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SERAPH 2018 Gewinner: „Bester Independent-Titel“ Ein verborgener Hain Ein verfluchter Prinz Ein Paar zertanzter Schuhe Vor drei Jahren ist Jonas aus dem Krieg heimgekehrt und doch scheint es, als wäre er nie zuhause angekommen. Ziellos durch die Straßen schweifend, trifft er einen alten Mann, der ihm von den Wundern des DeModie erzählt, einem verwunschenen Reich im Herzen des Nachtlebens. Unzählige Reichtümer und Schätze erwarten ihn dort, doch, was Jonas wirklich verzaubert, ist die lebensfrohe Tänzerin Sophie, die ihn mit ihrem Lachen ansteckt. Jede Nacht tanzt Sophie mit ihrem Prinzen und jede Nacht zerreißen ihre Schuhe ein klein wenig mehr, und mit ihnen das Geheimnis, welches das DeModie und seine Bewohner umgibt. Die zertanzten Schuhe mal anders. Im Bann eines verzauberten Tanzes spinnt die Autorin Janna Ruth märchenhafte Elemente der Brüder Grimm zu einer modernen Fabel über das glitzernde Nachtleben, zerbrochene Träume und verlorene Seelen.
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Im Bann der zertanzten Schuhe
vonJanna Ruth
ErstausgabeJuni 2017ISBN-13: 978-3-96111-467-2auch als Ebook
Copyright © Jana MittelstädtCoverdesign: Yvonne Landsiedelunter Verwendung von Bildmaterial vonKiselev Andrey Valerevich / shutterstock.com
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks, Kopie und Verbreitung in jeglicher Form sind vorbehalten.
Impressum:Zum Jagenstein 21, 14478 [email protected]
Für Yvi,Die mir geholfen hat, meine Träume wahr werden zu lassen.
KAPITEL 1OuvertureKAPITEL 2CavalierKAPITEL 3ChasséKAPITEL 4Pas de troisKAPITEL 5Sur les pointesKAPITEL 6SautéKAPITEL 7BalancéKAPITEL 8DégagéKAPITEL 9ChangementKAPITEL 10BriséKAPITEL 11RelevéKAPITEL 12CodaEPILOGPrimaballerinaNACHWORT
Ouverture
Schutt und Asche rieselten vom Himmel, als Jonas sich flach auf den Boden warf. Kaum dass er lag, erschütterte eine zweite Explosion die Erde. Schreie mischten sich unter das laute Heulen der Sirenen. Jonas presste die Hände auf die Ohren, aber die Schreie bohrten sich gleichzeitig mit den Glassplittern tief in seinen Kopf. Hitze wallte über ihn hinweg und brachte den Geruch von verbranntem Fleisch mit sich. Die Schreie wurden lauter, kreischten unmenschlich hoch. Er konnte ihnen nicht entgehen; verbrannte mit ihnen, während er sich gleichzeitig unter Anstrengung all seiner Kraft aus dem Schutt wühlte, den Kopf immer unten haltend. Bloß nicht auffallen. Wenn er nur weit genug weg war, hätte er eine Chance.
Zum dritten Mal wurde seine Umgebung in Stücke gerissen.
Es war sein eigener Schrei, der Jonas schließlich aus dem Schlaf riss. Desorientiert und nach Luft schnappend sah er sich in dem kleinen Zimmer um. Nirgendwo lag zersplittertes Glas. Die Balken waren nicht zerborsten. Der Mann im anderen Bett röchelte nicht, sondern schnarchte. Jonas' Herz schlug heftig, die Laken waren durchgeschwitzt und in seinen Augen brannten Tränen, aber er war in Sicherheit.
Seufzend ließ Jonas sich zurück ins Kissen fallen und starrte die Decke an. Noch immer hallten die grausigen Schreie in seinem Kopf, nur unterbrochen von immer heftigeren Detonationen. Er hatte das Soldatenleben aufgegeben und den Krieg hinter sich gelassen und dennoch ließ es ihn nicht los. Er hatte das Gefühl stillzustehen, während die Welt sich um ihn weiter drehte. Als gäbe es für ihn nichts anderes mehr als diesen Albtraum. Je länger er an die Decke starrte, desto heftiger spürte er die Erschütterungen, wenn die Bomben in seinem Kopf explodierten.
Die Narbe auf seinem Rücken begann mit einem Mal zu schmerzen und Jonas hielt es nicht länger aus. Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Während er sich anzog, lauschte er auf die Umgebung. Von dem Schnarchen seines Zimmernachbarn abgesehen, lag die Jugendherberge in vollkommener Stille. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es vier Uhr morgens war. Selbst die Gruppe grölender Jugendlicher vom Vorabend war längst im Bett verschwunden. Es war diese Stille, die die Albträume nachts einlud. Die Stille in ihm, die er selbst nicht zu vertreiben vermochte. Schon schlichen sich die Erinnerungen, die er zu vergessen suchte, wieder an. Sie lauerten nie weit entfernt in seinem Unterbewusstsein.
Er brauchte einen Ortswechsel. Geräusche. Leben.
Jonas beschloss die Jugendherberge zu verlassen und den Morgen zu nutzen, sich mit der neuen Stadt vertraut zu machen. Mit ein wenig Glück hatte er heute Abend endlich wieder einen Job und konnte versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Alles, was er tun musste, war, durch das Bewerbungsgespräch zu kommen, ohne einen seiner Anfälle zu bekommen.
Die frische Luft half ihm, die Gedanken an den Traum endlich zu vertreiben. Es war angenehm draußen, nicht so heiß wie tagsüber. Die Nacht war erfüllt von Lauten. Irgendwo hinter ihm tropfte eine Kühlanlage, zwischen den Gräsern zirpten die Grillen und ein Rascheln im Busch zog kurz Jonas' Aufmerksamkeit auf sich. Im Krieg hatte es keine Büsche gegeben, nur kalten nackten Stein.
Die Jugendherberge lag auf einem Hügel außerhalb der beschaulichen Kleinstadt und Jonas lief ein Stück, bis er freie Sicht hinunter auf die Dächer hatte. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln. Nur hier und da drang das Licht der Straßenlaternen zu ihm hinauf. Unweigerlich wurde sein Blick auf ein kleines Lichtermeer im Süden der Stadt gezogen.
Wie von selbst trugen seine Füße Jonas in diese Richtung, auf der Suche nach Gesellschaft. Noch lange, bevor er die beleuchteten Straßen erreichte, konnte er den Puls des Lebens hören. Ein Bass dröhnte von weiter vorn, vermischte sich mit anderen Rhythmen und schon bald vernahm Jonas vereinzelte Melodien. Menschen torkelten über die Straße, lachend und grölend. Zu seiner Rechten keifte sich ein junges Paar an, während weiter vorne lautstark und falsch mitgesungen wurde.
Erleichtert ließ sich Jonas von den Klängen mittragen.
Es dämmerte bereits, als sich die Tür eines Clubs neben Jonas öffnete und lautes Gelächter ertönte. Eine Gruppe kichernder Mädchen stolperte ins Freie und scherzte mit dem Türsteher. Ihr lebensfrohes Lachen schlug Jonas in seinen Bann und er betrachtete die heiteren Nachtschwärmer, wie sie sich gegenseitig stützen, laut schnatterten und dabei immer wieder in Gelächter ausbrachen.
Besonders eine der jungen Frauen zog Jonas' Blick auf sich. Tänzelnd sprang sie trotz ihrer Trunkenheit hinter den anderen her, als würde sie eine Musik hören, die niemand anders vernahm. Während er sie betrachtete, spürte Jonas zum ersten Mal seit langem, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass ihre bis in die Zehen gestreckten Füße barfuß waren. Irritiert folgte Jonas ihrer Spur zurück und entdeckte die liegengelassenen Schuhe nahe der Clubtür. Es waren keine Highheels, wie er erwartet hatte, sondern Spitzenschuhe, wie sie im Ballett benutzt wurden. Jonas bückte sich und beeilte sich der kleinen Gruppe zu folgen, die nun ein Taxi angehalten hatte.
«Entschuldigung?» rief er und das Mädchen drehte sich erwartungsvoll zu ihm um. Für einen Moment verlor Jonas sich in ihren dunklen Augen, dann räusperte er sich und hob die Schuhe in die Höhe. «Sie haben da was vergessen.»
Schwankend sah sie zuerst zu ihren bloßen Zehen, als müsste sie die Richtigkeit seiner Aussage überprüfen. «Oh, stimmt. Danke!»
Jonas betrachtete erneut die Schuhe in seinen Händen. Die Sohlen und die Spitze waren abgenutzt, die Bänder fransig und schmutzig. «Die sind ziemlich durchgetanzt.»
Das Mädchen sah auf und lachte: «Ja, schon irgendwie.» Als könnte sie nie lange genug still stehen, tänzelte sie auf der Stelle herum und stolperte schließlich nach vorne.
Mit der linken Hand griff Jonas ihren Arm. Hitze breitete sich in seinem Magen aus, während er ihr half, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. «Alles in Ordnung?»
Sie nickte und strich sich mehrere Strähnen aus dem Gesicht, ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen.
Mit einem kleinen Räuspern reichte Jonas ihr die Schuhe. «Hier.»
Sofort hob sie abwehrend die Hand. «Oh nein! Mir tun die Füße jetzt schon weh. Ich habe die ganze Nacht durchgetanzt. Ich glaube, ich könnte mir nicht mal die Bänder zubinden.»
In ihrem Zustand glaubte ihr Jonas das nur zu gerne.
Dennoch beharrte er darauf, ihr die Schuhe zu geben. «Ja, schon, aber ...»
«Es sind nur Schuhe! Kaputte Schuhe!» Das Mädchen lächelte verschmitzt und Jonas konnte nicht anders, als es ihr gleich zu tun. «Behalt sie einfach!», schlug sie plötzlich im Übermut vor.
Die Absurdität des Angebots entlockte Jonas ein Schnauben. «Ich fürchte, die sind mir zu klein.» Zu seiner Freude hellte sich ihr ganzes Gesicht auf, als sie in schallendes Gelächter ausbrach.
«Sophie, jetzt komm endlich! Das Taxi wartet», drängelte eine ihrer Freundinnen und hielt ungeduldig die Tür auf.
Mit einem letzten Grinsen winkte Sophie ihm zu und stolperte mit etwas Hilfe in das Taxi hinein. Die Tür fiel zu und das lebensfrohe Gelächter verklang.
Seufzend sah Jonas dem Taxi hinterher, das kaputte Paar Ballettschuhe noch immer in der Hand. Als das Auto schließlich um die Ecke bog, drehte er sich neugierig zu dem Club um.
DeModie.
In düsteren, verschlungenen Lettern stand der Name über einer schmalen, unscheinbaren Holztür. Je länger Jonas hinsah, desto mehr schien sie mit dem Gebäude zu verschmelzen. Hätte er vorhin nicht direkt daneben gestanden, hätte er den Eingang niemals zwischen den leuchtenden Neonschildern der Nachbarclubs entdeckt.
Verwirrt wandte Jonas sich ab und ging weiter, Sophies Bild vor Augen. Noch immer waren seine Lippen zu einem Lächeln verzogen und er fühlte sich so lebendig wie lange nicht mehr. Gut gelaunt pfiff er ein Liedchen, während die Welt um ihn herum langsam erwachte.
«Interessanter Schuppen, oder?», wurde er plötzlich von der Seite angesprochen.
Jonas brauchte einen Moment, bevor er den Bettler in seinem Haufen Decken richtig wahrnahm. Nichts an dem Mann war auffällig. Das verfilzte Haar hing ihm tief ins Gesicht und seine Augen huschten unstet umher. Ein abgegriffener Plastikbecher stand vor ihm.
Zögerlich tastete Jonas nach seinem Portmonee und ließ ein paar Münzen in den Becher fallen. «Was meinen Sie?»
Der Bettler grinste ihn an und entblößte schiefe gelbe Zähne. «Das DeModie. Der Traum einer jeden Jungfer.»
«Jungfer?», wiederholte Jonas ungläubig. Das Wort hatte er das letzte Mal in einem Märchenbuch gelesen. Er sah zurück zu der Stelle, wo das DeModie förmlich zwischen den anderen Clubs verschwand. «Sieht für mich eher nach Absteige aus.»
Der Mann hustete und klopfte auf den Platz neben sich. «Eben eben, es soll ja nicht jeden anlocken.»
Jonas zögerte. Das war nicht unbedingt die Gesellschaft, nach der es ihn verlangt hatte. Aber was, wenn er nicht der einzige war, den es nach einem kurzen Gespräch verlangte? «Und wer soll stattdessen reingehen?», fragte er, während er neben dem Bettler Platz nahm. «Etwa zarte Jungfern?»
Die blauen Augen des Bettlers funkelten vergnügt, während er nach vorne langte und das Geld zwischen seinen warmen Decken verschwinden ließ. «Du wirst es schon sehen, wirst es schon sehen.»
Jonas wunderte sich, was genau er sehen würde, doch der Mann war mit sich selbst beschäftigt und murmelte vor sich hin. «Irgendwo ... na, ich habe doch ... ja, ja, die Zeit und ihre Träume ... Ah, da bist du ja.» Jonas fragte sich schon, in was für eine Situation er sich jetzt schon wieder manövriert hatte, als der Mann eine kleine Flasche hervornahm. Grunzend schüttete er die Münzen aus seinem Becher und goss ein. Jonas wollte sich gerade wieder erheben, als der Bettler ihm plötzlich den Becher vor die Nase hielt. «Hier, trink!»
Zögerlich betrachtete Jonas den gräulichen Rand des Bechers. Seine Gedanken sprangen sogleich zu den zahlreichen Krankheitserregern, die sich mit Sicherheit in dem Becher tummelten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was er sich dabei wohl alles holen könnte.
Und wenn schon.
Wenn der Krieg ihn nicht umgebracht hatte, würde es dieser Becher erst recht nicht tun. Jonas griff nach dem Becher und nahm einen Schluck. Fast hätte er ihn wieder ausgespien, so widerlich schmeckte der Schnaps.
Lachend nahm der Bettler ihm den Becher wieder ab und leerte ihn in einem Zug. «Nicht viel gewöhnt, was?»
Jonas verzog das Gesicht. Der ekelhafte Geschmack lag ihm noch immer auf der Zunge.
«Aber gut erzogen und freundlich. Würde sich nicht jeder zum alten Manu setzen.»
«Was ist denn das für ein Club?» fragte Jonas schließlich, als er wieder Luft zum Atmen hatte, bemüht wenigstens etwas Vernünftiges aus dem alten Mann herauszubekommen.
«Oh, der schönste Ort auf Erden, reicher als jede Schatzkammer und voller Freuden.» Sehnsüchtig sah der Mann zu dem Club, bevor er ihm den Blick wieder zuwandte. «Und der kälteste. Hier, ich will dir was geben.»
Zu Jonas' Entsetzen begann der Mann sich aus der obersten Decke zu schälen, die sich als ein zerschlissener Wintermantel herausstellte, und reichte ihn Jonas.
Protestierend hob Jonas die Hände. «Oh nein, das kann ich nicht annehmen. Sie brauchen den mehr als ich. Jetzt ist es noch warm, aber später ...»
«Nimm ihn, Junge», grollte der Bettler überraschend vehement. «Das ist kein gewöhnlicher Mantel.»
Skeptisch hob Jonas die Brauen. «Nicht?»
Der Bettler nickte mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. «Du wirst sein Geheimnis schon noch lüften. Glaub mir, dir wird er mehr nutzen als mir. Er stammt aus dem Club.»
«Ich ...» Jonas fiel nichts ein, was er dazu sagen konnte und so beließ er es bei einem schlichten «Danke».
Der Bettler lächelte wohlwollend. «Vertrau mir. Damit kannst du dir Zugang zu all den wunderbaren Träumen verschaffen.»
Zweifelnd sah Jonas auf den zerschlissenen Mantel. Jetzt war er Besitzer von gleich zwei Kleidungsstücken, die am besten in die nächste Mülltonne gehörten. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, einen Second-Hand-Laden aufzumachen, wenn das Vorstellungsgespräch wieder in die Hose ging.
Kaum hatte der Bettler sein Geschenk übergeben, verlor er das Interesse an Jonas. «Nun mach schon, dass du wegkommst, Junge!»
Irritiert stand Jonas auf. Im Fortgehen warf er immer wieder einen Blick über die Schulter. Der Bettler schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr und verschwand stattdessen wieder in seinen Decken, unscheinbar wie das DeModie.
Jonas wandte sich nach vorne und betrachtete sein neues Erbstück. Im Sonnenlicht sah er gar nicht mehr so dreckig aus. Ganz im Gegenteil, der Schmutz war verschwunden und zum Vorschein kam ein Stoff, der feiner war, als alles, was er je in der Hand gehalten hatte. Er fühlte sich unglaublich leicht und trotzdem weich wie Samt an. Wenn er das feine Gewebe zwischen den Fingern hin und her rieb, schimmerte der Stoff sogar im Sonnenlicht.
An seinem Verstand zweifelnd betrachtete Jonas die Schuhe in seiner anderen Hand, doch sie sahen genauso abgenutzt aus wie zuvor.
Müde rieb Jonas sich mit dem Arm über die Augen. Vielleicht hinterließen die Schlafstörungen doch langsam ihre Spuren. Bei einem letzten zweifelnden Blick zurück stellte Jonas fest, dass die Ecke vollkommen leer war. Als wäre der Bettler nie dagewesen. Kopfschüttelnd betrachtete Jonas den merkwürdigen Mantel in seiner Hand. Der Schnitt war altmodisch und der Stoff gut eine Handbreit zu lang für ihn. Dabei hatte der alte Mann gar nicht so groß gewirkt.
Hoffentlich würde der Rest des Tages nicht ebenso verwirrend verlaufen. Schließlich stand seine Zukunft auf dem Spiel.
«Und was haben Sie in den letzten drei Jahren gemacht?»
Die Frage bohrte sich tief in Jonas' Eingeweide. Nervös sah er den gut gepflegten Mann mit dem schütteren Haar an, der entspannt in seinem Stuhl saß und ihn kritisch betrachtete. Es war der analytische Blick, den Jonas von anderen Offizieren kannte. Als würde er ausrechnen, wie hoch die Chancen waren, dass Jonas die nächste Mission überleben würde.
Jonas räusperte sich und griff zum wiederholten Male zu dem Glas Wasser vor sich. «Ich habe ein Studium begonnen und versucht eine Ausbildung zu machen.» Die Details dieser jämmerlichen Versuche lagen vor ihnen in der Mappe mit dem Lebenslauf.
«Aber?» Der Mann hatte eine seiner buschigen Augenbrauen gehoben und tappte leicht mit den Fingern auf seinen Schreibtisch.
Sich an seine Ausbildung erinnernd, drückte Jonas das Rückgrat durch und erstattete Bericht. «Ich hatte das Studium zu früh angefangen und mit der Umstellung zu kämpfen.» Es war der Zeitpunkt gewesen, an dem die Albträume angefangen hatten. «So viele Leute an einem Ort waren mir unangenehm und daher blieb ich öfter zu Hause als förderlich für meinen Notendurchschnitt war. Während meiner Ausbildung kam es zu einigen unerwarteten Fehlstunden wegen ...» Schluckend dachte er an die damaligen Panikattacken; Tage, die er kauernd unter dem Bett verbracht und nur als dunkle Episoden seiner Albtraumwelt erlebt hatte.
Der durchbohrende Blick seines Gegenübers ließ Jonas nervös werden. Es war ihm nicht möglich ihn zu erwidern und so sah er sich stattdessen in dem luxuriösen Büro um. Der Ruhestand vom aktiven Dienst hatte Herrn Kallenbach gut getan. Die Stühle in dem großen lichten Büro waren mit edlem Leder bezogen und an den Wänden hingen teure Gemälde. Als er wieder zurücksah, bemerkte er, dass er immer noch genau beobachtet wurde.
Schließlich erlöste Herr Kallenbach ihn und sagte mit ruhiger Stimme. «Sie haben mehr aus dem Krieg mitgebracht, als Sie erwartet haben.»
Jonas starrte auf seine Finger. Es war ihm peinlich, dass der Krieg ihn so mitgenommen hatte. Er hatte tapfer gekämpft, jeden Auftrag ausgeführt und war lebend heimgekehrt. Das war mehr, als manch einer seiner Kameraden behaupten konnte. Was würden sie jetzt sagen, wenn sie sahen, dass er sich vor jeder noch so kleinen Erschütterung des Bodens fürchtete oder dass ihn die Erinnerung jede Nacht aufs Neue einholte? Was würden sie davon halten, wenn sie wüssten, dass er das Leben, das ihm geblieben war, nicht in vollen Zügen genießen konnte? Dass er den Weg in dieses Leben nicht mehr fand?
Verhalten räusperte sich Jonas und nickte. «Ich gebe mein Bestes.»
Sie wussten beide, dass das lächerlich wenig war. Dennoch war Herr Kallenbach gewillt fortzufahren: «Was verstehen Sie unter einer guten Arbeitsmoral?»
«Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, sowohl Eigenständigkeit als auch die Bereitschaft, Befehle ohne Fragen auszuführen, Verlässlichkeit», zählte Jonas auf, den Blick diesmal ungezwungen erwidernd.
Herr Kallenbach nickte und lehnte sich ein wenig vor. «Und sind Sie das? Verlässlich?»
Etwas unwohl rutschte Jonas auf dem Stuhl herum, bis ihn der stahlharte Blick zwang, wieder Haltung anzunehmen. «Jawohl!» Fast salutierte er, bevor er den Blick wieder senkte. «Ich wurde für meine tadellose Militärzeit mit dem Bundesehrenkreuz ausgezeichnet. Welche Aufgabe Sie auch immer für mich haben, Sie können auf mich zählen.» Das Versprechen war Jonas unverhofft herausgerutscht, denn eigentlich hatte er keine Ahnung, was Herr Kallenbach von ihm erwartete.
Nach mehreren Versuchen, sich aus eigener Kraft ein neues Standbein in dieser neuen Realität aufzubauen, hatte Jonas seinem ehemaligen Truppführer von seinen Schwierigkeiten erzählt. Natürlich hatte er ihm nichts von den Albträumen gesagt. Das war auch nicht nötig gewesen. Die Wahrheit hatte deutlich in seinen Augen gestanden.
Sein Truppführer hatte ihn schließlich Herrn Kallenbach empfohlen, der zurzeit nach vertrauenswürdigen Leuten suchte.
«Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass Sie für den Job geeignet sind.»
Jonas' Herz sank. Langsam wurde es brenzlig, wenn er aus seinem Leben etwas machen und nicht im Sicherheitsdienst oder schlimmer noch bei der Müllabfuhr enden wollte.
«Aber ich wäre der Letzte, der einem jungen Mann keine Chance geben würde.»
Überrascht horchte Jonas auf, gespannt auf das, was kommen würde.
Herr Kallenbach lehnte sich zurück. «Ich möchte Sie als persönlichen Assistenten einstellen. Ihr Truppführer erwähnte, dass Sie etwas von Logistik und Administration verstehen.»
Jonas nickte erneut. Er hatte die Arbeit im Lager genossen, auch wenn er nur Befehle ausgeführt hatte.
Zufrieden fuhr Herr Kallenbach fort. «Ich nehme an, dass Sie sich noch keine Wohnung in der Stadt besorgt haben?»
Diesmal schüttelte Jonas den Kopf. Es stand als nächstes auf seiner Liste.
«Gut. Sie können in der Gästewohnung auf der anderen Seite des Anwesens einziehen. Die übrigen Formalien übernehme ich. Das Gehalt entspricht dem meiner Sicherheitsangestellten.»
Mit diesen Worten schob er Jonas einen Umschlag über den Tisch. Auf sein Nicken hin nahm Jonas ihn an sich und warf einen Blick auf den Vertrag. Als er die Zahlen sah, wurde ihm schwindlig. Er konnte es sich nicht leisten, den Job auszuschlagen. Gespannt wartete Jonas darauf, was der Haken an der Sache war.
«Ihre erste Aufgabe wird jedoch andere Qualitäten von Ihnen abverlangen. Sehen Sie es als Bewährungsprobe an. Es geht dabei um meine Tochter. Sophie», stellte Herr Kallenbach endlich klar.
Verwirrt griff Jonas nach dem Glas Wasser, nur um festzustellen, dass es längst leer war.
Ohne Kommentar schob sein Gegenüber die Flasche herüber und sprach weiter: «Jede Nacht verschwindet sie und taucht erst bei Tagesanbruch wieder auf. Sie sagt mir weder, wohin sie geht, noch vertraut sie es sonst jemandem an. Alle Versuche, ihr zu folgen, enden mit dem gleichen Ergebnis. Sie ist immer wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe die Gegend, in der sie verschwindet, gründlich absuchen lassen. Ohne Erfolg.»
«Wäre das nicht eher etwas für einen Privatdetektiv?» Jonas war nur einfacher Soldat gewesen. Er wüsste nicht einmal, wo er mit der Aufgabe anfangen sollte.
Herr Kallenbach seufzte. «Glauben Sie mir, es waren schon mehrere an der Aufgabe dran. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass alle scheitern. Sie jedoch sind nicht viel älter als meine Tochter. Vielleicht können Sie herausfinden, wo sie sich Nacht für Nacht rumtreibt.»
Nervös befeuchtete Jonas seine Lippen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er das Mädchen beschatten sollte. Aber er brauchte das Geld und viel mehr noch die Chance. Während er mit sich rang, verlor sein Gegenüber allmählich die Geduld. «Also?»
«Ich fühle mich nicht wohl dabei», gab Jonas zu.
Bevor er sich jedoch erklären konnte, schnaubte Herr Kallenbach. «Wenn Sie Ihre Aufgabe gut machen, schreibe ich Ihnen eine Empfehlung aus, mit der Sie sich vernünftig bewerben können. Oder Sie bleiben in der Firma, wenn sich das ergibt.»
Jonas wusste, dass er das Angebot nicht ablehnen konnte. Vielleicht fand sich ja ein anderer Weg, um an die Informationen heranzukommen. Möglicherweise verriet sie es ihm ja, wenn er ihr die Sache erklärte. Seine Lippen waren trocken, als er antwortete: «Einverstanden. Wann fange ich an?»
Den schweren Reisesack mit all seinem Hab und Gut über der Schulter, näherte sich Jonas dem Haus am Rande des Kallenbach-Anwesen. Im Vergleich zum Bürokomplex und dem großen Herrenhaus war das Gästehaus geradezu winzig.
Immerhin stand es abgeschieden genug, dass er sich einbilden konnte, in seinem eigenen Heim statt im Garten seines Arbeitgebers zu wohnen. In Gedanken bei dem bevorstehenden Auftrag schloss Jonas die Tür auf und stolperte im nächsten Moment über eine Tasche. Als er aufsah, erwartete ihn das reinste Chaos.
Der Eingangsbereich mündete in einen großflächigen Wohnbereich, in dem es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Kleider, Jacken und Schuhe lagen wild herum, in der offenen Küche stapelte sich das dreckige Geschirr und mindestens ein Dutzend verschiedenster Magazine - Mode, Stars und das Kulturblatt - lagen quer über Tisch und Sitzgarnitur verteilt. Alles in Jonas sträubte sich gegen die Unordnung und seine Hände zuckten nervös im Wunsch, anzupacken und aufzuräumen.
Im Gegensatz zu einem Bombeneinschlag war dieses Chaos jedoch nicht Ausdruck für Tod und Zerstörung, sondern für Leben. Dafür sprach auch die klassische Musik, die aus einem Nebenraum zu ihm drang. Verwundert darüber, dass er offensichtlich nicht der einzige Bewohner des Gästehauses war, stellte Jonas seinen Rucksack neben der Tür ab und suchte nach dem Ursprung der Musik.
Er hatte alles erwartet, aber bestimmt keinen Tanzsaal, komplett mit Barre und Spiegelwänden. An der gegenüberliegenden Seite standen sowohl ein Klavier, als auch eine hochmoderne Musikanlage und auf dem Parkett drehte sich ein Mädchen im Kreis, das eine Bein hoch erhoben, Zehen und Arme gestreckt. Er erkannte sie an der Art, wie sie leichtfüßig und beschwingt ihre Füße setzte, lange bevor er ihr Gesicht sehen konnte. Es war das Mädchen von letzter Nacht, deren Schuhe er noch in seinem Reisesack hatte. Sophie.
Vor seinen Augen vollführte sie atemberaubende Sprünge und Pirouetten, jede Bewegung ein Teil der Musik, als würden sie und die Melodie eins sein.
Alles um sich herum vergessend, beobachtete Jonas sie. Er bewunderte ihre Eleganz, nun, da sie nicht länger betrunken war, sondern hellwach und konzentriert. Anders als letzte Nacht hatte sie ihr dunkelblondes Haar zu einem makellosen Dutt gebunden. Zum Tanzen trug sie einen hautfarbenen Body, unter dem Jonas sich ein viel zu deutliches Bild von ihrem Körper machen konnte.
Er wollte sich gerade mit hochrotem Kopf zurückziehen, als Sophie mitten in der Bewegung erstarrte, ihre Augen erschrocken geweitet. Augenblicklich wurde Jonas sich bewusst, wie das für sie wirken musste, wenn ein fremder Mann plötzlich in ihrem Tanzsaal stand und sie angaffte. Verlegen streckte er ihr die Hand hin. «Jonas Grienkamp. Ich nehme an, du bist Sophie. Dein Vater hat mich vorhin angestellt und mir die Schlüssel für das Haus gegeben. Ich wusste nicht, dass du hier wohnst.»
Während er sprach, konnte er sehen, wie sich ihre Stirn vor Verärgerung in Falten legte und sie die Arme vor der Brust verschränkte. «Das ist ihm wahrscheinlich entfallen, nicht wahr?» Augenrollend löste sie die Arme wieder und stemmte sie stattdessen in die Hüften. «Lass mich raten. Du bist eingestellt, um mich zu bespitzeln.»
Überrascht riss Jonas die Augen auf. «Ich wusste wirklich nicht, dass das Haus bewohnt ist. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir gleich was anderes gesucht.»
« Jetzt bist du schon hier», sagte Sophie und winkte ab.
«Ich bin gleich wieder weg. Wirklich, es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.» Langsam ging Jonas ein paar Schritte rückwärts. «Aber du tanzt echt gut. Also, ich meine ... Nicht, dass ich dich beobachten wollte oder sowas. Ich ...» Nervös unterbrach Jonas seinen Wortschwall.
Sophie war seinen Schritten gefolgt und hatte begonnen zu schmunzeln. «Jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd. Du hast mich beim Tanzen erwischt, nicht unter der Dusche.»
Jonas spürte erneut, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
«Mein Vater will offensichtlich, dass du in der Nähe wohnst und er hat dir die Schlüssel gegeben. Wahrscheinlich hofft er, dass ich sofort schreiend die Koffer packe und ins Haus zurückkehre, aber da hat er sich geschnitten. Wenn er meint, er müsse mir einen Mitbewohner zur Seite stellen, dann machen wir eben eine WG auf.» Sie stand nun dicht vor ihm. Ihre dunklen Augen funkelten belustigt. «Es sei denn, du hast etwas dagegen.»
«Ich äh ...» Sein Mund war auf einmal so furchtbar trocken. Schließlich schüttelte Jonas den Kopf.
Sophie lachte und griff nach dem Handtuch, das neben der Tür hing. «Es gibt da nur ein kleines Problem.» Während sie sich ihren Nacken trockenrieb, sah sie wieder zu ihm. «Ich habe mich ziemlich ausgebreitet. Wir müssten das zweite Schlafzimmer erstmal freiräumen.»
Erleichtert atmete Jonas auf. Er hatte schon das Schlimmste erwartet. «Das kriege ich hin», antwortete er, sich langsam wieder etwas entspannend.
«Prima!» Sophie hängte das Handtuch wieder an seinen Haken und löste den Haarknoten, so dass ihr die langen Haare wie in der Nacht zuvor über den Rücken fielen.
Offensichtlich war er jedoch der einzige, der sich an ihre Begegnung erinnerte. «Sag mal, gestern Nacht ...»
Schockiert sah Sophie ihn an. «Du bist also doch ein Spitzel!» Bevor Jonas sich erklären konnte, seufzte sie und sah ihn schließlich vorwurfsvoll an. «Das ist deine Masche, ja? Du fragst mich geradeheraus, was ich gestern Nacht gemacht habe?»
«Nein, das weiß ich doch», erklärte Jonas beschwichtigend. Ihm fiel gerade ein Stein vom Herzen, weil er ihr gar nicht nachspionieren brauchte. «Du hast das DeModie besucht. Diesen unscheinbaren kleinen Club in der Niemeyerstraße.»
Ihre Augen wurden groß vor Überraschung. «Du warst schon mal im DeModie?»
Mit einem leichten Kopfschütteln antwortete Jonas: «Nein, ich habe nur gesehen, wie ihr da gerade herauskamt. Erinnerst du dich nicht? Wir haben miteinander gesprochen. Ich habe ... einen Moment.»
Neugierig folgte Sophie ihm zurück ins Wohnzimmer zu seiner Tasche und warf sich dabei eine Strickjacke um, die sie von der Sessellehne gegriffen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Jonas die Schuhe, eingewickelt in den seltsamen Mantel gefunden hatte. Mit einem schiefen Lächeln überreichte er sie ihr.
«Oh mein ... Meine Schuhe! Wie kommst du denn an die heran?» rief sie plötzlich vor Freude strahlend aus.
Etwas überrumpelt von ihrer großen Freude über die kaputten Schuhe rieb Jonas sich den Nacken. «Na ja, wie ich sagte. Ich habe dich gestern Nacht gesehen und du hattest sie vor dem Club liegen lassen. Als ich sie dir geben wollte, hast du sie mir geschenkt. Oder so ähnlich.»
Jetzt lief Sophie rot an. «Oh Mann, das ist mir so peinlich. Ich war ziemlich betrunken, glaube ich. Ich bin vorhin aufgewacht und konnte mich überhaupt nicht mehr erinnern, was passiert war. Ich dachte, ich hätte sie für immer verloren.»
Als Jonas sie ihr endlich überreichte, nahm sie die zerschlissenen Schuhe fast ehrfürchtig in ihre Hände. Gerührt sah Sophie zu Jonas auf und plötzlich machte sie einen Schritt nach vorne und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. «Danke.»
Überrascht konnte Jonas nur etwas dümmlich grinsen. Vielleicht war dieser Job ja doch ein Glücksgriff.
«Was hat es denn mit dem DeModie auf sich, dass da jeder so geheimnisvoll tut?», fragte Jonas interessiert, als er die nächste Kiste mit Sophies Zeug aus dem kleinen Schlafzimmer trug. Sophie hatte nicht gelogen, als sie meinte, es müsste noch freigeräumt werden. Aber langsam ließ sich das Bett in dem Zimmer erahnen. Mit etwas Glück würde er bis zum Abend sogar etwas Platz im Schrank finden.
Sophie war gerade dabei, sich durch die verstreuten Sachen im Wohnzimmer zu wühlen und hielt hin und wieder ein Outfit vor den Spiegel. «Ach nur so ein Tanzclub. Ist ziemlich speziell und sie lassen nicht jeden rein.»
Was wohl heißen sollte, man würde ihn ihrer Meinung nach nicht einlassen. «Und was ist da so besonders dran?» Er stellte die Kiste auf dem Sofa ab und betrachtete, wie sie sich vor dem Spiegel hin und her drehte.
Dann drehte sie sich um und sah neugierig in die Kiste vor ihm. «Oh, es ist ziemlich exquisit. Sehr teuer, ausgewählte Gäste, die beste Musik in der ganzen Stadt.» Sophie griff nach etwas Goldenem aus der Kiste. «Da bist du!»
Nie im Leben hätte Jonas das Stück Stoff für ein Kleid gehalten, aber Sophie nahm es heraus, drückte es kokett an ihren Körper und lief dann in ihr Zimmer. «Bin gleich wieder bei dir», rief sie noch, bevor die Tür zufiel.
Jonas schüttelte schmunzelnd den Kopf und setzte seine Arbeit fort. Er war froh, dass Sophie mit ihm zusammen wohnen wollte. Ihr fröhliches Geplapper und ihr glockenhelles Lachen hatten ihm bereits den Tag versüßt.
«Hilfst du mir mal?» Als Sophie wieder aus dem Zimmer kam, hatte sie das knapp geschnittene Kleid angelegt. Sie drehte ihm den Rücken zu und bat: «Kannst du hinten mal zumachen?»
Die Ansicht ihres bloßen Rückens weckte Regungen in Jonas, die er längst vergessen hatte.
Das Kleid war viel zu kurz, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Über der Hüfte saßen goldene Rüschen, die nicht ansatzweise lang genug waren, um als Rock durchzugehen. Es handelte sich vielmehr um ein Tanzkostüm, aber Sophie bewegte sich darin so natürlich, als wäre sie eben in ihre Wohlfühlklamotten geschlüpft.
Bemüht, nicht zu sehr zu starren und sie dabei bloß nicht zu berühren, zog er den Reißverschluss hoch.
«Vielen Dank!»
«Nichts zu danken», murmelte Jonas und sah wie sie bereits wieder davon tänzelte und ins Bad ging.
Die Tür weit offen, begann Sophie Make-up aufzutragen. «Wenn du Hunger hast, schau mal in den Kühlschrank. Ich glaube, irgendwo sind noch etwas Broccoli und Bohnen», plapperte sie munter. «Du kannst dir gerne etwas kochen, aber ich bin diese Woche noch nicht zum Einkaufen gekommen.» Sophie rauschte schon wieder an ihm vorbei, erneut auf der Suche nach irgendetwas. «Du brauchst aber nicht auf mich zu warten.»
«Weil du die ganze Nacht wegbleiben wirst?», fragte Jonas und erwischte sich schon wieder dabei, wie er ihr nachsah.
Sophie wandte sich mit ihrem Lockenstab in der Hand zu ihm um und strahlte dabei übers ganze Gesicht. «Genau. Bei Sonnenaufgang bin ich wieder hier.»
Bei ihrem Lächeln breitete sich ein Kribbeln in Jonas' Magen aus. Bemüht grummelig, um nichts davon preiszugeben, murmelte Jonas: «Da schlafe ich noch.»
Sie schmunzelte nur und schon war sie wieder im Bad verschwunden.
Jonas seufzte. Sophies Lebensfreude erfüllte ihn mit einer Zuversicht und Hoffnung, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Und ihr Lachen war wirklich zauberhaft.
«Wie sehe ich aus?», riss ihn ihre Frage aus seinen Gedanken. Sophie drehte sich vor ihm, so dass die Rüschen an ihrem Kleid in die Höhe sprangen.
«Äh ... gut. Toll. Ich meine ... sehr, sehr schön», stotterte Jonas und kam sich dabei vor wie ein Trottel.
Vergnügt kicherte Sophie und machte sich auf den Weg zur Tür. «Dann kann's ja losgehen.» Zu seiner Überraschung wählte sie jedoch keine Schuhe, die zu dem sexy Look gepasst hätten. Stattdessen griff sie nach den abgenutzten Schuhen von gestern Nacht.
Irritiert sah Jonas ihr dabei zu, wie sie die Schnüre festband. Er hatte noch nie gesehen, dass man Spitzenschuhe zum Ausgehen trug. Aber das erklärte immerhin ihren desolaten Zustand.
Als sie mit den Schuhen fertig war, richtete sich Sophie auf. «Genieß deine erste Nacht!», empfahl sie mit einem Grinsen und öffnete die Tür. «Bis morgen früh.»
Die Tür fiel ins Schloss und mit einem Mal kehrte Stille ein. Kein Geraschel, kein aufgeregtes Geplapper und schon gar kein Lachen. Ohne Sophie wirkte das kleine Haus viel leerer und unheimlicher. Da waren Schatten, die ihm vorher nicht aufgefallen waren und besorgt betrachtete Jonas die Tür, welche sich viel zu leicht auftreten ließe.
Was hatte er sich nur dabei gedacht, diesen Job anzunehmen? Oder sich von Sophie zu der WG überreden lassen? Das hatte schon im Studentenwohnheim nicht geklappt. Seine Albträume waren vor den anderen nie lange verborgen geblieben und die Erklärungsnot hatte ihn schließlich zurück nach Hause getrieben.
Jonas' Blick huschte nervös durch den Raum, von dem er sicher war, dass die Wände einem Granatenangriff nicht standhalten würden. Plötzlich schien es ihm unmöglich, eine Nacht in diesem fremden Haus zu verbringen. Sein Atem ging schneller und nur mit Mühe zwang er sich, sich hinzusetzen und tief durchzuatmen.
Er war in Deutschland. Niemand würde heute Nacht angreifen, sagte er sich selbst immer wieder, während er seine Hände damit beschäftigte auszupacken. Das Haus war sicher. Dennoch zitterten Jonas' Hände von Minute zu Minute mehr.
Vielleicht war es besser, wenn er sich das DeModie noch einmal genauer ansah. Nicht um Sophie nachzuspionieren, sondern weil ihn der Club neugierig machte. Seine Finger ertasteten den weichen Stoff des alten Mantels und sein Entschluss erhärtete sich.
Hätte Jonas nicht genau gewusst, wo das DeModie in der letzten Nacht noch gestanden hatte, hätte er es nicht wiedergefunden. Der dunkle unscheinbare Club war so eng zwischen die gut besuchten Nachbarlokale gepresst, dass Jonas sich fragte, wie dahinter überhaupt ein nennenswerter Tanzraum Platz fand. Für die meisten Nachtschwärmer, die sich langsam einfanden, war der Eingang nahezu unsichtbar. Nur hin und wieder fand eine Gruppe zielstrebig ihren Weg und erhielt sofort Einlass.
Jonas beschloss schließlich, sein Glück zu wagen und klopfte an der Tür an. Nichts geschah. Nicht mal Musik drang durch das Metall zu ihm auf die Straße, obwohl er die konkurrierenden Beats der Nachbarclubs deutlich hören konnte. Zehn Minuten verbrachte Jonas damit zu warten, bevor sich eine Gruppe junger Menschen näherte und sich die Tür zu öffnen begann. Hatte er etwa einen Bewegungsmelder umgangen?
Der überraschend junge und gutaussehende Türsteher, der ihm die Tür von innen öffnete, sah ihn erst irritiert dann unfreundlich an. «Verschwinde, Junge! Du gehörst hier nicht her.»
«Und warum?», fragte Jonas irritiert. Er hatte keine Nerven für so ein kindisches Machtspiel. Der Türsteher verschränkte die Arme und Jonas seufzte schwer. «Was ist das Problem?»
Während er den Weg für Jonas blockierte, würdigte der Türsteher drei Jugendliche nicht mal eines Blickes, als sie an ihnen vorbeischlüpften. «Weil wir solche Typen wie dich hier nicht einlassen.»
Die Antwort verschlug Jonas die Sprache und bevor er etwas erwidern konnte, hatte sich die Tür bereits wieder geschlossen. Typen wie ihn? Jonas wusste nicht mal, was er davon halten sollte. Er wusste, dass Türsteher gerne den großen Macker raushängen ließen oder ihre Auswahl an absurden Dingen wie der Kleidungswahl festmachten. Es stimmte schon. Er hatte sich nicht herausgeputzt wie Sophie und trug nur ein schlichtes Shirt und eine Hose. Aber so unterschiedlich hatten die drei eben auch nicht ausgesehen.
Seufzend warf Jonas einen Blick in die reflektierende Scheibe des Nachbarclubs und hielt erschrocken inne. Tiefe Augenringe lagen unter seinen Augen und er war blass geworden. Es war eine Weile her, dass er sich zuletzt im Spiegel gesehen hatte, aber dass er so kränklich aussah, erschreckte ihn. Wann hatte er sich nur so gehen lassen?
Kein Wunder, dass man ihn nicht in den Club ließ. Dennoch musste er irgendwie zusehen, dass er einen Weg hinein fand, denn die Neugier hatte ihn gepackt. Vielleicht reichte es ja aus, wenn er den seltsamen Mantel trug, den er von dem Bettler bekommen hatte. Edel genug war er schließlich trotz des fürchterlichen Stils.
Jonas beschloss, dass er außer seiner Würde nichts zu verlieren hatte, wenn er in einem derart altmodischen Teil daherkam und warf sich den Mantel um. Instinktiv setzte er auch die Kapuze auf, obwohl die Temperaturen wahrlich nicht dafür sprachen. Er verstand nicht viel von Mode, aber selbst ihm war klar, dass er geradezu lächerlich aussehen musste. Innerlich bereitete Jonas sich schon auf den Spott des Türstehers vor.
Er wollte gerade klopfen, als er plötzlich von hinten angerempelt wurde. Ohne einen Kommentar sahen die zwei jungen Frauen geradewegs durch ihn durch und lächelten strahlend. Irritiert drehte Jonas sich um und entdeckte, dass die Tür des DeModie wieder offenstand. Der Türsteher lächelte freundlich, ja geradezu charmant, und machte einen eleganten Diener. «Guten Abend, die Damen.» Jonas ignorierte er vollkommen.
Wut kroch in Jonas empor angesichts solcher Herabsetzung. Ihm den Zutritt zu verwehren, war eine Sache gewesen, aber so zu tun, als wäre er Luft, war zu viel. Mit aller Selbstsicherheit, die er noch in sich fand, richtete sich Jonas auf und ging den kichernden Frauen nach, den Türsteher seinerseits keines Blickes würdigend. Jeden Moment rechnete er damit, grob am Arm gepackt und nach hinten gezogen zu werden, doch der Türsteher schloss ohne jeden Kommentar die Tür hinter ihm. Vielleicht war der Mantel ja so etwas wie ein geheimes Markenzeichen, dass er irgendwie dazugehörte.
Vollständige Dunkelheit umfing ihn und er brauchte einen Moment, um seine Augen daran zu gewöhnen. Schließlich entdeckte Jonas ein schwaches Glimmen im Gang und begann sich durch den Korridor zu tasten. Treppenstufen. Der Club lag unter den anderen, deshalb der schmale Eingang. Vor sich konnte er die beiden Frauen aufgeregt tuscheln hören. Stillschweigend, um sich nicht doch noch zu verraten, folgte er ihnen.
Der Anblick, der sich ihm bot, als er schließlich um die Ecke bog, raubte ihm fast den Atem. Statt eines überfüllten engen Clubs erstreckte sich vor und unter ihm ein Wald aus Gold- und Silberbäumen, der so prächtig glänzte, dass ihm die Augen zu tränen begannen. Jeder sachte Windhauch ließ die filigranen Blätter mit einem zarten Klimpern aneinanderstoßen. Die Treppe führte geradewegs durch den endlos scheinenden Wald.
Jonas sah zur Decke, aber woher auch immer das unwirkliche Licht kommen mochte, das den Wald glitzern und funkeln ließ, er konnte die Quelle nicht entdecken. Stattdessen türmten sich an der Decke dunkle Wolkenberge. «Raucheffekte», wisperte Jonas leise und bemerkte da erst, dass seine unfreiwilligen Begleiterinnen bereits zur Hälfte die Treppe hinabgestiegen waren. Hastig folgte er ihnen, damit er vor lauter Staunen nicht den Anschluss verlor. Wer wusste schon, ob das DeModie nicht noch andere Hindernisse für ihn bereithielt?
Die beiden Frauen ließen sich nicht im Geringsten von seiner Anwesenheit beirren. Verträumt schwärmten sie von den gutaussehenden Männern, die sie gleich treffen würden. Selbst als eine kurz über die Schulter schaute, glitt ihr Blick geradewegs durch Jonas hindurch. Dann erinnerte er sich. Der alte Mann hatte davon gesprochen, dass der Mantel ein Geheimnis hatte. War er etwa wirklich unsichtbar?
Jonas hob die Hand, um seinen wahnwitzigen Gedanken zu überprüfen, aber diese sah noch genau wie immer aus. Unsichtbar! Wahrscheinlicher war, dass sich die beiden Frauen schlicht nicht dafür interessierten, dass hinter ihnen noch jemand den Club betreten hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter.
Immer wieder glitt sein Blick zu der prächtigen Dekoration und entdeckte Detail um Detail. Was er für Blätter auf einem silbernen Zweig gehalten hatte, entpuppte sich plötzlich als ein Schwarm Schmetterlinge mit ebenso metallenen Flügeln. Als sie sich in die Luft erhoben, sprossen aus dem kahlen Zweig im Nu neue Blätter. Ein Kolibri mit goldenen Flügeln schwirrte von Blüte zu Blüte und sog ihren Nektar. Dort, wo der Nektar auf den Boden tropfte, bildeten sich neue filigrane Geflechte. Sie waren so zart, dass sie bereits unter der leichtesten Berührung von Jonas' Fingerspitzen nachgaben.
Erst als er schon fast den Boden der Treppe erreicht hatte, fiel ihm die ungewöhnliche Musik auf, die sich nahtlos mit dem melodischen Klirren der Blätter vermischte. Die Klänge waren nahezu ätherisch, aber jeder Ton schlug eine andere Saite in ihm an und brachte seine Nerven zum Vibrieren. Der Bass dröhnte in seinem Magen und er konnte sich kaum des Drangs erwehren mitzuwippen.
Noch während er sich fragte, welchen Künstler er all die Jahre verpasst hatte, öffnete sich der Wald schließlich und gab den Blick auf einen unterirdischen See frei, der fast die Gänze des Raumes einnahm.
Wie erstarrt blieb Jonas stehen. «Kneif mich mal», wisperte er angesichts der überwältigenden Dimensionen und Detailtreue. Am Ufer schillerten die Kiesel in unterschiedlichsten Farben und als Jonas sich bückte und sie durch seine Finger rieseln ließ, bemerkte er erstaunt, wie schwer sie waren.
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Texte © Copyright by Jana Mittelstädt 67 Montgomery Avenue Karori, Wellington 6012 NZ - Neuseeland [email protected]
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ISBN: 978-3-7393-8849-6