Belladonna - Rudolf Stratz - E-Book

Belladonna E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Der Band, der ursprünglich nur die drei Novellen "Die goldene Hand", "Der Afrikaner" und "Das Bauernkäuzchen" umfasste, ist für die vorliegende Ausgabe noch um zwei zusätzliche – "Pater, peccavi!" und "Der Fremdenlegionär" – erweitert worden. "Die goldene Hand" führt uns in die Verbrecherkreise des Orients; im Zentrum steht eine russische Gaunerin, die einen jungen Mann, der sich für sie interessiert, gnadenlos ausplündert. In "Der Afrikaner" ist es eine Dame der Gesellschaft, die den Mann, der sie liebt, in den Tod treibt. "Das Bauernkäuzchen" ist eine humoristische Erzählung, die in Sportlerkreisen spielt und die Erlebnisse eines flotten Kavallerielieutenants bei einem Rennen beschreibt. Die beiden anderen Erzählungen stehen den Genannten an Erzählkunst und Raffinesse in nichts nach. Kurz: Das Buch bietet eine vielseitige und unterhaltende Lektüre, in der Ernst und Humor sehr glücklich gemischt sind. Dieses frühe Erzählbuch, in der Drei-Novellen-Fassung zuerst 1895 erschienen, enthält das ganze Talent des großen Romanciers Stratz bereits in nuce.-

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Rudolf Stratz

Belladonna

Novellen

Saga

Belladonna

© 1895 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711506967

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Die goldene Hand

Fabelhaft langweilig, solch eine Eisenbahnfahrt durch die bessarabischen Steppen! Endlos dehnen sie sich hinter dem träge rollenden Zuge, endlos vor ihm, der noch einen vollen Tag dahinkeuchen muss, bis er die Grenze der Kultur, die Zollstation Podwoloczyska, erreicht. Zu beiden Seiten der Coupéfenster Steppen, nichts als Steppen! Die flachen, mit braungedörrtem Grase bedeckten Bodenwellen scheinen sich so recht behaglich in die Weite zu recken und zu strecken, bis sie, in der Glut des Julitages flimmernd, fern am Horizonte mit dem blassblauen Himmel in eins zusammenfliessen.

Falle einem etwas Gescheites ein bei solcher Hitze! Mein Coupégenosse und ich haben bereits die scharfsinnigsten Bemerkungen ausgetauscht, ohne doch zu der Würze der Unterhaltung, der Meinungsverschiedenheit, zu gelangen. Wir waren stets derselben Ansicht. Wir trafen uns in der Empfindung, dass es ein Unglück sei, bei solcher Hitze in den spärlichen Bahnhof-Restaurants keine anderen Getränke als kochendheissen Tee und den unvermeidlichen Schnaps zu bekommen; wir begegneten uns in dem Ingrimm über die schneckenähnliche Fortbewegungsart des Zuges, in der Langeweile überhaupt und der Überzeugung insbesondere, dass das russische Reich unbedingt zu den verunglückten Erzeugnissen der Schöpfung gehöre. Damit schwiegen wir wieder ...

„Sie sehen übrigens schlecht aus,“ bemerkte ich nach einer Weile zu meinem Gefährten, einem blonden, bekümmert dreinschauenden Herrn in den Dreissigern. Sein lebendiges, von abenteuerlichen Einfällen sprechendes Gesicht war in der Tat nicht einmal bleich; es hatte eine direkt gelbliche Färbung, zu der das bläuliche Weiss der Augäpfel und der Lippen überraschend stimmte.

„Schlecht?“ wiederholte mein Gegenüber gedankenvoll, „... ja ... man sollt’ es glauben ...“

„Allerdings die Hitze ...“

„Nicht die Hitze,“ — der Fremdling starrte hinaus in die Steppe, „etwas anderes ...“

„Ein Abenteuer? — Erzählen Sie doch!“

Der Reiz, sich sprechen zu hören, ist gross, doppelt gross bei solch eintöniger Fahrt. Mein Gefährte sah einige Augenblicke vor sich hin und brannte sich dann entschlossen eine Zigarette an. „Ich glaube,“ meinte er, „dass wir uns nicht wieder treffen werden, wenn wir in Krakau oder Wien diese verwünschte Fahrt enden. Ich will Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen:

*

Stellen Sie sich vor, Sie flögen mir jetzt plötzlich ins Gesicht, wie Sie mir da gegenübersitzen, — oder ich Ihnen, das bleibt sich gleich! Es handelt sich dabei um eine und dieselbe Sache, einen Eisenbahn-Zusammenstoss. Ich bin viel gereist und habe Erfahrung in derlei. Sehe ich einen meiner Mitpassagiere auf mich zufliegen, so weiss ich, dass es höchste Zeit ist, das Coupé zu verlassen ...

Das tat ich denn auch vor acht Tagen auf der kleinasiatischen Bahn zwischen Haidar-Pascha und Ismidt, in der Gegend von Maltape. Das ist eine eingleisige Bahn. Die Türken hatten an jedem Ende einen Zug losgelassen und hofften, dass Allah die Sache ordnen werde. Allah unterliess das. Mich aber beschützte er und verhalf mir zu einem glücklichen Sprunge aus dem sich in seine Bestandteile auflösenden Zuge.

Es wird Ihnen wohl aufgefallen sein, dass man bei dergleichen Gelegenheiten meist mit dem Kopfe voran landet und sich hierauf überschlägt. Ich besorgte dies dreimal und fand mich alsdann unten am Rande der Böschung sitzen. Über mir stand oben der Zug, eine zwei Stockwerke hoch ineinandergeschobene Masse von Holzstücken, Eisenteilen, Polstern, Koffern und Gemüseköpfen, darauf thronend zwei fauchende und zischende Lokomotiven gleich zwei Hirschen, die sich im Kampfe mit den Geweihen verfangen haben, und zu beiden Enden der Masse eine Reihe schiefstehender Wagen, aus denen allerhand Menschen: Türken, Neger, Levantiner und anderes Volk, heraushing oder herausstob. Eine Anzahl von diesen Leuten war getötet, andere waren verwundet; am meisten schrien die unverletzt Gebliebenen.

Das erste bei solchen Gelegenheiten ist gewöhnlich, dass man sich sorgfältig von Kopf bis zu Fuss betastet und bei der Entdeckung jedes neuen, unverletzt gebliebenen Gliedes eine lebhafte Befriedigung nicht zu unterdrücken vermag. Damit war ich zu Ende; Uhr und Brieftasche fehlten auch nicht, und so stand ich denn auf, um zu sehen, was es weiter gäbe, und sah zu meinem Erstaunen, dass sie neben mir sass.

Ich sage ‚sie‘, weil ich damals ihren Namen noch nicht wusste. Aber auch sonst wusste ich nichts von ihr, kannte ich nichts als ihr Äusseres, das sich mir eingeprägt hatte, während sie auf dem Bahnhof in Haidar-Pascha in den Damenwaggon stieg. Ein etwa fünfundzwanzig Jahre zählendes weibliches Wesen, mittelgrosse, schlanke Figur, schmale Hände, schmale Hüften, noch schmalere Schultern und auf den Schultern einen Kopf, — nun, Sie werden unter den Kleinrussen häufig solche Köpfe gefunden haben: ein ovales Gesicht von mattgelbem Teint mit schmalen, blassroten Lippen, gerader Nase und unter der niederen, von schwarzen Haarbüscheln verhängten Stirn ein Paar grosse, graue Augen. Später habe ich bemerkt, dass diese Augen ihre Farbe wechselten. Auf dem Meere waren sie geradezu blau. Sie konnten auch grün werden, wenn man Olga ärgerte. Und das war gar nicht schwer. Eine Katze, der Sie das Haar gegen den Strich krauen, ist ein sanftmütiges Geschöpf dagegen.

Augenblicklich aber sass sie ganz still und fromm auf dem Boden und starrte mit grossen Kinderaugen zu dem Greuel über ihr empor. Erst nach dem Zusammenstosse war sie aus ihrem unverletzten Wagen gesprungen und die Böschung heruntergeflogen. Sie hatte sich nichts getan, das sah ich sofort; nur ein paar Grashalme in dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar und beträchtliche Erdspuren auf dem grauen Reisekleid und den gelben Handschuhen! Mir imponierte der Anblick: eine junge Dame, die ganz gefasst und ruhig, ohne jeden Schutz an der kleinasiatischen Küste dasitzt und der Dinge harrt, die da kommen sollen! Keine Tränen, kein Geschrei, nichts, was die Weiber sonst bei solchen Gelegenheiten für nötig halten.

Meine Hilfe nahm sie übrigens gern an und dankte mir, da ich ihr Russisch nicht verstand, in geläufigem, hart klingendem Deutsch. Wir waren die einzigen eigentlichen Europäer in dem Zuge, den sie, wie ich, zu einer Vergnügungsfahrt von Kadiköi aus benutzt hatte. Ein Dragoman, ein levantinischer Fremdendiener, begleitete sie. Aber der Kerl war zu nichts mehr zu gebrauchen. Halb heulte er noch vor Angst, halb schielte er schon lüstern in dem Chaos umher, das seinen seit Jahren nicht gewaschenen Diebesfingern eine reichliche Beute versprach.

Was nun machen? Von oben erschallte ein wahrer Höllenlärm. Alles rannte und brüllte auf der Unglücksstätte durcheinander. Immer noch fauchten die Lokomotiven auf der Trümmerburg, ein Heizer war tot, ein oder zwei Hamals, das heisst Lastträger, lagen im Sterben, die Kondukteure liefen auf und ab und schrien, das Volk schrie mit und stahl, was es konnte; es war ein tolles Treiben, und für einen ‚Franken‘ schien es nicht geraten, sich unter die aufgeregte Bande zu mischen. Ich merkte das, als ich versuchte, Hilfe zu bringen, und stieg die Böschung wieder hinunter.

Bei uns wäre man nun zu Fuss nach der nächsten Station gegangen. Der Orient ist aber, wie Sie wissen, das Land der Poesie. Dort gibt es noch Räuber, wirkliche Räuber mit allem Zubehör, und dass wir zwei einsam durch die türkische Ebene wandernden Europäer unzweifelhaft als beträchtliche Wertgegenstände in deren Hände geraten würden, diese Überzeugung glaubte uns bei unserem Aufbruch die versammelte Menge nicht vorenthalten zu dürfen. Und zur Bekräftigung ihrer Ansicht wiesen sie auf einen schwärzlichen Trümmerhaufen, der sich in der Nähe erhob. Vor wenigen Tagen war da ein Haus gestanden. Missvergnügte Räuber hatten es nachts angesteckt.

Wir blieben also und sassen nebeneinander auf dem Rasen. Die Situation war romantisch, aber ich habe immer gefunden, dass Romantik aus der Nähe betrachtet das prosaischste Ding der Welt ist. Man hungert bei der Romantik, man durstet bei ihr, man wird von Ungeziefer zerstochen und von Gaunern gebrandschatzt, — kurzum, man muss ins Theater gehen, wenn man etwas Romantisches ohne Ärger geniessen will.

Wir sprachen denn auch nicht viel, sondern sahen nachdenklich in das verrückte Treiben vor uns. Die Kerle hatten sich nachgerade in einen förmlichen Rausch hineingebrüllt, ein Haufe verschleierter Türkenweiber watschelte und zeterte dazwischen; die einzigen Vernünftigen waren die Verwundeten, die, etwas abseits, still im Schatten einer Platane lagen. Ihr Anblick tröstete uns. Wir hatten zwar nichts zu essen und zu trinken, dafür aber ganze Knochen und die Aussicht, doch nicht ewig hier sitzen bleiben zu müssen.

Wir kamen sogar rascher weg, als ich dachte. Ein Dampfwölkchen zeigte sich in der Ferne, eine Lokomotive, die aus irgendeinem Grunde nach der nächsten Station gehen sollte, rollte heran und hielt plötzlich, wie verblüfft, hart an der Unglücksstätte. In solchen Fällen wirkt das Trinkgeld, der vielgeschmähte Bakschisch, Wunder. Für eine Medschidje nahm der Führer mich samt der Fremden auf, als er zurückfuhr. Wir befanden uns schon nach wenigen Minuten in der zuvor verlassenen Station Maltape und erreichten, da die Lokomotive beordert wurde, sofort vom Endpunkte der Bahn einen Hilfszug heranzuholen, bald darauf Haidar-Pascha, dicht bei dem Flecken Kadiköi, den wir in ein paar Minuten durchschritten. Von dort ist eine regelmässige Schiffsverbindung nach Konstantinopel. Wir setzten uns an der Landungsbrücke hin, wo wir auf das Dampfboot harrten.

Sie werden im Murray oder Baedeker diese Stelle jedenfalls mit einem Stern bezeichnet finden. Es ist auch in der Tat ein recht schöner Blick über den blauen Bosporus hinüber nach den Kuppeln und Minaretts von Konstantinopel. So aus der Ferne sieht die Stadt berückend aus. Kein Mensch ahnt den Schmutz, den dieser vergoldete Schweinestall in seinem Innern birgt.

Aber wir bewunderten die Aussicht nicht, wir dankten auch nicht, wie es unsere Pflicht gewesen wäre, dem Schicksal für unsere Rettung und sahen nicht, wie die Romanhelden, Hand in Hand in das leise aufdämmernde Abendrot; — nein, — wir wuschen uns! Das war dringend nötig. Über den Staub der Strasse hatte der Qualm der Lokomotive gewissenhaft eine dünne Kohlenschicht gestreut, und durch beides zogen sich, bei mir wenigstens, die Furchen, die der herabrieselnde Schweiss gerissen. Also wir wuschen uns, so gut oder so schlecht es ging, mit Hilfe unserer Taschentücher am Meeresstrande Gesicht und Hände. Nebenbei bemerkt ist das eine zweifelhafte Sache mit dem Seewasser. Nach vollzogener Säuberung trägt man statt des Schmutzes eine Salzkruste, — das ist der ganze Unterschied. Dann klopften und schüttelten wir die Kleider und sahen wieder so weit menschlich aus, als es im Orient nötig ist. Viel gehört ja nicht dazu. Wer sich gewaschen hat, repräsentiert durch diese Tatsache würdig genug die Kultur des Abendlandes.

Olga Féodorowna hatte ihre gelben Handschuhe abgestreift und in die Tasche gesteckt. Mit ausgestreckter Hand zeigte sie mir das Dampfschiff, das aus der Ferne heranplätscherte. Ich für meinen Teil sah nicht auf das Dampfschiff hin. Ich blickte auf die nicht allzu kleine Hand, die mir dieses wies, und sah an ihr, — ob mit Überraschung oder Genugtuung, kann ich wirklich nicht sagen, — einen dicken goldenen Reif. Sie war also verheiratet! Natürlich, dachte ich gleich darauf bei mir, junge Mädchen irren nicht so in der Welt herum. Es ist schon bei einer jungen Frau auffällig genug.

Olga Féodorowna schien das zu fühlen. Die Weiber erraten ja häufig ganz instinktiv unsere Gedanken. Sie schüttelte die Haare aus der Stirn und stiess einen leichten Seufzer aus. „Ich habe viel geweint in diesen Tagen,“ sagte sie ganz unvermittelt zu mir. Eine kurze Pause; dann fuhr sie fort: „Ich musste mich gestern von meinem Manne trennen. Er reiste nach Palästina weiter.“

„In Geschäften?“

„In Geschäften?“ wiederholte sie halb unwillig, halb befremdet. „Erbarmen Sie sich! ... In Geschäften nach Palästina? — Welcher Gedanke! ... Natürlich eine Wallfahrt!“

„Verzeihen Sie! Ich konnte es nicht wissen, ich war niemals in Russland.“

„Mein Mann ist Grosskaufmann,“ sagte Olga, ohne auf meine Entschuldigung zu hören, „erster Gilde; aber trotzdem gehört er zu den Strenggläubigen. Schon lange drückten ihn seine Sünden, und nun entschloss er sich endlich zu der Reise. Er erlaubte mir, ihn bis Konstantinopel zu begleiten, von wo ich mit dem nächsten Dampfer wieder zurück nach Odessa fahren sollte.“

„Und warum gingen Sie nicht mit ihm?“

„Ach, der Weg ist weit und so beschwerlich! Sie sehen ja, was es für ein Land ist, diese Türkei. Er wünschte es auch gar nicht.“

„Nun, Sie haben gewiss auch nichts zu büssen.“

„Wir sind alle Sünder,“ sprach Olga langsam, indem sie sinnend über das Meer blickte; „aber, was wollen Sie?“ — und damit wandte sie mir mit kindlich schalkhaftem Lächeln ihr Gesicht zu, — „er fastet ja für uns beide, mein Ossip Timaféitsch.“

Sie war in diesem Augenblick wirklich reizend. Der Seewind spielte leise in ihren kurzen Haaren und trieb ein flüchtiges Rot in ihr gelblich-blasses Gesicht; um die Mundwinkel zuckte es im Übermut, als krümmten sich da tausend kleine Schlangen, und dabei blickten die Augen gross und ernst, wie die eines Kindes, ruhig auf mich hin. Ich sah sie an und sagte so schlicht als möglich: „Ich hätte Sie an Stelle Ihres Mannes nicht allein gelassen.“

„Allein?“ rief sie halb spöttisch; „Sie sind ja bei mir. Und morgen fahre ich nach Odessa zurück, zu meinen Verwandten. Aber da ist das Dampfschiff, — kommen Sie!“

Auf dem Schiffe war es ziemlich voll. Es begann zu dämmern. So gingen wir hinunter in die Kabinen, wo ein böses Getümmel herrschte. Ein Trupp Gesellschafts-Reisender befand sich an Bord. Sie hatten Feze aufgesetzt statt eines praktischen Strohhuts, so dass Sonne, Wind und Staub den Gesichtern zusetzten; sie bestürmten den Impresario, die Männer suchten nach Bier, die Frauen medisierten über eine anscheinend bevorstehende Verlobung, — es hatten sich offenbar feindliche Parteien in der kleinen Reiseherde entwickelt, — vereinzelte Kinder quiekten, das Ganze war ein unangenehmes Ding. Olga hatte sich in eine Ecke gesetzt, schlürfte Tee und sah sich schweigend und spöttisch die Sache an. Sie redete überhaupt nicht viel. Eine merkwürdige Frau! Andere hätten an ihrer Stelle Bände von dem erlittenen Abenteuer erzählt. Aber diese Blasiertheit war bei ihr nicht gemacht. Sie musste unverkennbar schon viel erlebt haben, und doch war sie, wie sie sagte, fern von der Welt zu Hause, zu Sarátow, an den Ufern der Wolga, und wollte jetzt auch wieder über Odessa und Moskau dahin zurück.

Ich hielt es für angemessen, ihr auch einiges über meine Persönlichkeit zu sagen. Zu interessieren schien es sie nicht. Ein Kaufmann, der in Geschäften von Hamburg nach Konstantinopel und zurück fährt, das ist allerdings eine alltägliche Sache: „Sie sind das erstemal im Orient?“ fragte sie zerstreut, „... ich auch. Nehmen Sie sich nur in acht. Es wird einem hier alles gestohlen. Mir hat man meine Uhr genommen, mein Portemonnaie, — und was weiss ich sonst noch!“

„Daran sind die unpraktischen Damenkleider schuld,“ meinte ich; „ich möchte den Dieb kennen lernen, der mir mein Portefeuille abknöpft! — Sie sehen, ich habe es an einem Lederriemen um den Hals hängen. Man müsste mich schon gerade totschlagen, um ...“

Ein starkes Krachen belehrte uns in diesem Augenblicke, dass wir den Hafen von Konstantinopel erreicht und die Dunkelheit dazu benutzt hatten, längsschiffs an einen vor Anker liegenden mächtigen Indienfahrer anzurempeln. Wie ein gereizter Elephant schaukelte das uns turmhoch überragende Fahrzeug hin und her. Wütend brüllte es von dort herab, kräftige Flüche antworteten von uns unten, ein paar Balken unserer Bordwand splitterten ab und fielen in das plätschernde Wasser. Dann war der kleine Zwischenfall erledigt. Wir legten an und stiegen in Galata ans Land.

Die unterirdische Strassenbahn, die von hier nach Pera, dem Europäer-Viertel, hinaufführt, war nicht mehr in Betrieb. Wir mussten zu Fuss die steile Treppengasse überwinden. Es war ja selbstverständlich, dass auch Frau Olga in einem der dortigen Hotels wohnte, und zufälligerweise war es dasselbe, in dem auch ich abgestiegen.

Durch den Einbruch der Dunkelheit gewinnt das innere Konstantinopel bedeutend. Man sieht den Schmutz nicht mehr. Man fühlt ihn höchstens, wenn man einmal beim Auftreten mit dem Fusse keinen Boden findet. Und dann ist man meistenteils in eines der Hundelöcher geraten, in denen oft ganze Familien dieser mageren, gelben Tagediebe hausen. Sie kläffen und belfern ringsumher, aber sie wagen keinen Angriff. Auch die scheusslichen Bettlergestalten sind jetzt von den Strassen verschwunden, das Gebrüll der Verkäufer und Pferdetreiber ist verstummt, Konstantinopel liegt in tiefer Ruhe; das heisst, es ist jetzt nicht mehr Lärm, als nachmittags auf einem mittleren deutschen Jahrmarkt. Und darüber ragt in grauen Massen der uralte Genueser-Turm zum Nachthimmel empor, in der Ferne glitzert der pfeilschnell flutende Bosporus und leuchten die weissen Minaretts, — die Traumstimmung des Orients liegt über der Landschaft. Olga aber wandte sich zu mir und sagte einfach: „Ich habe einen furchtbaren Hunger.“

Und nicht lange darauf sassen wir in Yannis Restaurant an der Grande Rue; vor uns schäumte das echte Münchener Bier, der griechische Kellner brachte die Speisekarte, und wir, — wir dachten gar nicht mehr daran, dass wir uns vor wenigen Stunden noch fremd gewesen waren. Wir lachten und plauderten, und ich glaube fast, dass uns mancher für ein Ehepaar auf der Hochzeitsreise hielt.

Allmählich wurde Olga ganz ausgelassen. Sie bestellte Champagner, um unsere Errettung zu feiern, sie trällerte ein Kosakenlied vor sich hin und schüttelte sich vor Lachen über einen etwas angeheiterten englischen Kapitän, dem der Kellner beim Zahlen mit ernstem Gaunergesicht eine Sammlung aller wertlosen Münzen des Orients aufhalste. Eine Zigarette zwischen den schmalen Lippen, sah sie belustigt um sich. Ihr ganzes Gesicht sprühte vor Heiterkeit, nur in den Augen blieb der ernste, beinahe forschende Ausdruck. Und sie gefiel mir immer mehr. Sie war nicht eigentlich schön oder wenigstens nur in einzelnen Augenblicken schön, aber es war etwas so Unbestimmtes an ihr, etwas Fesselndes und Geheimnisvolles, das den meisten Frauen abgeht. Wie sie so dasass, rauchend und lachend, konnte man sie für eine Zigeunerin halten, und doch verriet wieder jede Bewegung, jedes Wort die Dame der guten Gesellschaft. Freilich würde eine solche sich in Europa nicht mit einem fremden Herrn zeigen, aber schliesslich ... eine Russin ... und ausserdem ... die Seltsamkeit der Umstände entschuldigte viel.

Olga schwieg wieder einmal, was, wie gesagt, ihre merkwürdigste Eigenschaft war. Nachdenklich lächelnd blies sie den Zigarettenrauch von sich und sah den bläulichen Wolken nach.

„Wo mag Ihr Mann jetzt sein?“ erkundigte ich mich plötzlich.

„Wer?“ ... Olga Féodorowna fragte das ganz zerstreut und setzte dann schnell hinzu: „Ach so ... mein Mann! ... Der Himmel allein weiss es, wo er ist! Irgendwo auf dem Wege nach Palästina ... Nun ... Gott mit ihm!“

Und wieder huschten zuckend die Schlänglein um ihre Mundwinkel.

„Olga Féodorowna,“ bemerkte ich ernst, ihr Champagner eingiessend, „niemand zwingt Sie, mir die Wahrheit zu sagen.“

„Und doch tue ich es,“ meinte sie gelassen. „Gott sieht die Lüge. Oder glauben Sie etwa wirklich, dass ich lüge?“ — Eine Beleidigung schien sie darin nicht zu finden. — „Nun, so kommen Sie doch mit nach Odessa! Dort werden Sie meine Verwandten treffen. Man wird Ihnen alles bestätigen, wird Ihnen Odessa zeigen.“ — Und schon wieder halb träumerisch: „Es ist eine schöne Stadt.“

Kommen Sie mit nach Odessa! — Wie sich solch ein Gedanke doch blitzschnell in den Kopf bohrt. Ohne dass ich es wollte, begann ich ihn zu erwägen. Zu tun hatte ich in Konstantinopel nichts mehr; ich konnte jeden Augenblick abreisen, und da ich mit der Zeit nicht zu geizen brauchte, kam es auf den Umweg nicht an.

„Man fährt in sechsunddreissig Stunden von hier nach Russland,“ liess sich die Stimme der Versucherin wieder vernehmen. „Morgen mittag geht die ‚Rossija‘ aus dem Hafen ab. Bis dahin können Sie bequem Ihren Pass auf dem russischen Konsulate visieren lassen. Um zwölf muss man an Bord sein, um eins wird der Anker gelichtet, um drei sind wir im Schwarzen Meer und um vier“ — ein leichter Seufzer — „seekrank.“

„Und warum reden Sie mir zu, Olga Féodorowna?“

„Oh,“ sagte sie halb verächtlich, „es ist ja geradezu eine Schande, so nahe an unserem heiligen Russland zu sein und es nicht kennenzulernen! Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet für heute; darum lade ich Sie ein, in meine Heimat zu kommen. Sie werden es nicht bereuen. — Aber wie Sie wollen! — Nein, sagen Sie jetzt gar nichts mehr. Ich will nichts mehr hören! Es wird sich ja zeigen, wer morgen an Bord der ‚Rossija‘ ist!“

Und mit diesen beinahe triumphierend gesprochenen Worten steckte sie sich eine neue Zigarette an und sah gleichmütig ins Leere. Es war schon spät. Nur wenige Gäste sassen noch an den kleinen Tischen. Mit einer raschen Bewegung stand Olga auf. „Lassen Sie uns ins Hotel gehen!“

Ich zahlte. Sie sah zu und bemerkte lächelnd: „Ich gebe Ihnen auf dem Schiffe meinen Anteil wieder.“ Dann schritt sie an meinem Arme zu dem nahen Hotel. Auf der Treppe drückte sie mir kräftig die Hand. „Auf Wiedersehen!“ Und damit war sie verschwunden.

Ich schätze, dass ich diese Nacht wenig geschlafen habe. Um Sonnenaufgang war ich schon wieder wach und trat ans Fenster. Der Morgennebel umhüllte noch die Stadt, das Meer, die Minaretts. „Lá illahê illehâ!“ ertönte es von einem der Türmchen, und vom nächsten scholl dröhnend die Antwort: „Mahomed rasûl Allâhi!“ Allah ist Allah, Herr Mohammed ist sein Prophet! Und aus der Ferne verklang es: „Eine Stunde bis zum Tode!“ ... „Beten ist besser als Schlaf!“ und wiederum: „Allah ist Allah!“

Bei Allah ... mein Entschluss stand fest! — So fest und unerschütterlich, wie es nach meiner Erfahrung eben nur der schrankenlose Eifer bewirkt, mit dem wir unsere hervorragend törichten Streiche ausführen. Und es kam auch nicht das geringste Hindernis, auf das ich halb noch heimlich hoffte. Die Rechnung wurde bezahlt, der Pass mit Hilfe eines Backschisch unerhört schnell visiert, ein Billett erstanden, und um zwölf Uhr stieg ich, aus einem regellosen Gewirre von Lastkähnen und brüllenden Bootsleuten auftauchend, das Fallreep empor an Bord der ‚Rossija‘.

Olga Féodorowna, die ich den Morgen über nicht gesehen hatte, promenierte bereits auf dem Hinterdeck. Ohne einen Schimmer von Erstaunen hielt sie mir gelassen die Hand hin. „Guten Morgen! Wie haben Sie geschlafen?“ ... Das war alles.

Ich erwiderte auch nicht viel. Ihre Zuversicht verdross mich wirklich ein wenig. Schweigend standen wir nebeneinander und sahen in das bunte Treiben unter uns. Um unser Schiff, einen grossen schlanken Dampfer, schwammen Hunderte von Nussschalen, Frachtboote, Kähne mit Hotelgästen und deren Gepäck, die Schaluppen der Steuerbehörden, niedere Kaïks mit Dragomans und Händlern, früchtebeladene Jollen ... ein tolles Gewirr. Und dazwischen rasselt und dröhnt der Dampfkran, schreien die Matrosen, läuft alles auf Deck wild durcheinander, bis endlich das Signal ertönt, der Anker rasselnd und schlammtriefend aus der Tiefe emporsteigt und mit erschütterndem Ächzen die Schraubenflügel ihre Umdrehung beginnen.

Und dann glitten wir den Bosporus hinunter, vorbei an den zahllosen im Sonnenglanze schimmernden Palästen und Dörfern, an den kahlen, leuchtenden Hügelketten, dem lieblichen Flecken Bujukderé, weiter und immer weiter dem Schwarzen Meere zu. Schwere Windstösse verkündeten seine Nähe. Weisse Schaumspritzer tanzten auf den blauschwarzen Wogen, — ‚die Hasen kommen heraus‘, sagt nach Olgas Versicherung der Russe —, die Rahen knarrten, und im Kielwasser schnalzten in tollen Sprüngen die Delphine. Bald begann das Schiff leicht zu schwanken. Erst wankte es zögernd hin und her, als ob es nicht recht wisse, auf welche Seite es sich legen solle; dann versuchte es einmal, die Spitze unter die anrollenden Wellenkämme zu schieben, steckte gleich darauf plötzlich wieder den Bug so tief als möglich in die Flut und entschied sich schliesslich endgültig zu einer wunderlichen Bewegung, die, halb aus Rollen und halb aus Stampfen bestehend, die Kajütenlampen in der Linie einer schrägen Ellipse pendeln liess.

Ich hatte bemerkt, dass Olga Féodorowna immer bleicher wurde. Ihr Gesicht nahm einen müden leidenden Ausdruck an, sie seufzte wiederholt schwer auf. Plötzlich reichte sie mir die Hand: „Adieu ... ich lege mich hin ... ich werde seekrank.“ Und damit ging sie in ihre Kabine und wurde seekrank; ich aber, dem das Meer noch nichts anhaben konnte, blieb recht missmutig zurück. Der Himmel hatte sich umzogen, der Wind pfiff, das Schiff rollte, und aus der Ferne zog blitzschnell eine graue, prasselnde Wand herauf. Eine Regenbö ging über uns nieder, so dass ich machte, dass ich hinunter in den Salon kam.

Was nicht seekrank war, sass da beisammen an der reichlichen Mittagstafel: ein paar griechische Kaufleute, ein englischer Kabinettskurier, ein Jude aus Malta, russische Viehhändler —, eine kleine, aber keineswegs gewählte Gesellschaft. Den Kapitän hatten wir hier unten noch nicht zu Gesichte bekommen. Er blieb auf der Kommandobrücke, bis sein Schiff sich weit genug von der gefährlichen Küste entfernt hatte. Die Unterhaltung wurde stockend geführt, zumeist in schlechtem Französisch, — ad und zu ein paar russische Brocken dazwischen. Sie drehte sich, wie immer auf See, um das Wetter. Jeder wollte schon schrecklichere Stürme erlebt haben als sein Nachbar, und in die erregten Schilderungen klang das Glucksen und Gurgeln der Wogen an den Schiffswänden, und aus den in den Speisesaal mündenden, fest verschlossenen Kabinen das Stöhnen der Seekranken. Es herrschte eine recht muffige Luft in dem engen Raum, es roch nach Maschinenfett und Petroleum und mancherlei anderem; der Tisch schaukelte auf und nieder, es war kein Vergnügen, an ihm zu speisen. Mag man bei solcher Gelegenheit den gefüllten Suppenlöffel noch so fest auf den Mund richten, man stösst ihn sich doch an die Nase; man giesst sich den Rotwein im vollsten Sinne des Wortes hinter die Binde, so dass die Purpurflut die Hemdbrust tränkt, man rennt sich die Gabel in die Wange, während einen der Steward von oben mit Bratensauce salbt; — kurz, ich gab das Speisen auf, setzte mich in eine Ecke und hörte dem Gespräche der übrigen Passagiere zu.

Das Seethema war erschöpft, man behandelte jetzt das Ereignis des Tages, die Ermordung des Gouverneurs von Odessa. Zwei junge Männer hatten ihn auf der Promenade hinterrücks erschossen, waren ergriffen und aufgehängt worden.

Nihilisten natürlich! — Nur leise sprach man das geheimnisvolle Schreckenswort aus. Es war, als ob keiner dem andern traute, als ob ein verkappter Spion mitten unter der Gesellschaft sässe.

„Und woher wissen Sie, dass kein Nihilist hier im Salon ist?“ erwiderte, auf die von mir gemachte Bemerkung mich forschend anblickend und in greulichem Französisch einer der griechischen Kaufleute. Das schien einem anderen denn doch eine zu gewagte Ansicht; begütigend setzte er hinzu: „Oder dass wenigstens kein Nihilist sich an Bord des Schiffes befindet.“

„Wenn das der Kapitän hört ...“ sagte schüchtern irgend jemand.

„Der Kapitän? — Was geht es den Kapitän an! Ist der Pass des Reisenden in Ordnung, so hat er weiter nichts zu, fragen! Und gefälschte Pässe ...“

„... Kauft man in Moskau zu zehn Rubel das Stück,“ ergänzte eine tiefe Bassstimme.

„Sie können gar nicht wissen, Väterchen,“ wandte sich ein dicker, bleicher Russe zu mir, „wer hier alles in den Kabinen steckt. Sie sind von innen verschlossen. Niemand bekommt den Passagier zu Gesicht —.“

„Je nun,“ meinte ich, „einmal werden sie schon herauskommen.“

„Und wenn? Was dann? — Glauben Sie, diese Menschen sehen anders aus als wir? Es sind sogar meist kleine, schwächliche Leute, — Frauen in Menge, — allerhand Volk.“

„Sehr hübsche Frauen sogar!“ schmunzelte ein bräunlicher, Levantiner, „denken Sie an die Perowskaja, Väterchen.“

„An Wera Sássulitsch!“ rief ein anderer.

„An Jesse Helfmann!“ ergänzte eine dritte Stimme. „Nun also,“ meinte der bleiche Russe wieder, „hier auf dem Schiffe sind auch Frauen. Diese Dame zum Beispiel, mit der Sie vorhin sprachen. — Kennen Sie sie näher?“

„Erst seit gestern.“

„Ich will nichts gegen sie sagen ... aber belieben Sie sich selbst zu erwägen ... eine junge Frau, die allein durch die Welt reist ... Gott weiss, zu welchem Zweck —“

„Sie begleitete ihren Mann, der nach Palästina weiter pilgert,“ erwiderte ich gereizt. „Er fuhr gestern ab.“

„Gestern?“ mischte sich einer der andern Russen ein, ein kleiner Herr, der bis dahin schweigend zugehört hatte, „sagte sie selbst Ihnen das?“

„Ja! Mit einem Dampfer der ‚Messageries Maritimes‘.“

„Dann melden Sie doch der Dame,“ sagte der Kleine etwas spöttisch, „dass die Messageries Maritimes seit vierzehn Tagen, der drohenden Cholera wegen, Jaffa nicht mehr anlaufen.“

Das war ein harter Schlag. Aber die anderen bestätigten die Tatsache. — Ich stand auf und ging hinaus. Auf Deck strömte der Regen. So musste ich meine Koje aufsuchen.