Kein Grund zur Trauer - - Deborah Crombie - E-Book
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Kein Grund zur Trauer - E-Book

Deborah Crombie

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Beschreibung

Ein Fall der Sonderklasse aus der Erfolgsserie mit Inspector Kincaid und Sergeant Gemma Jones: Der hochrangige Polizeibeamte Gilbert wird in seinem Haus erschlagen aufgefunden. Was zuerst wie die Tat eines Einbrechers aussieht und sich dann als Eifersuchtsdrama präsentiert, entwickelt sich zu einem der verzwicktesten und rätselhaftesten Fälle für die beiden Ermittler.

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Seitenzahl: 482

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Buch

Ein neuer Fall für Inspector Kincaid und Sergeant Gemma James. Der Tod von Alastair Gilbert, einem hochrangigen Polizeibeamten im Verwaltungsdienst, gibt Rätsel auf. Ist er tatsächlich von Einbrechern erschlagen worden, wie seine Frau Claire den Beamten einzureden versucht? Bald zählt sie selbst zum Kreis der Verdächtigen, war doch bereits Claires erster Mann Opfer eines Verbrechens geworden. Ein reiner Zufall? Ständig wächst der Kreis möglicher Täter, die dem unsympathischen Alastair aus beruflichen oder privaten Gründen nach dem Leben hätten trachten können. War es einer der Männer, mit denen Claire eine Affäre hatte? Als Kincaid und James schließlich ein Geständnis erhalten, hoffen sie, den Fall endlich zu den Akten legen zu können. Doch da sind sie im Irrtum …

Autorin

Deborah Crombies höchst erfolgreiche Romane um Superintendent Duncan Kincaid und Inspector Gemma James wurden für den »Agatha Award«, den »Macavity Award« und den »Edgar Award« nominiert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Norden von Texas. Weitere Informationen zur Autorin unter www.deborahcrombie.com.

Deborah Crombie

Kein Grund zur Trauer

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Mechtild Sandberg-Ciletti

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Mourn Not your Dead« bei Scribner, New York

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Deborah Crombie

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wilhelm Goldmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

ISBN 978-3-641-10853-3V006

www.goldmann-verlag.de

Für Diane, Dale, Jim, Vigni, John und Rickey, die wieder einmal ein Buch mit viel Geduld und Verständnis während des Entstehens gelesen haben. Dank an euch, meine Lieben.

Danksagung

Besonderen Dank schulde ich meinem Freund Paul Styles (ehemaliger Chief Inspector, Cambridgeshire Constabulary), der versuchte, mich nicht abschweifen zu lassen und nicht verantwortlich ist für mögliche Abweichungen vom normalen Gang polizeilicher Ermittlungen, die ich zugunsten des Fortgangs der Geschichte vorgenommen habe. Diane Sullivan, Royal Navy BSN, klärte mich als ausgebildete Luftwaffensanitäterin über Verletzungen und entsprechende Erste-Hilfe-Maßnahmen auf; Carol Chase korrigierte das Manuskript; David und Jill, Eigentümer der Bulmer Farm in Holmbury St. Mary, Surrey, unterstützten mich mit Landkarten, Informationen und herzlicher Gastfreundschaft während meiner Recherchen für dieses Buch.

Auch wenn es das Dorf Holmbury St. Mary und seine Kirche tatsächlich gibt, sind doch alle Personen, die in dieser Geschichte erscheinen, ausschließlich von der Autorin erfunden.

1

Der Raum schien zu schrumpfen, während er auf und ab ging. Die Wände rückten zusammen, die Winkel des Zimmers verzerrt durch die langen Schatten, die die Lampe auf seinem Schreibtisch warf. Im Yard war es abends immer ein wenig unheimlich, als besäße die Leere der Räume eine eigene Kraft. Er blieb vor dem Bücherregal stehen und strich mit dem Finger über die Rücken der abgegriffenen Bände auf dem obersten Bord. Archäologie, Kunst . . . Kanäle . . . kriminologische Nachschlagewerke . . . Viele von ihnen waren Geschenke seiner Mutter, die sich ständig bemühte, seinen, wie sie meinte, Mangel an Allgemeinbildung zu beheben. Er hatte zwar versucht, sie nach Sachgebieten zu ordnen, aber irgendwie gerieten immer ein paar Ausreißer in die falsche Abteilung. Kincaid schüttelte den Kopf – er wäre froh, könnte er sein Leben nur halb so gut ordnen wie seine Bücher.

Seit seiner Ankunft vor knapp einer Viertelstunde sah er jede Minute auf die Uhr. Jetzt setzte er sich an seinen Schreibtisch, um sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. Der Anruf, der ihn hierher geordert hatte, war dringend gewesen – ein hochrangiger Polizeibeamter war ermordet aufgefunden worden –, und wenn Gemma nicht bald kam, würde er ohne sie zum Tatort fahren müssen. Sie war nicht zur Arbeit gekommen, seit sie am Freitag abend seine Wohnung verlassen hatte. Zwar hatte sie im Yard angerufen und den Chief Superintendent um Urlaub gebeten, doch die Anrufe Kincaids, der während dieser fünf Tage immer verzweifelter versucht hatte, sie zu erreichen, waren unbeantwortet geblieben. Heute abend hatte Kincaid den diensthabenden Sergeant gebeten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, und sie hatte sich gemeldet.

Aber diese innere Unruhe ließ ihn wieder aufstehen, und er wollte gerade sein Jackett vom Garderobenständer nehmen, als er hörte, wie hinter ihm leise die Tür geschlossen wurde. Er drehte sich um. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und beobachtete ihn. Ein törichtes Lächeln flog über sein Gesicht.

»Gemma!«

»Hallo, Chef.«

»Ich habe immer wieder versucht, dich zu erreichen. Ich dachte schon, es wäre was passiert.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ein paar Tage bei meiner Schwester. Ich hab’ einfach Zeit gebraucht . . .«

»Wir müssen miteinander reden.« Er trat einen Schritt näher und blieb stehen. Sie sah erschöpft aus. Ihr blasses Gesicht wirkte beinahe durchsichtig im Kontrast zu dem kupferroten Haar, und die Haut unter den Augen hatte bläuliche Schatten. »Gemma . . .«

»Es gibt nichts zu sagen.« Ihre Schultern erschlafften, und sie lehnte sich an die Tür, als brauchte sie Halt. »Es war alles ein Riesenfehler.«

Er starrte sie fassungslos an, das eben gehörte raubte ihm einen Moment die Sprache. »Ein Fehler?« wiederholte er schließlich und wischte sich mit der Hand über den Mund, der plötzlich ganz trocken war. »Gemma, ich versteh’ nicht.«

»Es ist nie geschehen.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, mit flehentlicher Gebärde, und blieb plötzlich stehen, als hätte sie Angst vor seiner Nähe.

»Doch, es ist geschehen. Daran kannst du nichts ändern, und ich will es auch nicht ändern.« Er ging zu ihr. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. »Gemma, bitte, hör mir zu!« Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihren Kopf an seine Schulter legen und sich von ihm halten lassen. Dann spürte er, wie ihre Schultern sich unter seinen Händen spannten, und sie von ihm wegtrat.

»Schau uns doch an! Schau dir an, wo wir sind!« sagte sie und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Es geht nicht. Ich habe mich schon in eine unmögliche Lage gebracht.« Sie holte tief Atem und sagte, jedes Wort einzeln betonend: »Ich kann es mir nicht leisten. Ich muß an meine Karriere denken – und an Toby.«

Das Telefon läutete. Die zwei kurzen, rasch aufeinanderfolgenden Summtöne klangen laut in dem kleinen Zimmer. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und griff nach dem Hörer. »Kincaid«, sagte er kurz und lauschte einen Moment schweigend. »In Ordnung, danke.« Als er auflegte, sah er Gemma an. »Der Wagen wartet.« Sätze, von denen ihm einer nutzloser klang als der andere, bildeten sich in seinem Kopf und zerfielen wieder. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber zu sprechen – nicht hier, nicht jetzt –, er würde sie beide nur in Verlegenheit bringen.

Er wandte sich ab. Er schlüpfte in sein Jackett und nutzte den Moment, um seine Enttäuschung hinunterzuschlucken und seinem Gesicht einen neutralen Ausdruck zu geben. Dann drehte er sich nach ihr um. »Fertig, Sergeant?«

 

Vom Big Ben schlug es zehn, als der Wagen in südlicher Richtung über die Westminster Brücke brauste. Kincaid, der hinten neben Gemma saß, betrachtete den Widerschein der Lichter auf der Themse. Sie sprachen nichts, während der Wagen sich durch die Straßen des Londoner Südens schlängelte, in Richtung Surrey. Selbst der Fahrer, ein im allgemeinen redseliger Constable namens Williams, schien von ihrer Stimmung angesteckt und saß in schweigender Konzentration hinter dem Lenkrad.

Sie hatten Clapham hinter sich gelassen, als Gemma das Schweigen brach. »Wie wär’s, wenn Sie mir kurz sagen, worum es geht, Chef.«

Kincaid sah das Aufblitzen in Williams’ Augen, als dieser im Rückspiegel überrascht nach hinten blickte. Gemma hätte natürlich informiert sein müssen. Er gab sich einen Ruck und antwortete ihr so sachlich wie möglich. Klatsch unter den Mitarbeitern würde ihnen beiden nicht guttun.

»Es ist ein kleines Dorf in der Nähe von Guildford. Wie heißt es gleich wieder, Williams?«

»Holmbury St. Mary, Sir.«

»Richtig. Alastair Gilbert, der Division Commander der Dienststelle Notting Dale, wurde mit eingeschlagenem Schädel in seiner Küche gefunden.«

Er hörte, wie Gemma nach Luft schnappte, dann sagte sie mit dem ersten Funken von Interesse, den er an diesem Abend bei ihr wahrnahm: »Commander Gilbert? Du meine Güte. Gibt es schon Hinweise?«

»Nicht, daß ich wüßte, aber es ist ja noch früh«, antwortete Kincaid, sich ihr zuwendend.

Sie schüttelte den Kopf. »Na, das wird einigen Wirbel geben. Und ausgerechnet uns Glückspilzen mußte die Sache in den Schoß fallen!« Als Kincaid mit einem kurzen trockenen Lachen antwortete, sah sie ihn an und sagte: »Sie müssen ihn gekannt haben.«

Achselzuckend erwiderte er: »Wer hat ihn nicht gekannt.« Er wollte vor Williams nicht mehr sagen.

Gemma lehnte sich wieder in ihren Sitz zurück. Nach einer kleinen Pause bemerkte sie: »Die Kollegen vor Ort sind natürlich längst da. Hoffentlich haben sie den Leichnam in Ruhe gelassen.«

Kincaid lächelte im Dunkeln vor sich hin. Gemmas besitzergreifendes Zupacken, wenn es um die armen Opfer eines Mordes ging, amüsierte ihn immer wieder. Es war, als wollte sie sagen, he, die Leiche gehört mir, laßt ja die Finger davon. Er war erleichtert, daß sich an diesem Muster nichts geändert hatte; das bedeutete, daß sie schon in den neuen Fall eingestiegen war, und ließ hoffen, daß wenigstens ihre Arbeitsbeziehung nicht gefährdet war.

»Sie haben versprochen, alles so zu lassen, wie sie es vorgefunden haben, damit wir uns selbst ein Bild machen können.«

Gemma nickte befriedigt. »Gut. Wissen wir, wer ihn gefunden hat?«

»Die Frau und die Tochter.«

»Ach Gott.« Sie krauste die Nase. »Wie scheußlich.«

»Na, wenigstens wird schon eine Kollegin da sein, die ihnen das Händchen hält«, meinte Kincaid. »Da brauchen Sie nicht ran.« Es war ein halbherziger Versuch, sie ein wenig zu necken. Gemma beschwerte sich häufig darüber, daß einem als Frau bei der Polizei nicht mehr zugetraut werde, als den Familien der Opfer schlechte Nachrichten zu überbringen und seelischen Beistand zu leisten.

»Das will ich hoffen«, antwortete sie und wandte sich ab, um zum Fenster hinauszusehen: Doch er glaubte, ein Lächeln auf ihrem Gesicht bemerkt zu haben.

Eine halbe Stunde später bogen sie in Abinger Hammer von der Landstraße ab und folgten einer schmalen, zwischen Hecken eingebetteten Straße durch zahllose Kurven in das verschlafene Dorf Holmbury St. Mary. Williams hielt am Straßenrand, schaltete die Innenbeleuchtung ein und warf einen Blick auf einen zerknitterten Zettel mit Anweisungen. »Da, wo die Straße einen Knick nach links macht, fahren wir geradeaus weiter, rechts am Pub vorbei«, murmelte er und legte den Gang wieder ein.

»Dort«, sagte Kincaid, der mit dem Ärmel die beschlagene Scheibe abwischte. »Das muß es sein.«

Gemma, die auf ihrer Seite zum Fenster hinausblickte, sagte: »Schauen Sie mal! So ein Schild habe ich noch nie gesehen.« Er hörte das Vergnügen in ihrer Stimme.

Kincaid spähte an ihr vorbei und sah gerade noch das leicht im Wind schwankende Schild des Gasthauses, das ein liebendes Paar vor einem lächelnden Mond zeigte. Dann spürte er Gemmas Atem an seiner Wange, nahm den feinen Pfirsichduft wahr, der sie immer zu umgeben schien, und lehnte sich hastig wieder zurück.

Hinter dem Pub wurde die Straße nach schmäler. Blaue Blinklichter der Polizeifahrzeuge erhellten die Nacht mit gespenstischem Schein. Williams hielt den Wagen mehrere Meter hinter dem letzten Fahrzeug an, dicht an der rechten Hecke, wohl um dem Leichenwagen, wenn er kam, genug Raum zu lassen, vermutete Kincaid. Sie stiegen aus, vertraten sich kurz die Füße und hüllten sich, in der kalten Novemberluft fröstelnd, fest in ihre Mäntel. Dunstschwaden hingen in der beinahe windstillen Luft, und bei jedem ihrer Atemzüge bildeten sich kleine Wölkchen vor ihren Gesichtern.

Ein Constable trat ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Kincaid stellte sich und die anderen vor und blickte durch das Tor, aus dem der Beamte herausgetreten war, auf das Haus.

»Chief Inspector Deveney erwartet Sie in der Küche, Sir«, sagte der Constable. Das Tor bewegte sich lautlos, als er es öffnete und sie hindurchführte. »Gleich hier ist ein Weg, der hinten rum führt. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon dabei, Lampen aufzustellen.«

»Keine Spuren gewaltsamen Eindringens?« »Nein, Sir, überhaupt keine Spuren, soweit wir bis jetzt sehen konnten. Wir sind extra auf den Steinen geblieben.«

Kincaid nickte beifällig. Als seine Augen sich an die Düsternis innerhalb der Gartenmauer gewöhnt hatten, konnte er erkennen, daß das Haus ein großer, behäbiger Tudorbau war. Roter Backstein, dachte er, die Augen zusammenkneifend, und darüber schwarz-weißes Fachwerk. Sicher nicht echt – eher eine viktorianische Nachahmung, Hinterlassenschaft der ersten Abwanderung reicher Londoner in die Stadtrandbezirke. Schwaches Licht schimmerte durch die Bleiglasscheiben in der Haustür und durch die oberen Fenster.

Vorsichtig kniete er nieder und berührte das Gras. Der Rasen, der sie vom Haus trennte, fühlte sich so weich und dicht an wie Samt. Alastair Gilbert schien gut gelebt zu haben.

Der mit Platten belegte Weg, auf den der Constable hingewiesen hatte, führte sie rechts am Haus entlang, dann um die Ecke nach hinten, wo ihnen aus einer offenen Tür Licht entgegenfiel. Dahinter meinte Kincaid die dunklen Umrisse eines Wintergartens erkennen zu können.

Eine silhouettenhafte Gestalt verdunkelte das Licht, stieg die Treppe hinunter und kam ihnen entgegen. »Superintendent?« Der Mann bot Kincaid die Hand. »Ich bin Nick Deveney.« Er war etwa gleich groß wie Kincaid und etwa im selben Alter. »Sie kommen genau richtig, um noch mit der Pathologin zu sprechen«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln und trat zur Seite, um Kincaid, Gemma und dem immer noch ungewöhnlich schweigsamen Williams den Vortritt ins Haus zu lassen.

Kincaid durchquerte einen kleinen Vorraum, ordentlich aufgereihte Gummistiefel auf dem Boden, Regenmäntel an Garderobenhaken, und trat dann in die Küche. Er blieb stehen. Hinter ihm staute sich die Gruppe der anderen.

Die Küche war weiß. Weißer Fliesenboden, weiße Kachelwände mit Küchenschränken aus hellem Holz. Er erinnerte sich, solche Schränke gesehen zu haben, als er die Renovierung seiner eigenen Küche geplant hatte – sie waren freistehend, wurden von einer kleinen englischen Firma hergestellt und waren sehr teuer. Flüchtig schoß ihm das durch den Kopf, während er zu Alastair Gilbert hinunterblickte, der bäuchlings auf der anderen Seite des Raums in der Nähe einer Tür lag.

Zu Lebzeiten war Gilbert ein kleiner, adretter Mann gewesen, stets tadellos gekleidet, das Haar perfekt geschnitten und frisiert, die Schuhe auf Hochglanz poliert. Nichts an ihm war jetzt adrett. Der metallische Geruch von Blut zog in Kincaids Nase. Blut verklebte Gilberts dunkles Haar. Blut bedeckte in Spritzern, verschmierten Flecken, dünnen Rinnsalen den schneeweißen Küchenboden.

Hinter sich hörte Kincaid plötzlich einen Laut, der beinahe wie ein Wimmern klang. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie Williams mit kreideweißem Gesicht zur Tür hinausstürzte . Er warf Gemma mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu, sie nickte kurz und folgte Williams hinaus.

Neben der Leiche kniete eine Frau. Ihr Gesicht war hinter dem glatten, schwarzen Haar, das ihr bis auf die Schulter herabfiel, nicht zu sehen. Sie hatte nicht aufgeblickt, in ihrer Arbeit nicht innegehalten, als Kincaid und die anderen hereingekommen waren, jetzt aber richtete sie sich auf und sah Kincaid an. Er trat näher und kauerte nieder.

»Kate Ling«, sagte sie und hielt ihre Hände in den Gummihandschuhen hoch. »Sie entschuldigen, wenn ich Ihnen keine Hand gebe.«

Kincaid glaubte einen Anflug von Humor in ihrem ovalen Gesicht zu entdecken. »Aber natürlich.«

Gemma kam wieder herein und ging neben ihm in die Knie. »Es geht ihm schon wieder besser«, sagte sie leise. »Ich habe ihn zum Constable geschickt und ihm gesagt, er soll sich eine Tasse Tee geben lassen.«

»Viel kann ich Ihnen nicht sagen«, bemerkte Dr. Ling, während sie ihre Handschuhe abstreifte. »Das Blut gerinnt nicht, wie Sie sehen.« Sie wies mit dem zusammengefallenen Finger eines leeren Gummihandschuhs auf den Leichnam. »Wahrscheinlich hat er ein gerinnungshemmendes Mittel genommen. Nach der Körpertemperatur zu urteilen, würde ich sagen, daß er vier bis fünf Stunden tot ist. Aber sehen Sie sich das hier an«, fügte sie hinzu und wies auf den Kopf des Toten. »Ich glaube, die Waffe hat mehrere halbmondförmige Einkerbungen hinterlassen. Mehr kann ich dazu allerdings erst sagen, wenn ich ihn genauer untersuchen kann.«

Bei näherem Hinsehen meinte Kincaid Knochensplitter im blutverklebten Haar zu sehen, aber von halbmondförmigen Einkerbungen konnte er nichts erkennen. »Ich glaub’s Ihnen auch so, Doktor. Gibt es Anzeichen dafür, daß er sich gewehrt hat?«

»Bisher habe ich keine gefunden. Ist es Ihnen recht, wenn ich ihn jetzt wegbringen lasse? Je früher ich ihn auf den Tisch bekomme, desto schneller wissen wir Bescheid.«

»Ganz wie Sie meinen, Doktor.« Kincaid stand auf.

»Dem Fotografen und der Spurensicherung wär’s recht, wenn die Lebenden das Lokal ebenfalls räumen würden, damit sie sich an die Arbeit machen können«, sagte Deveney.

»Natürlich.« Kincaid drehte sich nach ihm um. »Vielleicht sagen Sie mir kurz, was Sie bisher festgestellt haben. Danach würde ich gern die Familie sprechen.«

»Claire Gilbert und ihre Tochter sind gegen halb acht nach Hause gekommen. Sie waren mehrere Stunden weg, Einkäufe machen in Guildford. Mrs. Gilbert hat den Wagen wie gewöhnlich in die Garage gestellt, und als die beiden hinten durch den Garten zum Haus gingen, sahen sie, daß die Hintertür offen stand. Als sie in die Küche kamen, fanden sie dort den Commander.« Deveney wies mit dem Kopf auf den Toten. »Als Mrs. Gilbert keinen Puls feststellen konnte, hat sie uns angerufen.«

»Kurz und präzise«, sagte Kincaid, und Deveney lächelte. »Und was denken Sie? War es die Ehefrau?«

»Es gibt keine Hinweise auf eine gewalttätige Auseinandersetzung  – im Haus ist alles heil, und die Frau hat keinerlei Verletzungen. Außerdem sagt die Tochter, daß sie einkaufen waren. Aber warten Sie, bis Sie sie kennenlernen.« Deveney machte eine kleine Pause. »Ich habe sie gebeten, im Haus nachzusehen, ob alles da ist, und sie sagt, ihr würden ein paar Schmuckstücke fehlen. Hier in der Gegend sind in letzter Zeit einige kleine Diebstähle vorgekommen.«

»Gibt es Verdächtige?«

Deveney schüttelte den Kopf.

»Na gut. Wo sind die Gilberts?«

»Im Wohnzimmer. Mit einem meiner Constables. Ich führe Sie hin.«

An der Tür blieb Kincaid stehen, um einen letzten Blick auf den Toten zu werfen, und dachte an Alastair Gilbert, wie er ihn zuletzt gesehen hatte – hinter einem Rednerpult stehend, die für gute Polizeiarbeit unerläßlichen Tugenden Ordnung, Disziplin und logisches Denken preisend. Ganz unerwartet regte sich Mitleid in ihm.

2

Tiefrote Wände und zurückhaltende Eleganz, das war Kincaids erster flüchtiger Eindruck, als er das Zimmer betrat. Im offenen Kamin brannte ein Feuer. In einem Lehnsessel auf der anderen Seite des Raums saß ein Constable in Zivil mit einer Tasse Tee auf dem Knie. Er schien sich wie zu Hause zu fühlen. Aus dem Augenwinkel nahm Kincaid Gemmas verwunderten Blick angesichts dieser männlichen Stütze wahr, dann zogen die beiden Frauen, die nebeneinander auf dem Sofa saßen, seine Aufmerksamkeit auf sich.

Mutter und Tochter – die Mutter blond, zierlich, mit feingeschnittenem Gesicht; die Tochter eine dunklere Version mit langem Haar, das ein herzförmiges Gesicht umrahmte. Ihr Mund über dem spitz zulaufenden Kinn wirkte übergroß, als wäre er im Wachstum voraus. Wieso hatte er sich Gilberts Tochter als Kind vorgestellt? Gilbert war, auch wenn seine Frau wesentlich jünger zu sein schien, Mitte Fünfzig gewesen, da hätte man ihm doch eine erwachsene oder beinahe erwachsene Tochter zutrauen können.

Die beiden Frauen blickten ihm fragend entgegen. Ihre Gesichter wirkten ruhig und gefaßt. Der scheinbaren Idylle am häuslichen Herd widersprach allerdings der Zustand von Claire Gilberts Kleidung. Der weiße Rollkragenpullover hatte vorn einen großen Blutfleck, und auch die Knie ihrer marineblauen Hose hatten dunklere Stellen.

Der Constable hatte seine Tasse weggestellt und war durch das Zimmer gegangen, um halblaut ein paar Worte mit seinem Chef zu wechseln. Deveney nickte ihm zu, als er jetzt das Zimmer verließ, und wandte sich dann den beiden Frauen wieder zu. Er räusperte sich. »Mrs. Gilbert, das sind Superintendent Kincaid und Sergeant James von Scotland Yard. Sie werden uns bei unseren Ermittlungen unterstützen und würden Ihnen jetzt gern einige Fragen stellen.«

»Natürlich.« Ihre Stimme war leise und klang ein wenig heiser – rauher als Kincaid bei einer Frau ihrer zierlichen Statur erwartet hätte –, aber sehr beherrscht. Doch als Claire Gilbert sich vorbeugte, um ihre Tasse auf den niedrigen Couchtisch zu stellen, zitterte ihre Hand sichtlich.

Kincaid und Gemma setzten sich in die beiden Sessel gegenüber der Couch, und Deveney zog sich den Lehnstuhl heran, den der Constable freigemacht hatte, und ließ sich neben Gemma nieder.

»Ich habe Ihren Mann gekannt, Mrs. Gilbert«, sagte Kincaid. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«

»Danke«, erwiderte sie ruhig und fügte dann hinzu: »Möchten Sie eine Tasse Tee?« Auf dem Couchtisch vor ihr stand ein Tablett mit einer Teekanne und mehreren zusätzlichen Tassen. Als Kincaid und Gemma beide bejahten, beugte sie sich vor und goß ein wenig aus der Kanne in ihre eigene Tasse. Dann lehnte sie sich wieder zurück und sah sich zerstreut um. »Wie spät ist es eigentlich?« fragte sie, aber die Frage schien an niemanden im besonderen gerichtet zu sein.

»Lassen Sie mich das machen«, meinte Gemma, als Claire Gilbert keine weiteren Anstalten machte, ihnen Tee einzuschenken. Sie füllte zwei Tassen mit Milch und dem starken Tee und warf dann Deveney einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf.

Kincaid nahm die Tasse, die Gemma ihm reichte, und sagte: »Es ist sehr spät, Mrs. Gilbert, aber ich würde gern ein, zwei Punkte mit Ihnen durchsprechen, solange Sie sie noch klar im Gedächtnis haben.«

Die Uhr auf dem Kaminsims begann Mitternacht zu schlagen. Claire starrte sie stirnrunzelnd an. »So spät ist es schon? Das wußte ich gar nicht.«

Die Tochter hatte bis dahin so still dagesessen, daß Kincaid ihre Anwesenheit beinahe vergessen hatte; jetzt aber bewegte sie sich unruhig und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Stoff ihrer Kleidung rieb sich raschelnd auf dem rot-weiß gestreiften Chintzbezug des Sofas, als sie sich ihrer Mutter zuwandte und ihr Knie berührte. »Mami, bitte, du mußt dich endlich ausruhen«, sagte sie, und dem inständigen Ton ihrer Stimme entnahm Kincaid, daß sie es nicht zum erstenmal sagte. »Du kannst nicht so weitermachen.« Sie sah Kincaid an und fügte hinzu: »Sagen Sie es ihr, Superintendent. Auf Sie hört sie vielleicht eher.«

Kincaid musterte sie. Zu einem voluminösen Pullover trug sie einen engen schwarzen Minirock. Sie hatte etwas Unfertiges an sich, das Kincaid veranlaßte, seine erste Schätzung ihres Alters zu revidieren. Sie war sicher noch keine Zwanzig, ging wahrscheinlich noch zur Schule. Ihr Gesicht war blaß und angespannt, und noch während Kincaid sie betrachtete, rieb sie mit dem Handrücken über ihre Lippen, als wollte sie sie am Zittern hindern.

»Sie haben völlig recht . . .«, begann er und hielt inne, als ihm bewußt wurde, daß er ihren Namen nicht wußte.

Sie gab ihm sofort Auskunft. »Ich bin Lucy. Lucy Penmaric. Können Sie nicht . . .« Von irgendwoher war gedämpftes Bellen zu hören, und Lucy brach mitten im Wort ab. »Das ist Lewis«, erklärte sie. »Wir mußten ihn in Alastairs Arbeitszimmer einsperren, sonst wäre er – na ja, er wäre allen in die Quere gekommen.«

»Ja, natürlich«, antwortete Kincaid zerstreut, während er im stillen vermerkte, was er soeben gehört hatte. Ihr Nachname war nicht Gilbert, und sie sprach von dem Toten als »Alastair«. Also keine leibliche Tochter, sondern eine Stieftochter. Er dachte an den Mann, den er gekannt hatte, und wurde sich bewußt, daß er sich Gilbert beim besten Willen nicht locker und entspannt mit einem großen Hund (der Stimme nach war es einer) zu seinen Füßen vorstellen konnte. Und auch dieses Zimmer mit den schweren Samtstoffen und dem dicken Perserteppich schien kaum für einen Hund geeignet. »Ich hätte Commander Gilbert gar nicht für einen Hundeliebhaber gehalten« , bemerkte er. »Es überrascht mich, daß er einen Hund im Haus geduldet hat.«

»Er hat verlangt . . .«

»Alastair war es immer lieber, wenn der Hund draußen im Zwinger war«, unterbrach Claire Gilbert, und Lucy senkte den Blick. Zugleich erlosch der Funke, der ihrem Gesicht flüchtige Lebendigkeit verliehen hatte, als sie von dem Hund gesprochen hatte. »Aber unter den Umständen . . .« Claire lächelte entschuldigend, und wieder streifte ihr Blick ziellos durch den Raum. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Danke, Mrs. Gilbert, wir haben uns schon bedient«, antwortete Kincaid. Lucy hatte recht; ihre Mutter brauchte dringend Ruhe. Ihre Augen wirkten glasig, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch, und ihre Aufmerksamkeit schien ständig zu wandern. Aber obwohl er wußte, daß er sie schonen sollte, wollte er ihr noch einige wenige Fragen stellen, ehe er sie entließ. »Mrs. Gilbert«, sagte er, »ich weiß, wie schwierig die Situation für Sie ist, aber wenn Sie uns kurz berichten könnten, was genau heute abend geschehen ist, brauchen wir Sie nicht weiter zu belästigen.«

»Lucy und ich sind zum Einkaufen nach Guildford gefahren. Sie bereitet sich auf ihren Abschluß vor, wissen Sie, und sie brauchte ein Buch von Waterstones – das ist die Buchhandlung im Einkaufszentrum. Wir haben ein bißchen in den Läden herumgestöbert und sind dann die High Street hinauf zum Sainsbury’s gegangen.« Claire hielt inne, als Lucy neben ihr eine Bewegung machte, dann sah sie Deveney an und runzelte die Stirn. »Wo ist Darling?«

Gemma und Kincaid tauschten einen Blick, und Kincaid zog fragend eine Augenbraue hoch. Deveney neigte sich zu ihm hinüber und flüsterte: »Sie meint den Constable, der eben hier war. Er heißt Darling.« Sich Claire zuwendend sagte er: »Er ist noch hier, Mrs. Gilbert. Er hilft nur im Augenblick den Kollegen draußen.«

Tränen schossen Claire in die Augen und rannen ihr Gesicht hinunter, aber sie wischte sie nicht weg.

»Was haben Sie getan, nachdem Sie Ihre Einkäufe erledigt hatten, Mrs. Gilbert?« fragte Kincaid nach einer kurzen Pause.

Mit einiger Anstrengung konzentrierte sie sich. »Danach? Wir sind nach Hause gefahren.«

Kincaid sah die stille kleine Straße vor sich, in der sie ihren Wagen stehen gelassen hatten. »Hat jemand Sie gesehen? Ein Nachbar vielleicht?«

Claire schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«

Während dieses Austauschs hatte Gemma ruhig ihr Heft und ihren Kugelschreiber aus ihrer Handtasche genommen. Jetzt sagte sie leise: »Um welche Zeit war das, Mrs. Gilbert?«

»Halb acht. Vielleicht auch später. Ich kann es nicht genau sagen.« Sie blickte wie hilfesuchend von Gemma zu Kincaid und sprach dann in etwas festerem Ton. »Wir haben meinen Mann nicht zu Hause erwartet. Er hatte eine Besprechung. Lucy und ich hatten bei Sainsbury’s Nudeln und Fertigsoße gekauft. Ein schnelles Essen, nur für uns beide.«

»Darum waren wir so überrascht, als wir sein Auto in der Garage stehen sahen«, fügte Lucy hinzu, als ihre Mutter nicht weitersprach.

»Was haben Sie dann getan?« fragte Kincaid.

Nach einem raschen Blick zu ihrer Mutter übernahm Lucy den Bericht. »Wir haben Mutters Auto in die Garage gestellt. Als wir dann um die Garagenecke in den Garten kamen, haben wir gesehen, daß die Tür offen . . .«

»Wo war der Hund?« fragte Kincaid. »Wie heißt er gleich – Lewis?«

Lucy starrte ihn an, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden, dann sagte sie: »Er war in seinem Zwinger, hinten im Garten.«

»Was für ein Hund ist Lewis?«

»Ein Labrador. Ein ganz süßer Hund.« Lucy lächelte zum erstenmal, und er hörte den Besitzerstolz in ihrer Stimme.

»Hat er irgendwie aufgeregt gewirkt? Oder verstört?«

Mutter und Tochter tauschten einen Blick. Dann antwortete Lucy. »Als wir kamen, nicht. Erst später, als die Polizei gekommen ist. Da hat er so getobt, daß wir ihn ins Haus holen mußten.«

Kincaid stellte seine leere Tasse auf den Tisch, und Claire Gilbert zuckte ein wenig zusammen beim Klirren des Porzellans. »Gehen wir noch einmal zu der Stelle zurück, als Sie die offene Tür gesehen haben.«

Das Schweigen zog sich in die Länge. Lucy rückte etwas näher an ihre Mutter heran.

Im Kamin brach ein Scheit. Eine Funkenfontäne sprühte auf und fiel in sich zusammen. Kincaid wartete noch einen Moment, dann sagte er: »Bitte, Mrs. Gilbert, versuchen Sie, uns möglichst genau zu schildern, was dann geschah. Ich weiß, daß Sie das alles schon einmal mit Chief Inspector Deveney durchgegangen sind, aber vielleicht fällt Ihnen noch irgendeine Kleinigkeit ein, die uns weiterhelfen kann.«

Claire Gilbert nahm die Hand ihrer Tochter und hielt sie fest in der ihren, aber Kincaid konnte nicht erkennen, ob sie Beistand leistete oder Trost suchte. »Sie haben es ja selbst gesehen. Es war alles voller Blut – überall. Ich konnte es riechen.« Sie holte tief Atem, ehe sie weitersprach. »Ich wollte ihn hochheben. Dann fiel mir ein . . . ich habe vor Jahren mal einen Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht. Als ich keinen Puls finden konnte, habe ich den Notruf angerufen.«

»Ist Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie ins Haus kamen?« fragte Gemma. »Vielleicht in der Küche – etwas, das nicht so war, wie es hätte sein sollen?«

Claire Gilbert schüttelte den Kopf. Die Linien der Erschöpfung um ihren Mund schienen sich zu vertiefen.

»Aber wie ich gehört habe«, sagte Kincaid, »haben Sie den Kollegen gesagt, daß einige Dinge aus dem Haus fehlen.«

»Ja, meine Perlen. Und die Ohrringe, die mein Mann mir zum Geburtstag geschenkt hat . . . er hatte sie extra anfertigen lassen.« Claire Gilbert ließ sich zurücksinken und schloß die Augen.

»Dann waren sie sicher sehr wertvoll«, bemerkte Gemma.

Als Claire Gilbert nicht reagierte, warf Lucy ihr einen kurzen Blick zu und sagte dann: »Ja, wahrscheinlich. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie entzog ihrer Mutter ihre Hand und hob sie mit bittender Gebärde. »Bitte, Superintendent«, sagte sie, und draußen begann wieder der Hund, der sie wohl gehört hatte, zu bellen und an der Tür zu kratzen.

»Sag ihm, er soll ruhig sein, Lucy«, sagte Claire Gilbert, doch ihr Ton klang teilnahmslos, und sie öffnete nicht einmal die Augen.

Lucy sprang auf, aber da beruhigte sich der Hund schon, und das Bellen ging in klägliches Winseln über, das nach einem Moment versiegte. Lucy setzte sich wieder, ihren Blick flehend auf Kincaid gerichtet.

»Nur noch eines, Lucy, ich verspreche es«, sagte er gedämpft. Dann wandte er sich Claire Gilbert zu. »Mrs. Gilbert, haben Sie eine Ahnung, warum Ihr Mann vorzeitig nach Hause gekommen ist?«

Claire Gilbert drückte eine Hand an ihren Hals. »Nein. Tut mir leid.«

»Wissen Sie, mit wem er verabredet . . .«

»Bitte!« Lucy stand auf. Sie fröstelte, ihre Zähne schlugen aufeinander. Mit beiden Armen ihren Oberkörper umschlingend, sagte sie: »Sie hat es doch schon gesagt. Sie weiß es nicht.«

»Laß nur, Schatz.« Claire Gilbert riß sich aus ihrer Lethargie und richtete sich mit einer sichtlichen Anstrengung auf. »Es stimmt schon, was Lucy sagt, Superintendent. Es ist nicht – es war nicht die Gewohnheit meines Mannes, über Dienstliches mit mir zu sprechen. Er hat mir nicht gesagt, mit wem er verabredet war.« Sie stand auf. Einen Moment schwankte sie, und Lucy legte ihr hastig den Arm um die Schultern, um sie zu stützen.

»Bitte, Mami, laß das doch jetzt«, sagte sie und sah wieder Kincaid an. »Kann ich sie jetzt nicht nach oben bringen?« Auf Kincaid wirkte sie wie ein Kind, das tapfer versucht, die Rolle eines Erwachsenen zu übernehmen.

»Gibt es denn niemanden, den Sie holen können?« fragte Gemma, die ebenfalls aufgestanden war. »Eine Nachbarin oder Verwandte?«

»Wir brauchen niemanden. Wir werden schon allein fertig«, antwortete Lucy ein wenig brüsk. Dann schien ihre Tapferkeit sie zu verlassen, und sie fragte zaghaft: »Was wird jetzt – ich meine, mit dem Haus und so? Was passiert, wenn . . .«

Deveney antwortete ihr in beruhigendem Ton, aber ohne Herablassung: »Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Miss Penmaric. Ich bin sicher, daß die Person, die das getan hat, nicht zurückkommen wird. Und wir lassen die Nacht über jemanden hier, entweder in der Küche oder vor dem Haus.« Er hielt einen Moment inne, und sie hörten wieder das Winseln des Hundes. »Nehmen Sie doch den Hund einfach mit zu sich hinauf, wenn Sie sich dann wohler fühlen«, meinte er lächelnd.

Lucy überlegte mit ernstem Gesicht. »Ja, das würde ihm gefallen.«

»Wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gibt . . .« Claire Gilbert konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, dennoch schaffte sie es, die Form zu wahren.

»Nein, das ist alles für heute abend, Mrs. Gilbert. Ich danke Ihnen beiden für Ihre Geduld«, sagte Kincaid und blieb schweigend neben Gemma und Deveney stehen, als Mutter und Tochter aus dem Zimmer gingen.

Als die Tür sich geschlossen hatte, schüttelte Nick Deveney den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich weiß nicht, ob ich unter solchen Umständen so tapfer durchgehalten hätte. Ein Glück für die beiden, daß sie einander haben, nicht wahr?« In der Küche war die Spurensicherung noch mitten in der Arbeit, doch war Alastair Gilberts Leichnam inzwischen fortgebracht worden. Das getrocknete Blut bedeckte in Streifen und Wirbeln den Boden; es sah aus wie Malübungen eines Kindes mit Fingerfarben. Deveney entschuldigte sich bei Kincaid und Gemma, die an der Tür stehengeblieben waren, und ging davon, um mit einem der Beamten zu sprechen.

Kincaid spürte, wie die Spannung, die ihn die letzten Stunden aufrechtgehalten hatte, nachließ. Als er den Kopf nach Gemma drehte, bemerkte er, daß sie ihn aufmerksam musterte. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht, sonst kaum wahrnehmbar auf ihrer hellen Haut, hoben sich in scharfem Kontrast von der Blässe ihres Teints ab. Er fühlte plötzlich ihre Erschöpfung als wäre es seine eigene, und das vertraute, intime Bewußtsein ihrer Nähe durchzuckte ihn wie ein Schlag. Als er die Hand hob, um ihre Schulter zu berühren, begann sie zu sprechen, und sie erstarrten beide. Sie hatten ihre Unbefangenheit verloren, die ganze selbstverständliche Kameradschaftlichkeit, die sie so sorgfältig aufgebaut und gepflegt hatten, war dahin, und es schien ihm, als könnte sie selbst seine kleine Geste des Trosts mißverstehen. Verlegen senkte er die Hand und schob sie in die Hosentasche wie um sie der Versuchung zu entziehen.

Als Deveney zu ihnen zurückkehrte, entschuldigte sich Gemma abrupt und ging durch die Tür zum Vorraum hinaus, ohne ihn noch einmal anzusehen.

»Dr. Ling hat versprochen, die Obduktion für den frühen Morgen anzusetzen.« Deveney lehnte sich erschöpft an den Türpfosten und sah geistesabwesend zu, wie einer der Männer von der Spurensicherung Blutproben vom Küchenboden schabte. »Den Herren oben kann’s natürlich nicht schnell genug gehen. Ich lasse meine Leute gleich morgen in aller Frühe von Haus zu Haus traben . . .« Er brach ab. Zum erstenmal spiegelte sich etwas wie mißtrauische Vorsicht in seinem Gesicht, als er Kincaid ansah. »Das heißt natürlich, wenn Ihnen das recht ist.«

Die Verteilung der Zuständigkeiten konnte heikel sein, wenn das Yard zur Zusammenarbeit mit einer unabhängigen örtlichen Polizeibehörde zugezogen wurde. Strenggenommen war Kincaid hier der ranghöhere Beamte, doch er hatte nicht das geringste Verlangen, sich Nick Deveney zum Feind zu machen, zumal dieser ein intelligenter und fähiger Mann zu sein schien. Er nickte deshalb zustimmend auf Deveneys letzte Bemerkung. »Natürlich. Vielleicht hat ja jemand den Täter beobachtet.«

»Ja, und vielleicht entdecken wir bei Tageslicht, daß er im ganzen Garten fünf Zentimeter tiefe Fußabdrücke hinterlassen hat«, meinte Deveney grinsend.

Kincaid lachte kurz. »Und dazu einen ganzen Satz prächtiger Fingerabdrücke auf dem Türknauf. Glück müßte man haben! Wie früh ist übrigens ›in aller Frühe‹?« fragte er gähnend und rieb mit der Hand über sein stoppeliges Kinn.

»Sieben, würde ich sagen. Kate Ling scheint keinen Schlaf zu brauchen. Sie lebt von Kaffee und Formaldehyddämpfen«, sagte Deveney. »Aber sie ist gut, und wir haben Glück, daß sie die Sache übernommen hat.«

Als Gemma sich wieder zu ihnen gesellte, schloß Deveney sie mit einem Lächeln in das Gespräch ein. »Schicken Sie doch Ihren Fahrer mit dem Wagen nach London zurück. Ich habe für Sie hier im Pub Zimmer reserviert – Sie haben doch mit einem längeren Aufenthalt gerechnet?« Als beide nickten, fuhr er fort: »Gut. Wir schicken Ihnen morgen jemanden, der Sie in die Pathologie in Guildford bringt. Und dann . . .« Er brach ab, als an der Tür zum Vorraum ein Beamter erschien und ihm winkte. Mit einem Seufzer stieß er sich vom Türpfosten ab. »Bin gleich wieder da.«

»Ich kümmere mich um Williams«, sagte Gemma hastig und ließ Kincaid stehen. Einen Moment lang sah er den Leuten von der Spurensicherung zu, dann ging er vorsichtig um ihr Arbeitsgebiet herum zum Kühlschrank, öffnete ihn und inspizierte seinen Inhalt. Milch, Saft, Eier, Butter und, auf dem untersten Bord, ein Paket hausgemachte Nudeln und ein Plastikbehälter mit fertiger Tomatensoße, beide mit einem Sainsbury-Aufkleber versehen. Keiner der Behälter war geöffnet worden.

»Ich habe Brot und Käse genommen und den Damen ein paar Brote gemacht«, sagte jemand hinter ihm.

Kincaid richtete sich auf und drehte sich herum. »Ah, der Trostspender«, murmelte er, als er in das rosige Gesicht von Constable Darling blickte. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen . . .« Er schaffte es nicht, den Nachnamen anzufügen.

»Auf so einen Schock brauchte man was, das Leib und Seele zusammenhält«, erklärte Darling ernsthaft, »und es war ja keiner da, der sich um sie gekümmert hätte.«

»Nein, Sie haben ganz recht. Sonst erscheinen ja in so einer Situation meistens gleich irgendwelche hilfsbereiten und neugierigen Nachbarn. Oder auch Verwandte.«

»Mrs. Gilbert hat mir erzählt, daß ihre Eltern beide tot sind«, sagte Darling.

»Ach ja?« Kincaid musterte den Constable einen Moment, dann wies er zur Tür. »Kommen Sie, gehen wir hinaus, da ist es ruhiger.« Als sie in dem relativ stillen Flur waren, sagte er: »Sie haben ziemlich lange mit Mrs. Gilbert und ihrer Tochter zusammengesessen, nicht?«

»Mehrere Stunden, würde ich sagen.«

Eine Lampe auf dem Telefontisch beleuchtete Darlings Gesicht von unten und zeigte ein paar Falten in der Stirn und ein Netz von Fältchen an den Außenwinkeln seiner blauen Augen. Vielleicht war er gar nicht so jung, wie Kincaid auf den ersten Blick geglaubt hatte. »Sie scheinen mir die Situation sehr gut gemeistert zu haben«, bemerkte Kincaid, den die ruhige Selbstsicherheit des Mannes neugierig machte.

»Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, Sir. Da habe ich den Tod oft genug erlebt.« Er betrachtete Kincaid einen Moment, dann seufzte er. »Aber die Geschichte hier, die hat’s irgendwie in sich. Nicht nur, weil Commander Gilbert ein hochrangiger Beamter war. Und auch nicht wegen dieser Riesenschweinerei in der Küche.« Kincaid zog fragend eine Augenbraue hoch, und Darling fügte zögernd hinzu: »Es ist alles so – ich weiß auch nicht – so unangemessen.« Er schüttelte den Kopf. »Klingt blöd, ich weiß.«

»Nein, ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete Kincaid. »Angemessen« wäre vielleicht nicht das Wort gewesen, das er bei einem Mord verwendet hätte, aber dieser Mord erschien tatsächlich wie ein greller Mißton in diesem Milieu. Gewalt hatte in einem so wohlgeordneten und disziplinierten Leben keinen Platz. »Haben Mrs. Gilbert und ihre Tochter miteinander gesprochen, während Sie bei ihnen waren?« fragte er.

Darling lehnte sich mit seinen breiten Schultern an die Wand und starrte auf eine Stelle hinter Kincaids Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Höchstens ein paar Worte. Aber sie haben beide mit mir gesprochen. Ich habe ihnen angeboten, jemanden für sie anzurufen, aber Mrs. Gilbert sagte, nein, sie kämen schon allein zurecht. Sie sagte was davon, daß man ihrer Schwiegermutter Bescheid geben müßte, aber die ist offenbar in einem Pflegeheim, und Mrs. Gilbert hielt es für besser, damit bis morgen zu warten. Bis heute genauer gesagt«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu, und Kincaid hörte die Müdigkeit in seiner Stimme.

»Ich will Sie nicht aufhalten, Constable.« Kincaid lächelte. »Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen und Ihrem Chef ist, aber ich bin jetzt absolut bettreif.«

 

Trotz der späten Stunde brannte im Pub noch Licht. Deveney klopfte laut an die Glasscheibe der Tür, und gleich darauf zeigte sich eine schattenhafte Gestalt, und man hörte, wie die Riegel zurückgeschoben wurden.

»Herein, herein«, sagte der Mann, sobald er geöffnet hatte. »Ich bin Brian Genovase«, fügte er hinzu und bot erst Kincaid und dann Gemma die Hand.

Das Pub war überraschend klein. Sie waren direkt in den Raum zur Rechten gelangt, wo ein paar Tische vor einem offenen Kamin gruppiert waren. Auf der linken Seite nahm der Tresen die Mitte der Gaststube ein, auf seiner anderen Seite war ein kleiner Speisesaal.

»Vielen Dank, daß Sie unseretwegen aufgeblieben sind, Brian« , sagte Deveney und ging zum Kamin, um sich über der noch glühenden Asche die Hände zu reiben.

»Ich hätte gar nicht schlafen können. Ich habe mir doch ständig Gedanken gemacht, was da oben los ist.« Genovase deutete mit einer Kopfbewegung die Richtung an, in der das Haus der Gilberts sich befand. »Das ganze Dorf überschlägt sich vor Aufregung, aber keiner hatte den Mut, durch die Absperrung zu gehen, um Genaueres zu erfahren. Ich hab’s versucht, aber der Constable am Tor hat mich abgewiesen.« Er war, während er gesprochen hatte, hinter den Tresen getreten, wo Kincaid ihn jetzt deutlicher sehen konnte. Er war ein großer, kräftiger Mann mit dunklem Haar, das grau zu werden begann, und dem Ansatz eines Bauchs. Sein Gesicht war offen und sympathisch. »Sie brauchen jetzt was zum Aufwärmen«, sagte er und nahm eine Flasche Glenfiddich vom Bord, »und dann können Sie mir alles erzählen, was nicht gerade streng geheim ist.« Er lachte sie an und zwinkerte Gemma zu.

Wie die Lemminge, die es unwiderstehlich ins Meer zieht, waren sie ihm zur Bar gefolgt. Als Genovase die Flasche über das vierte Glas neigte, hob Gemma plötzlich abwehrend die Hand. »Nein, danke, ich glaube, das schaffe ich jetzt nicht. Ich bin zum Umfallen müde. Wenn Sie mir nur sagen, wo . . .«

»Warten Sie, ich zeige es Ihnen«, fiel Genovase ihr ins Wort. Er stellte die Flasche nieder und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch.

»Nein, das ist wirklich nicht nötig, vielen Dank«, entgegnete Gemma mit einem Kopfschütteln. »Sie haben sich schon genug Umstände gemacht.«

Mit einem gutmütigen Achselzucken sagte Genovase: »Um die Bar herum, die Treppe hoch, den Gang entlang, die letzte Tür rechts.«

»Danke. Also dann – gute Nacht.« Den Blick auf den freien Raum zwischen Kincaid und Deveney gerichtet, fügte sie hinzu: »Wir sehen uns dann morgen.«

Ein Dutzend Vorwände, sie zurückzuhalten, mit ihr hinaufzugehen, blieben Kincaid im Hals stecken. Was immer er getan hätte, es hätte albern gewirkt und vielleicht genau die Spekulationen herausgefordert, die sie unbedingt vermeiden mußten; er blieb darum sitzen, ohne ein Wort zu sagen, und wartete frustriert und unglücklich, bis sie durch die Tür am anderen Ende der Bar verschwunden war. Auch Deveney hatte ihr nachgesehen und schien Mühe zu haben, seinen Blick von der leeren Türöffnung loszureißen.

Genovase hob sein Glas. »Prost. Der geht aufs Haus, Nick, Sie können mich also nicht wegen Verstoß gegen die Schankkonzession drankriegen, aber ich erwarte eine entsprechende Gegenleistung.«

»In Ordnung«, sagte Deveney und trank von seinem Whisky. »Ah, das tut gut.« Er hielt einen Moment inne. »Sie haben wahrscheinlich gehört, daß Commander Gilbert ermordet worden ist?«

Genovase nickte. »Aber was ist mit Claire und Lucy? Alles in Ordnung?«

»Sie stehen beide unter Schock, aber sonst geht es ihnen gut. Sie haben den Commander gefunden.«

Erleichterung und Bekümmerung mischten sich in Genovases Gesichtsausdruck. »Ach Gott.« Er wischte mit seinem Geschirrtuch über einen unsichtbaren Fleck auf dem Tresen. »War es schlimm? Was . . .?« Er brach ab, als Deveney leicht den Kopf schüttelte. »Oh, das geht mich wohl nichts an? Entschuldigen Sie.«

»Wir wollen die Einzelheiten vorläufig nicht bekannt werden lassen«, erklärte Deveney mit routinierter Diplomatie.

Es würde schwierig sein, in einem Dorf dieser Größe irgend etwas für längere Zeit geheimzuhalten, das war Kincaid klar, aber sie wollten es versuchen; wenigstens bis alle Nachbarn vernommen worden waren. Es konnte ja sein, daß jemand eine Bemerkung machte, die verriet, daß er etwas wußte, was er eigentlich nicht wissen konnte.

»Waren Sie mit den Gilberts befreundet?« fragte Deveney den Wirt und rutschte auf seinem Hocker etwas nach vorn, um die Ellbogen auf den Tresen stützen zu können.

»Lieber Gott, das Dorf ist klein, Nick. Sie wissen doch, wie es ist. Claire und Lucy sind allgemein beliebt.«

Kincaid trank einen Schluck aus seinem Glas und sagte dann wie beiläufig: »Und der Commander war es nicht?«

Zum erstenmal zeigte Brian Genovase vorsichtige Zurückhaltung. »Das hab ich nicht gesagt.«

»Nein.« Kincaid lächelte ihn an. »Aber trifft es zu?«

Nach einem Moment der Überlegung sagte Genovase: »Lassen Sie mich es so sagen – Alastair Gilbert hat es nicht gerade darauf angelegt, sich bei den Leuten beliebt zu machen. Rauh, aber herzlich war nicht sein Fall.«

»Hatte das einen besonderen Grund?« fragte Kincaid. Gilbert hatte es auch im Dienst nicht darauf angelegt, sich bei seinen Leuten beliebt zu machen, jedenfalls nicht nach Kincaids Erfahrungen mit ihm. Es hatte ganz im Gegenteil den Anschein gehabt, als genösse er es, seine Überlegenheit herauszukehren.

»Nein, das eigentlich nicht. Es war mehr eine Ansammlung kleiner Mißverständnisse, die durch den Klatsch hochgejubelt worden sind. Sie können sich sicher vorstellen, wie das in so einem Dorf ist, da wird manches mächtig aufgebauscht.« Offensichtlich nicht bereit, mehr zu erzählen, leerte Genovase sein Glas mit einem Zug und stellte es auf den Tresen.

Deveney tat es ihm nach und seufzte. »Also, auf diese Geschichte freue ich mich überhaupt nicht, das kann ich Ihnen sagen. Ich überlasse Ihnen den Schleudersitz mit Vergnügen«, fügte er zu Kincaid gewandt hinzu.

»Danke«, sagte Kincaid ironisch. Auch er leerte sein Glas, dann stand er auf und nahm seinen Mantel und seine Reistasche. »So, das wär’s für heute.« Er sah auf seine Uhr und fluchte. »Lohnt sich ja kaum noch, zu Bett zu gehen.«

»Sie haben das letzte Zimmer links, Mr. Kincaid«, sagte Genovase. »Frühstücken können Sie morgen früh hier, wenn Sie möchten.«

Kincaid bedankte sich bei den beiden Männern und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Deveney ihm auf den Arm tippte und leise sagte: »Ihr Sergeant – Gemma – sie ist doch nicht verheiratet?«

Kincaid mußte erst schlucken, ehe er es schaffte, ruhig zu antworten: »Nein, sie ist nicht verheiratet.«

»Ist sie – äh – ungebunden?«

»Das«, erwiderte Kincaid zähneknirschend, »müssen Sie sie schon selbst fragen.«

3

Die Verletzung war ihm anzusehen gewesen. Gemma hatte es nicht erwartet, und beinahe hätte sie ihren Vorsatz darüber aufgegeben. In den paar Tagen, in denen sie sich bei ihrer Schwester versteckt und, während sie Toby beim Spiel mit seinen Vettern zusah, unablässig darüber nachgedacht hatte, was sie tun sollte, hatte sie es geschafft, sich einzureden, daß er froh sein würde, das Geschehene einfach ignorieren zu können; erleichtert, vielleicht sogar dankbar. Sie hatte deshalb eine kleine Rede vorbereitet, die ihm die Möglichkeit bot, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen, und hatte sich die Szene so häufig vorgestellt, daß sie seine Antwort beinahe hören konnte. ›Natürlich, Sie haben völlig recht, Gemma. Wir lassen einfach alles beim alten, ja?‹

Sie hätte aus Erfahrung wissen müssen, daß Duncan Kincaid niemals genau so reagiert, wie man es erwartete.

Fröstelnd in der Kälte des Zimmers, schlug sie die Bettdecke zurück und legte ihr Nachthemd zurecht. Sie kramte in ihrer Reisetasche, bis sie ihre Toilettentasche gefunden hatte und wandte sich zur Tür.

Aber sie fühlte eine plötzlich aufsteigende Schwäche, die sie zwang, sich aufs Bett zu setzen. Wie hatte sie, in den Tagen, die seit der Nacht in seiner Wohnung wie Ewigkeiten dahingekrochen waren, so töricht sein können zu glauben, sie wäre imstande, sich mit sofortiger Immunität gegen seine Nähe zu wappnen? Beim ersten Wiedersehen hatte die Erinnerung sie wie eine Flutwelle überschwemmt und ihr Kraft und Atem geraubt. Um ein Haar wären die Mauern der Abwehr, die sie hochgezogen hatte, eingestürzt, und jetzt hatte sie Angst, ihm draußen im Korridor zu begegnen. Der Panzer war aufgeweicht – ein liebevolles Wort, eine zarte Berührung, und all ihre Entschlossenheit würde dahin sein.

Aber sie mußte ins Bett, sonst würde sie morgen noch weniger fähig sein, sich der Situation zu stellen. Sie lauschte, aber sie hörte nichts, kein Knarren auf der Treppe, keinen Schritt im Korridor. Beruhigt eilte sie aus ihrem Zimmer und huschte den Flur hinunter zum Badezimmer.

Als sie einige Minuten später wieder herauskam, wurde gerade die Tür des Zimmers gegenüber dem Bad geschlossen. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, schalt sich albern und blöd, und erkannte dann, dank einem flüchtigen Blick, der sich ihr bot, ehe die Tür zufiel, daß die Person im anderen Zimmer nicht Kincaid war. Stirnrunzelnd versuchte sie, die Teile des kurz gesehenen Bildes zusammenzufügen – lockiges blondes Haar, das auf ein Paar überraschend männlicher Schultern herabfiel. Mit einem Achselzucken kehrte sie zu ihrem Zimmer zurück und schlüpfte mit einem Seufzer der Erleichterung hinein.

Sie zog ihr warmes Nachthemd über und kroch unter die flauschige Steppdecke, und wenn unter ihrer Erleichterung ein Fünkchen Enttäuschung verborgen war, so vergrub sie es nur noch tiefer.

 

Der Anblick des Royal Surrey County Hospital war nicht geeignet, die Stimmung in dem kleinen Auto aufzuhellen. Gemma betrachtete das weitläufige Gebäude aus schmutzig braunem Backstein und fragte sich, wieso die Architekten gar nicht auf den Gedanken gekommen waren, daß gerade Kranke vielleicht ein wenig Frische und Freundlichkeit brauchten.

»Ich weiß«, sagte Will Darling, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Es ist so ein richtiger scheußlicher Anstaltsbau. Aber es ist ein gutes Krankenhaus. Sie haben hier mehrere kleinere Krankenhäuser zusammengelegt, als es gebaut wurde, und es bietet so ziemlich alle therapeutischen Möglichkeiten, die man sich vorstellen kann.«

Darling war im Pub angekommen, als Gemma und Kincaid gerade mit dem Frühstück fertig gewesen waren. Sie hatten in unbehaglichem Schweigen beieinander gesessen, bedient von einem gleichermaßen trübe gestimmten Brian Genovase.

»Ich bin ein ziemlicher Morgenmuffel«, hatte er mit einem dünnen Lächeln gesagt, das nur ein Schatten seines gestrigen Strahlens war.

Aber das Frühstück war gut gewesen – der Mann konnte kochen, auch wenn es um seine Stimmung nicht zum besten bestellt war –, und Gemma hatte sich gezwungen, etwas zu essen, da sie wußte, daß sie eine ordentliche Unterlage brauchte, um über den Tag zu kommen.

»Der Chief Inspector sollte eigentlich schon hier sein.« Darling blickte suchend über die Reihen geparkter Autos, als er den Wagen um das Gebäude herum nach hinten fuhr und in der Nähe der Tür zur Leichenhalle anhielt. »Er wird bestimmt gleich kommen.«

»Danke, Will.« Kincaid, der hinten gesessen hatte, kroch aus dem kleinen Auto und streckte sich. »Wenigstens können wir den Blick genießen, während wir warten. Ganz im Gegensatz zu den Kunden hier.« Er wies mit dem Kopf zu der unauffälligen Glastür.

Gemma, die ebenfalls ausgestiegen war, ging ein paar Schritte und sah sich die Umgebung an. Vielleicht war der Aufenthalt hier doch nicht so übel, wenn man von drinnen nach draußen schauen konnte. Das Krankenhaus stand auf der Höhe eines Hügels, der sich westlich von Guildford erhob und zu dessen Füßen sich die roten Backsteinhäuser in die Biegung des River Wey schmiegten. Vereinzelte Nebelschwaden hingen noch über dem Tal und dämpften die leuchtenden Herbstfarben der Bäume. Im Norden, höher noch als der Hügel, ragte der Turm der Kathedrale zum stumpfen grauen Himmel empor.

»Die Kathedrale ist neu, wußten Sie das?« fragte Darling, der sich zu ihr gesellt hatte. »Der Bau wurde während des Krieges begonnen, und einundsechzig wurde die Kirche geweiht. Man hat nicht oft Gelegenheit, eine Kathedrale zu sehen, die während unserer Lebenszeit gebaut wurde.« Mit einem Blick auf Gemma meinte er lächelnd: »Na ja, Sie waren sicher noch nicht auf der Welt, als sie gebaut wurde. Aber sie ist trotzdem schön und einen Besuch wert.«

»Sie scheinen ja richtig stolz auf sie zu sein«, bemerkte Gemma. »Leben Sie schon immer hier?« Und mit einer Offenheit, zu der er zu ermutigen schien, fügte sie hinzu: »Und Sie können auch nicht alt genug sein, um den Bau miterlebt zu haben.«

Mit einem leisen Lachen sagte er: »Da haben Sie mich ertappt. Ich bin am Tag der Einweihung zur Welt gekommen. Am siebzehnten Mai einundsechzig. Da hatte die Kathedrale natürlich immer eine besondere Bedeutung für uns –« Er brach ab, als ein Wagen neben dem ihren anhielt. »Ah, da ist ja der Chef.«

Gemma, die plötzlich merkte, daß Kincaid die ganze Zeit still am Auto gestanden und ihrem Gespräch zugehört hatte, errötete vor Verlegenheit und wandte sich ab.

Die wenigen Stunden Schlaf schienen Nick Deveney verjüngt zu haben. Munter sprang er aus dem verbeulten alten Vauxhall und eilte zu ihnen, um sich zu entschuldigen. »Tut mir leid. Ich wohne südlich von hier, in Godalming, und bin unterwegs im Stau steckengeblieben.« Er blies sich in die Hände. »In dem verdammten Ding ging die Heizung nicht.« Er wies zur Eingangstür. »Wollen wir mal sehen, was Dr. Ling heute morgen zu bieten hat?« Mit einem Lächeln zu Gemma fügte er hinzu: »Ganz abgesehen von ein bißchen Wärme.«

Sie folgten Deveney durch das Labyrinth eintöniger weißer Korridore, alle menschenleer, bis sie zu einer zweiflügeligen Tür mit einem sehr amtlich aussehenden Schild kamen. ›Kein Eintritt für Unbefugte – Bitte läuten‹, stand darauf, doch die Tür war angelehnt, und Deveney stieß sie ohne weitere Umschweife auf. Ein Hauch von Formalin stieg Gemma in die Nase, und ein paar Schritte weiter hörte sie gedämpftes Gemurmel.

Sie folgten der Stimme in den Obduktionssaal und fanden dort Kate Ling vor, die mit einer Agenda auf dem Schoß auf einem Hocker saß, neben sich einen großen Becher Kaffee.

»Tut mir leid«, sagte sie, »meine Assistentin liegt mit Grippe im Bett, und ich hielt es für überflüssig, jemanden an der Tür Wache stehen zu lassen. Es ist ja nicht so, daß die Leute ums Verrecken hier herein wollen«, fügte sie hinzu und sah Deveney an, als wartete sie auf sein gequältes Stöhnen.

Deveney schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf, ehe er sich nach den anderen umdrehte, die hinter ihm in den kleinen Raum drängten. »Wußten Sie, daß alle Pathologen eine Spezialprüfung ablegen müssen, um in den Orden des grausigen Wortspiels aufgenommen zu werden? Sonst dürfen sie nicht praktizieren. Dr. Ling ist Großmeisterin und stolz darauf.« Er und Kate Ling sahen einander lachend an.

»Ich bin gerade mit meinen Aufzeichnungen zum äußeren Anschein fertig«, sagte Dr. Ling ernst werdend, kritzelte noch ein paar Worte und legte ihren Block dann zur Seite.

»Irgendwas von Interesse?« fragte Deveney und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Block hinunter, als wollte er das Geschriebene entziffern.

»Die Leichenflecke entsprechen genau der Lage des Toten, ich würde deshalb sagen, daß er nicht verlagert wurde. Das haben wir natürlich nach den Blutspritzern schon erwartet, aber ich werde für Gründlichkeit bezahlt.« Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und sah sie über den Rand des Bechers mit einem leicht ironischen Lächeln an. »Wenn wir also den Abfall der Körpertemperatur aufgrund der Temperatur in der Küche des Hauses berechnen, können wir sagen, daß er zwischen sechs und sieben Uhr abends getötet wurde.«

Dr. Ling drehte sich auf ihrem Hocker zu einem Arbeitstisch und nahm ein paar Gummihandschuhe. Während sie sie überstreifte, fügte sie nachdenklich hinzu: »Eines ist allerdings merkwürdig. Sein Hemd hatte an den Schultern ein paar winzige Risse. Nicht so groß, daß ich eine Vermutung darüber wagen konnte, wodurch sie entstanden sind und wieso.« Sie glitt vom Hocker, prüfte das Mikrofon, das über dem Obduktionstisch hing und hob dann den Deckel eines Instrumentenkastens aus rostfreiem Stahl, der auf einem Wagen neben ihr stand. »Also, können wir? Sie müssen einen Kittel und Handschuhe anziehen.« Sie betrachtete die kleine Gruppe skeptisch. »Sie stehen hier zusammengepfercht wie Sardinen in der Dose. Ich brauche ein bißchen Bewegungsfreiheit.«

Will Darling tippte Gemma auf die Schulter. »Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war! Kommen Sie, Gemma, wir warten im Gang. Auf diesen Spaß kann ich gern verzichten.«

Will nahm zwei Klappstühle aus einem Nebenzimmer mit, stellte sie vor dem Obduktionsraum auf und ließ Gemma einen Moment allein. »Ich seh mal, ob ich irgendwo eine Tasse Tee auftreiben kann«, rief er ihr über die Schulter zu, als er davonging.

Gemma setzte sich, schloß die Augen und lehnte ihren Kopf an die Wand. Es ärgerte sie ein wenig, ausgeschlossen worden zu sein, aber gleichzeitig war sie froh, die Kraft, die die Teilnahme an einer Obduktion immer forderte, nicht aufbringen zu müssen. Mit halbem Ohr lauschte sie dem Stimmengemurmel und dem Klappern der Instrumente, stellte sich die methodische Erkundung von Alastair Gilberts totem Körper vor, während ihre Gedanken sich mit Will Darling beschäftigten.

Er verfügte über eine ruhige Selbstsicherheit, die eigentlich gar nicht zu seinem Dienstgrad paßte, die dennoch nichts Aggressives hatte und nichts von dem Bestreben spüren ließ, den jeweiligen Vorgesetzten zu beeindrucken, wie sie es von sich und anderen kannte. Und er hatte etwas sehr Wohltuendes, vielleicht sogar Tröstliches in seiner Art; es war mehr als die Ungezwungenheit, die sein offenes, freundliches Gesicht versprach, aber sie konnte es nicht recht definieren.

Sie machte die Augen auf, als er zurückkam und ihr einen dampfenden Pappbecher hinhielt. In Erwartung des typischen dünnen Anstaltsgebräus kostete sie den Tee und sah ihn erstaunt an. »Wo haben Sie denn den gefunden? Der schmeckt ja richtig gut.«

»Mein Geheimnis«, antwortete Will und setzte sich neben sie.

Kate Lings Stimme drang klar und deutlich durch die offene Tür. »Aufgrund der Blutgeschwindigkeit und der äußeren Untersuchung der Kopfverletzungen sind wir natürlich ziemlich sicher, daß es sich um ein Trauma durch Einwirkung einer stumpfen Waffe handelt, aber wir wollen doch mal sehen, was sich zeigt, wenn wir tiefer gehen.«

In der Stille, die folgte, umschloß Gemma ihren heißen Becher mit beiden Händen und trank ab und zu einen Schluck Tee. Sie wußte, daß Dr. Ling jetzt Gilberts Kopfhaut von seinem Schädel entfernte und nach vorn über sein Gesicht klappte wie eine groteske Maske, aber diese Geschehnisse schienen weit entfernt, abgeschnitten von ihren Gefühlen, vom Druck der kalten Metallehne des Stuhls an ihrem Rücken, den vagen Formen und Gestalten, die sie an der getünchten Wand gegenüber wahrzunehmen glaubte.

Die Lider wurden ihr schwer. Sie zwinkerte im Kampf gegen den Schlaf, der sich über sie senken wollte, aber die Lethargie, aus körperlicher Erschöpfung und seelischer Belastung geboren, überwältigte sie. Dr. Lings Worte klangen abgerissen durch den Nebel, der sie einhüllte.». . . Schlag unmittelbar hinter dem rechten Ohr . . . mehrere Schläge näher dem Scheitel . . . alles leicht rechts . . . nicht sicher sein . . . auch Linkshänder . . . mit der rechten Hand ausführen . . .«

Sie riß die Augen auf, als sie Wills Finger an ihrer Hand spürte. »Verzeihen Sie«, sagte er leise. »Ihr Becher hing ganz schief.«