Blinder Passagier für Bombay - Dietmar Beetz - E-Book

Blinder Passagier für Bombay E-Book

Dietmar Beetz

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Beschreibung

Pitt und Latte, beide Schiffslehrlinge, also das, was man heute wohl "Matrosen-Azubi" nennt, sind zum ersten Mal auf großer Fahrt. In Port Sudan, unterwegs nach Indien, kommen zwei Passagiere an Bord: ein zwielichtiger Händler und Krishna, ein Bürschchen, jünger noch als Latte und Pitt, denen er sich anvertraut und die ihm zu Freunden werden. Er will, erfahren sie, nach Karachi, zu Kamala, seiner Tante, der einzigen Verwandten, an die er sich wenden kann, seit sein Vater verstorben ist. – Wird er sie aufspüren in der großen Stadt, einer der größten auf dem Subkontinent, der in verfeindete Staaten gespalten ist? Und wenn nicht, was dann, wie weiter? – Und Latte und Pitt, was steht ihnen bevor? Dietmar Beetz, 1965 als Schiffsarzt im Indien-Liniendienst, hat ein Schicksal aufgegriffen, von dem er an Bord von MS "Berlin" erfuhr, und so davon erzählt, wie es sich damals durchaus hätte ereignen können. INHALT: 1. Im Höllenschlund 2. Das Vermächtnis in der Schatulle 3. Lang ersehnter Landgang 4. Heiße Ware im Gepäck 5. Durchs "Tor der Tränen" 6. Schatten, Schatten, Schatten... 7. Auf Reede vergessen 8. Das Haigebiss 9. Kein gewöhnlicher Samstag 10. Im Dschungel von Karachi 11. Schnapsaffäre mit Komplikation 12. Im Boot auf dem Trocknen 13. Perspektiven

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Impressum

Dietmar Beetz

Blinder Passagier für Bombay

ISBN 978-3-86394-136-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1974 bei Verlag Neues Leben Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Im Höllenschlund

An diesem Morgen erwachte Pitt mit stechenden Schmerzen im Nacken. Sein Kopf war auf die linke Schulter gesunken, sein Arm gegen das kantige Gestell gepresst. Trotzdem blieb er noch eine Weile liegen, ohne sich zu rühren. Benommen starrte er auf einen Rostfleck am Kiel vom Rettungsboot, und es dauerte geraume Zeit, bis er sich wieder voll in seiner Umgebung zurechtfand.

Über den Planken, über dem Wasser, überall stand die Luft wie eine heiße, zähe Masse. Der Horizont war kaum erkennbar; grau verschmolzen Himmel und Meer. Weiter oben aber, neben der Außenwand vom Rettungsboot, zeigte sich ein Blau, mit dem Pitt durchaus zufrieden war: Noch glich es fast haargenau dem strahlenden Azur, der in seiner Vorstellung, soweit er sich zurückerinnern konnte, unbedingt zu einem ordentlichen Tropenhimmel gehörte. Noch. In drei, vier Stunden allerdings - das wusste er inzwischen - würde das Blau wieder ausgeblichen sein, bleichgeglüht von der Sonne, die eben aufstieg aus dem Dunst am Horizont.

Diese Sonne hier über dem Roten Meer! Und diese Hitze, verdammt noch mal! Da hatte er nun schon die Nacht an Deck verbracht, und trotzdem klebten ihm jetzt, am frühen Morgen, bereits das Turnhemd und die Turnhose am Leib. Das würde ja wieder was geben; das fing heut ja gleich happig an. Und die Schmerzen im Genick wollten auch nicht vergehn - kein Wunder nach so einem Lager.

Stöhnend erhob sich Pitt aus dem Liegestuhl. Mensch, die Beine - Junge, Junge! Na, waren wenigstens die richtig eingeschlafen; er selbst hatte sowieso bloß gedöst, und das nun schon die dritte Nacht hintereinander. Verdrossen stakte er zur Reling. Dabei musste er sich zwischen Liegestühlen hindurchmanövrieren, über Luftmatratzen steigen, auch über die, auf der Latte, sein Freund und Kammernachbar, lag und schnarchte.

Nerven hatte der! Den brachte doch wirklich nichts aus der Ruhe. So sehr das ihm, Pitt, sonst auch imponierte, jetzt hätte er dem Freund am liebsten einen Tritt versetzt. Und alles nur wegen dieser Affenhitze!

Dann aber vergaß Pitt den Schweiß auf Brust und Rücken, die Schmerzen in den Waden und im Genick. Für Minuten wurde er wieder der Junge aus Meißen, der endlich war, wohin er zehn Schuljahre lang immer gewollt hatte: auf See, im Roten Meer. Matrosenlehrling Peter Schmidt!

Schade, dass Ela ihn jetzt nicht sehen konnte: Matrose Pitt an Bord der "Potsdam", lässig auf die Reling gestützt.

Freilich gab's von diesem Motiv bereits ein Dutzend Dias oder mehr, zumindest die Schnappschüsse dafür: Pitt vor dem Auslaufen in Rostock, Pitt in Rotterdam und Pitt in Antwerpen, Pitt in der Biskaya und Pitt am Kap und immer wieder Pitt vor dem Hintergrund der Häfen und Küsten, die er betreten hatte oder gesehen auf seiner ersten großen Reise, seinem ersten wilden Törn. Das alles gab es oder würde es geben: frühestens in einem Vierteljahr in einer abgedunkelten Stube, farbig an der Wand. Was aber war das schon, verglichen mit dem wirklichen Antwerpen, einem höchstpersönlichen Bummel durch die Straßen rings um die Kathedrale dort? Beispielsweise. Oder im Vergleich zu jenem Augenblick, da in Rostock die Ankerwinde zu kreischen begann?

Schade, dass Manuela nicht dabei war, als Latte und Pitt sich im Hafen von Rotterdam so gut wie rettungslos verlaufen hatten. Jeder andere Bursche aus Meißen hätte in solcher Situation kapituliert. Pitt mitnichten! In bestem sächsischem Englisch erkundete er den Weg durchs Labyrinth der Lagerschuppen und Kais zum Liegeplatz der guten, alten "Potsdam".

Den Sturm kurz vor Luanda allerdings vergaß man lieber; da hatte Pitt keine ganz so gute Figur gemacht.

Latte übrigens auch nicht. - Junge, Junge, war da was los! Leider hat's zum Einlaufen nicht gereicht.

Mensch, dass er das verschwitzen konnte! Natürlich war nur die Hitze schuld daran. Und die letzte Nacht, der dösige, unausgeschlafene Kopf.

Weit weniger vorsichtig als vor Minuten stieg Pitt über die Luftmatratzen zurück zum Rettungsboot. Er klappte seinen Liegestuhl zusammen, überlegte es sich dann aber anders und ließ ihn einfach an Deck zurück. Den Weg zum Vorschiff nahm er fast im Lauf; die Schmerzen in den Waden und im Nacken waren weg.

Ein herrlicher Tag hatte begonnen, ein außerordentlicher Tag nach langen und langweiligen Wochen der ununterbrochenen Fahrt fast um ganz Afrika herum. Endlich war es soweit, hoffentlich heute noch! Na, auf der Brücke würden sie es ja wissen.

Und sie würden es vorerst für sich behalten; denn an dem da kam man nicht unangefochten vorbei. Der hatte Pitt gerade jetzt gefehlt! Stand da vor seiner Pantry und sah aus, als wollte er mal wieder maulen - egal, worüber, und egal, mit wem. Da tat man gut, nicht so hastig vorbeizuflitzen und sich möglichst gleichgültig zu geben. "Tag, Moby!"

"Du mich auch."

Na, bitte! Und so einer war nun Steward, noch dazu in der Offiziersmesse. Der glaubte wahrscheinlich, wunder wer zu sein, nur weil er schon fünfmal in Indien und dreimal in Kuba gewesen war. Oder er dachte, ein Seemann muss so reden. Der und Seemann - dieser fette Kerl!

Moby wischte sich mit einem Zipfel der Schürze, die er vor die Turnhose gebunden hatte, über das schweißfeuchte Gesicht. Dabei gab er Ausdrücke von sich, die für die Hitze durchaus angemessen waren. Keine ausgefallenen Flüche übrigens. Alle Matrosen und erst recht die Männer der Maschinengang gebrauchten, sobald die Rede darauf kam, das gleiche Vokabular, und in den letzten Tagen drehten sich die Gespräche, wo man ging und stand und lag, fast ausschließlich um diese gottverfluchte, hundsgemeine Hitze. Bei Moby aber reizten selbst solche an sich treffenden Worte Pitt zu Widerspruch und Hohn.

"Halb so wild", sagte er. "Haargenau das richtige Wetter fürs Kombüsenpersonal an einem Seemannssonntagmorgen."

"Seemannssonntag!", rief Moby mit einem scheelen Blick. "Aber Eier gibt's heute nicht! Soll sich, wer Lust hat, selber welche in die Pfanne haun; mich können alle mal..."

Und es folgte der übliche Fluch auf die Herren da oben und da hinten, die Eier hochkant oder quer, gerührt oder gequirlt, mit oder ohne Zwiebeln zu wünschen geruhten, und das nur, weil irgend so ein Idiot den Donnerstag zum Seemannssonntag bestimmt hatte und zum Frühstück Woche für Woche diese dämlichen Eier.

"Tja, da müssen wir eben ohne Rührei im Magen an Land gehn."

Pitt sagte es so gleichmütig wie möglich; aber Moby tat ihm den Gefallen nicht: kein Wort über Port Sudan, keine noch so vage Vermutung, wann endlich man dort einlaufen würde. - So ein Stiesel! Man sprach von Landgang, und der hatte nur Hitze und Rührei im Kopf.

Aber heiß war's ja tatsächlich, Junge, Junge! Als Pitt zur Brücke hochstieg, längst nicht mehr so forsch wie zuvor bei seinem Lauf über Deck, brach ihm erneut der Schweiß auf der Brust und zwischen den Schulterblättern aus.

Die Sonne warf bereits einen scharfen Schatten in die Nock. Backbord tummelten sich in der Bugwelle zwei Delfine. Waren das nun dieselben, die schon gestern Abend, als Pitt und Latte an der Reling standen, eine Extraschau abgezogen hatten? Eigentlich könnten die beiden auch mal einen Kampf mit einem Hai zum Besten geben. Oder gab's das nur im Kino?

Das war doch was für den nächsten Brief an Manuela: "Hier kloppen sich übrigens täglich die Delfine mit den Haien." Was in dieser Art, natürlich nur ganz nebenbei. Na, mal sehn...

"Gut geruht?", fragte der Dritte Steuermann. Der Rudergänger, ein Vollmatrose, versuchte ein Grinsen; vor Müdigkeit gelang's ihm nicht so recht.

"Klar", erwiderte Pitt, "Bin frisch und munter wie ein Delfin."

"Da kannst du ja gleich mal deine Wache wecken gehn", sagte der Dritte. Sagte es und brannte sich eine weitere Zigarette an und schaute wieder nach vorn, wo doch nun wirklich nichts zu sehen war, nur Wasser und der Dunst am Horizont. Der Dritte aber schaute und rauchte und schwieg.

Schwer, so einem eine so heikle Frage zu stellen. Schließlich war ein Steuermann kein Auskunftsbüro und ein Matrosenlehrling kein neugieriger Passagier. "Nicht gehört?", fragte der Rudergänger. "Sollst deine Leute wecken, du – Delfin!"

Im Vorbeigehn brummte Pitt was von einem blöden Affen; dann war er mit einem Sprung im Kartenhaus. Unwillkürlich schnappte er nach Luft; denn in dem schmalen, fensterlosen Raum stand die Schwüle wie in einer Sauna.

Auch auf dem Gang war es kaum erträglicher. Und da agitierten einen nun die Offiziere: "Leute, schlaft in euern Kammern! An Deck holt ihr euch was weg." Als ob die Schwitzkur in diesem Backofen gesünder war! -Na ja, bequemer war's schon als in einem Liegestuhl.

Und Pitt rief in die Kammer vom Ersten Steuermann, der das Schott auf Sturmhaken gestellt und den Ventilator auf seine Koje gerichtet hatte: "Chief mate, die Nacht ist rum!"

Die Antwort war ein Fluch - so lästerlich, dass sogar Moby aufgehorcht hätte.

Pitt war geradezu entzückt: Da hör einer den Ersten, den gestrengen Chef der Decksgang! Tja, das Vorbild begann wahrscheinlich erst im Dienst zu leuchten, und einer, der nackt in der Koje lag, nur mit einem Laken um die Hüften, konnte ja wohl schwerlich schon den Dienst angetreten haben. Aber immerhin ...

"Ist was gewesen, chief mate?", fragte Pitt. Er hatte den Kopf durch den Türspalt gesteckt, unschuldig und hilfsbereit schaute er seinen Vorgesetzten an.

Ulli riss die Augen auf, als er den Matrosenlehrling sah.

"Was gewesen? Was soll denn gewesen sein?"

"Muss mich verhört haben. War sicher beim Funker."

"Bestimmt beim Funker", sagte Ulli, der chief mate, mit Nachdruck. Dann aber verzog sich sein verschwitztes Gesicht zu einem Grinsen.

"Wird schlecht geschlafen haben, der - Funker."

"Verdammt schlecht geschlafen." Pitt bestätigte die Vermutung ungerührt.

"Sie wohl auch?", fragte der chief mate. "Weshalb sind Sie denn so früh schon auf den Beinen?"

"Ach, ich wollte bloß mal auf der Brücke nach dem Rechten sehn. Damit wir nicht in Bombay landen, statt in Port Sudan. - Schätze, gegen Abend sind wir da?"

"Mann, hau ab und weck die andern!" Was lediglich bei Latte nicht ganz einfach war. Er als Einziger schlummerte noch, ausgestreckt auf seiner Luftmatratze, im Schatten vom Rettungsboot wie in einer Koje oder einem Federbett.

Ein richtiger Rhönbauer, dachte Pitt wie schon so oft, dachte es, obwohl er weder echte noch falsche Rhönbauern kannte. - Überhaupt: die Rhön, dieser verflixte Winkel irgendwo da hinten im Südwesten der Republik!

"Ich bin aus Römhild, verstehst du? Das hört sich zwar an wie Rhön, hat aber mit der Rhön direkt nicht viel zu tun. Römhild ist nämlich eine Kleinstadt, und die Rhön ist ein Mittelgebirge. Römhild, weißt du, liegt mehr im Grabfeld; das ist auch so eine Art Mittelgebirge, und ein bisschen nordwestlich von uns liegt die Rhön. So ist das."

Natürlich hatte Pitt bereits beim ersten Mal verstanden; schließlich war er aus Meißen in Sachsen, also nicht auf den Kopf gefallen. Trotzdem oder gerade deshalb stellte er sich begriffsstutzig und ließ den Freund noch gut ein Dutzend Mal die geographischen Gegebenheiten seiner näheren Heimat erklären. Und Latte tat es jedes Mal mit Bedacht und Gründlichkeit - wie übrigens alles, was er begann.

Und jetzt schlief er eben gründlich, der steigenden Sonne und der zunehmenden Schwüle zum Trotz. So einfach war das bei Latte. Nerven hatte der! "Frank, wach auf! Der Vater ist schon auf dem Acker."

Pitt rüttelte den Freund an der Schulter. Dabei versuchte er, die Aussprache von Latte nachzuahmen - ein vergebliches Bemühn bei einem, der in Meißen zu Hause ist.

Der Bauernsohn aus Römhild im Grabfeld richtete sich auf der Luftmatratze auf. - Guten Morgen, Pitt, guten Morgen, "Potsdam", guten Morgen, Rotes Meer, hier bin ich! Was ist los? "Mensch, mach hin! Heut kommen wir doch nach Port Sudan!"

"Klar. Aber erst gegen Abend."

Das allerdings. Und bis dahin dauerte es noch lange und fast unerträglich schwüle Stunden. -

Die Sonne stieg und stieg. Nicht der allerzarteste Wolkenschleier trübte ihre Glut. Der Wind, der in den letzten Tagen selten mehr als ein Hauch gewesen war, schlief wahrscheinlich erschöpft irgendwo im arabischen Sand oder in den Wüsten des Sudan. Wie erstarrt lag das Wasser da, spiegelglatt bis an den Horizont. Selbst die beiden Delfine, die dem Schiff beharrlich folgten, schienen träger geworden zu sein.

"Mir langt's", sagte Pitt, und er ließ den Hammer, mit dem er die rostgefleckte Farbe von Deck zu klopfen hatte, sinken und blieb in der Hocke, zu faul oder zu matt, sich zu erheben oder hinzusetzen. Schluckend fragte er: "Kommst du noch mal mit, - was trinken?"

Latte schob den Sombrero, einen Strohhut aus dem Bauernladen zu Römhild, in den Nacken und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

"Weißt du", begann er mit trockener, schwerfälliger Zunge, "das ist wie beim Heumachen: Trinkst du viel, schwitzt du viel, und dann machst du im Handumdrehen schlapp."

"Ich muss aber saufen, sonst mach ich noch viel schneller schlapp!" Pitt schrie es, und er schmiss den Hammer hin.

Da sagte Latte einfach: "Komm." Und er ging voran nach achtern, wo neben der Kombüse zwei Teekübel standen. Zuvor hatte er seinen Hammer auf den Lukenrand gelegt.

An den Teekübeln empfing der Koch die Matrosenlehrlinge. - "Hier!" Er hob den einen Deckel hoch. "Und hier! Schon wieder leer - alle beide! Wer soll denn das noch schaffen? Wo gibt's denn so was: Früh um zehn schon beide Teepötte leer! Tut mir leid, Jungs, aber Tee ist aus für heute Vormittag. Ich muss jetzt Mittagessen kochen."

"Na, da kippen Sie doch Wasser in die Kübel", schlug Pitt vor, "Wasser mit Fruchtsaft und Eis. Die lauwarme Brühe hat sowieso nach allem möglichen geschmeckt, bloß nicht nach Tee."

"Aber den Bauch habt ihr euch mit voll geschlagen. Und nun auch noch Gujambel, hektoliterweis! Wer soll denn das alles beischaffen?"

"Gujambel?", erkundigte sich Latte. Doch da mischte sich eine brummige Stimme ein: "Gujambel ist nicht drin - nur über meine Leiche! Kein Tropfen unabgekochtes Wasser; das hab ich schon x-mal gesagt. Und Eis! Das wär ja das blanke Gift - in der Situation jetzt."

"Aber, Doc, die Leute müssen doch was trinken. Und kochen... Also, weißt du: ich nicht!"

"Willi, Mensch, es bleibt uns doch nun mal nichts anderes übrig!"

"Uns? Hast du 'uns' gesagt? - Bitte, immer ran! Wenn du dich an den Herd stellen willst... Über siebzig Grad!"

"Na und? Glaubst du etwa, das haut mich um? Gut. Koch eben ich den Tee. Oder denkst du, ich kann das nicht?"

"Ach..." Der Koch winkte ab und trollte sich dann in Richtung Kombüse. Sein Turnhemd war zwischen den Schulterblättern dunkel vom Schweiß.

"Der hat's auch nicht leicht", sagte der Arzt mehr zu sich als zu Latte, Pitt und den anderen Matrosen, die sich mittlerweile achtern eingefunden hatten und zu murren begannen, als sie die leeren Teekübel sahen. Doch dann besann sich der Arzt offenbar auf seine Umgebung.

"Männer!", rief er, als stände er auf einer Tribüne. "Es ist schon hart; aber das wisst ihr ja selbst am besten. Noch schlechter sind allerdings die in der Maschine dran. Ich war eben unten mit dem Dritten Ing. Den Schorsch - ihr kennt ihn, den Assi -, den hätt's beinah erwischt: Hitzschlag! Da hat nicht mehr viel gefehlt."

"Mich erwischt's auch, wenn ich nicht bald was zu trinken krieg!", rief Pitt.

"Du weißt doch, dass der Koch dabei ist, Tee aufzubrühn", sagte Latte besänftigend.

Das teilte auch der Arzt den Versammelten mit, und er ließ sich nicht die Gelegenheit entgehn, ein weiteres Mal mit erhobener Stimme die Vorzüge heißer Getränke beim Aufenthalt in den Tropen zu preisen und die Folgen unvernünftiger Trinkgewohnheiten in düsteren Farben auszumalen. - "Eine Gastritis ist noch das Geringste, was ihr kriegen könnt."

Auch einer, der einen dauernd agitieren muss, dachte Pitt. Er fühlte sich zum Umfallen matt und verspürte in der Magengrube einen Druck. Sicher so eine Gastritis, kein Wunder, wenn der einem ständig damit in den Ohren lag.

Da wurde der Arzt, der inzwischen bei den Symptomen von Ruhr und Cholera angelangt war, vom chief mate unterbrochen: "Führst wohl wieder Volksreden, Doc? Freu dich! Nun hast du endlich deine große Zeit. Aber, bitte, halt meine Leute nicht länger von der Arbeit ab!"

Ein Murren unter den Matrosen war die erste Antwort. Gleich darauf stieg der Arzt mit der Stimme noch ein paar Stufen höher auf die Tribüne.

"Männer!", rief er. "Nun sagt selbst: Ist Rostklopfen so wichtig, dass man sich dabei einen Hitzschlag holen muss? Oder einen Sonnenstich? Ich frag euch: Kann man überhaupt in dieser Schwüle länger arbeiten?"

"Kann man nicht!", rief Pitt.

Der chief mate drohte ihm wie zum Scherz mit dem Finger, aber seine Augen wurden schmal dabei. "Doc, ich warne dich: Hetz meine Leute nicht auf! Das ist Meuterei."

"Treib du lieber unsere Leute bei dieser Hitze nicht so an! Mensch, Ulli, wie oft soll ich dir noch sagen, dass Vorbeugen besser als Heilen ist? Und Vorbeugen heißt hier und heute vor allem..."

"Hast recht", fiel ihm der Koch ins Wort. "Und nun macht Platz! Und du, Doc, fass mal mit an!"

"Nach dem Trinken wird weiter Rost geklopft!", befahl der chief mate, und er ging als erster zurück zu den Hämmern, mit festem Schritt und ein wenig steifnackig aus dem Schatten in die gleißende Helle, zurück unter die Sonne, die vorn über den Aufbauten die Luft erzittern ließ. Die Matrosen folgten ihm schlurfend - Latte, den Sombrero dicht über den Brauen, allen voran.

Eine Stunde später fiel Ulli, der chief mate, zum zweiten Mal an diesem Tag aus der Rolle. Leider war Moby wiederum außer Hörweite. Nah genug hockten allerdings Latte und Pitt, und sie nicht allein.

Dieser Funker, dachte Pitt. Er bewegte dabei die Lippen und verzog das Gesicht, aber nicht einmal ein Grinsen wollte ihm gelingen.

Die anderen Matrosen reagierten noch weniger auf das immerhin doch ungewöhnliche Ereignis, Apathisch klopften sie weiter, und die meisten Hämmer trafen Stellen, die längst abgeblättert waren. "Feierabend für heute", verkündete kleinlaut der chief mate, "Haut euch irgendwo in den Schatten, Leute, und ruht euch aus! Beim Einlaufen müsst ihr wieder fit sein."

Da war es gefallen, das Zauberwort, ausgesprochen zudem von berufenem Mund. Aber selbst Pitt wurde dadurch jetzt nicht mehr elektrisiert. Vielleicht hätte es ihm vor einer Stunde noch erneuten Auftrieb gegeben; nun jedoch glitt es an seinem abgestumpften Bewusstsein ab.

Wortlos wie die anderen Matrosen legte Pitt den Hammer weg, wortlos schleppte er sich zu seinem Liegestuhl neben dem Rettungsboot. Eine Strapaze, den Stuhl in den Schatten zu schleifen, eine Qual, ihn aufzuklappen, das Gestell so zu bewegen, dass es stand und nicht wieder zusammenfiel.

Später musste Latte eine längere Rede halten, um den Freund von der Notwendigkeit einer Mahlzeit zur festgesetzten Zeit zu überzeugen. "Mensch, und wenn's bloß ein paar Bissen sind!" - Erst als die Bezeichnung "Durchhänger" Pitt ins Bewusstsein drang, begleitet von einem harten Griff und von heftigem Rütteln an der Schulter, folgte er die wenigen Schritte hinab an die Back, den Tisch, der achtern im Schatten der Aufbauten für die Mannschaft aufgestellt worden war.

Und dann lag er wieder neben dem Rettungsboot und döste und sank wohl auch minutenlang in unruhigen Schlaf. Er atmete so flach wie möglich, an Kopf und Brust, am ganzen Körper wie eingemauert von der drückenden Schwüle, wie eingetaucht in flüssiges Blei. Wenn er die Lider ein wenig hob und wenn er sie geschlossen hielt, flimmerte vor seinen Augen das Licht, in dem alle Farben zeitweise ertranken, weißgeglüht und ineinander geflossen.

Und da geschah es, dass Manuela aus Meißen vor Pitt erschien. Verschwommen sah er, wie sie auftauchte über den Stufen, die vom Mittelschiff zum Bootsdeck führten: zunächst der Kopf mit dem blonden, lang herabhängenden Haar, dann die blauen Streifen des Bikini auf dem braunen leibhaftigen Leib. Sie schleifte eine Luftmatratze hinter sich her, kam in schlappenden Sandalen geradewegs auf ihn zu und bat ihn: "Rück mal ein bisschen beiseite!"

Da erst erkannte Pitt am Klang der Stimme Chris.

Mensch, mich hat's ja ganz schön erwischt, dachte er, während er der Stewardess ein Stück vom Schatten neben seinem Liegestuhl einräumte. Dabei musste Pitt sich auf die Lehne stützen. Es dauerte Sekunden, bis die Funken vor seinen Augen zerstoben waren und die Planken wieder in ihre normale Lage kamen.

"Halt mal für mich besetzt", bat er Chris. Dann schlurfte er taumelnd zu den Teekübeln und trank hintereinander vier Becher leer, und schließlich noch einen fünften. Endlich brach ihm wieder Schweiß aus den Poren, und der Schleier vor seinen Augen zerriss. Von nun an fühlte Pitt sich besser.

Er stellte sich sogar eine Weile an die Reling, mitten unter die Sonne, und schaute angestrengt nach vorn, wo unverändert Himmel und Wasser im Dunst verschwammen. Dort irgendwo lag Port Sudan, der erste Hafen auf afrikanischem Boden, den Pitt betreten würde.

Komisch, dachte er, nun ist es bald soweit, spätestens in ein paar Stunden. Freu ich mich eigentlich noch?

Plötzlich war ihm klar, dass die Liegezeit in diesem Hafen und der lang ersehnte Landgang kein ungetrübtes Vergnügen werden würden. War es hier schon beinah unerträglich, musste dort die Hölle sein.

Ja, die Hölle - das ist Port Sudan im Juni, und wir fahren jetzt hinein. Seit Tagen verschlingt uns der Höllenschlund.

Pitt atmete tief; das Wort gefiel ihm. Während er zurück in den Schatten ging, nahm er sich vor, den Vergleich in einem Postskriptum zu benutzen: "Seit Tagen treiben wir durch den HöIIenschlund. Jetzt weiß ich, was die in der Bibel gemeint haben: das Rote Meer und Port Sudan."

Dann aber dämmerten ihm Zweifel an der Einbildungskraft Manuelas, weniger auch an der eignen Wortgewalt: Mach mal einem Mädchen, das in seinen sechzehn Lenzen nicht über die Ostsee rausgekommen ist, klar, was hier tatsächlich vor sich geht!

Vielleicht lief Manuela, wenn daheim die Sonne am höchsten stand, in einer Stunde also, direkt von der Schule ins Freibad. Vielleicht lag sie in diesem Moment schon auf ihrer Luftmatratze, bekleidet mit dem gleichen himmelblauen Bikini wie Chris, und dachte: Da unten im Sudan wandelt mein Pitt jetzt unter Palmen, oder er stiefelt durch brennend heißen Wüstensand. Der hat's gut!

Nein, Ela, an Ort und Stelle sieht alles doch ein bisschen anders aus. Ehrenwort! Ganz anders sogar.

Und Pitt, der Seemann, fühlte sich im Schatten vom Rettungsboot, den Blick in die Ferne gerichtet, beim Gedanken an Manuela aus Meißen ziemlich erwachsen.

Als gegen Abend dann endlich der Hafen in Sicht kam und ein Kommando dem andern folgte und der chief mate um ein Haar zum dritten Mal an diesem Tag aus der Rolle gefallen war und Moby gutgelaunt eine Serie saftiger Flüche vom Stapel ließ - da sagte Pitt aus Meißen zu Latte aus Römhild: "Und das ist nun Port Sudan?"

"Klar", erwiderte Latte. "Komm, fass mal mit an!"

2. Das Vermächtnis in der Schatulle

Am Morgen desselben Tages war auch Krischna vor der üblichen Stunde wach. Er lag auf seiner Matte zwischen den wandhohen, leeren Regalen und hielt die Augen geschlossen. Am liebsten wäre er immer so liegen geblieben, geborgen im Dunkel des Gewölbes, in dem er acht Jahre lang Abend für Abend eingeschlafen und nun zum letzten Mal munter geworden war.

Hinter seinem Kopf zirpte eine Grille. Früher hatten dort manchmal Ratten gefiept; aber die waren wohl fortgezogen, hatten sich einquartiert nebenan auf dem Markt oder irgendwo unten im Hafen am Wasser. Oder - wer weiß? - vielleicht waren sie längst krepiert, röchelnd und pfeifend gestorben wie die Mutter oder wie der Vater ertrunken.

Nein, sagte sich Krischna, Ratten ertrinken nicht; Ratten können ja schwimmen.

Aber hatte nicht auch der Vater schwimmen gekonnt? Und doch war er spurlos verschwunden vor einer Nacht, einem Tag und noch einer Nacht, für immer verschwunden im dunklen, von Haiflossen zerschlitzten Wasser draußen vor der Korallenbank.

Krischna spürte, wie ihm ein Kloß in die Kehle stieg, wie es wieder nass zwischen den Wimpern hervorquoll. Er würgte an der Bitterkeit, schluckte, und dann schluchzte er auf, bebend vor Elend, vor Kummer wund.

Da dämmerte nun der Morgen, dieser Tag, an dem er sein Bündel nehmen würde, endlich, aber allein. Draußen unter den Arkaden schlurften bereits die ersten Passanten vorbei, Händler auf dem Weg zum Markt und Frauen. Ein Karren holperte über das Pflaster, ein Esel schrie, und eine Männerstimme rief Allah an. Nicht mehr lange, und es würde an die Tür pochen, unwiderruflich. "Junge, mach auf! Ich bin's - Abdulla."

Diesen Augenblick und den anderen, der am Abend, spätestens aber morgen folgen musste, hatte Krischna seit Monaten erwartet, herbeigesehnt. Fort wollte er, weg von dem Gewölbe hier, in dem die Mutter so lange so hilflos gelegen hatte, fiebernd und fast immer hüstelnd und zuletzt von einem unheimlichen Husten geschüttelt, weg von dem Gewölbe mit den einst überladenen Regalen, in das seit Jahren schon kaum noch ein Käufer gekommen war, in dem nicht einmal Ratten genug zu nagen fanden, fort.

Draußen schien die Sonne auf das Pflaster, auf den Sand und auf das Meer. Unten im Hafen liefen Tag für Tag Schiffe ein und aus, und als Krischna erfuhr, dass auch er bald Decksplanken betreten sollte, wurde ihm die Zeit, die bis dahin noch vergehen musste, beinah unerträglich lang. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und ein Zauberwort geflüstert, um beim nächsten Atemzug bereits an Bord zu sein, in die alte Heimat, nach Karachi unterwegs.

Aber zaubern konnte von allen, die er kannte, lediglich Abdulla.

Krischna war dem Straßenhändler stets voller Misstrauen begegnet. Als die Mutter noch lebte, hatte auch sie sich, sobald Abdulla draußen unter den Arkaden seine Matte aufzurollen begann, immer in den Hintergrund des Gewölbes zurückgezogen, hatte dort gelauert und sogar ihr Hüsteln zu unterdrücken versucht. Später hatte ihr Sohn, wenn der Vater unten im Hafen auf der Suche nach Kunden war, nicht nur die Arbeit im Haushalt und im Laden übernommen, sondern auch die Angewohnheit, sich vor Abdulla zu verbergen und ihn gleichzeitig zu beobachten.

So stand er oft stundenlang in der Tiefe des Gewölbes, sah den Passanten zu und behielt zugleich den Straßenhändler im Blick: die harmlos bunten Zigarettenschachteln, die aufgestapelt auf seiner Matte lagen, für jeden kaufbereit und doch nur selten von einem Käufer begehrt, und die unansehnlichen und dennoch so verdächtigen Päckchen, die Abdulla bloß für Eingeweihte aus den Falten seines weißen Gewandes auftauchen ließ, spielerisch und unauffällig wie ein Zauberer. Man musste schon sehr scharfe Augen haben und ganz genau hinsehn, wollte man solche Ware überhaupt zu Gesicht bekommen.

Mit der Zeit allerdings erkannte Krischna die speziellen Kunden Abdullas bereits an der Art, wie sie sich dem Händler näherten: an ihrem zögernden Schritt; an den flackernden Blicken, die sie in das dämmrige Gewölbe warfen, und rasch noch nach links und rechts; am Zittern der Hände, mit denen sie Abdulla Scheine, große Geldscheine - oh, er sah es ganz deutlich! - zusteckten, wortlos, und fahrig etwas in Empfang nahmen, das sogleich wieder verschwand; an der mühsam gezügelten Hast, mit der sie dann sofort sich unter die Passanten mischten.

Nach solchem Handel hockte Abdulla - mochte vorbeikommen, wer wollte - jedes Mal eine Weile wie erstarrt neben seiner Matte. Krischna glaubte die Anstrengung zu spüren, mit der er den Kopf erhoben und die Arme ruhig hielt; die Sehnen in seinem Nacken zuckten dabei.

Doch unter den Arkaden und auf der Straße blieb es ruhig. Kein Geschrei kam auf, nicht das Klappern von Sandalen, die nackten, klatschenden Sohlen folgen mit bedrohlich schnellem Polizistenschritt. Wie immer schlurften lediglich Bettler, huschten bloß Frauen vorbei. Selten ging erhobenen Hauptes ein Mann vorüber, und noch seltener blieb ein Europäer oder ein Amerikaner vor der Matte mit den bunten ausländischen Zigarettenschachteln stehen.

Da endlich löste sich die Starre. Der Händler breitete die Arme aus und neigte den Kopf, bis die Stirn das Pflaster berührte, dreimal gen Osten: Allah, hab Dank!

Erst danach war Abdulla wieder der alte. Mit schmeichlerischer Stimme und den Gebärden eines Schamanen pries er seine Ware an - die offizielle. Dabei gelang es ihm, besonders Ausländer zu erheitern und manchmal auch zum Kaufen zu verleiten. Ob Amerikaner, Franzosen oder Norweger, Russen oder Deutsche - Abdulla erkannte die Nationalität fast immer auf den ersten Blick, und sogleich begann er, den Seeleuten ein paar Brocken ihrer Muttersprache zu servieren. Der Text - soviel verstand auch Krischna längst - war stets derselbe.

"Kaufen Sie, Mister! Kaufen Sie, Herr Kapitän! Beste Zigaretten, frisch importiert, extra für Sie, Herr Kapitän. Kaufen Sie! Abdulla hat die besten Zigaretten in ganz Port Sudan. Kaufen Sie, Herr Kapitän!"

Und wenn so ein siebzehn- oder zwanzigjähriger Mister, Herr, Towaristsch, Senor oder monsieur capitaine tatsächlich vor der Matte stehen blieb, raunte der Händler ihm zu: "Sucht der Herr ein Mädchen? Oh, so wunderbare Mädchen! Und Abdulla weiß den Weg. Alles weiß Abdulla in Port Sudan. Fragen Sie Abdulla, monsieur capitaine!"

Die Zigaretten, dieselben bunten Schachteln waren, wie Krischna einfiel, schon vor einem Jahr "frisch importiert", und sicher würden einige von ihnen noch in Jahren die besten sein in der ganzen Stadt. Weshalb auch nicht? Dass aber die Mädchen drüben im Kraal, von denen Abdulla so vertraulich flüsterte, wunderbar sein sollten, noch dazu oh! so wunderbar, konnte und wollte Krischna nicht begreifen. Nicht, seitdem er vor Wochen einmal dem Vater dorthin nachgeschlichen war.

Die und wunderbar! Die waren eher komisch. Und im Übrigen nicht ganz geheuer. Und Mädchen? - Nun, Frauen konnten sie ja nicht sein, da sie keinen Schleier trugen. Für Mädchen, wie Krischna sie kannte, waren sie allerdings schon ein wenig alt.

Überhaupt: Mädchen! Solang sie klein genug waren, hüpften und sprangen sie kreischend auf dem Markt zwischen den Ständen umher und wischten sich mit dem nackten Arm unter der Nase lang. Später wurden sie Frauen, verschwanden in den Häusern, und wenn sie einmal herauskamen, schlichen sie an den Mauern hin, verschleiert. Selbst auf dem Markt feilschten sie dann scheu und mit gedämpfter Stimme.

Nein, wunderbar war nur die Mutter gewesen. Und sicher hatte auch sie gewusst, dass Abdulla eigentlich ein Zauberer war. Und wie oft, ach, wie oft hatte sie den Vater gewarnt!

"Liebster, geh ihm aus dem Weg, tu mir den Gefallen! Er ist böse, er will uns verderben. Bitte, Liebster, sei vor ihm auf der Hut!"

"Aber, aber, meine Königin! Was kann mir so ein Bettler schon schaden? Doch, mein Herzblatt, er ist fast ein Bettler, beinah unberührbar für uns. Und ich bin ein Händler; vergiss das nicht! Wir stehen unter Schiwas Schutz. Und", fügte er lächelnd hinzu, "auch Kandarpa meint es gut mit uns."

Ja, Kandarpa, der Gott der Liebe, war den Eltern wohlgesinnt gewesen, immer und bis zuletzt. Soweit sich Krischna zurückerinnern konnte, hatten die Eltern in Eintracht gelebt. Die Mutter bereitete schmackhafte Speisen zu, versorgte den Vater mit Kleidung und Betel, betreute während seiner Abwesenheit den Laden und verbarg ihr Leiden unter beständigem Lächeln. Und sobald der Vater mit einem Kunden das Gewölbe betrat, gestikulierend und ein Souvenir anpreisend, ein Souvenir nach echt amerikanischem oder nach europäischem Geschmack, zog sich die Mutter wortlos hinter den Vorhang zurück. So hatte ihr auch der Gott der Liebe zu Lebzeiten stets die Treue bewahrt.

Aber Kali, die Frau des Schiwa, war wohl doch die Mächtigste unter den Göttern, mächtiger vielleicht noch als Wischnu, der allerhöchste Gott. Als Göttin über Geburt und Tod rang sie die Mutter nieder, drückte sie unnachgiebig auf das Lager hinter dem grauen Vorhang in der immer dämmrigen Tiefe des Gewölbes. Da zogen auch Kandarpa und Schiwa die Hand vom Vater ab.

Er erwies seiner toten Frau die Ehren des Rituals. Eine Nacht lang wachten an ihrer blumengeschmückten Bahre drei Klageweiber, Aschespuren auf den Gesichtern und auf dem schütteren Haar. Ihr theatralisches Wehgeschrei ängstigte Krischna und hielt ihn bis zum frühen Morgen munter.

Dann folgte er, weiß gekleidet von Kopf bis Fuß wie der Vater und wie alle im Kondukt, der Bahre mit der Mutter und den bereits verwelkenden Blumen zum Verbrennungsplatz. Dabei sangen die wenigen Hindus, die das Geleit gaben, Bekannte des Vaters und gleich ihm Händler in dieser Stadt, mit dünnen Stimmen ein Lied, das Krischna zuletzt beim Kalipuja-Fest gehört hatte, ein Lied zum Lobpreis der Göttin Kali, der Herrin über Tod und Geburt. Dem Vater rannen, während er die Lippen bewegte, Tränen über die faltigen Wangen; und ein paar weißhäutige Matrosen, Amerikaner mit fast kahlgeschorenen Köpfen, fotografierten den Zug und unterhielten sich sehr laut dabei, belustigt und ziemlich verständnislos.

Mit trockenen Augen sah Krischna, wie die Flammen zu züngeln und dann aufzuprasseln begannen, wie sie an den dürren Ästen unter, neben und über dem Körper der Mutter leckten und fraßen, wie der Leib sich zusammenkrümmte und wieder streckte, wie er schließlich in der niedersinkenden Glut verschwand.

Noch trocken waren seine Augen auch, als er am Abend auf der Matte hinter dem Vorhang lag und den Vater mit Dinahbandu verhandeln hörte - beide gedämpft, der Vater weniger lebhaft als sonst, sicher ohne die üblichen ausgreifenden Gebärden, mit schleppender Stimme und doch beharrlich wie bei einem Geschäft.

Irgendwann mussten sie sich geeinigt haben über den Preis für den Transport; denn als Krischna mitten in der Nacht plötzlich munter wurde, war Dinahbandu fort und vielleicht schon auf dem Schiff, im Gepäck die Urne mit der Asche der Mutter, die er in Kalkutta den heiligen Fluten des Hooghly übergeben wollte — für eine Gebühr von acht Dollar, wie Krischna später erfuhr.

In jener Nacht aber dachte er nicht an das geheimnisvolle Gepäck Dinahbandus, nicht an seine seltsamen Reisen, die ihn regelmäßig von Karachi nach Port Sudan führten, und nun offenbar sogar bis Kalkutta.

Beim Erwachen war von Krischna die Starre gewichen, die ihn seit dem Tod der Mutter tagsüber in einem traumwandlerischen Zustand gehalten hatte. Diese Mischung aus Benommenheit und Überwachsein war nun verflogen wie der Schlaf. Hellwach richtete Krischna sich von seinem Lager auf.

Er schaute flüchtig durch eine Lücke im Vorhang zum Regal, in dem am Abend zuvor noch die Urne gestanden hatte. Jetzt war sie weg. Und der Platz auf der Matte neben dem Vater war leer.

Da erst begriff Krischna voll, was geschehen war, und zum ersten Mal in seinem elfjährigen Leben schnürte es ihm die Kehle zu, bitter und heiß. Und auch die Tränen, die sich endlich lösten, spärlich sickernd, waren anders als die nach den Kränkungen, die er bis dahin erfahren, anders als die nach den seltenen Schlägen, die ihm der Vater, nie die Mutter gegeben hatte.

Und nun war auch der Vater tot, und wieder lag Krischna wach, gewürgt von Tränen und von Schluchzen geschüttelt wie damals. Und doch: Was hatte sich nicht alles für ihn in diesen drei Jahren verändert! Und war nicht Abdulla schuld daran, schuld an dem Unglück, das den Vater seitdem verfolgt, das ihn schließlich in den Tod getrieben hatte?

Krischna konnte und wollte nicht begreifen, dass der Ruin des Vaters mit dem Krieg im Norden und der Blockade des Kanals begonnen hatte. Freilich war auch ihm aufgefallen, wie viel seltener seit jenem Sommer Schiffe aus Europa den Hafen anliefen. Fast von einem Tag zum andern waren vor drei Jahren die norwegischen, deutschen, russischen, französischen, polnischen Seeleute ausgeblieben - und die Souvenirs in den Regalen nicht mehr gefragt.

Der Vater hatte sich ohnehin kaum noch um Kunden gekümmert. Erst Wochen nach dem Tod der Mutter ging er wieder regelmäßig jeden Morgen und jeden Abend zum Hafen. Meist aber kam er zeitig zurück, schleppenden Schrittes und mürrisch und fast immer ohne Erfolg.

Die anderen Händler seiner Branche stellten sich rechtzeitig um auf Artikel für den Bedarf der Pilger, die unvermindert aus den Weiten des Landes herbeiströmten, um sich übersetzen zu lassen nach Dschidda, der vorletzten Station ihrer Reise zur Kaaba von Mekka. Mochten sie - diese Unwürdigen!

"Ich bin kein Verräter. Ich glaube an Wischnu und Kali. Ich steh unter Schiwas Schutz."

"Es braucht ja nicht dieser mohammedanische Firlefanz zu sein", wandte Dinahbandu, der wieder einmal in der Stadt war, besänftigend ein. "Den kaufen die sowieso lieber bei ihren eigenen Leuten."

Und er dämpfte die Stimme und raunte dem Vater etwas zu, das Krischna nicht verstand.

"Bei Schiwa - nein! Das kann ich nicht; das werde ich nie tun. Ich nicht!"

"War ja bloß ein Scherz", zischte Dinahbandu. Doch er zuckte dabei mit den Schultern, wurde einsilbig und verabschiedete sich bald. Und später wich er bei seinen Besuchen in Port Sudan dem Vater aus. Ja, er unterbrach sogar das Feilschen mit Abdulla, wenn Krischna sich näherte, und klagte unvermittelt über die Schwere der Zeit, die Last seines Alters und die Schwüle in dieser Stadt.

Und der Vater versank von Jahr zu Jahr mehr in Kummer und Trübsinn. Auch vor und nach der heißen Mittagszeit lag er oft stundenlang auf seiner Matte -schlaflos, wie Krischna wusste. Oder er hockte auf der Schwelle, im Rücken das Gewölbe mit den staubigen Regalen, und starrte leeren Blicks in die Luft, die über dem Straßenpflaster flimmerte.

In solchem Zustand musste der Vater den Zauberkünsten Abdullas erlegen sein.

Wie und wann genau es geschehen war, hatte Krischna nicht bemerkt. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Markt gewesen, oder bei Ahmad, von dem er sich regelmäßig Bücher lieh, seitdem er die Mutter im Haushalt und im Laden vertreten musste und nicht mehr zu ihm in die Schule gehen konnte. Vielleicht auch hatte der Zauber allmählich gewirkt, sich eingeschlichen wie ein besonders tückisches Gift.

Krischna war zunächst nur verwundert, als der Vater, der sonst Betel kaute, zu rauchen begann. Und er freute sich, weil er dabei so fröhlich wurde, freundlich und gesprächig wie in früherer Zeit. Dann aber fiel ihm der Glanz seiner Augen auf, und als Krischna am nächsten Morgen zum Markt gehen wollte und in der Sandelholzschatulle, in der am Tag zuvor noch zwei Scheine und einiges Kleingeld gelegen hatten, keine einzige Münze mehr fand, war er erschrocken, entsetzt.

Jetzt wusste er, was der Grund für die Ausgelassenheit des Vaters gewesen war. Und auch die Übelkeit, über die er seit dem Erwachen klagte, war Krischna nun nicht länger rätselhaft.

"Er hat dich verzaubert, Vater, und anfällig gemacht für sein Gift. Bitte, Vater, lass uns von hier fortgehn! Bitte, fahr mit mir in die alte Heimat zurück!"

Der Vater verzog gequält das Gesicht. "Kind, was du dir so denkst! Wir haben keine alte Heimat mehr. Wir haben überhaupt keine Heimat. In Karachi sind unsere Götter verboten, immer noch. Und die Unseren darben dort und werden verfolgt, wie schon vor Jahren. Du kannst das nicht wissen; du warst ja damals noch viel zu klein."

"Aber in Karachi wären seine Zauberkünste wirkungslos! Bitte, Vater, fahr mit mir zurück! - Auch Tante Kamala lebt doch noch in Karachi..."

"Ach, die Kamala! Weißt du, sie ist zwar die Schwester deiner Mutter, aber doch nur eine - nun, eine einfache Frau: ohne Familie. Und überhaupt: Ich bin Händler!"

"Gewiss, Vater", pflichtete Krischna bei. "Aber", wagte er einzuwenden mit einem Anflug von Trotz, "auch Dinahbandu lebt in Karachi und..." Weiter kam er nicht.

"Schweig!", rief der Vater. "Rede mir nie wieder von diesem Schakal! Dieser Hund! Er hat unsere Götter verraten und betet jetzt zu Allah!"

Krischna hatte den Vater selten so erregt, nie so entrüstet gesehen. Folgsam verstummte er, und er vermied es künftig, den Namen Dinahbandus, seine abtrünnige Existenz in Karachi, zu erwähnen und suchte nach neuen Argumenten - beharrlich und einfallsreich, wie es die Mutter gewesen war, wenn sie beim Vater etwas durchsetzen wollte.

"Bitte, Vater! Wir haben nur noch eine kleine Schüssel Reis. Verkauf den Laden, bitte, und fahr mit mir zurück!"

"Wir müssen eben sparsamer sein. Noch sparsamer. - Die europäischen Schiffe fahren jetzt ums Kap herum nach Asien; nur wenige haben Ladung für dieses Land. - Wir müssen zu Schiwa beten, damit der Kanal bald wieder schiffbar wird."

Doch der Kanal im Norden blieb blockiert, nun bald das vierte Jahr. Und bereits seit Monaten war der Vater verzaubert, verfallen dem Gift Abdullas und hoch bei ihm in Schuld. Und manchmal sogar lieh er Geld, heimlich, und ging damit zum Kraal.

Nach solchen Nächten war er noch mürrischer als sonst beim Erwachen, zerknirscht und eher zugänglich dem beständigen Bitten Krischnas, anfälliger für seine unwiderlegbaren Argumente. Er schämte sich vor dem Sohn und fühlte sich unrein an Körper und Seele, obwohl er, wie Krischna wusste, ein Bad genommen hatte, ein Bad unten im Schutz der Korallenbank.

An so einem Morgen willigte der Vater endlich ein.

Krischna war schon fast entmutigt gewesen. Ohne rechte Hoffnung auf Erfolg hatte er gebeten, gebettelt wie oft zuvor: mit denselben Argumenten, weinerlich und beinah gewohnheitsgemäß. - Zuerst glaubte, fürchtete er, sich verhört zu haben.

Der Vater winkte auf seine Frage, bei seinem Freudenschrei ab, müde und eigenartig gerührt. Und dann lag er noch lange auf der Matte, die nicht einmal mehr durch einen Vorhang vom übrigen Gewölbe abgetrennt war, und auf seinen eingefallenen, stoppligen Wangen schimmerte es feucht.

Auch Tage darauf, am Abend, nachdem er geregelt hatte, was noch zu regeln gewesen war, traten ihm Tränen in die Augen, als er Krischna übers Haar strich, scheu, und den Sohn dabei ansah mit einem fremden, verschwimmenden Blick.

Er hatte seinen besten Dhoti umgebunden, das einzige Lendentuch, das noch nicht zerschlissen war, und hatte Krischna ein weiteres Mal eingeschärft, die Sandelholzschatulle ja nicht aus den Augen zu lassen.

Und auf der Straße dann blieb er stehn und schaute noch einmal zurück, bevor er davonging, hastig, wie auf der Flucht.