Blumenthal - Janna Ruth - E-Book
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Blumenthal E-Book

Janna Ruth

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Beschreibung

»Wie kann ich tot sein, wenn ich noch so viel fühle?« Im Blumenthaler Forst spukt es. Ein Lachen im Wind, das Läuten von Glocken und das Hämmern einer geisterhaften Schmiede. Während es Geisterjäger ins Blumenthal zieht, sehnt Ina den Schulabschluss herbei, um endlich das Dorfleben und die Spukgeschichten hinter sich lassen zu können. Bis sie selbst einer Erscheinung gegenüber steht, die sich kurz darauf in Luft auflöst. Doch der faszinierende Blick des jungen Mannes in mittelalterlicher Kleidung geht Ina nicht mehr aus dem Kopf. Sie muss ihn wiedersehen. Tief im Blumenthaler Forst entdeckt Ina einen See. Angelockt von einer geheimnisvollen Melodie wird sie unachtsam und stürzt in das eisige Wasser. Doch statt zu ertrinken, landet sie in der versunkenen Stadt Blumenthal. Dort begegnet sie dem Schmiedegesellen Johan, dem Mann mit dem faszinierenden Blick. Während Ina einen Weg zurück in ihre Zeit sucht, entwickelt sich zwischen den beiden eine zarte Liebe. Doch eine gemeinsame Zukunft steht außer Frage, denn Johan ist wie alle Blumenthaler vor 650 Jahren an der Pest gestorben. Und wenn Ina nicht bald den Rückweg findet, droht ihr dasselbe Schicksal.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

NACHWORT

Impressum

Blumenthal

Die versunkene Stadt

Janna Ruth

© Februar 2022 Janna Ruth

www.janna-ruth.com

Jana Mittelstädt

67 Montgomery Avenue

Karori, Wellington 6012

NZ - New Zealand

Cover Design by Tala Jacob Design

Korrektorat: Katherina Ushachov - Phönixlektorat

Alle Rechte vorbehalten.

Blumenthal

Die versunkene Stadt

Janna Ruth

Kapitel 1

MIT EINEM PLÖTZLICHEN Ruck kam das Auto zum Stehen. Der Motor gluckerte noch einmal, bevor auch dieses Geräusch verklang. Die Scheinwerfer warfen ihr letztes Licht auf den Schnee, dann hüllte Dunkelheit das Auto ein.

»Das kann doch nicht wahr sein!« Jammernd ließ Ina ihre Stirn auf das Lenkrad sinken. Sie wusste ja, dass der Zweitwagen ihrer Familie uralt war, aber dass er sie so schnell im Stich lassen würde, war sicher nicht im Sinne ihrer Eltern gewesen.

Sie war noch gut fünf Kilometer von Zuhause entfernt, um sie herum nichts als Blumenthaler Forst. Im Dunkeln war der brandenburgische Mischwald eine undurchdringliche, dunkle Masse zu beiden Seiten der Straße, keine Laterne weit und breit, geschweige denn ein anderes Auto zu dieser nachtschlafenden Zeit.

Tief einatmend, richtete Ina sich wieder auf und griff nach dem Zündschlüssel. »Komm schon. Es ist nicht weit.« Hoffnungsvoll drehte sie den Schlüssel, aber außer einem erbärmlichen Knattern ließ der Motor nichts von sich hören. »Ernsthaft?«

Seufzend griff sie nach ihrem Smartphone. Das Display leuchtete hell auf, doch die Nachrichten darauf waren niederschmetternd. Bilder von der Party, die sie vor einer halben Stunde verlassen hatte, und das Todesurteil: Kein Empfang.

Es waren Momente wie diese, wegen denen Ina das Dorfleben verabscheute. Nicht nur, dass sie mitten im Nirgendwo ohne Kontaktmöglichkeit gestrandet war, nun durfte sie auch noch die Bilder ihrer Freundin bewundern, in deren Hintergrund sich ihr Schwarm mit einem anderen Mädchen vergnügte. Ina hatte er den ganzen Abend ignoriert, obwohl sie wirklich alles getan hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Mädchen vom Dorf entsprachen offensichtlich nicht seinem Beuteschema.

Frustriert schleuderte Ina das Smartphone in den Sitz zurück. »Und jetzt?«

Noch einmal drehte sie erfolglos den Zündschlüssel. Diesmal gab der Motor nicht einen Ton von sich. Ina fuhr sich entnervt mit den Händen über das Gesicht. Dass das Auto irgendwann beschloss, von alleine wieder anzuspringen, käme wohl einem Weihnachtswunder gleich. Also blieben ihr nur drei Optionen: Zu der kleinen Siedlung, an der sie vor einigen Minuten vorbeigefahren war, zurücklaufen und irgendjemand Fremden aus dem Bett klingeln, die Nacht im zunehmend kälter werdenden Auto verbringen und am Morgen Hilfe suchen oder die fünf Kilometer im Dunkeln bis nach Hause laufen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Ina die Strecke gelaufen wäre. Wann immer sie den Schulbus verpasst hatte, blieb ihr kaum eine andere Möglichkeit, aber da war es für gewöhnlich nicht kurz nach Mitternacht gewesen. Noch war es im Auto schön warm, doch Ina wusste, dass sich das schnell ändern würde. Wenn sie nicht am nächsten Morgen als Eiszapfen enden wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Das Smartphone als Taschenlampe nutzend, öffnete sie die Tür und stieg aus.

Die Kälte traf Ina wie ein Schlag ins Gesicht. Die Temperatur lag irgendwo unterhalb des Gefrierpunkts, und sie hatte sich angesichts der Party nicht unbedingt wettertauglich angezogen. An ihren Beinen trug Ina nur eine etwas dickere Strumpfhose und einen viel zu kurzen Rock, dazu Stiefel. Ihren Oberkörper bedeckte immerhin eine taillierte Winterjacke, in deren Taschen sich warme Handschuhe befanden.

Sie zog die Kapuze tief ins Gesicht und stapfte los. Dass sie halb eins im Dunkeln alleine unterwegs war, machte ihr wenig Sorgen. Um die Uhrzeit kam hier sicher niemand vorbei. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, hörte sie eine Glocke schlagen.

Ina fuhr heftig zusammen und sah sich hektisch nach allen Seiten um. Das Geräusch war so laut gewesen, als würde die Kirche keine hundert Meter weit entfernt stehen, dabei wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass hier nichts als Wald war. Mit viel Mühe redete sie sich daher ein, dass die Akustik dieser Winternacht das Läuten des Kirchturms in Prötzel bis zu ihr getragen hatte. Vielleicht war sie ja auch viel näher am Dorf, als sie gedacht hatte.

Angespannt setzte Ina ihren Weg fort. Es dauerte nicht lange, bis sie hinter sich ein Schlurfen vernahm. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und das Atmen fiel ihr schwerer, während sich ihre Gedanken im Kreis drehten. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, genau hier jemanden zu treffen, geradezu nichtexistent war, war eindeutig jemand hinter ihr. Mal hörte sie das Schlurfen lauter, dann war es fast verschwunden, nur um wieder aufzutauchen.

Panisch beschleunigte Ina ihre Schritte, bis sie es nicht länger ertrug. Sie wirbelte herum und leuchtete die Straße hinunter. »Ich warne Sie. Ich …« Verdutzt hielt Ina inne. Hinter ihr war niemand zu sehen. Schluckend wandte Ina ihre Aufmerksamkeit dem Wald zu, doch der Lichtstrahl des Smartphones ließ nur den Schnee glitzern, sonst nichts.

»Hallo?« Die Frage kam ihr zaghaft und viel zu leise über die Lippen. Dafür rauschte das Blut in ihren Ohren umso lauter.

Als Ina sich gerade abwenden wollte, entdeckte sie ein flackerndes Licht, das durch den Wald hüpfte. »Ist da jemand?« Diesmal klang es schon etwas lauter.

Wieder erhielt sie keine Antwort. Das Licht kam noch etwas näher, dann erlosch es. Mit bis zum Zerreißen gespannten Nerven lauschte Ina in den Wald. Kein Schritt durchbrach die gefrorene Schneedecke, kein Zweig raschelte. Vorsichtig hob Ina ihr Smartphone, doch die Taschenlampe zeigte ihr nur leere Baumreihen und kahle Sträucher. Ina hielt die Luft an und ließ den Blick noch einmal über den Wald wandern, bevor sie sich schließlich umwandte und wie erstarrt stehen blieb.

Keine drei Meter entfernt vor ihr stand ein Mann. Eine wollene Kappe fest über die dunkelblonden Locken gezogen, lehnte er an einer Hauswand. Fast nebensächlich registrierte Ina seine eigentümliche Kleidung. Über einer verwaschenen Hose trug er einen langärmligen Kittel, der mit einem Gürtel festgeschnürt war. Handschuhe hatte er keine. Die Füße steckten in groben Lederschuhen. Seine breiten Schultern verrieten die Muskeln, die sich unter dem grob zurechtgeschnittenen Stoff verbargen.

Die Zeit schien stillzustehen, während Ina sein Gesicht betrachtete. Über der mehrfach gebrochenen Nase blickten sie zwei verschiedenfarbige Augen an: eines braun, das andere blau. Als hätte auch er sie just in diesem Moment gesehen, weiteten sich seine Augen vor Schrecken. Er öffnete gerade den Mund, da war er auch schon wieder verschwunden.

Wimmernd wich Ina mehrere Schritte zurück und schlug sich die Hand vor den Mund. »Bitte … jemand …« Da, wo das Haus eben noch gestanden hatte, lagen nur ein paar moosbewachsene Geröllhaufen. Von dem jungen Mann war keine Spur zu sehen.

Zitternd sah Ina auf ihr Handy und wäre vor Erleichterung fast in die Knie gegangen. Tränen liefen ihr mit einem Mal über die Wangen, als sie auf den einzelnen Balken auf dem Display schaute. Sie wagte kaum, sich zu bewegen, damit der lausige Empfang nicht gleich wieder verloren ging. Vorsichtig entsperrte sie das Smartphone und wählte die Nummer ihres Bruders. Es klingelte einmal – zweimal …

»Was willst du? Ich bin gerade im Raid«, hörte sie Theo am anderen Ende der Leitung. Wie so oft spielte er um diese Uhrzeit noch am Computer.

Vor Erleichterung schniefte Ina geradezu jämmerlich ins Telefon: »Kannst du bitte Papa wecken?« Ihre Eltern schliefen schon lange tief und fest. »Ich bin mit dem Auto liegen geblieben. Das olle Schrottding bewegt sich keinen Zentimeter und ich bin noch mitten auf der B168. Es ist kalt und irgendwer ist hier draußen und verfolgt mich.« Die Worte purzelten mit einem Mal aus ihrem Mund.

»Scheiße, warte!« Sie konnte hören, wie er sich erhob. »Ich sag ihm Bescheid.«

Ina lächelte schwach. »Danke, Theo. Bist ein Schatz.«

»Ey, pass auf dich auf«, grummelte ihr kleiner Bruder besorgt. »Soll ich mit dir reden, bis Papa da ist?«

»Das wäre super. Wenn der Empfang mitspielt. Vielleicht war es auch nur der Wind, aber … mach bitte schnell.« Über das Telefon hörte sie, wie er ihre Eltern weckte und ihnen erzählte, was vorgefallen war.

Dann war Inas Mutter am Telefon: »Ina? Bist du dran?«

»Ja, ich bin da.« Langsam erholte sie sich von ihrem Schrecken. Ihr Atem hatte sich beruhigt und das Herz pochte nicht mehr so laut, doch das flaue Gefühl in ihrem Magen blieb.

»Papa und Theo machen sich gerade auf den Weg. Es dauert bestimmt nicht lange.« Während ihre Mutter beruhigend auf sie einsprach, ließ Ina den Blick über den düsteren Wald schweifen. Nichts bewegte sich, keine unheimlichen Glocken läuteten und niemand beobachtete sie von nichtexistenten Hauswänden aus.

Ina seufzte und setzte sich langsam wieder in Bewegung, mit ihrer Mutter bemüht lockeren Smalltalk betreibend, bis ihr endlich die erlösenden Scheinwerfer entgegen kamen. Ihr Vater war kaum ausgestiegen, da warf Ina sich auch schon schluchzend in seine Arme.

Kapitel 2

»DU SIEHST GRAUENHAFT aus«, begrüßte Theo sie am nächsten Morgen am Frühstückstisch.

»Vielen Dank auch.« Ina rollte mit den Augen und setzte sich an den Tisch, nach den Cornflakes greifend. »Wo sind Mama und Papa?« Eine kühle Hundeschnauze stieß gegen ihr Bein, und Ina beugte sich hinab, um der Hündin die Ohren zu kraulen. »Morgen, Nelly.«

Theo zuckte mit den Schultern. »Na, wo wohl? Die sind los, das Auto abschleppen, das du zurückgelassen hast.«

Ina gähnte und rieb sich die Augen. Obwohl sie um eins schon zu Hause gewesen war, hatte sie noch zwei Stunden in der warmen Badewanne gelegen und über die merkwürdigen Vorkommnisse nachgedacht. Der junge Mann mit den verschiedenfarbigen Augen wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. »Du findest das wohl alles sehr lustig?«

»Ich würde nur gerne wissen, warum du nicht einfach beim Auto geblieben bist«, antwortete Theo grinsend und schob ihr die Milch hinüber.

Während Ina Milch über ihre Cornflakes goss, überlegte sie, ob sie ihrem Bruder von den Visionen erzählen sollte. Mittlerweile war sie sich sicher, vollkommen alleine auf der Straße gewesen zu sein. Der junge Mann samt Haus war schließlich auch aufgetaucht und wieder verschwunden. Warum sollte das Schlurfen hinter ihr anders gewesen sein? Theos feixendes Gesicht verdarb Ina jedoch die Stimmung. »Weil ich dort keinen Empfang hatte.«

Ein wenig enttäuscht lehnte Theo sich zurück. »Passiert.«

»Denkst du, das weiß ich nicht? Ich lebe nicht erst seit gestern auf dem Dorf.« Seufzend rieb Ina sich die Schläfen. Sie war einfach zu müde für das morgendliche Frotzeln mit ihrem Bruder. Trotzdem musste sie nachsetzen. »In der Stadt wäre mir das nicht passiert.«

Wie erwartet stöhnte Theo. »Jetzt fang nicht wieder davon an. In der Stadt ist auch nicht alles besser. Du tust ja fast so, als wäre Prötzel die Hölle.«

»Also nach gestern Nacht bin ich mir nicht so sicher, dass dem nicht genau so ist«, erwiderte Ina und fing endlich an, zu essen.

Theo rollte mit den Augen. »Prötzel kann ja wohl nichts dafür, dass die olle Rostlaube den Geist aufgegeben hat oder du Halluzinationen hast.«

Beinahe fiel Ina der Löffel aus der Hand, und sie verschluckte sich an der Milch. »Wie kommst du denn auf Halluzinationen?«, fragte sie und versuchte, dabei möglichst neutral zu klingen. Hatte Theo auch etwas gesehen?

»Na, du hast doch erzählt, dass dich jemand verfolgt hat«, erklärte Theo. »Da war nur weit und breit niemand zu sehen.«

»Theo? Glaubst du an Geister?« Die Worte rutschten ihr aus dem Mund, bevor sie darüber nachgedacht hatte.

Einen Moment lang sah Theo sie mit großen Augen an. Seine Wange zuckte kurz, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. »Jetzt ernsthaft?«

Verärgert erhob Ina sich und nahm ihre Schale in die Hand. »Vergiss es!« Nelly war mit ihr aufgestanden und trottete hinter ihr her.

»Hast du etwa welche gesehen?«, rief Theo ihr nach und sprang ebenfalls vom Tisch auf. »Erzähl! Ich will alles über deinen Poltergeist wissen.«

»Das war kein …« Ina schnalzte genervt mit der Zunge. »Du bist doof, weißt du?«

Theo lachte und lehnte sich gegen das Treppengeländer, als Ina hinauf stapfte. »Du erinnerst mich mehrmals am Tag daran. Na los, erzähl schon von deinen Gespenstern!«

»Träum weiter!«

Sie war schon fast oben angekommen, als er seinen Tonfall änderte. »Kommst du nachher mit nach Strausberg zum Markt? Ich höre auch auf, dich zu ärgern.«

Ina blieb stehen und sah hinunter. Fast konnte sie ihm die Unschuldsmiene abnehmen. »Als ob.« Sie ging weiter. »Vielleicht.«

Gegen die Weihnachtsmärkte in Berlin war der Strausberger Adventsmarkt, welcher nur an einem einzigen Wochenende stattfand, geradezu mickrig. Dort gab es nur wenige, bunt blinkende Fahrgeschäfte, dafür einen Weihnachtschor, heiße Kastanien und leckeren Apfelpunsch aus eigener Ernte. Theo mochte manchmal noch so ätzend sein, aber den Markt würde Ina sich sicher nicht entgehen lassen. Nur musste sie ihm das nicht auf die Nase binden.

In ihrem Zimmer angekommen, war Ina versucht, sich noch einmal ins Bett zu legen. Nelly dachte dasselbe und legte sich auf den Teppich. Sicher würden ihre Eltern mit ihr sprechen wollen, sobald sie zurückkamen. Gestern im Auto hatte ihr Vater dankenswerter Weise keinen Ton zu der Panne gesagt, sondern nur gefragt, ob sie okay war, und den Kopf darüber geschüttelt, dass sie nicht beim Auto geblieben war.

Ina wusste nicht, ob sie wirklich in Ordnung war. Im Traum hatte sie das flackernde Licht im Wald gesehen, war von der Dunkelheit verfolgt worden und hatte immer wieder in die faszinierenden Augen des jungen Mannes geschaut. Mittlerweile war sie überzeugt davon, dass er eine Art Geist gewesen sein musste. Nicht nur, weil er so plötzlich verschwunden war, wie er aufgetaucht war – kein Jugendlicher würde sich lebend in solchen Klamotten erwischen lassen. Sein Foto wäre schneller online, als er blinzeln konnte.

Seufzend setzte sie sich an ihren Schreibtisch und las sich die WhatsApp Nachrichten ihrer besten Freundin durch. Angeblich hatte ihr Schwarm noch mit zwei verschiedenen Mädchen geknutscht, nachdem sie gegangen war, aber Moni war sich todsicher, dass das nichts bedeutete. »Es bedeutet, dass ich nicht mal dafür gut genug bin«, tippte Ina bitter, warf das Smartphone aufs Bett und löffelte frustriert ihre Cornflakes.

Unten hörte sie, wie die Tür aufging und jemand die Schlüssel in die Schale schmiss. Ihre Eltern waren zurückgekehrt. Schon konnte sie von unten hören, wie sie Theo nach ihrem Befinden ausfragten. Stöhnend erhob sich Ina und kam gerade die Treppe hinunter, als ihre Mutter sagte: »Vielleicht sollten wir noch mal beim Notarzt vorbeifahren.«

»Was hast du ihnen erzählt?«, fragte Ina entsetzt und sah zwischen ihren Eltern und ihrem Bruder hin und her.

Unschuldig meinte Theo: »Nur, dass du dir den Kopf gestoßen und Halluzinationen hast.«

»Theo!« Entschuldigend sah Ina ihre Eltern an. »Ich habe keine Halluzinationen und überhaupt – ich hatte nicht mal einen Unfall! Es geht mir gut. Wirklich. »

»Leider kann man das vom Auto nicht behaupten.« Ihr Vater seufzte. »Dietmar schaut es sich nächste Woche an, aber sieht so aus, als müsstest du fürs Erste auf ein Auto verzichten.«

»Aber …« Ina verstummte. Es hatte keinen Sinn, sich darüber zu beschweren, dass sie ohne Auto nicht auf die Weihnachtsparty am nächsten Wochenende fahren konnte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch gar keine Lust dazu, ihre nächtliche Fahrt so bald zu wiederholen. Die Weihnachtsferien in Prötzel zu verbringen, klang jedoch wenig verlockend.

Ihre Mutter sah sie entschuldigend an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Hauptsache, dir ist nichts passiert, Liebes. Ich fahr‘ euch nächste Woche auch zur Schule.« Dann lächelte sie. »Na los, zieht euch beide an. Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt.«

Der Weihnachtsmarkt versöhnte Ina mit ihrem Schicksal. Wie immer hatte der kleine Markt etwas Magisches. Von der Bühne schallten fröhliche Weihnachtslieder, und in der Luft hing der Geruch von Zimt, Glühwein und Lebkuchen. Kinder betrachteten mit leuchtenden Augen die Wichtelwerkstatt und lauschten der Weihnachtsgeschichte.

Ina und Theo schlenderten von Stand zu Stand, darüber diskutierend, was sie für ihre Eltern zu Weihnachten kaufen sollten, während sie heiße Kastanien und gebrannte Mandeln aßen. »Der Schal ist hübsch«, meinte Ina und rieb den roten Stoff zwischen den Fingern.

»Wir haben Mama letztes Jahr schon einen Schal geschenkt und das Jahr davor«, beschwerte Theo sich.

»Dann mach einen besseren Vorschlag. Den nehme ich jedenfalls für mich mit.« Nach einem kurzen Gespräch mit der Verkäuferin, schloss Ina sich wieder ihrem Bruder an.

Theos Idee stellte sich als ein Windlicht heraus, gegen das Ina wenig einzuwenden wusste. Während sie noch nach einem passenden Geschenk für ihren Vater suchten, räusperte sich Theo: »Was waren das denn nun eigentlich für Geister, die du gesehen hast?«

»Vergiss es einfach!« Dann überlegte Ina es sich anders und erzählte von den Visionen aus der Nacht. Nur den Mann mit den verschiedenfarbigen Augen ließ sie aus ihrer Geschichte aus. Dabei war er das Eigenartigste gewesen.

Theo sah sie skeptisch an. »Also geheimnisvolle Lichter, ein Schlurfen und Glockenläuten? Die Glocken waren sicher von unserem Kirchturm, das Schlurfen irgendein Tier und dein Smartphone hat irgendetwas reflektiert.«

Ina seufzte. Bei helllichtem Tage kamen ihr die Visionen auch unwirklich und albern vor. Wenn da nur nicht ihre Begegnung gewesen wäre. »Vielleicht hast du Recht, aber hast du unseren Kirchturm schon mal im Wald gehört?«

»Aus der Ferne, ja«, antwortete Theo prompt.

»Aber es war nicht aus der Ferne«, protestierte Ina und gestikulierte mit ihrer Kastanientüte. »Es war direkt neben mir, genau wie die Schritte über den Asphalt schlurften und ich das Licht gar nicht angestrahlt hatte.«

»Glühwürmchen oder ein Gasfeuer?« Theo zuckte mit den Schultern. »Irgendeine Erklärung wird es schon geben.«

Die Augen rollend, ließ Ina die Angelegenheit fallen. Egal, was sie sagte, Theo würde ihr ja doch nie glauben. Sie glaubte ja selbst kaum noch daran.

Dann entdeckte sie jemanden. »Oh, bitte nicht.« In der Menschenmenge kam ihnen gerade ihr Exfreund entgegen. Da er im selben Dorf wie sie wohnte, war es schier unmöglich, ihm aus dem Weg zu gehen, aber dass er sie auch noch in den Nachbardörfern verfolgte, war das letzte, was Ina gebrauchen konnte.

Max hatte sie jedoch inzwischen gesehen und kam mit einem strahlenden Lächeln zu ihnen hinüber. Zaghaft hob Theo die Hand und winkte kurz. »Hey, Max.«

»Na, ihr beiden? Hallo, Ina.« Etwas Zuckerwatte klebte noch in Max‘ Mundwinkel und zog unweigerlich Inas Blick auf sich.

Gequält lächelte sie. »Hallo, Max. Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.«

»Ich geh dann mal …«, fing Theo an, aber Ina griff hastig nach seinem Arm und zog ihn zu sich heran. »Nirgendwohin.«

Max schien davon kaum etwas mitzubekommen. Seine Augen klebten förmlich an Ina. »Na klar, den Markt lass ich mir doch nicht entgehen. Bist du nachher wieder mit der Tanzgruppe dran?«

Sie hatte das Tanzen schon Anfang des Jahres aufgegeben, weil die Schule zu anstrengend geworden war. Dennoch behauptete Ina: »Ja, genau. Ich muss gleich noch mal proben, kann also nicht lange bleiben.« Theo warf ihr einen langen Blick zu. »Sorry.«

»Wie viel Zeit hast du denn? Wir könnten noch ‚ne Runde Kettenkarussel fahren«, schlug Max hartnäckig vor.

Theo würgte. »Ohne mich.« Er mochte keine Höhen.

Irritiert sah Max ihn an. »Ich hatte auch deine Schwester gefragt.«

»Tut mir leid, aber ich kann Theo nicht alleine lassen. Meine Eltern würden mir etwas erzählen, weißt du?« Ina verzog das Gesicht angesichts dieser wirklich miesen Lüge.

»Theo ist sechzehn«, protestierte Max prompt und sah sie verwirrt an. Endlich schien der Groschen jedoch zu fallen und er stöhnte. »Fein, war ja nur eine Idee. Viel Glück bei der Aufführung!« Die Hände in den Taschen zog Max von dannen, so dass Ina fast ein schlechtes Gewissen hatte.

Die Augenbrauen gehoben, warf Theo Ina einen langen Blick zu. »Jetzt hast du ihm das Herz gebrochen.«

Ina versetzte ihm einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf. »Weißt du, Theo. Es ist fast drei Jahre her, dass wir miteinander ausgegangen sind.« Seitdem hatten sie die Jungs auf dem Dorf nur wenig interessiert. »Irgendwann muss er doch mal mitbekommen, dass ich kein Interesse an ihm habe.« Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung.

»Na, bestimmt nicht, wenn du mich als Grund vorschiebst, warum du keine Zeit mit ihm verbringen kannst.«

Lächelnd legte Ina ihren Arm um Theo und drückte ihn kurz an sich. »Danke fürs Mitspielen.«

Theo rollte nur die Augen und schnaubte, aber sie konnte bereits den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht sehen. Sie nahm seine Hand in ihre. »Los, komm, das Stollenanschneiden geht gleich los.«

Kapitel 3

ES WAR KLIRREND kalt, als Theo und Ina am zweiten Weihnachtsfeiertag ihre Fahrräder an einen Baum lehnten und in den Wald stapften. Der Blumenthaler Forst lag unberührt vor ihnen. Hier und da sah man lediglich ein paar Vogelspuren im Schnee. Nelly lief fröhlich vor ihnen her und schnüffelte im Schnee. Theo rieb sich die Hände und sah sich neugierig um. »Du bist sicher, dass es hier war?« Heißer Atem stieg in Dampfwölkchen von seinem Mund auf.

»Ja, so ziemlich.« Ina war bereits vorausgegangen. Der halb gefrorene Schnee knirschte unter ihren Füßen.

»Spuken Geister überhaupt tagsüber?« Theo folgte ihr und fummelte sein Smartphone raus. »Das Netz ist hier auf jeden Fall geisterhaft.«

Ina nickte. »Hab ich dir doch gesagt.«

Zielstrebig kletterte sie über Geröllsteine und Wurzeln. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte. Vielleicht nach dem jungen Mann oder irgendeinem Hinweis, dass er hier gewesen war. Je mehr Zeit verstrichen war, desto unwirklicher kamen ihr ihre Erinnerungen vor. Obwohl es in der Nacht unheimlich gewesen war, hoffte Ina doch, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dafür war sie zu neugierig auf den Fremden geworden.

Theo tippte noch immer auf seinem Smartphone herum und folgte ihr blind. Ina seufzte. Durch die Äste konnte sie bald den See schimmern sehen. Eine dünne Eishaut überzog die Oberfläche. Dann stutzte sie, als sie etwas Weißes im Wind flattern sah.

»Theo, komm!« Sie zupfte an seinem Ärmel, bis er aufsah und zog ihn dann hinter sich her. »Ich habe etwas gesehen.« Neben ihnen raschelte Nelly im Gebüsch.

Verdutzt schaute Theo auf und reckte den Hals. »Was denn? Wo?«

»Hier«, antwortete Ina, doch die weißen Hemden, die sie eben noch durch die Zweige hatte schimmern sehen, waren verschwunden. Hilflos sah sie sich am Ufer um. »Ich verstehe das nicht.«

»Ich verstehe dich nicht«, meinte Theo trocken und testete mit dem Fuß das Eis. Leise knirschte es unter seinem Schuh, dass es Ina schüttelte.

»Lass das!« Sie zupfte an seiner Jacke.

Missmutig zog Theo den Fuß zurück. »Können wir jetzt gehen?«

Ina nickte. Das Ganze hatte ja doch keinen Sinn.

Gemeinsam stapften sie zurück durch den Wald, als Ina aufhorchte. »Hörst du das?« Irgendwo rechts von ihnen erklangen leise rhythmische Schläge durch den Wald. Theo schüttelte den Kopf, aber Ina ließ sich nicht beirren.

Das Hämmern wurde lauter. Es klang wie Eisen, das aufeinander schlug. Inas Herz klopfte bald im selben Rhythmus, als sie immer schneller durch die Bäume lief. Hinter sich hörte sie Theo rufen und murren, aber das war in diesem Moment egal. Sie musste wissen, wer im Wald solche Geräusche verursachte – und dann sah sie ihn.

Nur für einen winzigen Moment gegen die Sonne sah sie seinen Schatten, wie er an der Schmiede stand und den Hammer auf den Amboss fallen ließ. Obwohl Ina sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie sofort, dass er es gewesen war. Ihr Geist.

»Okay, und jetzt?« Theo war neben ihr angekommen und sah sich skeptisch um. Auch Nelly schnüffelte am Boden entlang.

»Er war hier«, antwortete Ina noch halb in Trance.

Jetzt vernahm sie keinen Hammerschlag mehr. Nur Theo, Nelly und die drei Spatzen, die sich auf der anderen Seite der kleinen Lichtung zankten.

Theo beäugte sie schief von der Seite. »Er?«

Erst jetzt fiel Ina auf, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Verlegen räusperte sie sich. »Na ja, also ich habe dir die irrste Erscheinung wohl gar nicht erzählt. Ich habe einen Typen gesehen.«

»Schon wieder?« Ihr Bruder verzog genervt das Gesicht.

Ina schnalzte mit der Zunge, nicht minder verdrossen. »Nachts im Wald, meine ich. Nach dem Licht.« Jetzt hob er die Augenbrauen, und Ina seufzte. »Ich weiß, es klingt total irre, aber da war dieser Typ. Er stand plötzlich auf der Straße und … und dann war er weg. Jetzt habe ich ihn noch mal gesehen. Genau hier.«

»Hier?« Theo klang nicht überzeugt. Er trat einen Schritt auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Langsam glaube ich, du hast wirklich was abbekommen. Hier ist weit und breit niemand.«

Verzweifelt legte Ina den Kopf in den Nacken. »Und wer hat dann auf dem Amboss gehämmert?«

Der Blick in Theos Augen sagte alles. Sie wurde verrückt, sah Gespenster und Geister. Schwer seufzend wandte Ina sich von der Lichtung ab. »Lass uns nach Hause fahren.«

»Tut mir leid, Ina. Ich hätte wirklich gerne einen Geist gesehen«, versuchte er, sie aufzumuntern.

»Nein hättest du nicht«, antwortete Ina niedergeschlagen und stapfte durch den Schnee zurück zu den Fahrrädern. Noch immer war sie überzeugt davon, dass sie den Schmiedegesellen gesehen hatte, doch der Wald um sie herum lag totenstill da.

Die Visionen ließen Ina die ganzen Weihnachtsferien nicht los. Sie sah das vertraute Augenpaar, kurz bevor sie einschlief, und vermutete hinter jedem ungewohnten Geräusch eine geisterhafte Erscheinung. Fast täglich besuchte Ina den Blumenthaler Forst in der Hoffnung, einen Blick auf ihren Geist zu erhaschen. Theo hatte nach dem ersten Ausflug keine Lust mehr, sie zu begleiten, und verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer mit Zocken. Das wäre realer als ihre Hirngespinste, hatte er gemeint, als sie sich wieder einmal warm angezogen hatte.

Tag für Tag zog es Ina in das Waldstück und jedes Mal erwartete sie etwas Neues. Einmal glaubte sie, zwei Menschen im Streit gehört zu haben, doch ihre Stimmen waren verstummt, bevor sie auch nur ein Wort verstanden hatte. Dann wieder hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde ein Kind an sich vorbeirennen gesehen. Sogar den Lufthauch hatte Ina spüren können.

Immer wenn der Wind sich drehte, hörte sie das rhythmische Klopfen der geisterhaften Schmiede und manchmal konnte sie einen Blick auf ihren Geist erhaschen. Er sah sie nie, nicht wie er sie auf der Straße erkannt hatte. Aber wenn sie nach ihm rief, dann hielt er manchmal inne, kräuselte die Stirn und sah sich um, ohne sie je zu entdecken.

Ina wusste nicht, was die Visionen verursachte. Weder Theo noch Nelly, die sie froh über den Auslauf oft begleitete, hatten etwas Ungewöhnliches bemerkt. Manchmal glaubte sie, dass das Dorfleben sie nun endgültig verrückt gemacht hatte.

Niedergeschlagen, dass sie scheinbar uninteressant für die Typen aus der Stadt war, hatte sie die Silvesterparty ausgelassen und lieber mit ihren Eltern und ihrem Bruder ins neue Jahr gefeiert. Als sie heute Morgen die Bilder gesehen hatte, welche von einer Megaparty zeugten, hatte sie die Entscheidung jedoch sogleich bereut. Einzig der Gedanke, dass ihre Klassenkameraden wahrscheinlich alle mit einem Kater kämpften, während sie am frühen Morgen schon wieder draußen an der frischen Luft war und die Stille genoss, verschaffte ihr etwas Genugtuung.

Über Nacht hatte es geschneit. Eine frische weiße Decke bedeckte Boden und Zweige. Der Blumenthalsee war vollständig zugefroren. Glitzernd in der Morgensonne lag er da und ließ Ina verträumt aufseufzen. Die Nase tief in den roten Schal gekuschelt, genoss sie den märchenhaften Anblick.

Nach einer Weile konnte sie eine leise Melodie vernehmen. Ganz zart drangen die Klänge an ihr Ohr, vom Wind leicht verzerrt. Es war ein Geräusch, wie sie es unter den anderen des Waldes noch nie vernommen hatte. Neugierig folgte Ina den sanften Tönen am Ufer entlang, sich unter einigen Zweigen duckend und über Wurzeln steigend. Langsam wurde die Musik etwas lauter und zog Ina dabei immer mehr in ihren Bann. Sie konnte sich nicht erinnern, je etwas Schöneres gehört zu haben. Schließlich entdeckte Ina die Quelle der wundersamen Musik.

Die Musik kam vom Eis. Für einen Moment glaubte Ina etwas Gelbes auf der spiegelglatten Fläche gesehen zu haben, doch dann war es bereits verschwunden. Neugierig ging sie ein Stück weiter um den See, bis ihr plötzlich der Atem stockte. Vor ihr führten sechs in Stein gehauene Stufen hinab unter das Eis. Rechts und links davon waren die Wände gefroren, während der Grund nicht zu sehen war.

Hinter sich hörte Ina erneut das Klopfen der geisterhaften Schmiede, aber diesmal schob sie es zur Seite, um ihr Handy aus dem Rucksack zu nehmen. Schnell machte sie ein Foto von der Treppe und sandte es an Theo. ‚Siehst du es jetzt?‘ Dann rief die Melodie auch schon wieder nach ihr, als wollte sie ihr sagen, dass die Antwort auf ihre Fragen am Grund des Sees lag.

Wie in Trance legte Ina Rucksack und Smartphone am Ufer ab und trat vorsichtig auf die erste Stufe. Sie war weder rutschig noch nass und vollkommen frei vom Schnee. Ina ging zwei weitere Stufen und bückte sich, um sich die Eiswand anzusehen, die sich wie frisch gehauen an den Stufen hochzog. Hinter dem Eis entdeckte sie gefrorene Wasserpflanzen und zwischen ihnen einen Fisch, der an Ort und Stelle verharrte. Die Musik war nun lauter, dröhnte fast in ihren Ohren und lockte sie immer tiefer.

Ina trat auf die sechste Stufe und hielt inne. Die Wände reichten nun höher als ihr Kopf, um sie herum nur Eis und die zauberhafte Melodie, als würde sich unter dem See ein ganzes Orchester befinden und sie mittendrin. Rückwärts trat sie von der letzten Stufe, als der Boden plötzlich unter ihr nachgab. Wassermassen schlugen über ihrem Kopf zusammen und die plötzliche Kälte des Eiswassers ließ Ina geschockt nach Luft schnappen. Sofort drang die Kälte auch in sie. Sie musste entsetzlich husten, so dass weiteres Wasser ihren Mund füllte. Etwas stach in ihrer Lunge.

Endlich setzte Inas Verstand ein und sie strampelte mit den Beinen, um nach oben zu kommen. Sie hätte genauso gut Wasser atmen können. Die schweren Wintersachen, vollgesogen mit Wasser, zogen sie unweigerlich nach unten. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie so tief gar nicht sinken könne. Sie müsste unweigerlich den Boden des Sees treffen und sich von dort abstoßen können. Doch ihre Füße fanden nur Schlick und aufgewirbelten Sand. Bei jedem verzweifelten Schwimmzug griff Ina nur in Wasserpflanzen. Die Kälte raubte ihr zunehmend die Kraft.

Sie spürte ihre Finger bereits nicht mehr, als sich die Atemnot mit stechendem Schmerz bemerkt machte. Irgendwo über ihr befand sich die Eisdecke, undurchdringbar für ihre schwindenden Kräfte, selbst wenn es ihr gelänge, sie zu erreichen.

Jemand griff nach ihr, doch die Berührung währte nur kurz, dann war auch sie nur noch eine ferne Erinnerung in der alles umschließenden Dunkelheit.

Kapitel 4

THEO UND NELLY kauerten am Treppenabsatz, die Ohren gespitzt. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt, so dass er nur die Schatten der Polizisten sehen konnte, die sich mit seinen Eltern unterhielten. Es war kurz nach Mitternacht und Ina war immer noch nicht heimgekehrt. Gerade beschrieben seine Eltern, was sie am Morgen getragen hatte. »… Jacke. Oh … und den roten Schal, den sie letztens erst gekauft hat. Der ist doch ziemlich auffällig, oder?«

Theo legte einen Arm um die Hündin und drückte sie fest an sich. Nelly gab ein leises Winseln von sich. »Ja, ich weiß«, murmelte Theo nur und sah weiter bang zur Tür.

»… werden die Beschreibung erst mal an alle Kollegen rausgeben und dann die Suchmannschaft losschicken. Rufen Sie noch mal bei allen Freunden, Klassenkameraden und Bekannten an. Ein Kollege wird Sie auf dem Laufenden …« Plötzlich wurde die Tür geschlossen und Theo hörte nur noch undeutliches Brummen aus dem Raum.

Genervt erhob er sich von der Treppe und ging hinauf zu seinem Zimmer. Nelly folgte ihm auf dem Fuß. Oben blieb sie jedoch an Inas Tür stehen und drückte leise winselnd mit der Schnauze dagegen. Theo seufzte schwer und zog sein Smartphone hervor. Nicht eine neue Nachricht oder Anruf.

Inas Nummer wählend, ging er hinüber zu der Hündin und zog sie sanft von der Tür weg, bis sie von alleine in Theos Zimmer trottete und sich dort auf dem kreisrunden Teppich hinlegte. »Sie haben die Mailbox von Ina …« Den Rest drückte Theo weg und schleuderte das Smartphone auf sein Bett. Nelly hob kurz den Kopf und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Sie hat das Handy aus. Nicht sonderlich hilfreich.« Die Hündin beobachtete ihn immer noch mit ihren großen dunklen Augen und Theo kämpfte mit einem Anflug schlechten Gewissens. Er hockte sich vor sie und kraulte ihr hinter den Ohren. »Sie kommt schon wieder. Bestimmt ist sie in die Stadt gefahren und trifft sich mit irgendeinem Typen. Da hat sie keine Zeit zum Telefonieren. Morgen ist sie wieder da.«

Er seufzte erneut und hielt Nellys Kopf mit beiden Händen, für einen Moment seine Stirn an ihr warmes Fell pressend. Ihre feuchte Nase stieß gegen sein Kinn, als wolle sie ihn trösten. Erst da bemerkte Theo, wie sehr er zitterte. Vorsichtig ließ er sich neben Nelly nieder und wollte sich gerade an ihr Fell kuscheln, als er Schritte auf der Treppe hörte.

Blitzschnell waren Junge und Hund aufgesprungen und an der Tür, bevor seine Mutter die Chance hatte, zu klopfen. Überrascht sah sie die beiden an und seufzte dann. »Du bist noch wach.«

Theo rollte mit den Augen. »Als ob ich bei so was schlafen gehen würde.«

Seine Mutter sah ihn mitleidig an und strich liebevoll über seine Wange. »Ach, Theo, Liebling. Es wird schon alles gut sein.«

»Mama, ich bin sechzehn. Du brauchst mich nicht schonen oder so einen Quatsch«, protestierte er. »Ina antwortet nicht, und wir wissen nicht, wo sie ist. Das habe ich mitbekommen.«

Tief einatmend, schlug seine Mutter einen sachlicheren Ton an: »Also gut. Die Polizei wird jetzt nach ihr suchen, aber es wäre deutlich leichter, wenn sie einen Anhaltspunkt hätte. Ich meine, zwischen hier und Berlin könnte Ina überall sein.« Sie schüttelte leicht den Kopf und sah ihn hoffnungsvoll an. »Weißt du, wo sie vielleicht hingegangen sein könnte? Hat sie irgendwas gesagt?«

»Das hast du schon mehrmals gefragt«, antwortete Theo. »Sie wollte raus, spazieren gehen.« Die Augen seiner Mutter schimmerten verdächtig, auch wenn sie sich zu beherrschen versuchte. Theo schluckte und meinte schließlich: »Wahrscheinlich ist sie wieder zum See.«

»See?«, fragte seine Mutter verdutzt.

Theo nickte. »Ja, zum Blumenthalsee. Du weißt schon, im Wald.« Sie nickte. »In den letzten Tagen war sie irgendwie ständig da.«

»Weißt du, warum?«

Zögernd stieß Theo etwas Luft aus. Er konnte seiner Mutter wohl kaum sagen, dass Ina Jagd auf Geister gemacht hatte. »Na ja, seit der Autopanne fühlt sie sich diesem Ort irgendwie verbunden oder so was. Jedenfalls kehrt sie ständig dahin zurück. Ich war auch mal mit«, gab er zu. »Aber da ist nichts. Nur Wald, See und noch mehr Wald.«

Langsam nickte seine Mutter, nicht wirklich überzeugt. »Also gut«, sagte sie jedoch. »Wir werden der Polizei sagen, dass sie dort auf alle Fälle mal vorbei schauen sollen. Nicht, dass sie da …« Sie ließ den Satz offen, unwillig den Gedanken laut auszusprechen.

Theo schluckte. Ina hatte gesagt, dass sie dort jemanden gesehen hatte. Vielleicht … Sein Atem beschleunigte sich und hilfesuchend sah er zu seiner Mutter. Diese reagierte sofort und schloss ihn fest in die Arme. Ihre Finger strichen über seine Haare, während sie erstickt flüsterte: »Es wird alles gut, Theo. Alles wird gut. Morgen ist sie wieder da.«

Er wusste, dass es eine süße Lüge war, doch in diesem Moment wollte er sie nur zu gerne glauben.

Kapitel 5

DIE KÄLTE LÄHMTE ihre Glieder, während sie in der Dunkelheit dahin glitt. Manchmal drang ein Laut an ihr Ohr, ein entferntes Klopfen oder eine warme Stimme. Dann hörte Ina wieder nur das Rauschen des Wassers. Ihre Finger und Zehen kribbelten unangenehm.

»Schläft sie immer noch?«

Die Worte ergaben keinen Sinn. Sie schlief nicht; sie ertrank. War ertrunken … Etwas Warmes strich ihr über die Stirn und plötzlich verzehrte sich alles in ihr nach der Berührung, doch die Wärme verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.

»Fieber hat sie keines.« Besonders hoffnungsvoll klang die Frauenstimme jedoch nicht.

Ina versuchte, nach ihr zu greifen, aber ihre Finger gehorchten ihrem Willen nicht. Es war so unendlich schwer, sich zu rühren.

»Hast du das gesehen?« Die zweite Stimme war tiefer und wärmer. »Ihre Finger haben gezuckt.«

Die Frauenstimme antwortete: »Der Arzt hat gesagt, wenn sie die Nacht überlebt, schafft sie es vielleicht.«

Arzt? Überleben? Mit einem Mal ging Inas Atem schneller. Erst da wurde ihr bewusst, dass Luft in ihre Lungen strömte. Sie war nicht mehr im Wasser. Stattdessen lag sie in einem Bett. Im Krankenhaus. Jemand hatte sie gefunden.

»Siehst du? Sie wacht auf.« Die zweite Stimme war eindeutig männlich. Theo und ihre Mutter kamen Ina in den Sinn, doch es klang nicht nach ihnen. »Sie schlägt bestimmt gleich die Augen auf.«

Augen aufschlagen. Wenn es doch nur nicht so unendlich schwer wäre. Es war Ina, als hätte ihr Gehirn vergessen, wie das ging.

»Ich hol schnell den Arzt.« Schritte entfernten sich, und Ina blieb alleine mit dem Mann. Ihrem Zimmernachbarn oder vielleicht einem der Pfleger.

Seine Finger strichen über ihre Hand, eine sanfte Spur der Wärme hinterlassend. Ina war hin und hergerissen zwischen dem Schrecken, dass er sie berührte, während sie schlief, und der Sehnsucht nach der Wärme in seinen Fingern. Ihr war so schrecklich kalt und noch immer wollten sich ihre Lider kein Stück bewegen. Wann kam nur endlich der Doktor?

Das Kribbeln in ihren Gliedern wurde schmerzhaft, und erst jetzt erkannte Ina es als das, was es war: Die Wärme kehrte in ihren Körper zurück, ergriff wieder Besitz von ihm.

Die Finger waren im Begriff, sich von ihr zu lösen, als Ina zugriff. Sie wollte nicht, dass die Wärme sie wieder verließ. Ina konnte hören, wie der Mann scharf die Luft einzog. Er erwiderte den Druck ihrer Finger und verstärkte den Griff seiner Hand.

»Wach auf«, forderte er sie flüsternd auf. Der wohlige Klang seiner Stimme linderte den Schmerz ihrer Gliedmaßen etwas.

Es gelang ihr, die Augenlider einen Spalt weit zu öffnen. Rotes Licht blendete sie, und Ina kniff die Augen schnell wieder zu. Dann versuchte sie es erneut. So hell war der Lichtschein gar nicht und er flackerte, als hätte die Glühbirne einen Wackelkontakt.

Ina rieb sich über die Augen und öffnete sie schließlich ganz. Verwirrt sah sie die mächtigen Holzbalken, die die Decke trugen. Sie schielte nach rechts, von wo das flackernde, warme Licht herkam, und erschrak. Feuer.

Mit einem Mal wurde Ina klar, dass sie keineswegs im Krankenhaus lag, sondern in einer Hütte. Es war auch kein Bett, auf das man sie gelegt hatte, sondern nur ein Fell und ein paar Decken, die auf dem Boden lagen. Neben ihr prasselte das Feuer in einem steinernen Kamin, der sicher nicht nach EU-Richtlinie gesichert war.

Panisch setzte Ina sich auf und sah nach links.

---ENDE DER LESEPROBE---