Blaue Schatten  über der Bucht - Judith Parker - E-Book

Blaue Schatten über der Bucht E-Book

Judith Parker

0,0

Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht – Neue Edition: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Mystik Romanen interessiert. Stella trat an das Fenster. Unter ihr lag die Bantry Bucht mit ihren blauen Schatten. Dann fiel ihr Blick auf den Friedhof. Auch dort erleuchtete das Licht des Mondes die Gräber. Sie schienen violett gefärbt zu sein. Nun entdeckte sie zwei gekreuzte Schwerter, um die ein Kranz hing. Was für ein merkwürdiger Grabschmuck. Und dann die uralte Eiche, die so gespenstisch aussah. Eine dunkle Gestalt mit einem bodenlangen Kapuzenmantel trat hinter dem Stamm der Eiche hervor. Die Kapuze war so tief ins Gesicht gezogen, dass Stella nur die Nasenspitze hervorragen sah. Wie hell die Nacht war, unheimlich hell mit dem blauen geisterhaften Licht. Wer war diese Person, die nun mit Riesenschritten bis zu dem größten der Grabsteine eilte? Er sah wie ein Zwerg mit eckigen, nach oben gezogenen Schultern aus. Die Gestalt war verschwunden, so, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Der Blick des Fremden ließ sie nicht los und irritierte sie derart, dass sie den Ballsaal fluchtartig durch die Terrassentür verließ. Das Schneetreiben hielt sie nicht davon ab, die Richtung zum Pavillon einzuschlagen. Sie achtete auch nicht auf ihre dünnen Seidenschuhe, die schon nach wenigen Schritten völlig durchnässt waren. Schwer atmend stieß sie die Tür auf und zündete mit klammen Fingern die Kerzen an, die in dem Porzellanleuchter steckten. Dann setzte sie sich auf die Bank. Sie zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Irrlicht - Neue Edition – 16 –

Blaue Schatten über der Bucht

Das Unheil kam in der Hochzeitsnacht

Judith Parker

Stella trat an das Fenster. Unter ihr lag die Bantry Bucht mit ihren blauen Schatten. Dann fiel ihr Blick auf den Friedhof. Auch dort erleuchtete das Licht des Mondes die Gräber. Sie schienen violett gefärbt zu sein. Nun entdeckte sie zwei gekreuzte Schwerter, um die ein Kranz hing. Was für ein merkwürdiger Grabschmuck. Und dann die uralte Eiche, die so gespenstisch aussah. Eine dunkle Gestalt mit einem bodenlangen Kapuzenmantel trat hinter dem Stamm der Eiche hervor. Die Kapuze war so tief ins Gesicht gezogen, dass Stella nur die Nasenspitze hervorragen sah. Wie hell die Nacht war, unheimlich hell mit dem blauen geisterhaften Licht. Wer war diese Person, die nun mit Riesenschritten bis zu dem größten der Grabsteine eilte? Er sah wie ein Zwerg mit eckigen, nach oben gezogenen Schultern aus. Die Gestalt war verschwunden, so, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte.

Der Blick des Fremden ließ sie nicht los und irritierte sie derart, dass sie den Ballsaal fluchtartig durch die Terrassentür verließ. Das Schneetreiben hielt sie nicht davon ab, die Richtung zum Pavillon einzuschlagen. Sie achtete auch nicht auf ihre dünnen Seidenschuhe, die schon nach wenigen Schritten völlig durchnässt waren.

Schwer atmend stieß sie die Tür auf und zündete mit klammen Fingern die Kerzen an, die in dem Porzellanleuchter steckten. Dann setzte sie sich auf die Bank. Sie zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Was sie vorhatte, war reiner Wahnsinn. Wie hatte sie sich nur auf so etwas einlassen können? Noch war es nicht zu spät, noch blieb ihr Zeit, dem Mann zu erklären, dass sie es sich anders überlegt hätte. Leslie O’Carnac aber übte eine seltsame Macht auf sie aus.

Sie wusste von ihm, dass er aus einer angesehenen irischen Familie stammte, die in der Grafschaft Cork ein Schloss und natürlich auch Ländereien besaß. Dieser Besitz lag an der Bucht von Bantry. Unverständlich für sie war Mamas Abneigung gegen Leslie. Sie hatte erklärt, sie würde es niemals zulassen, dass sie, Stella, diesen Mann heirate. Deshalb hatte sie sich entschlossen, mit Leslie durchzubrennen. Noch in dieser Nacht. Eine Barkasse würde sie von Woolwich zu dem Schiff bringen, das direkten Kurs auf die Hafenstadt Cork nahm.

Stella O’Riodain war vor einigen Wochen achtzehn geworden und noch nicht volljährig. Leslie jedoch hatte ihr versprochen, dass Pater Rubens sie gleich nach ihrer Ankunft in Durham House trauen würde. Sein Vater und seine Schwester wären von ihm verständigt worden.

Stella erschrak zutiefst, als sie Schritte hörte, die sich dem Pavillon näherten. Leslie? Er musste bemerkt haben, dass sie das Haus verlassen hatte. Wenn Papa noch leben würde, wäre alles viel leichter für sie. Sein unerwarteter Tod vor einem Jahr war für sie ein entsetzlicher Schock gewesen. Auch Mama litt sehr unter dem schweren Verlust. Aber sie lenkte sich von ihrem Kummer ab, indem sie sich für Wohltätigkeitsvereine aufopferte und auch gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam. Papa hätte bestimmt nichts gegen eine Ehe mit Leslie O’Carnac gehabt. Papa war auch Ire gewesen.

Die junge Frau hielt kurz den Atem an und wartete aufgeregt. Die Tür wurde aufgestoßen, und der Mann, der nun den Pavillon betrat, sah einfach fantastisch aus in dem schwarzen Frack und dem blütenweißen Rüschenhemd. Es war der Fremde, vor dem sie davongelaufen war.

Was für ein bezauberndes Mädchen, dachte er. Es ist für diesen O’Carnac viel zu schade. Stella zupfte verlegen an dem Ausschnitt ihres rosa Ballkleides, das sie scheußlich fand. Mama jedoch war der Meinung, dass ein junges Mädchen in ihrem Alter auf keinen Fall in einer mondänen Robe auf seinem ersten Ball erscheinen dürfe.

»Wer sind Sie?«, fragte die junge Frau. »Ich habe Sie im Ballsaal gesehen. Hat meine Mutter Sie eingeladen?«

»So ist es, Miss O’Riodain. Ich dachte, Sie würden mich kennen. Sonst hätte ich mich gleich vorgestellt. Ich bin Timothy O’Crean und kenne die O’Carnacs sehr lange. Auch ich fahre nach Irland zurück. Mein Vater und der Ihrige waren gute Freunde. Ich hatte etwas in London zu erledigen.«

Stella war noch zu jung, um sich verstellen zu können. Dass dieser Mann über Leslie und sie Bescheid wusste, ließ sie vor Schreck erstarren. Nun gut, Leslie und sie waren oft zusammen gewesen und auch gesehen worden. Aber woher wusste dieser Timothy O’Crean von ihrer Absicht durchzubrennen?

»Ich habe dich überall gesucht, Stella«, ertönte die atemlose Stimme von Leslie O’Carnac. Er trug ebenfalls einen Frack, aber er sah darin nicht so gut aus wie dieser Timothy O’Crean, dessen Blick sich nun auf den um einen halben Kopf kleineren und untersetzten Mann richtete. Leslie sah in einem Sportanzug viel anziehender aus. Er hatte Stella gestanden, wie ungern er sich in Schale geworfen hatte. Auch Bälle seien ihm zuwider. Er sei das freie Landleben gewöhnt und könne den Augenblick kaum erwarten, endlich wieder daheim zu sein, daheim in Durham Castle, in dem alten Schloss an der Bucht von Bantry.

Dass die Männer sich kannten, war nicht zu übersehen und auch nicht, dass sie sich spinnefeind waren.

»Stella, du hast nasse Schuhe. Du wirst dich erkälten. Du hast dir nicht einmal einen Schal umgelegt. Es ist Februar und eine besonders kalte Nacht. Das Schneetreiben ist heftiger geworden. Komm sofort ins Haus zurück!«

»Ja, Leslie.« Die blauen Augen des Mannes, dem sie ihr Leben anvertrauen wollte, siegten wieder über ihre Skrupel. Ich liebe ihn mehr als mein Leben, dachte die junge Frau und erhob sich.

Sie fing noch einen Blick des größeren Mannes auf. Es war ein missbilligender, gleichsam trauriger Blick, der sie irgendwie schmerzte.

Hastig wandte sie sich um und ließ sich von Leslie seine Frackjacke über die Schultern legen. Ihr zukünftiger Mann fasste sie bei der Hand.

Timothy hatte es nicht so eilig. Er blieb in der offenen Pavillontür stehen und sah dem Paar nach. Er verstand sich selbst nicht mehr. Was ging ihn diese Stella O’Riodain an, die Tochter eines Iren und einer Londonerin? Und was er von Leslie O’Carnac zu halten hatte, darüber brauchte er sich bei Gott den Kopf nicht mehr zu zerbrechen. Natürlich gab er nicht viel auf das Gerede der Leute rund um die Bantry Bucht. Dennoch musste etwas Wahres daran sein. Seltsame Dinge geschahen in Durham House. Ein bitteres Lächeln umspielte seine gut geschnittenen Lippen, als er an Ellis O’Carnac dachte, an das Mädchen, das er hatte heiraten wollen. Doch das war vorbei. Er hatte sich mit seiner großen Enttäuschung abgefunden.

Merkwürdigerweise fühlte er sich für die Tochter des einst so guten Freundes seines Vaters verantwortlich. Zuletzt hatte er sie als vierzehnjähriges Mädchen gesehen, an dem Tag, als ihr Vater ihr die Fuchsstute geschenkt hatte. Das Mädchen hatte nur noch das Pferd gesehen und ihn überhaupt nicht beachtet.

Als er am gestrigen Tag der Witwe von Mr O’Riodain einen Besuch abstattete, um ihr Grüße von seinen Eltern zu bestellen, hatte diese ihn zu dem heutigen Ball eingeladen, das erste Fest in dem großen Palais nach Mr O’Riodains Tod. Er war gerne gekommen. Sehr schnell war ihm klar geworden, dass Leslie O’Carnac und Stella O’Riodain ein Liebespaar waren.

Vor einer guten Stunde hatte Stellas Mutter ihm erklärt, sie werde nie ihre Zustimmung zu einer Heirat zwischen den beiden geben. Niemals!

Stella. Sie gehörte nicht zu den schönen Frauen, die die Männer wie die Motten das Licht umschwärmten. Sie war anders als diese oft hohlköpfigen Frauen, deren Sinn nur nach Vergnügen stand. Sie hatte etwas, das mehr zählte als Schönheit. Ihre Züge belebten sich auf eine fast wundersame Weise, wenn sie sprach oder lachte. Selbst wenn ein Zug von Traurigkeit ihr Gesicht überschattete, wirkte sie lieblich. Etwas Anziehendes ging von ihr aus, ein unwiderstehlicher Charme, der ihn gefangen genommen hatte.

Fast körperlich spürte Timothy eine Gefahr, die Stella drohte. Von wem? Natürlich von Leslie O’Carnac. Vielleicht aber redete er sich das alles nur ein, weil er Leslie die Schuld an seiner zerplatzten Verlobung mit Ellis O’Carnac gab. Bis zum heutigen Tag konnte er sich nicht erklären, weshalb seine Verlobte ihn nicht mehr hatte sehen wollen.

Timothy O’Crean kehrte sehr nachdenklich zurück. Der Ball schien seinen Höhepunkt erreicht zu haben.

Lautes Lachen, lebhaftes Stimmengewirr und dann die Kapelle, die nun eine Polka spielte. Die jungen Leute tanzten begeistert nach dem temperamentvollen Rhythmus. Aber Stella war nicht da. Leslie O’Carnac sprach mit einem älteren Gentleman. Er warf Timothy einen kurzen Blick zu, dann sprach er wieder auf den alten Mann ein. Damit schien er ihm klarmachen zu wollen, dass er für ihn Luft war.

Wo aber steckte die Tochter der Gastgeberin? Vivian O’Riodain sah dem jungen Mann freundlich entgegen, als er sich ihr näherte.

»Meine Tochter ist nach oben gegangen«, klärte sie ihn auf. »Timothy, müssen Sie tatsächlich schon im Morgengrauen London verlassen?«, fragte sie leise.

»Ja, Madam, aber ich werde wiederkommen. Sowie ich alles Geschäftliche mit meinem Vater besprochen habe, werde ich zurückkommen. Das verspreche ich Ihnen. Ich möchte mich jetzt verabschieden. Mein Diener erwartet mich in meiner Wohnung am Regent Park. Wir dürfen das Schiff nach Irland nicht verpassen. In Woolwich besteigen wir die Barkasse, die uns zu der Victoria bringt. Es war ein sehr hübscher Abend. Richten Sie Ihrer reizenden Tochter noch viele Grüße aus.«

Nach einem Handkuss verließ Timothy O’Crean das Palais. Sein Kutscher öffnete ihm den Schlag des Wagens. Bevor der Mann einstieg, warf er noch einen Blick auf die Fensterfront im ersten Stock des prunkvollen Hauses. Bewegte sich da nicht ein Vorhang?

Ich werde bald zurück sein, Stella, sagte er sich. Um dich von diesem Leslie O’Carnac zu kurieren. »Fahr los, John!«, rief er dem Kutscher zu.

Mrs Vivian O’Riodain atmete erleichtert auf. Sie war fest davon überzeugt, dass dieser reizende Ire ihre Tochter zur Vernunft bringen würde. Dass Timothy O’Crean großes Interesse für Stella zeigte, war der lebenserfahrenen Frau nicht entgangen. Hoffentlich reiste dieser schreckliche Mr O’Carnac bald ab. Solange dieser Mann sich in London aufhielt, würde sie Tag und Nacht keine Ruhe haben.

Stella betrat wieder den Saal. Die Kapelle spielte jetzt einen Walzer von Johann Strauß. Während die junge Frau mit Leslie tanzte, sah sie sich diskret nach allen Seiten um.

»Er ist schon weg«, erklärte Leslie leicht gereizt.

»Wen meinst du?« Stella konnte es nicht verhindern, dass eine leichte Röte ihr Gesicht überzog.

»Diesen Timothy O’Crean. Er ist ein Abenteurer, ein Windhund und ein leidenschaftlicher Glücksspieler. Er war mit meiner Schwester Ellis verlobt. Er hat sie dann sitzen lassen.«

»Ja, er sieht wirklich so aus, als ob er alles auf die leichte Schulter nimmt. Leslie, glaubst du, dass alles klappt?« Stella sah den Mann mit hektisch roten Wangen an.

»Aber bestimmt. Wir lieben uns. Und dass wir zu diesen Mitteln greifen müssen, ist die Schuld deiner Mutter. Wenn wir erst einmal verheiratet sind, dann …« Er zog das Mädchen noch enger an sich heran. »Ich liebe dich. Ich bin verrückt nach dir. Ach, Stella …« Wieder stockte er. »Vielleicht solltest du …«

»Du sprichst nie einen Satz zu Ende, Leslie. Was ist mit dir los?«

»Verzeih, Liebste. Glaube mir, es fällt mir sehr schwer, dich dazu überredet zu haben, diesen Schritt zu unternehmen. Aber bleibt uns eine andere Wahl?«

»Nein, Leslie. Verabschiede dich nach dem Tanz von meiner Mutter. Erzähle ihr, dass du morgen nach Paris fahren musst. Sie wird erleichtert aufatmen und dann keinen Verdacht mehr schöpfen. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde pünktlich am Hinterausgang des Hauses in der schmalen Gasse warten.«

»Du brauchst nicht zu warten, Stella. Ich werde da sein, noch vor dir. Du kannst mir glauben, dass ich die Minuten zähle bis zu dem Augenblick, in dem die Barkasse in Woolwich abgelegt hat und wir in Sicherheit sind.« Der Mann drückte ihr zärtlich die Hand, als die Kapelle zu spielen aufhörte.

Nachdem Leslie sich von Mrs O’Riodain verabschiedet hatte, entging ihm nicht die Erleichterung, die er deutlich von ihrem Gesicht ablesen konnte.

Wäre es nicht besser für sie alle, wenn er einen Brief an die geliebte junge Frau schrieb, in dem er ihr mitteilte, dass er es sich anders überlegt hätte? Denn nur so würde er sie von dieser tödlichen Gefahr fernhalten können, die sie in Durham House erwartete. Bei den anderen Mädchen, die er auf dieselbe Weise dorthin gebracht hatte, war er ohne Skrupel gewesen, weil ihm keine etwas wirklich bedeutet hatte. Aber Stella liebte er. Bisher war ihm dieses Gefühl fremd gewesen.

Der Mann sank auf den Sitz der Kutsche und schloss die Augen. Der Gedanke, dass er sie nicht mehr wiedersehen sollte, erschien ihm unerträglich. Nein, er würde nicht auf sie verzichten. Als seine Frau stand sie unter seinem Schutz. Noch am selben Tag, an dem sie Durham House erreichten, mussten sie getraut werden. Er kannte Pater Rubens sehr gut. Der Geistliche würde ihren Bund in der Schlosskapelle segnen, bevor …

*

Stella hüllte sich fester in das Pelz­cape. Ihre Zähne schlugen hart aufeinander. Sie fror nicht nur von der eisigen Kälte, die durch die Ritzen der Kutsche drang, sondern auch vor Aufregung. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Bis zu der Minute, als sie an der Tür ihres hübschen Schlafzimmers stehen blieb, um Abschied zu nehmen und sich noch einmal zu überzeugen, dass ihre Lieblingspuppe mit den dunklen Haaren und die Kissen, die sie unter die Bettdecke gestopft hatte, auch echt wirkten, hatte sie geglaubt, dass alles ganz einfach sein würde. Mama würde in dieser Nacht nicht einmal mehr einen Blick in ihr Zimmer werfen. Und morgen würde ihre Zofe Jenny sie nicht vor Mittag wecken. Schließlich waren die letzten Gäste erst gegen drei Uhr früh gegangen.

Wenn man entdeckte, dass sie weg war, befanden Leslie und sie sich bereits auf See.

»Bitte, Liebste, höre zu zittern auf.« Leslie setzte sich nun neben die junge Frau und zog sie an sich. »Natürlich ist es verantwortungslos von mir, dich in ein solches Abenteuer hineinzuziehen. Aber wir hatten keine Wahl. Deine Mutter hätte nie einer Ehe zwischen uns zugestimmt. Wir werden bei mir zu Hause sofort heiraten. Noch am selben Tag unserer Ankunft. Später dann können wir eine richtige Hochzeit nachfeiern. Ich werde alle meine Freunde einladen. Es ist auch wegen meines Vaters. Er ist ein schrecklicher Moralist und würde es nicht verstehen, dass ein verlobtes Paar unter einem Dach wohnt, wenn weder die Mutter der Braut noch eine Anstandsdame anwesend sind.«

Stella hatte das Gefühl, als ob ein dicker Kloß in ihrem Hals steckte. Es schneite so dicht, dass man kaum etwas sehen konnte. Hin und wieder jedoch tauchte eine furchterregende Gestalt dicht an einem der Fenster des Kutschkastens auf. Schmutzige Hände streckten sich Stella entgegen. Der Kutscher stieß einen Fluch aus. Dann hörte man das Knallen und Zischen der Peitsche, mit der der Mann auf dem Kutschbock die Bettler verjagte.

»Es sind arme Menschen«, flüsterte Stella voller Mitleid. »Leslie, warum gibst du ihnen nichts?«

»Sie sind ein faules Pack. Was glaubst du wohl, was geschehen würde, wenn ich einem von ihnen ein Geldstück zuwerfen würde? Sie würden alle dem Wagen nachrennen und schließlich einen Überfall wagen. Wir fahren durch einsame Gassen. Außerdem schlafen fast alle anständigen Londoner um diese Zeit.«

»Aber das laute Rattern der Kutschenräder auf dem Pflaster müsste sie doch wecken.«

»Daran sind die gewöhnt. Einige werden aufhorchen und dann ruhig weiterschlafen. London ist eine große Stadt mit viel Lärm, der auch oft in der Nacht nicht nachlässt.«

Die Laterne im Inneren des Kutschkastens schaukelte leicht und warf ihren Schein auf das schmale Mädchengesicht. Wie schön sie ist, dachte der Mann. Keine auffallende Schönheit. Ihre weiche verträumte Art faszinierte ihn, und der Schimmer in ihren großen braunen Augen erzeugte in ihm etwas, das er bisher noch nicht empfunden hatte. Für ihn waren alle Frauen auf irgendeine Weise gleich gewesen. Auch wenn sie verschiedene Haarfarben hatten und Augen in allen Schattierungen. Was war es nur, was ihn so zu Stella hinzog? Was nur? Liebe tat weh. Früher hatte er darüber gelacht, als Ellis ihm einmal anvertraute, wie sehr sie unter diesem Gefühl leide. Jede Stunde ohne Timothy war für sie eine verlorene, eine Stunde voller schmerzlicher Sehnsucht. Ellis …

Der Mann ballte die Hände zu Fäusten. Stella bemerkte die Erregung Leslies und sah ihn erschrocken an. Seine Züge waren verzerrt vor Zorn und auch Leid.

»Leslie!«, rief die junge Frau. »Leslie, wäre es nicht besser umzukehren? Hast du plötzlich Angst?«

Wie ein Erwachender fuhr sich der Mann über die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?«

»Du hast eben so seltsam ausgesehen, richtig furchterregend«, erklärte das Mädchen und zog sich von ihm zurück.

»Ich dachte an jemanden. Verzeih, Stella, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber es gibt Menschen, die ich hasse. Manchmal muss ich so intensiv an sie denken, dass ich mich kaum noch selbst kenne.«

»Gehört dieser Timothy O’Crean zu diesen Leuten?«

»Ein wenig schon. Ich kann dir das im Augenblick nicht erklären. Wir scheinen schon am Ziel zu sein.«

Tatsächlich hielt die Kutsche. Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Als Leslie Stella aus der Kutsche half, spürte sie die Kälte so sehr, dass sie zu zögern begann. Der eisige Wind schnitt ihr ins Gesicht. Obwohl sie Pelzstiefelchen trug, waren ihre Füße eiskalt.

»Es sind nur wenige Schritte bis zum Pier«, sagte der Mann.

Zwei Matrosen warteten bereits auf sie. »Wird höchste Zeit, Sir«, sagte ein bärtiger Mann mit harten Augen. »Alle Passagiere sind schon an Bord. Wir müssen die Victoria erreichen.«

Leslie führte seine zukünftige Frau einige Stufen hinunter zur Kajüte. Auf den Seitenbänken saßen die Passagiere. Einige schliefen, andere starrten das Paar neugierig an, um sich dann wieder abzuwenden.

Stella sank erleichtert auf die harte Bank. Wenn die Kajüte auch nicht warm war, so empfand sie die Temperatur doch als angenehm. Eine jähe Müdigkeit überfiel sie. Ihre Lider fielen zu.

Weder Stella noch Leslie hatten auf den Mann in dem knöchellangen dunklen Mantel mit dem Fuchspelzkragen und der dazu passenden Pelzmütze geachtet. Der Mann nickte zufrieden und sagte zu seinem Diener, der um gut einen Kopf kleiner als sein Herr war: »Sam, das hast du gut gemacht. Daheim werde ich dich dafür entlohnen.«

»Es war gar nicht so schwer. Der Diener von Mr O’Carnac redet gerne und viel. Außerdem trinkt er den Whisky wie Wasser.«

»Gut, gut!« Der Mann in dem eleganten Mantel, der mit Pelz gefüttert war und ihn kräftiger erscheinen ließ, als er war, umfasste die Reling der Barkasse und blickte auf die armseligen Häuser auf der rechten Seite der Themse. Er war froh, wieder heimreisen zu können. London war eine faszinierende Stadt mit vielen Gesichtern. Eine Weile konnte man es in diesem bunten Durcheinander aushalten. Aber wer kein echter Londoner war, war sicherlich froh, dieser Riesenstadt wieder den Rücken kehren zu können.

»Lege dich nieder, Sam«, schlug der Mann seinem Diener vor. Der Gentleman gehörte zu den auserwählten Passagieren, die einen Anspruch auf eine Kabine hatten. Er selbst hatte vor, die Nacht hier draußen zu verbringen. Die kalte Schneeluft würde seine ein wenig chaotischen Gedanken klären und ihm helfen, sich einen festen Plan zurechtzulegen.

*

Stella atmete erleichtert auf, als sie die Luxuskabine auf dem Passagierdampfer Victoria betrat. Sie fühlte sich wie gerädert und konnte nicht warm werden.

Besorgt sah Leslie sie an. »Ich werde dir sofort einen Grog bringen, Stella«, versprach er der Frau. »Jetzt kannst du dich hinlegen.«

Stella hatte keine Widerstandskraft mehr. Sie setzte sich auf den Rand der Koje und ließ sich von dem Mann die Stiefelchen ausziehen. Dann bewegte sie ihre klammen Zehen. Leslie zwang die Frau, sich auf dem schmalen Bett auszustrecken, nachdem er ihr das pelzgefütterte Cape abgenommen hatte. Dann deckte er sie mit einer Felldecke zu.

Stella spürte die Tränen, die ihr unter den Lidern brannten. Sie dachte an ihre Mutter, die wahrscheinlich zu dieser frühen Stunde noch schlief und keine Ahnung hatte, was auf sie zukam.