Freund bezeichnet.
Immerhin waren sie so gut miteinander ausgekommen, dass Childs ihn und Gemma seiner Schwester als Mieter für das Haus in Notting Hill empfohlen hatte.
Im letzten Herbst hatte Childs ihm dann persönlich einen wichtigen Fall übertragen, bei dem es um den Tod einer Polizistin in Henley-on-Thames gegangen war. Kincaid war mit Childs’ Ermittlungsmethoden nicht einverstanden gewesen und hatte ihn sogar für den Tod zweier Menschen verantwortlich gemacht – eines leitenden Beamten der Metropolitan Police und seiner gänzlich unbeteiligten Ehefrau.
Es war Kincaids letzter Fall gewesen, bevor er in Elternzeit gegangen war und sich um seine Tochter Charlotte gekümmert hatte. Als er im Februar zum Yard zurückgekehrt war, hatte er sein Büro leer geräumt vorgefunden, auf dem Schreibtisch seinen Versetzungsbefehl. Außerdem hatte man ihm mitgeteilt, dass sein Vorgesetzter Childs aus privaten Gründen eine längere Auszeit genommen habe.
Denis Childs war Kincaid nie wie ein rachsüchtiger Mensch vorgekommen. Aber warum hatte er ihn dann von seinem Posten abgezogen und jede Kommunikation verweigert? Und wo hatte er während dieser drei Monate gesteckt?
Der Aufzug gab einen Klingelton von sich, als er Childs’ Stockwerk erreichte. Während die Tür aufging, holte Kincaid tief Luft und lockerte die Schultern, um die Anspannung in seinem Nacken ein wenig zu lindern. Der Flur war menschenleer, aber Kincaid war sich der niemals endenden Aktivitäten im restlichen Gebäude deutlich bewusst. Hinter halb geschlossenen Türen erklangen Stimmen, und Telefone klingelten, aber niemand trat auf den Korridor.
Sein eigenes ehemaliges Büro hatte er bewusst gemieden, aber auch der vertraute Anblick von Childs’ Büro schmerzte ihn. Genau wie die Begegnung mit Marjorie, der Assistentin des Chief Superintendents, die an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer saß.
Als sie hochsah und ihn erblickte, erstrahlte auf ihrem freundlichen Gesicht ein Lächeln. »Detective Superintendent, was machen Sie denn hier?« Marjorie hatte ihm immer das Gefühl gegeben, einer ihrer Lieblingskollegen zu sein. Allerdings hatte er den Verdacht, dass sie es mit den anderen Ermittlern ebenso hielt.
»Wie geht es der Familie?«, fragte er mit einem Blick auf die ausufernde Fotosammlung auf ihrem Schreibtisch.
»Meine Tochter erwartet ihr erstes Kind«, sagte Marjorie strahlend. »Ich erledige hier nur noch ein paar Dinge, weil es jetzt jederzeit so weit sein kann und ich dann wahrscheinlich ein paar Tage freinehmen werde.«
»Das sollten Sie auf jeden Fall tun, und ich gratuliere Ihnen ganz herzlich«, entgegnete er und meinte es auch so. Dann nickte er zur Tür, die zu Childs’ Allerheiligstem führte. »Ich dachte, ich erwische Seine Hoheit an diesem Samstag vielleicht auch.« Damit spielte er auf einen alten Witz an, den er und Marjorie miteinander teilten, aber jetzt sah sie ihn nur bedauernd an.
»O nein. Tut mir leid, Mr Kincaid, er ist nicht hier.«
Kincaid war nicht ganz sicher, ob er ihr das abnehmen sollte, weil ihre Augen kurz zur geschlossenen Tür hinübergezuckt waren. Marjorie war fröhlich, höflich und sehr effizient, aber Verschlagenheit hatte noch nie zu ihren Stärken gehört. »Keine Überstunden?«, hakte er nach. »Sie wissen schon, aus alter Gewohnheit.« Er lächelte sie an und hoffte, ihr so die Befangenheit zu nehmen.
»Aber nein, er ist jetzt ganz brav«, sagte sie, sichtlich froh, sich wieder auf sicherem Terrain zu bewegen. »Ich habe ihm auch gesagt, dass er es andernfalls mit mir zu tun bekäme.«
Kincaid lehnte sich mit der Hüfte gegen die Ecke von Marjories großem Schreibtisch. »Ich habe gerade erst gehört, dass er wieder zurück ist. Wie geht es ihm denn?«
»Ach, sehr gut, Mr Kincaid. Sie glauben gar nicht, wie gut er …« Sie unterbrach sich und errötete. »Ich lege ihm eine Nachricht hin, dass Sie vorbeigeschaut haben. Damit er es auch sicher erfährt, falls er am Wochenende noch mal reinkommt.«
Kincaid wusste, dass sie ihn damit aufforderte zu gehen. Und was sollte er auch anderes tun? Die Tür einrennen? »Danke«, sagte er mit einem aufgesetzten Lächeln. »Sagen Sie Ihrer Tochter bitte alles Gute von mir. Und richten Sie dem Chief Superintendent herzliche Grüße aus.«
Nach einem betont munteren Abschiedswinken drehte er sich um und ging zum Aufzug.
Sobald die Fahrstuhltür hinter ihm zugeglitten war, sagte er sehr laut: »Dieser Mistkerl.«
Kincaid glaubte, den ganzen Weg durch die Eingangshalle Blicke in seinem Rücken zu spüren. Er sagte sich zwar, wie dumm das sei, dass sich niemand für ihn interessierte, aber trotzdem wurde er den Eindruck nicht los. Das ungute Gefühl nach dem Henley-Fall und seiner anschließenden Versetzung hatte sich seit der Nacht, in der Ryan Marsh umgekommen war, nur noch gesteigert.
Natürlich hatte er immer schon gewusst, dass es in den Reihen der Metropolitan Police Bestechlichkeit gab. Kincaid kannte die menschliche Natur gut genug – und hatte genügend Beamte erlebt, die sich zu kleineren oder größeren Vergehen hatten hinreißen lassen –, um zu wissen, dass sich so etwas nie ganz vermeiden ließ. Bis zum Henley-Fall hatte er jedoch nicht gedacht, dass es ihn mal persönlich betreffen würde.
Aber wie tief war die Polizei von dieser Fäulnis durchdrungen? Und war Denis Childs Teil dieses korrupten Systems?
Er stand gerade in der Schlange vor der Ausfahrt des Yard-Parkplatzes, als der Piepton seines Handys eine eingehende SMS ankündigte. Gemma, dachte er, während er das Telefon aus der Jackentasche fischte, und dass er sich besser eine gute Entschuldigung einfallen lassen sollte. Erneut stach ihn sein schlechtes Gewissen wegen des verpassten Ausflugs in den Park.
Aber auf dem Display erschien eine unbekannte Nummer, und die knappe Nachricht lautete: »The Duke. Roger Street. Acht Uhr.«
An diesem Nachmittag hatte Gemma das Haus ganz unerwartet für sich allein. Duncan war mit ihren beiden jüngeren Kindern und dem Hund unterwegs, wenn auch nicht wie ursprünglich versprochen im Hyde Park, sondern bloß die Ladbroke Grove runter im Holland Park. Inzwischen fragte sie sich, ob Duncan mit den Kindern so schnell aus dem Haus verschwunden war, um den beiden damit einen Gefallen zu tun oder weil er nicht mit ihr reden wollte. Als er nach Hause gekommen war, hatte er sie geküsst und sich dafür entschuldigt, dass er sie am Morgen so angefahren hatte. Allerdings war er dabei ihrem Blick ausgewichen. Doch zumindest hatte der Trubel beim Aufbruch der Kinder sie von ihren Sorgen um MacKenzie und den Jungen vom Ballettunterricht abgelenkt.
Die beiden hatten das Tabernacle ein paar Minuten nach Gemmas Gespräch mit MacKenzie verlassen, wobei Jess verkniffen und wütend, ihre Freundin dagegen erschüttert ausgesehen hatte. Gemma hatte nicht neugierig sein wollen, aber nun fragte sie sich, auf welche Weise das Mädchen umgekommen war und wie der zehnjährige Jess die Nachricht wohl aufgenommen haben mochte. Und sie war auch ein wenig überrascht, wie sehr sie es aufgewühlt hatte, MacKenzie so schockiert und aufgebracht zu sehen.
Um sich zu zerstreuen, setzte sie sich ans verstaubte Klavier und schlug einen zaghaften Akkord an. Der Ton war unerwartet laut in dem stillen Haus, aber während der Nachhall verklang, merkte sie, wie sie sich entspannte. Das ermutigte sie, und sie begann zu spielen, anfangs noch stockend, weil sie erst ihre Finger lockern musste. Aber nach einer Weile konzentrierte sie sich nur noch auf die Notenfolge, und so bekam sie es – auch weil keine bellenden Hunde im Haus waren – zunächst gar nicht mit, als es läutete.
Sie schob die Klavierbank zurück und eilte an die Tür. MacKenzie stand auf der Vortreppe und sah ungewohnt zerzaust aus. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, sagte sie. »Ich dachte, ich schau noch mal vorbei, bevor ich nach Hause gehe.«
»Gar nicht«, sagte Gemma und umarmte ihre Freundin rasch, ehe sie sie einließ. »Geht es dir gut?«
»Ja. Nein.« MacKenzies Stimme zitterte. »Keine Ahnung. Ich weiß bloß nicht, wie ich heimgehen und Oliver erklären soll, was mit Reagan passiert ist.«
»Komm mit in die Küche. Ich mach uns einen Tee.«
MacKenzie folgte ihr gehorsam, aber als Gemma nach dem Wasserkocher griff, sagte sie: »Ähm, hättest du vielleicht auch etwas Stärkeres?«
»So schlimm?« Gemma drehte sich um und betrachtete ihre Freundin eingehender. MacKenzie trug einen ihrer typischen bedruckten Röcke von Ollie und dazu eine strahlend weiße Bluse, aber sie wirkte völlig geschafft. Ihre dunklen Locken hatte sie nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre Lippen waren ganz blutleer.
Doch MacKenzie Williams sah selbst unter den ungünstigsten Umständen immer noch umwerfend aus. In ihrer Person vereinten sich die selbstsichere Haltung eines Models, die Zuversicht einer geborenen Unternehmerin und dazu der Wohlstand und der gehobene gesellschaftliche Status der Elite von Notting Hill. Gemma hatte zudem schnell gemerkt, dass MacKenzie überhaupt nichts Gekünsteltes an sich hatte. Vielmehr war sie einer der bodenständigsten und freundlichsten Menschen, die sie je getroffen hatte.
MacKenzie nickte. »Echt übel.«
»Dann verabreichen wir dir besser was Stärkendes.« Gemma nahm eine Flasche Pinot grigio aus dem Kühlschrank und wischte rasch mit dem Küchentuch durch zwei Weingläser. »Hier drinnen ist es ziemlich stickig«, sagte sie, nachdem sie den Wein eingeschenkt hatte. »Lass uns auf die Terrasse rausgehen.«
»Wo sind denn die anderen alle?«, fragte MacKenzie, als Gemma sie durchs Wohnzimmer führte. »Ich habe dieses Haus noch nie so still erlebt.«
»Duncan ist mit den Kleinen und den Hunden in den Park gegangen. Nicht dass es deswegen hier weniger chaotisch aussähe.« Gemma bahnte sich einen Weg durch das Spielzeug, das auf dem Fußboden verstreut lag. »Und Kit ist mit seinen Kumpels im Starbucks. Angeblich zum Lernen.«
MacKenzie brachte ein Lächeln zustande. »Wahrscheinlich tippen sie eher Nachrichten und schauen sich Videos auf ihren Handys an.« Sie hielt an, um das kleine Fellknäuel auf der Couchlehne zu streicheln. Das Knäuel geriet in Bewegung und entwirrte sich zu zwei Kätzchen, dem schwarz-weißen Jack und der weißen Rose mit dem Schildpattmuster. Sie reckten sich und gähnten, wobei sie winzige nadelspitze Zähne präsentierten, mit denen Jack gleich mal versuchsweise an MacKenzies Finger knabberte. »Autsch.« Sie riss die Hand zurück. »Kleiner Fiesling.«
»Ja, das ist er«, sagte Gemma und lachte.
»Wenigstens hast du zwei, die sich gegenseitig bei Laune halten können. Bouncer klettert mir dauernd die Beine hoch, was besonders angenehm ist, wenn ich keine Hose anhabe.«
Gemma stellte erleichtert fest, dass MacKenzie sich wieder ein wenig gefasster anhörte.
Auf der Terrasse schien noch die Sonne, aber die Luft hatte sich im Verlauf des Nachmittags ein wenig abgekühlt und war nun angenehm mild. »Das sieht hübsch aus«, sagte MacKenzie, als sie sich hinsetzten, und Gemma freute sich, dass ihre mühevolle Arbeit mit den Topfblumen Würdigung fand.
»Ich bin wirklich keine große Gärtnerin. Aber ich dachte, solange das Wetter so schön ist, sollten wir es uns hier gemütlich …« MacKenzies Gesichtsausdruck ließ sie verstummen.
Aber MacKenzie trank einen Schluck Wein und bedeutete ihr mit einem Zeichen, dass sie fortfahren solle. »Natürlich sollt ihr das«, sagte sie, als sie das Glas wieder abgesetzt hatte. »Ich kann nur … ich muss immer daran denken, dass …«
»Möchtest du lieber reingehen?«
»Nein. Bitte beachte mich gar nicht. Ich kann ja nicht für alle Zeiten Gärten meiden, nur weil sie in einem gefunden wurde.«
»In Cornwall Gardens hast du gesagt, oder?« Gemma überlegte einen Moment, wo das war.
»Ein kleines Stück nördlich von der Blenheim Crescent …«
»An der Kensington Park Road«, vervollständigte Gemma MacKenzies Beschreibung. »Jetzt weiß ich’s wieder.« Es war einer der parkartigen Gemeinschaftsgärten, die sich in diesem Teil von Notting Hill wie Perlen an einer Kette aneinanderreihten. Genau wie der, der sich vor ihnen in der Nachmittagssonne ausdehnte. Außer ihnen beiden auf der kleinen eingezäunten Terrasse war niemand zu sehen.
»Man möchte doch eigentlich meinen«, sagte sie, um MacKenzie die Anspannung zu nehmen, »dass die Leute diese Gärten mehr nutzen würden, so begehrt, wie sie sind. Unsere Kinder spielen im Gemeinschaftsbereich, aber sonst sieht man da kaum jemanden, nicht mal während der Ferien.«
»Die Erwachsenen arbeiten den ganzen Tag, und die Kinder sind im Internat oder haben regelmäßige außerschulische Verpflichtungen.« MacKenzie war ihre Missbilligung deutlich anzuhören. In ihren Kreisen war die Familie Williams eine absolute Ausnahme. Es war ihnen gelungen, ein erfolgreiches Geschäft aufzubauen und trotzdem ihrem Kind und dem Familienleben die höchste Priorität einzuräumen.
»Ich habe jetzt auch ein Kind mit einer regelmäßigen Verpflichtung«, frotzelte Gemma.
»Ja, aber das ist etwas anderes.« MacKenzie schwenkte ihr halb leeres Glas und ließ den Wein darin kreisen. »Toby möchte das tun. Die meisten Kinder werden dagegen nur von einer Aktivität zur anderen gekarrt, weil ihre Eltern sich nicht mit ihnen beschäftigen wollen.«
Gemma war froh, dass sie daran gedacht hatte, die Flasche mitzunehmen, und schenkte MacKenzie nach. »Und was ist mit Jess? Er ist offensichtlich auch im Ballett, weil er es möchte. Ich habe noch nie so ein motiviertes Kind erlebt.«
MacKenzie sah überrascht aus. »Du kennst Jess?«
Vor ein paar Stunden hatte Gemma nur gesagt, dass sie glaubte, ihn vor dem Unterrichtsraum gesehen zu haben. »Ich habe ihn beim Üben gestört, und dann haben wir uns ein bisschen unterhalten.«
»Jess ist gar nicht der Typ, der sich einfach mal so unterhält«, sagte MacKenzie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Er ist außerordentlich begabt, oder?«
»Ja, aber genau deswegen ist er manchmal auch ganz schön ruppig. Nicht aus Bosheit, sondern weil er so … getrieben ist.« Sie sah das Glas an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Und jetzt … Kein Kind in seinem Alter sollte mit so etwas konfrontiert werden.« Sie sah zu Gemma auf. »Es ist merkwürdig, aber ich habe noch nie jemanden gekannt, der gestorben ist. Ich meine, so jung. Es erscheint mir einfach … so verkehrt …«
»Ja, natürlich. Erzähl mir von Reagan«, sagte Gemma sanft. »Woher kanntest du sie?«
MacKenzie hatte einen langen, schlanken Hals – einer der Gründe, warum sie so fotogen war –, und Gemma sah, wie sich beim Schlucken ihr Kehlkopf bewegte. »Über Nita. Jess’ Mum. Bill hat früher mit Jess’ Dad Racquetball gespielt, bevor Chris und Nita sich scheiden ließen. Ich bin Nita und Reagan mal zufällig im Kitchen and Pantry begegnet.«
Das Kitchen and Pantry war ein Café, das an der Ecke Elgin Crescent und Kensington Park Road lag. Es war speziell bei den Yummy Mummies, wie man die trendigen und gut betuchten Mütter in Notting Hill nannte, ein beliebter Treffpunkt. Dort hatten Duncan und Charlotte auch MacKenzie und Oliver kennengelernt.
»Ich war mit Oliver dort«, sagte MacKenzie. »Und sie hatte sofort einen guten Draht zu ihm. Also habe ich überlegt, ob sie sich vielleicht gelegentlich um ihn kümmern könnte, wenn sie mal nicht auf Jess aufpassen musste.«
Gemma hatte bislang noch nicht begriffen, warum ein Zehnjähriger ein Vollzeit-Kindermädchen brauchte, doch sie wollte MacKenzie nicht unterbrechen.
»Aber um Nita nicht ins Gehege zu kommen – sie kann manchmal ein bisschen empfindlich sein –, habe ich zuerst sie gefragt, und sie sagte, es sei für sie in Ordnung. Von da an kam Reagan ein paar Vormittage in der Woche, während Jess in der Schule war, für ein oder zwei Stunden zu uns. Und als ich sie so mit Oliver spielen sah, dachte ich mir, dass sie gut in unseren Katalog passen würde. Weißt du, sie war niemand, nach dem sich alle auf der Straße umdrehen würden. Aber sie hatte was. So eine … frische Art.«
Während MacKenzie kurz verstummte, befüllte Gemma noch mal ihr Glas und schenkte sich selbst ebenfalls nach. Das Kondenswasser außen an der Flasche fühlte sich kalt an, und ein Windstoß stellte ihr die Nackenhaare auf. Plötzlich zitterte und fror sie, aber MacKenzie, die ihren eigenen Gedanken nachhing, bekam davon nichts mit.
»Sie hat … hatte eine ganz wunderbare Haut, die immer zu funkeln schien. Sie hatte überhaupt immer so ein gewisses Funkeln …« MacKenzie geriet ins Stocken und schüttelte den Kopf. »Heute Nachmittag, nachdem du Charlotte abgeholt hast, wollten wir eigentlich Aufnahmen machen. So habe ich überhaupt erst erfahren, was …« Ihr versagte die Stimme, und sie musste erst mal schlucken. »… was ihr zugestoßen ist. Ich hatte den ganzen Vormittag versucht, sie zu erreichen. Als ich nichts von ihr hörte, habe ich irgendwann Nita angerufen, und sie … sie sagte …«
»Du hast gesagt, Reagan sei unter einem Baum gefunden worden. Erzähl mir genau, was passiert ist.« Gemma hörte Hundegebell und entfernte Stimmen. Auf der anderen Seite des Gartens, die mittlerweile größtenteils im Schatten lag, waren nun doch Leute.
»Ich weiß nur, was Nita mir erzählt hat. Eine ihrer Nachbarinnen hat kurz nach Sonnenaufgang eine Runde durch den Garten gedreht. Sie hat Reagan entdeckt und die Polizei verständigt. Nita hat davon gar nichts mitbekommen, weil sie beim Yoga war. Als sie wieder nach Hause gekommen ist, hat sie nach Jess gesehen, aber er und Reagan waren beide nicht da. Sie hat gedacht, dass Reagan mit ihm irgendwohin gegangen sein musste, vielleicht zum Frühstücken ins Kitchen and Pantry. Dann bemerkte sie den Menschenauflauf im Garten, und noch bevor sie jemanden fragen konnte, was passiert war, stand auch schon die Polizei vor ihrer Tür. Die Nachbarin hatte Reagan zwar erkannt, aber Nita sollte ihre Leiche …« MacKenzie verstummte und leerte ihr Glas. Als Gemma ihr den restlichen Wein einschenken wollte, schüttelte sie jedoch den Kopf.
»Das muss schrecklich für sie gewesen sein«, sagte Gemma. »Wurde Reagan …« Sie hatte eigentlich »vergewaltigt« sagen wollen, entschied sich jedoch für eine weniger verstörende Frage. »… verletzt?«
»Nicht, soweit Nita es erkennen konnte. Sie trug immer noch das Kleid, in dem sie am Vorabend das Haus verlassen hatte.«
Gemma runzelte die Stirn. »Der Garten ist eingezäunt, oder?«
»Ja. Abgesehen von den Zugängen durch die Häuser gibt es nur einen einzigen Eingang.«
»Nita hat sie gestern Nacht nicht nach Hause kommen hören?«
»Nein. Sie sagt, sie hat eine Schlaftablette genommen. Das macht sie wohl gelegentlich, wenn sie am nächsten Morgen früh raus muss.«
»Und Jess? Hat er sie nach Hause kommen sehen?«
»Nita sagt, dass er früh schlafen gegangen ist.«
»Hm.« Wenn Jess’ Mum geschlafen hatte und Reagan ausgegangen war, hielt Gemma es für äußerst unwahrscheinlich, dass der unbeaufsichtigte Zehnjährige allzu bereitwillig ins Bett gegangen war. Sie dachte über ihr Gespräch mit dem Jungen nach. Er hatte nicht den Anschein erweckt, als würde er sich noch mit irgendetwas anderem als Tanzen beschäftigen. Außerdem hatte er einen aufrichtigen Eindruck auf sie gemacht. Aber wenn seine Mum so verzweifelt auf der Suche nach ihm gewesen war, nachdem sie von Reagans Tod erfahren hatte, wo hatte er sich dann bis zum Tanzunterricht herumgetrieben? »Was war heute Vormittag?«, fragte sie. »Wo ist Jess da gewesen?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete MacKenzie. »Er will es nicht sagen.«
Am Ende hatte Kincaid Gemma einen Teil der Wahrheit gesagt.
Das war es doch, was die Anwälte ihren Klienten immer rieten – so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
Besorgt hatte er sich während des gesamten Parkspaziergangs mit den Kindern überlegt, was er tun sollte. Und auch danach noch beim Abendessen, als er immer wieder verstohlen auf die anonyme Textnachricht geschaut hatte. Gemma hatte gesehen, dass er das Essen auf seinem Teller nur hin und her geschoben hatte, aber vor den Kindern hatte sie sich nicht dazu geäußert.
Um Punkt sieben Uhr trug er seinen Teller zur Spüle und schickte die Kinder zum Spielen ins Wohnzimmer.
»Ihr wollt uns immer nur loswerden, wenn ihr etwas miteinander zu besprechen habt«, sagte Kit. »Aber immerhin muss ich dann nicht das Geschirr spülen. Ich geh in mein Zimmer.« Einen Augenblick später hörten sie ihn die Treppe hinauflaufen.
»Was …?«, begann Gemma, sobald sie die Küche für sich allein hatten, aber er fiel ihr gleich ins Wort.
»Es tut mir leid, Liebling, aber ich muss noch mal kurz weg.«
»Jetzt?« Sie sah besorgt aus. »Musst du noch mal arbeiten?«
»Ich weiß es nicht.« Das war zumindest die Wahrheit. »Ich habe heute Nachmittag eine Nachricht von einer unbekannten Nummer bekommen.« Er zog sein Handy aus der Tasche und hielt es ihr hin.
Gemma war aufgestanden und hatte begonnen, den Tisch abzuräumen, aber jetzt hielt sie inne und studierte den Text. »Das Duke? Du willst doch nicht ernsthaft dorthin gehen, oder?«
»Ich dachte, ich schau mal nach, was …«
»Du hast doch gar keine Ahnung, von wem das stammt.« Sie sah zu ihm hoch und wirkte noch besorgter. »Und wo zum Teufel ist überhaupt diese Roger Street?«
Er hatte tatsächlich »Wer sind Sie?« zurückgeschrieben, war aber nicht überrascht gewesen, als er keine Antwort erhielt. »In Holborn. Nicht weit vom Revier.«
»Also jemand aus der Arbeit.«
»Möglicherweise«, entgegnete er vorsichtig. Er wollte nicht über seinen Ausflug zu Scotland Yard sprechen oder darüber, dass er die Nachricht, nur wenige Minuten nachdem er von Denis Childs’ Büro weggegangen war, erhalten hatte. Hatte ihn irgendjemand dort gesehen?
»Warst du schon mal in diesem Pub?«, fragte Gemma, während sie den klappernden Tellerstapel in die Spüle stellte und nach einem Geschirrtuch langte.
»Bis heute habe ich noch nie davon gehört. Wir gehen meistens in die Pubs um die Lamb’s Conduit Street herum. Ins Lamb oder ins Rugby.«
»Es muss irgendjemand sein, der deine Nummer hat.«
Typisch Gemma. Sie ging immer alles ganz logisch an. »Das ist wahr. Wahrscheinlich will mir irgendein Kollege einen Streich spielen, aber das werde ich nie herausfinden, wenn ich nicht hingehe.« Er fand, dass seine Lässigkeit glaubhaft klang, aber Gemma warf ihm über die Schulter einen nachdenklichen Blick zu. Als er nach Hause gekommen war, hatte sie mit MacKenzie Williams draußen gesessen und Wein getrunken. Jetzt war ihre Haut ein wenig vom Alkohol gerötet, und außerdem hatte sie einen leichten rosafarbenen Sonnenbrand.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln, »würde ich glauben, du suchst bloß nach einer Ausrede, um am Samstagabend mit deinen Kumpels auf ein paar Bier zu gehen.«
Genau in diesem Augenblick schrie Toby im Wohnzimmer: »Stirb, du übler Abschaum!« Dann hörten sie ein Kreischen, und gleich darauf fing Charlotte an zu weinen.
Gemma verdrehte die Augen. »Ich will nicht gerade behaupten, dass ich es nicht verstehen könnte.« Sie reichte ihm das Geschirrtuch und verließ die Küche, um gleich darauf mit der tränenüberströmten und schniefenden Charlotte auf der Hüfte zurückzukehren. »Ich habe Toby auf sein Zimmer geschickt. Ich würde sagen, das ist für dich die Gelegenheit. Verschwinde, solange du noch kannst. Aber nimm die U-Bahn und nicht das Auto. Und ich möchte alle Einzelheiten hören, wenn du wieder zu Hause bist.«
Erlaubnis erteilt, dachte Kincaid, und er wusste nicht, ob er deswegen erleichtert oder besorgt sein sollte.
Die Bahn von Holland Park nach Holborn hatte sich verspätet, so dass er sich ganz schön ins Zeug legen musste, wenn er pünktlich bis um acht im Pub sein wollte. Und als er in die Theobald’s Road einbog, schien es ihm angesichts des rasch dunkler werdenden Himmels im Osten sogar noch später zu sein.
Auf Höhe des Polizeireviers hielt er kurz an, um die Umgebungskarte auf dem Handy zu studieren. Das Duke in der Roger Sreet war zwar nicht weit vom Revier entfernt, aber es lag ein paar Blocks in östlicher Richtung und war nicht ohne Weiteres zu erreichen. Und so blieb Kincaid nichts anderes übrig, als ein strammes Tempo vorzulegen, weswegen er ein bisschen außer Atem war, als er das Pub schließlich erreichte.
In den umliegenden Gebäuden gingen die Lichter an. In diesem Eck von Holborn dominierte der georgianische Baustil, aber die wie ein Schiffsbug hervorragende zweiseitige Fassade des Pubs gehörte zu einem Art-déco-Gebäude.
Kincaid stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Dieses Mehrfamilienhaus war wirklich ein verstecktes Juwel. Durch die stahlgerahmten Art-déco-Fenster des Pubs schien ein heimeliges Licht, doch trotz seines einladenden Äußeren standen vor dem Lokal nicht die für einen Samstagabend üblichen Menschentrauben, und Kincaid fragte sich, ob er sich vielleicht in der Adresse geirrt hatte. Vielleicht steckte wirklich irgendein Spaßvogel aus der Arbeit dahinter, der ihn ganz umsonst aus dem Haus gejagt hatte. Aus dem Haus …
O Gott. Gemma und die Kinder. Eine Welle von Panik stieg in ihm auf, und einen Moment lang sah er das Bild aus seinen Träumen vor sich: den zerstörten Schädel und das in den Teppich sickernde Blut. Er schluckte gegen die plötzliche Übelkeit an und ermahnte sich, nicht albern zu sein. Gemma und den Kindern ging es gut. Dann hob er die zitternde Hand an die Tür und stieß sie auf.
Zuerst sah er nur die Farbe Pink. Und zwar nicht irgendein Pink, sondern den leicht malvenfarbenen Ton, den man aus viktorianischen Salons kannte – oder auch aus viktorianischen Freudenhäusern. Die Wände sahen aus, als wären sie mit Unmengen von Pepto-Bismol gestrichen worden. Die unerwartete viktorianische Anmutung wurde noch von den Palmen verstärkt, die jede verfügbare Ecke ausfüllten. Sogar auf der Bar standen zwei dieser Topfpflanzen. Der Raum war sehr beengt, doch die Spiegel, die überall an den Wänden hingen, ließen ihn größer erscheinen. Alle Tische und Nischen waren besetzt, aber nur vor der geschwungenen Holztheke standen Gäste herum. Kincaid vermutete, dass das Pub ein wohlgehüteter Geheimtipp unter den Einheimischen war.
Vom Eingangsbereich aus musterte er die Gesichter der Anwesenden. Zuerst glaubte er, keinen von ihnen zu kennen, doch dann ging sein Blick zurück und blieb an dem Mann in der Nische hängen, die am weitesten entfernt von ihm war und unmittelbar neben dem Hinterausgang lag. Er hatte an Gewicht verloren, und seine früher so fahle Haut sah im Widerschein der pinken Wände ganz rosig aus. Doch Kincaid hätte die dunklen Haare und die leicht schräg gestellten pechschwarzen Augen überall wiedererkannt.
Denis Childs hob sein Glas und prostete ihm zu.
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