Böser Abschied - Eva Ehley - E-Book
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Eva Ehley

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Beschreibung

Ein tödlicher Junggesellenabschied und ein verschwundener Kommissar: Der neunte Fall für das sympathische Ermittler-Trio von Sylt-Krimi-Königin Eva Ehley Ein dünner Mond steht über dem Hörnumer Strand. Fackelschein taucht neun feiernde Männer in ein rötliches Licht. Mitten unter ihnen: Kommissar Sven Winterberg und seine Dienstwaffe. Damit will er Salutschüsse zu Ehren seines alten Schulfreundes abgeben, der bald heiraten wird. Doch es kommt anders. Je tiefer die Freunde in die Vergangenheit abtauchen, je betrunkener sie werden, desto angespannter wird die Lage. Dann fällt ein Schuss, ein Mensch stirbt in den Dünen. Und Sven Winterberg ist spurlos verschwunden. Können Silja Blanck und Bastian Kreuzer ihren Kollegen finden, bevor es zu spät ist? Nervenkitzel pur mit der Sylt-Krimi-Reihe: Band 1: Engel sterben   Band 2: Frauen lügen   Band 3: Männer schweigen   Band 4: Mörder weinen   Band 5: Mädchen töten Band 6: Sünder büßen Band 7: Falscher Glanz Band 8: Einsames Grab Band 9: Böser Abschied

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Seitenzahl: 408

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Eva Ehley

Blutiger Abschied

Ein Sylt-Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologSamstag, 21. Juni, 23.34 Uhr, Hörnum StrandSamstag, 21. Juni, 23.57 Uhr, Süderende, HörnumSamstag, 21. Juni, 23.57 Uhr, Hörnumer DünenSonntag, 22. Juni, 01.20 Uhr, Süderende, HörnumSonntag, 22. Juni, 01.43 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 22. Juni, 02.37 Uhr, Norderstraße, WesterlandSonntag, 22. Juni, 03.17 Uhr, Braderuper Weg, KampenSamstag, 22. Juni, 03.25 Uhr, Hörnumer DünenSamstag, 22. Juni, 03.27 Uhr, Hörnum StrandSonntag, 22. Juni, 04.07 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 22. Juni, 04.51 Uhr, Hafeneinfahrt, ListDraußenSonntag, 22. Juni, 06.13 Uhr, Hörnumer DünenSonntag, 22. Juni, 06.53 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 22. Juni, 08.20 Uhr, Wenningstedter StrandSonntag, 22. Juni, 08.53 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandDraußenSonntag, 22. Juni, 09.34 Uhr, Hotel Budersand, HörnumSonntag, 22. Juni, 10.17 Uhr, Haus Sturmböe, WesterheideSonntag, 22. Juni, 10.45 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 11.00 Uhr, Standesamt, WesterlandSonntag, 22. Juni, 11.19 Uhr, Restaurant Olivier, KampenSonntag, 22. Juni, 11.25 Uhr, Ortseinfahrt HörnumSonntag, 22. Juni, 11.31 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 11.37 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 12.17 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 12.45 Uhr, Hörnumer DünenSonntag, 22. Juni, 13.01 Uhr, Strand an der Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 13.07 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 22. Juni, 13.26 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 14.11 Uhr, Hörnumer StrandSonntag, 22. Juni, 14.29 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 15.06 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 22. Juni, 15.20 Uhr, DLRG-Station, Kampen StrandSonntag, 22. Juni, 15.33 Uhr, Strandrestaurant Kap-Horn, HörnumDraußenSonntag, 22. Juni, 15.35 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSonntag, 22. Juni, 16.12 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 16.14 Uhr, Drosselweg, WesterlandSonntag, 22. Juni, 16.30 Uhr, Süderende, HörnumSonntag, 22. Juni, 16.47 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 22. Juni, 17.22 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 18.07 Uhr, Süderende, HörnumSonntag, 22. Juni, 18.51 Uhr, Autozug Verladestation, WesterlandSonntag, 22. Juni, 19.11 Uhr, Hörnum OddeSonntag, 22. Juni, 20.06 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 20.20 Uhr, Restaurant Olivier, KampenSonntag, 22. Juni, 20.31 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 21.11 Uhr, Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 21.19 Uhr, Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 21.25 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 21.32 Uhr, Restaurant Olivier, KampenSonntag, 22. Juni, 21.47 Uhr, Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 22.13 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22.41 Uhr, Hörnumer Straße, RantumSonntag, 22. Juni, 22.57 Uhr, Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 23.14 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 23.29 Uhr, Norderstraße, WesterlandSonntag, 22. Juni, 23.32 Uhr, Weststrand, WesterlandSonntag, 22. Juni, 23.35 Uhr, Buhne 16, KampenSonntag, 22. Juni, 23.47 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 22. Juni, 23.51 Uhr, Rotes Kliff, KampenMontag, 23. Juni, 0.06 Uhr, Strandaufgang, WenningstedtMittwoch, 25. Juni, 11.20 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandExklusive Leseprobe aus dem [...]PrologSonntag, 2. November, 5.00 Uhr, Südwäldchen, WesterlandSonntag, 2. November, 8.50 Uhr, Drosselstieg, WesterlandDie Sylt-Krimi-Reihe von Eva Ehley

Prolog

Der halbe Mond beleuchtet die Hügel an Sylts Südspitze. Dünengras und Heidepflanzen, dazwischen schmale Sandstreifen und einzelne Kieswege. Der würzige Duft der Pflanzen mischt sich mit dem Salzatem des Meeres. In einigen Mulden und auf etlichen Kuppen stehen reetgedeckte Ferienhäuser. Kleine Fenster unter tiefen Dächern. In den wenigsten brennt noch Licht.

Ein leichter Wind treibt Stimmen vom Strand herüber. Nur ein paar Worte, danach ist es still. In einem der Ferienhäuser wird die Terrassentür zugeschlagen. Der Ton schwebt für Sekunden über den Hügeln. Wenig später Schritte und ein leiser Ruf, der unbeantwortet bleibt. Die Stille dehnt sich, dann fällt ein Schuss.

Blut auf dem Hemd, Blut im Gesicht, Blut im Sand. Ein verzweifeltes Stöhnen, das niemand hört.

Zaghaft fährt ein Windstoß durch das Dünengras, es wirkt, als wollten die Halme den Sterbenden streicheln, ihm letzten Trost spenden. Röchelnd öffnet er den Mund, doch es kommt kein Laut, nur Blut quillt heraus. Sekunden später brechen seine Augen. Die Hände zucken im blinden Griff nach etwas, das für immer unerreichbar bleiben wird.

Samstag, 21. Juni, 23.34 Uhr, Hörnum Strand

Oberkommissar Sven Winterberg hat die ganze Zeit gewusst, dass es ein Fehler war.

Ein Fehler, die Einladung überhaupt anzunehmen.

Ein Fehler, heute Abend herzukommen.

Ein Fehler, zu glauben, dass die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit störungsfrei ablaufen würde.

Und jetzt sitzt er hier am Hörnumer Strand, trinkt zu viel aus der kreisenden Schnapsflasche, hat die erste Zigarette seit über zehn Jahren geraucht und hört sich mit wachsendem Missmut die prahlerischen Reden seines ehemaligen Klassenkameraden Jan-Hendrik an.

Vor etwa zwei Stunden ist die Sonne untergegangen, es ist die längste Nacht des Jahres, ungewöhnlich warm und fast windstill. Der Abend ist wie geschaffen für einen Junggesellenabschied an der südlichsten Spitze der Insel.

Sie sitzen zu neunt hier. Malte, der zukünftige Bräutigam, und acht seiner angeblich besten Schulfreunde. Sven kann sich zwar nicht daran erinnern, dass Malte und er jemals besonders dicke gewesen seien, und er hat sich entsprechend über die Einladung gewundert, aber aus sentimentalen Gründen hat er nach längerem Zögern zugesagt. Dabei war vor allem Neugierde im Spiel. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, den Helden und möglicherweise auch den Hassgestalten der eigenen Jugend nach zwanzig Jahren wieder zu begegnen? Dass Sven nicht nur positive Erinnerungen an sein letztes Schuljahr und insbesondere die Abiturprüfungen hat, trat zunächst in den Hintergrund. Doch wenn der Kommissar sich jetzt umsieht, muss er feststellen, dass sich innerhalb der Gruppe weniger geändert hat, als er dachte.

Die neun Männer sitzen und hocken auf Decken im Sand, um sie herum lodern die Flammen mehrerer Fackeln und beleuchten Bierkästen, Schnapsflaschen, Chipstüten und einen kleinen Plastikkegel, über dessen Inhalt der Kommissar lieber nichts Genaueres erfahren möchte. Also wendet er den Blick ab und lässt die Augen über den weiten Strand schweifen.

Das Meer ist nur wenig gekräuselt, ab und an überziehen winzige Wellen den Sand. Der Himmel ist sternenklar, am Horizont geht der Halbmond auf. Alles könnte perfekt sein, wenn nicht Jan-Hendriks nölende Stimme die Idylle nachhaltig stören würde.

Der untersetzte Mann mit dem immer noch strohblonden Haar, das inzwischen vermutlich gefärbt ist, war schon vor zwanzig Jahren das Großmaul der Klasse. Dass ausgerechnet er all seine Zukunftspläne verwirklichen konnte, ärgert Sven, obwohl er sonst nicht zu Missgunst neigt. Jan-Hendrik ist Anwalt mit einer gutgehenden Praxis in Hamburg, verheiratet mit einer Kaufmannstochter und seit vier Jahren Vater von bildhübschen Zwillingsmädchen, von denen er gerade haufenweise Fotos auf seinem Handydisplay herumzeigt.

Sven kann deutlich sehen, dass sein Gehabe nicht nur ihn nervt. Eben erst hat Malte, die eigentliche Hauptperson des Abends, eine giftige Bemerkung gemacht.

Dabei hat es auch Malte im Leben ganz gut getroffen. Aufgewachsen in Hörnum, hat er das dort ansässige Familienhotel inzwischen verpachtet und lebt offensichtlich gut von den Erträgen.

Wie sein Vater, der ein leidenschaftlicher Segler war, habe auch er ein Boot, erklärt Malte gerade. Allerdings einen Motorflitzer, der unten im Hörnumer Hafen liege. Prompt holt er ebenfalls sein Handy aus der Tasche und präsentiert ein Foto des Bootes. Es ist größer, als Sven erwartet hat, sehr flach, sehr schick, und wenn man Malte glauben darf, sehr schnell.

»Das mussu beweisen!«, ruft Jan-Hendrik mit schwerer Zunge in die Runde.

Johlend stimmen die anderen ein. »Spritztour, Spritztour«, skandieren sie lauthals.

Wenn Sven sich allerdings unter seinen ehemaligen Kumpels umsieht, wüsste er nicht, wer noch nüchtern genug wäre, um das Boot überhaupt steuern zu können.

Höchstens Holger, der Organisator der Party. Er scheint der Einzige zu sein, der noch halbwegs klar reden kann. Er macht ein großes Geheimnis daraus, was für den Verlauf der Nacht noch geplant ist, und genießt es sichtlich, dass er hier das Sagen hat. Kein Wunder, nach seinem verpatzten Abitur hat Holger nie einen zweiten Anlauf gewagt, weil sein Vater kurz darauf gestorben ist und er Geld verdienen musste. Holger wollte Meeresbiologie studieren, weltweit die Ozeane und ihre Tierwelt erforschen, das war sein großer Traum. Stattdessen verkauft er nun schon seit Jahren tote Fische beim Gosch in List.

Sven mustert Holger unauffällig. Aus dem etwas vierschrötigen, aber sportlichen Kerl ist ein Mann mit Spitzbauch und schlaffen Muskeln geworden, dessen Haar sich deutlich lichtet. Gerade macht er den nächsten chauvinistischen Witz, um seine Unsicherheit zu kaschieren. Und wieder sitzt die Pointe nicht richtig.

Verlegenes Schweigen ist die Folge. Schließlich rettet Paul die Situation.

»Kennt ihr den schon?«, wirft er lässig in die Runde. »Sagt die Schwester zum Bruder: ›Also der Sex mit dir ist echt der Hammer. Viel besser als mit Papa.‹ Antwortet der Bruder: ›Das sagt Mama auch immer.‹«

Grölendes Gelächter, Schenkelklopfen, erneutes Kreisen der Schnapsflasche. Sogar Jan-Hendrik scheint es zu verkraften, dass er nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht.

»Hasse noch mehr auf Lager?«, ruft er Paul zu.

»Jetzt lass dich nicht so lange bitten«, fällt Malte ein.

»Nichts da, Jungs. Besser ein Treffer als drei Nieten«, entgegnet Paul cool. Den Seitenblick auf Holger kann er sich nicht verkneifen.

Dem bleibt nichts anderes übrig, als sich taub zu stellen. Gegen Paul kommt keiner an. Das war schon früher so. Ihm nehmen die Jungs jeden Witz und jeden Spaß ab. Er wirkt authentisch, hat keine Angeberei nötig, und seine Frauengeschichten sind immer für einen Tratsch auf der Insel gut. Paul war schon als Abiturient ein echter Womanizer, den Kopf voll wilder dunkler Locken, extrem gutaussehend, dazu noch schlagfertig und äußerst charmant. Sven kann sich deutlich daran erinnern, dass sogar Anja, mit der er seit Schulzeiten liiert und inzwischen längst verheiratet ist, dem Mitschüler damals immer wieder schmachtende Blicke zugeworfen hat. Nie ist Sven den Verdacht losgeworden, dass die beiden kurzzeitig sogar etwas miteinander hatten. Und auch wenn Anja seit vielen Jahren beteuert, sie habe sich bewusst für Sven entschieden, ist da eine schwelende Eifersucht geblieben.

Dass Paul gleich nach dem Abitur die Insel verlassen hat, war womöglich Svens großes Glück. Allerdings ist der Kontakt zwischen Anja und Paul über die Jahre nie ganz abgerissen, was Sven daran erkennen konnte, dass seine Frau oft erstaunlich gut über Pauls Werdegang informiert war. Doch er hat sich stets gehütet, das zu kommentieren, obwohl es ihm nicht leichtgefallen ist. Besser keine schlafenden Hunde wecken, war Svens Devise.

Schon als Schüler wollte Paul Koch werden und hat sich nach dem Abitur bei den besten Küchenchefs weltweit ausbilden lassen. Erst vor zwei Jahren ist er auf die Insel zurückgekehrt. Seitdem arbeitet er im Olivier, einem der führenden Kampener Restaurants. Und soweit Sven weiß, hat es in diesen beiden Jahren kein Treffen zwischen Anja und Paul gegeben. Zum Glück, sagt er sich jetzt beim Blick auf Pauls durchaus ansehnlichen Body. Dass trotz der ständigen kulinarischen Verführungen kein überflüssiges Gramm Fett an dessen Körper zu finden ist, liegt wahrscheinlich daran, dass er ein leidenschaftlicher Surfer ist. Für Mannschaftssport war Paul noch nie zu haben, seine cholerische Ader sorgte bereits zu Schulzeiten dafür, dass er immer wieder mit seinen Teamkollegen aneinandergeriet. Aber das Surfen war schon damals sein Ding und wohl auch der Hauptgrund für Pauls Rückkehr auf die Insel.

Oder sollte er noch andere Motive gehabt haben? Sven spürt, wie sich die alte Eifersucht regt. Blödsinn, sagt er sich und versucht, das unangenehme Gefühl zu verdrängen.

Doch als habe er geahnt, dass Sven gerade über ihn nachgedacht hat, wendet sich Paul jetzt direkt an ihn. Mit leicht aggressivem Tonfall fragt er: »Und? Ihr habt noch einmal Nachwuchs bekommen, wie man hört.«

»Unser Mäxchen ist jetzt anderthalb und ein echter Sonnenschein.«

»Und eure Tochter?«

»Bald zwölf inzwischen und schon fast in der Pubertät«, erklärt Sven schmallippig. Er hat wenig Lust, mit dem ehemaligen Konkurrenten über seine Familie zu reden.

Da ist die kreisende Jägermeister-Flasche, die ihn gerade erreicht, eine willkommene Ablenkung. Er nimmt einen kleinen Schluck und drückt sie dann Paul in die Hand. Während der sich ausgiebig bedient, beugt sich Sven zu seinem anderen Nachbarn Guido hinüber. Dabei wird ihm schwindlig, und er kippt mit dem Oberkörper in den Sand.

»Hey Vorsicht«, ruft Guido lachend und hilft ihm wieder auf.

»Allsinbuttaaufmkutta«, nuschelt Sven und stellt bestürzt fest, dass nicht nur Jan-Hendrik Probleme mit der Artikulation hat.

Allerdings scheint das Guido bei Sven weniger zu stören als bei ihrem angeberischen Schulfreund, dessen Ausführungen er vorhin mit deutlich sichtbarem Augenrollen kommentiert hat. Guido arbeitet als Lektor in einem großen Münchner Verlag, wie Sven zu Beginn des Abends erfahren hat, und müsste eigentlich von Berufs wegen an selbstverliebte Monologe gewöhnt sein. Doch als Jan-Hendrik jetzt die Kinderfotos durch Handyaufnahmen seines Blankeneser Bungalows ersetzt, scheint es Guido endgültig zu reichen. Er sieht gar nicht erst hin, sondern dreht sich auf den Bauch und macht ein paar Liegestütze mit nur einer Hand. Seine stattlichen Muskeln sind unter dem engen Shirt deutlich zu erkennen.

Beeindruckt pfeift Sven durch die Lippen. »Wahnsinn. Dabei dachtichimmer, ihr Int…Intllektellen seid eher von der unsportlichen Fraktion. Trainierssu viel?«

»Dreimal die Woche«, antwortet Guido. Doch er sieht Sven dabei nicht an. Stattdessen wirft er einen erkundenden Blick auf Malte, den Bräutigam.

Guido hat Malte zu Schulzeiten ungeheuer bewundert, fast schon angeschwärmt. Kurz vor dem Abitur hatte Guido dann sein Coming-out. Danach ist Malte in fast schon beleidigender Weise auf Abstand gegangen.

Und auch jetzt ignoriert Malte ihn vollständig. Was Sven noch mehr dazu bringt, sich zu fragen, wie die Auswahl dieser angeblich acht besten Jugendfreunde Maltes zustande gekommen ist.

Der Angeber Jan-Hendrik und Malte waren dagegen zu Schulzeiten nahezu unzertrennlich. Alle haben sie nur »die Twins« genannt. Sehr zum Ärger von Florian und Fabian, die tatsächlich Zwillinge sind, sich aber nicht nur kaum ähneln, sondern sich damals auch noch ständig in den Haaren lagen.

Inzwischen haben der blonde Flo und der dunkelhaarige Fabi allerdings gemeinsam eine lukrative Werbeagentur in Bremen aufgebaut, die offenbar so viel abwirft, dass auch ein Ferienhaus für beide Familien auf der Insel drin ist. Verrückterweise ähneln sich Flos und Fabis Frauen weit mehr, als die Brüder es tun. Beide haben fröhlich dreinblickende, pausbäckige Blondinen geheiratet, die als Schwestern durchgehen könnten – es aber nicht sind – und deren Handyfotos ebenfalls die Runde gemacht haben.

Heute Abend scheinen sich Flo und Fabi vorgenommen zu haben, ohne ihre Frauen so richtig einen draufzumachen. Sie haben das Kokain mitgebracht, das immer noch unangetastet neben der Bierkiste liegt und offensichtlich für einen späteren Einsatz gedacht ist. Den prüfenden Blick, mit dem Fabi Sven bedacht hat, als er es aus der Tasche holte, hat der Kommissar geflissentlich ignoriert. Allerdings denkt er nun schon seit einer Weile darüber nach, wie er sich verhalten soll, wenn die Droge tatsächlich zum Einsatz kommen sollte.

Als habe er Svens Gedanken erraten, greift jetzt Mahmut, der neunte in ihrer Runde, nach dem Plastikröhrchen.

»Wie wär’s mit ’ner Linie Koks, Leute? Das Zeug liegt ja nicht als Deko hier, oder?«

Mahmut scheint der Einzige der anwesenden Männer zu sein, der sich nicht damit aufhält, die verborgenen Strukturen der seltsamen nächtlichen Feierrunde zu ergründen. Er war schon als Schüler direkt und aufgeschlossen. Keiner der Klassenkameraden wäre jemals auf die Idee gekommen, das Kind türkischer Eltern zu hänseln oder aus einer ihrer Unternehmungen auszuschließen. Mahmut hatte damals wie heute ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, ohne eitel zu sein. Er war immer der Sonnenschein der Klasse und hatte nicht nur die verrücktesten Ideen, sondern auch genügend Grips, um sie umzusetzen. Dass er inzwischen ein kleines, aber feines Reiseunternehmen leitet, das Gutbetuchte in die entlegensten Winkel der Welt entführt, passt perfekt, findet Sven.

»Also, was ist jetzt?«, drängelt Mahmut.

Die Frage nach der Droge scheint die Runde zu spalten. Während Malte und die Zwillinge zustimmend nicken, Paul ein gemurmeltes »Koks auf Bier, das lob ich mir« ausstößt und Jan-Hendrik sogar sein verdammtes Handy wegsteckt, reagieren Guido und Holger zurückhaltender. Ihre Blicke wandern zu Sven, scheinen ihn zu einer Reaktion nötigen zu wollen.

Sven weiß genau, wenn er jetzt den Spielverderber gibt, kann er gleich einpacken. Er würde alle Vorurteile der Jungs bestätigen und sich als Spaßbremse profilieren. Doch er hat noch ein Ass im Ärmel. Illegal genug, um Eindruck zu schinden, aber längst nicht so gefährlich wie ein Kokainrausch. Denkt Sven. Hofft Sven.

Nach einem Blick auf seine Uhr erklärt er mit fester Stimme: »Mittsommernacht, Jungs, zwölf Uhr genau. Zeit für einen ordentlichen Salut auf unseren Bräutigam.«

Dann steht Oberkommissar Sven Winterberg auf, zieht seine Dienstwaffe aus der Jackentasche und entsichert sie.

Samstag, 21. Juni, 23.57 Uhr, Süderende, Hörnum

Professor Leonhard Gunst sitzt auf der Terrasse seines Reetdachhauses in den Hörnumer Dünen und ärgert sich. Er greift nach seinem Glas und lässt die Eiswürfel im Gin Tonic kreisen. Dann kippt er die Hälfte des Inhalts herunter, verschluckt sich fast an der Gurkenscheibe und blickt missmutig über die Dünen zum Meer. Stille See, kaum Wellen, kaum Wind. Am Himmel ein halber Mond, der die blaue Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Deckchair leuchten lässt, als käme sie direkt aus einem Hitchcock-Film.

Eigentlich ist alles perfekt, sogar Verena hat sich schon vor über zwei Stunden auf ihr Zimmer verzogen. Vermutlich schläft sie längst. Kann auch sein, sie liest noch, oder sie shoppt im Netz – es ist Leonhard egal. Hauptsache, sie stört ihn nicht mit ihrem ewigen Geplapper über Urlaubsziele, Motoryachten und Ferienhäuser an südlichen Stränden.

Leonhard will kein Boot kaufen, er will auch keine Immobilie in Südfrankreich erwerben, und er will nicht zum fünften Mal innerhalb von sieben Jahren auf die Seychellen jetten. Er will den Sommer hier in der Abgeschiedenheit seines Ferienhauses in den Hörnumer Dünen verbringen, er will morgens schwimmen gehen und vielleicht am Abend ein zweites Mal. Er will in einem der vielen hervorragenden Restaurants gut speisen und ab und an eine Massage im Hotel Budersand buchen. Er ist durchaus bereit, seine schöne und verwöhnte Frau ein- bis zweimal die Woche auf eine kostspielige Shoppingtour nach Kampen zu begleiten. Dann setzt er sie direkt an der Luxusmeile ab und verschanzt sich umgehend in einem der hinteren Strandkörbe vom Gogärtchen. Während er den ersten Drink nimmt, bemüht er sich redlich, die vielen operierten Gesichter zu vergessen, denen er auf seinem kurzen Weg vom Auto bis dorthin begegnet ist. Beim zweiten Drink stellt sich dann fast automatisch die Frage ein, warum er ausgerechnet mit Verena verheiratet ist.

Sie ist scharf, da gibt es nichts zu meckern. Ihr Körper macht ihn auch nach zwölf Jahren Ehe noch an, dabei ist sie mittlerweile schon siebenunddreißig. Aber nichts an ihr ist gemacht, alles noch genau so, wie der Herrgott es geschaffen hat, und darauf ist Leonhard stolz.

Natürlich glaubt ihm das niemand. Nicht dass die Leute direkt danach fragen würden, aber er sieht es an ihren Blicken, den taxierenden, den forschenden, den – auch das kommt vor – leicht spöttischen oder sogar den offen missbilligenden.

Leonhard ist einer der prominentesten Schönheitschirurgen deutschlandweit, da hat man einen gewissen Ruf. Eigentlich müssten die Leute es absolut nachvollziehbar finden, dass der größte Luxus für einen Mann, der quasi jede Frau nach seinen Wünschen formen könnte, doch der ist, mit einer verheiratet zu sein, die von Natur aus perfekt ist. Merkwürdigerweise scheint das aber niemandem einzuleuchten.

Leonhard schenkt sich nach. Gin, Soda, Eiswürfel, noch eine Gurkenscheibe. Dabei bemüht er sich, den Gedanken an den heutigen Kampener Einkaufsbummel zu verdrängen. Nicht, weil Verena wieder einmal seine Kreditkarte zum Glühen gebracht hat. Sondern weil das, was er zufällig gesehen hat, ganz sicher nicht für seine Augen bestimmt war. Der Verdacht, den er schon länger gehegt hat, hat sich beim dritten Drink im Gogärtchen fast zur Gewissheit gemausert. Eine Gewissheit, die sich mit messerscharfer Intensität in seine Behaglichkeit gebohrt hat und auch jetzt noch geeignet ist, ihm diesen an sich so perfekten Abend gründlich zu vermiesen.

Dabei ist die vorlaute Truppe da unten am Strand schon schlimm genug. Besoffene Männer, die in regelmäßigen Abständen zu grölendem Fortissimo ansetzen wie fehlgeleitete Blechbläser eines ohnehin schon grässlich schlechten Orchesters. Für gewöhnlich kommt so etwas hier unten an der Südspitze der Insel nicht vor. Hörnum ist zu abgelegen, zu schwer erreichbar, der Strand zu einsam, zu windig, das Meer zu gefährlich und meist auch zu wild. Aber heute scheint sich einfach alles gegen Leonhard Gunst und seine innere Ruhe verschworen zu haben.

Er kippt den Gin Tonic in einem Zug hinunter, steht auf und tritt ganz nach vorn an die Kante des Holzdecks, das großflächig über dem meerseitigen Dünenhang schwebt. Der Ausblick, den man von hier hat, ist überwältigend. Normalerweise. Jetzt sieht Leonhard nur eines: den Fackelkranz unten am Strand, in dessen Mitte die lärmenden Kerle lagern.

Gerade steht einer von ihnen auf. Selbst auf die Entfernung kann Leonhard erkennen, wie er schwankt, fast das Gleichgewicht verliert, sich dann in letzter Sekunde fängt und etwas aus der Tasche zieht. Dann streckt der Mann einen Arm in die Höhe, zielt auf den Mond und schießt.

Ein Knall, aufdringlich und extrem laut, hallt durch die Luft. Kurz darauf folgen ein zweiter und ein dritter. Danach Gejohle, Pfeifen, brüllendes, exaltiertes Lachen.

Jetzt reicht es Leonhard endgültig.

Er formt die Hände zu einem Trichter und ruft mit der ganzen Kraft seiner Stimme durch die Nacht: »Hey, ihr Idioten! Seid ihr bescheuert, oder was? Hört auf damit, oder ich rufe die Polizei!«

Der laue Wind trägt seine Stimme über die Dünen und begräbt sie in einem der zahllosen Täler. Keine Silbe seiner Schimpftirade scheint die Randalierer unten am Strand zu erreichen. Zwei von ihnen tanzen torkelnd um die Fackeln herum, einer wälzt sich im Sand wie ein tollwütiger Hund. Die anderen trinken und grölen ungerührt weiter. Sie heben die Flaschen gen Himmel, als wollten sie mit dem Mond anstoßen.

Fluchend verlässt Leonhard Gunst seine Terrasse, um im Haus nach seinem Handy zu suchen.

Dann wählt er die Nummer der Polizei.

Samstag, 21. Juni, 23.57 Uhr, Hörnumer Dünen

Oliver Hochgarten fühlt stachliges Dünengras unter seiner nackten Hüfte, er spürt, wie sein Ellenbogen sich immer weiter in den kühlen Sand bohrt, und auf seinem rechten Knie scheint sich ein ganzer Schwarm Mücken niedergelassen zu haben. Doch all diese Wahrnehmungen sind marginal und bedeutungslos. Sie sind nichts im Vergleich zu dem köstlichen Gefühl, das die weichen Lippen verursachen, die über seine Brust fahren, nichts gegen den Schauder, den die erstaunlich kräftigen Hände auslösen, als sie seinen Hintern fest anpacken.

Mit der freien Hand tastet Oliver die verführerischen Kurven seiner Begleiterin ab, er spielt erst mit der einen, dann mit der anderen Brustwarze, um sich schließlich auf gewundenen Pfaden nach unten zu wagen. Rippenbogen, Bauchnabel, Hüftknochen, alles überspannt von glatter, warmer Haut, die unter seiner Hand einen leichten Schweißfilm absondert, der ihn unerwartet anmacht.

Die beiden sind nackt, die Decke, auf der sie liegen, ist zur Seite gerutscht, die Weinflasche ist umgefallen, die Gläser sind es auch. Es ist ihnen egal. Nur das weiche Mondlicht ist wichtig, der Duft des Meeres, der leise Wind auf schweißnasser Haut, die Gerüche der Körper, die sich auf vielfältige Weise ineinander vergraben, übereinanderschieben, sich wieder lösen, nur für Sekunden, um die Lust zu erhöhen und neue Sensationen zu erkunden.

Dann hallt ein Schuss durch die Nacht. Er platzt mitten in den Akt, unterbricht den subtilen Tanz der Körper, tötet jede Nähe.

Olivers Begleiterin fährt zusammen, stößt ihn von sich und richtet sich auf.

»Was war das?«

Bevor Oliver antworten kann, knallt es ein zweites und ein drittes Mal.

»Verdammt! Gilt das uns?« In ihrer Stimme steht Angst.

»Blödsinn. Wie kommst du denn darauf?«

Er versucht, sie zu beruhigen, greift nach ihrer Schulter. Doch sie entzieht sich ihm. Eilig rafft sie ihre Sachen zusammen. Das weite Kleid, die Bastsandalen.

»Du kannst doch jetzt nicht abhauen.«

»Und ob ich das kann. Die da unten sind irre, vollkommen durchgeknallt. Wer weiß, was die als Nächstes veranstalten. Bitte tu mir den Gefallen und verschwinde auch von hier.«

»Vielleicht kam der Schuss gar nicht vom Strand«, wagt er einzuwenden. Beschwichtigend soll das klingen, aber Oliver erreicht das Gegenteil.

»Ist das dein Ernst? Meinst du, er kam von oben, von der Terrasse?« Ihr Blick ist gehetzt, der Tonfall panisch. »O mein Gott! Wo soll ich jetzt hin?«

»Komm mit mir«, bittet er plötzlich. Der Einfall ist einfach so da, ungeplant, unüberlegt. Aber der Gedanke fühlt sich gut an, sehr gut sogar. »Wir könnten zusammen …«, beginnt er, doch sie schneidet ihm sofort das Wort ab.

»Daran darfst du noch nicht einmal denken! Das habe ich dir von Anfang an gesagt: Es gibt Regeln, und diese ist die wichtigste.«

Sie wendet sich ab und klettert vorsichtig die Düne hinauf. Immer wieder schaut sie nach oben, prüft, ob sich dort etwas rührt.

»Warte«, ruft er flüsternd, aber dringlich. Sie kann doch nicht einfach so gehen. Nicht heute, nicht jetzt. »Bleib stehen, bitte, so geht das nicht weiter!«

Sie dreht sich halb zu ihm um, macht mit der Hand eine beschwörende Bewegung. Sei still jetzt, halt endlich die Klappe.

Er versteht die Botschaft genau, aber alles in ihm sträubt sich dagegen. Er blickt ihr nach, enttäuscht und wütend. Dann greift er nach der umgefallenen Flasche, wischt den Sand ab und prüft, ob noch Wein darin ist. Er setzt die Flasche an und trinkt. Der Wein war teuer, ein 2005er Mas Martinet aus dem Priorat. Er schluckt ihn wie Wasser. Leert die Flasche bis auf den Grund, behält sie danach in der Hand, als sei sie eine Waffe. Mit entschiedenen Schritten macht er sich auf zum Strand.

Denen da unten wird er’s zeigen.

Ihm einfach so das Rendezvous zu versauen!

Sonntag, 22. Juni, 01.20 Uhr, Süderende, Hörnum

»Leonhard. Bist du noch wach?«

Verena Gunst tritt zögernd auf die Terrasse. Sie bleibt nach wenigen Schritten stehen, als traue sie sich nicht näher an ihren Mann heran. Irritiert blickt Leonhard Gunst sich um. Verena trägt ein seidenes Nachthemd, das aussieht wie frisch gebügelt. Dabei hat sie doch schon vor Stunden verkündet, müde zu sein und ins Bett zu wollen.

»Kannst du nicht schlafen?«

»Doch, doch, das habe ich schon. Aber ich weiß auch nicht, irgendein blöder Traum muss mich geweckt haben.« Sie kommt näher, setzt sich in den zweiten Deckchair und greift nach seinem Glas. »Ich darf doch?«

Stumm beobachtet Leonhard sie beim Trinken. Sie nimmt einen großen Schluck, verzieht aber gleich darauf das Gesicht.

»Wir wissen beide, dass du keinen Gin magst. Was soll das also?«

Anstelle einer Antwort streicht Verena über ihr faltenfreies Negligé. Wahrscheinlich hat sie im Schlaf geschwitzt und sich deshalb ein neues angezogen, überlegt Leonhard. Er mag diese Seidenhemdchen verdammt gern. Sie rutschen auf der Haut und verraten fast alles, aber eben nur fast. Natürlich kennt Verena seine Vorliebe genau. Spielerisch greift er über den Tisch nach ihrem Schenkel und streicht leicht darüber.

Verena fährt zusammen, als habe er sie geschlagen.

»Was ist los?«

»Schlechter Traum, habe ich doch gerade gesagt.«

Sie springt auf und verschwindet im Haus.

Irgendetwas stimmt nicht mit Verena. Es kommt schon mal vor, dass sie abweisend oder unwirsch ist. In letzter Zeit passiert das sogar häufiger, als Leonhard lieb ist, aber das hier ist anders. Sie wirkt gehetzt und unruhig, fast als habe sie etwas auf der Seele. Falls sie überhaupt eine Seele hat, korrigiert sich Leonhard insgeheim.

Bevor er weiter über die Psyche seiner Frau nachdenken kann, kommt Verena zurück. In der linken Hand trägt sie eine Flasche Selters, in der rechten ein Glas. Sie stellt beides auf den niedrigen Tisch zwischen den Deckchairs und setzt sich wieder. Dabei wandert ihr Blick über die Dünenkette vor der Terrasse, als suche sie etwas.

»Ziemlich idyllisch«, murmelt sie. Doch ihre unsteten Augen sprechen eine andere Sprache.

»Unten am Strand hat vorhin eine ganze Horde Jungmänner Party gemacht. Von Idylle konnte keine Rede sein.« Leonhard überlegt, ob er von seinem Anruf bei der Polizei erzählen soll und von der Stippvisite, die zwei Beamte eine halbe Stunde später bei den Feiernden gemacht haben. Aber er hält sich zurück. Lässt Verena kommen. Will, dass sie sich verrät. Dass sie etwas verrät. Vielleicht.

Das ungute Gefühl, das ihn seit dem Nachmittag nicht losgelassen hat, bekommt gerade mächtig Nahrung. Das Misstrauen wächst.

»Kann es sein, dass diese Typen am Strand ein paar Böller in die Luft geschossen haben?«, fragt Verena jetzt. »Ich habe im Schlaf irgendwas knallen gehört. Vielleicht sogar mehrmals. Kann aber auch mein Traum gewesen sein.«

»Was hast du denn geträumt?«

»Nicht so wichtig. Hat es wirklich geknallt?«

Leonhard nickt.

Verena greift zu der Wasserflasche, schraubt sie auf, setzt sie an die Lippen und trinkt. Das mitgebrachte Glas ignoriert sie.

»Hast du die ganzen letzten Stunden hier gesessen und denen einfach zugeguckt?«, will sie anschließend wissen.

»Wie meinst du das?«

Plötzlich weiß Leonhard, was anders ist als sonst. Normalerweise ist er der Misstrauische, während Verena völlig sorglos zu sein scheint. Doch jetzt tanzen sie in einem stummen Ballett umeinander herum. Jeder Schritt wird sorgfältig abgewogen, jedes Wort genau bedacht. Was ist hier los? Hat sie etwas von seinem Verdacht gespürt? Will sie tastend erkunden, wie viel er weiß? Was er nur ahnt? Was er zur Not beweisen könnte?

Fast amüsiert Leonhard diese Erkenntnis. Er fühlt sich mit einem Mal sicherer und weniger in der unterlegenen Position. Er weiß etwas, das sie verbergen möchte. Das macht ihn stark, jedenfalls stärker, als er sich in den letzten Wochen gefühlt hat.

»Wie soll ich das schon meinen?« Verenas Tonfall ist jetzt offen aggressiv. »Die Frage war doch klar genug. Da unten am Strand ballert jemand herum, und du tust nichts? Das kann ich kaum glauben.«

»Dann lass es bleiben.«

Leonhard weiß genau, dass es kindisch ist, Verena die Information über den Polizeibesuch vorzuenthalten. Es ist ein völlig sinnloses Machtspiel, l’art pour l’art sozusagen, aber er hat Spaß daran.

»Man muss auch gönnen können«, erklärt er mit einem Schmunzeln und beobachtet genüsslich, wie Verenas Verwirrung in Wut umschlägt.

»Solche Worte aus deinem Mund, dass ich nicht lache«, ätzt sie. »Du bist der egoistischste Mann, den ich kenne. Nicht nur im Bett.«

»Beziehst du dich auf die Kerle, die dich bestiegen haben, bevor du mir über den Weg gelaufen bist? Oder kannst du auf neuere Erfahrungen zurückgreifen?«

Sie sieht ihn für Sekunden fassungslos an. Dann wechselt ihr Blick ins Verächtliche. »Du Schwein.«

»Entschuldige«, murmelt Leonhard und meint es ernst.

Das wollte er so nicht sagen. Nicht so und vor allem nicht jetzt. Aber nun ist es raus und nicht mehr zu ändern. Jetzt kann er nur noch die Flucht nach vorn antreten.

»Du hast einen Liebhaber. Seit heute Nachmittag bin ich mir sicher.«

»Du spinnst doch.« Sie springt auf. In ihrem Gesicht steht Fassungslosigkeit. Es wirkt echt, sehr echt sogar. Aber das kann nicht sein. So sehr kann ich mich nicht täuschen. Oder doch? Bin ich letztendlich nur ein eifersüchtiger alter Bock? Bevor Leonhard entscheiden kann, ob er einlenken soll, ist Verena im Haus verschwunden. Die Terrassentür knallt ins Schloss, danach ist es still.

Sonntag, 22. Juni, 01.43 Uhr, Nielsglaat, Hörnum

Die Designerin Liane van Zeuthen schiebt die Glastür ihres Wohnzimmers zur Seite und tritt auf die Terrasse ihres Strandhauses. Ein leichter Wind fährt in ihren feuerrrot gefärbten Bob mit dem extralangen Pony. Unwillkürlich greift sich Liane in die Haare. Normalerweise verhindert sie mit viel Haarspray und einer immer korrekten Kopfhaltung, dass irgendjemand die hässlichen Querfalten auf ihrer Stirn zu Gesicht bekommt. Aber hier auf der Insel ist sie lockerer und sehr privat. Dieses Strandhaus hat sie ganz nach ihren Wünschen und Vorstellungen entwerfen lassen. Es soll ein Rückzugsort und vielleicht ein Altersruhesitz werden. Nicht, dass Liane mit ihren fünfundfünfzig Jahren schon ans Aufhören denken würde, aber ein wenig Vorausplanung hat noch nie geschadet, davon ist sie überzeugt.

Der massige Kubus, dessen Terrasse Liane gerade betreten hat, besteht fast nur aus Stahl und Glas. Er hat bei seiner Errichtung einen Sturm der Entrüstung auf der Insel erzeugt. Von Schande war die Rede, von Ausverkauf der Insel und natürlich von Bestechung. Wie konnte es möglich sein, fragte sich die erregte Öffentlichkeit, dass ein solcher Stilbruch am Hörnumer Strand genehmigt worden ist?

Liane hat sich dazu nie geäußert und alle Anfragen ignoriert. Die Spuren der Farbbeutel, die hin und wieder auf die Fassade fliegen, lässt sie stoisch entfernen. Die Leute werden sich beruhigen, schließlich leben wir nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, und irgendwann wird auch auf Deutschlands teuerster Urlaubsinsel die architektonische Avantgarde ihre Spuren hinterlassen. Davon ist sie fest überzeugt.

Und außerdem weiß sie eines ganz genau: Falls all die erzürnten Inselbewohner auch nur einmal den einzigartigen Blick genießen könnten, den Liane von der erhabenen Höhe ihrer Terrasse aus über Strand und Dünen hat, würden sie alles verstehen.

Doch natürlich wird es nie so weit kommen. Bisher haben außer den Architekten, dem Statiker und diversen Handwerkern nur drei Personen den umstrittenen Glasbau betreten. Die Zugehfrau, Liane selbst und die Promifotografin Ulrike Uslar, die fast auf den Tag genau zehn Jahre jünger ist als Liane.

Unzählige Projekte haben die beiden schon miteinander realisiert und sind mittlerweile sehr gut befreundet. Ulrike lebt offen bisexuell, das ist zwar kein Geheimnis, aber Lianes größtes Problem. Dass sie selbst ausschließlich lesbisch ist, stand für Liane seit ihrem sechzehnten Geburtstag fest. Geeignete Partnerinnen zu finden war und ist in ihrem Business recht einfach. Selten war sie einmal längere Zeit ohne feste Bindung. Doch die Begegnung mit Ulrike vor sieben Jahren hat alles geändert. Sofort hatte Liane das Gefühl, ihre Frau fürs Leben gefunden zu haben. Schnell war klar, dass auch Ulrike einer Liaison nicht abgeneigt war, und Liane nahm, was sie kriegen konnte. Doch insgeheim wollte und will sie Ulrike für sich allein. Und für immer.

Liane lässt ihren Blick nachdenklich über die Dünen wandern. Unten am Strand geht die Party weiter, die Ulrike und sie seit dem frühen Abend beobachtet haben. Zwar dringt ab und an ein wenig Lärm herauf, aber bis kurz nach elf hat sie das beide nicht gestört. Im Gegenteil. Die Anwesenheit von anderen Menschen hat Liane die Zunge gelockert. Zum ersten Mal hat sie es gewagt, Ulrike mit ihren Wünschen zu konfrontieren. Diese hat überrascht, aber zum Glück nicht völlig abweisend reagiert.

»Eine feste Beziehung? Mit allen Konsequenzen?«, hat sie nachdenklich gefragt und den Kopf mit den störrischen stahlgrauen Locken geschüttelt. »Darüber muss ich nachdenken. Allein.«

Liane hat Ulrike zwar ungern gehen lassen, aber sie sah ein, dass ein nächtlicher Spaziergang manchmal den Kopf klären und die Gedanken ordnen kann.

»Lass dir Zeit«, hat sie in verständnisvollem Ton geantwortet. »Aber du sollst wissen, dass ich es wirklich ernst meine. Ich würde dich auch heiraten. Sehr gern sogar.«

Den Blick, den Ulrike ihr zugeworfen hat, wird sie nicht so schnell vergessen. Unglauben lag darin. Größte Überraschung. Und auch ein wenig Spott. Leider.

Dann ist Ulrike in die helle Nacht hinausgegangen. Eine Zeitlang konnte Liane ihre schlanke Silhouette noch verfolgen, aber schließlich verschluckte die Dunkelheit Ulrikes Figur. Seitdem wartet Liane. Auf Ulrikes Rückkehr und auf Ulrikes Antwort. Inzwischen sind weit mehr als zwei Stunden vergangen, und langsam macht sich Liane Sorgen. Was, wenn ihre Freundin ein Taxi bestellt hat und nach Westerland gefahren ist, um so schnell wie möglich die Insel zu verlassen? Was, wenn sie sich ein Zimmer im Hotel Budersand genommen hat, um erst einmal Abstand zu gewinnen?

Wäre Ulrike fähig, sich auf so beschämende Weise um eine Antwort zu drücken?

Liane kann es sich nicht vorstellen. Nicht die mutige, waghalsige, ehrliche Ulrike, die sie kennt und liebt. Die Ulrike, die sich jeder Herausforderung stellt, sie annimmt und das Beste daraus macht. Sie wird wiederkommen und sich zu Lianes Vorschlag verhalten. Im schlimmsten Fall wird Liane Ulrikes Antwort nicht gefallen, aber sie wird eine bekommen, dessen ist sie fast hundertprozentig sicher.

Aber wo bleibt Ulrike dann?

Liane blickt auf die Uhr. Fast zwei. Sie verlässt die Terrasse, um das Fernglas zu holen, das wie immer auf einem kleinen Tisch vor dem Panoramafenster liegt. Dann sucht sie die Dünen und den Strand ab. Doch bis auf das Häufchen feiernder Männer, das inzwischen erheblich dezimiert ist, kann sie nichts und niemanden erkennen. Ist Ulrike also doch heimlich verschwunden? Hat sie sich einfach gedrückt?

Die Möglichkeit, dass Ulrike etwas zugestoßen sein könnte, zieht Liane nicht in Betracht. Ulrike ist extrem unerschrocken und außerdem ziemlich wehrhaft. Liane kennt sich mit asiatischen Kampfsportarten nicht besonders gut aus, aber sie weiß, dass Ulrike es in irgendeiner dieser Disziplinen recht weit gebracht hat. Außerdem ist Sylt alles andere als ein gefährliches Pflaster. Es gibt etliche Bekannte von Liane, die noch nicht einmal ihre Ferienhäuser abschließen, wenn sie zum Schwimmen an den Strand gehen.

Gerade will Liane das Fernglas wieder zurücklegen, als sie den Schuss hört. Es ist schon der vierte heute Nacht. Die drei, die um Mitternacht abgegeben worden sind, hat sie zufällig beobachtet. Ihr Fernglas war gerade auf die Männer am Strand gerichtet, weil deren Lärm sie störte. So konnte sie genau sehen, wie einer von ihnen den Arm gen Himmel streckte und feuerte. Armer Irrer, dachte Liane und vergaß die Sache wieder.

Doch inzwischen ist einiges geschehen. Irgendjemand muss die Polizei alarmiert haben. Nach deren Besuch ist es am Strand ruhiger geworden. Und mittlerweile hat sich die Männergruppe zerstreut. Nur noch zwei Figuren liegen wie erschlagen da unten. Von denen hat sicher keiner geschossen. Aber wer war es dann? Und wo ist Ulrike, verdammt nochmal?

Liane van Zeuthen zögert kurz, doch dann entschließt sie sich zu handeln. Soll die Polizei eben ein zweites Mal anrücken. Sie holt ihr Handy und wählt die Notrufnummer.

Sonntag, 22. Juni, 02.37 Uhr, Norderstraße, Westerland

Kriminalkommissarin Silja Blanck fährt aus dem Schlaf. Irgendein Geräusch hat sie geweckt. Das Telefon? Ein Autohupen draußen auf der Straße? Oder ein Einbrecher?

Silja richtet sich auf und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ihre langen dunklen Haare kleben auf Wangen und Hals. Es ist heiß und stickig in ihrem Schlafzimmer, sehr ungewöhnlich für den Sylter Sommer. Die Kommissarin wirft einen Blick auf die andere Betthälfte, wo ihr Liebster liegt. Er schläft tief und fest. Unter leisen Schnarchgeräuschen hebt und senkt sich sein massiger Brustkorb, um seinen Mund schwebt der Hauch eines Lächelns. Vorsichtig streicht Silja über seine Wange.

Bastian Kreuzer ist nicht nur Siljas Lebenspartner, sondern auch ihr Vorgesetzter. Seit die beiden sich beim Sprung über das Biikefeuer im Februar das Heiratsversprechen gegeben haben, ist ihre Beziehung noch intensiver geworden, auch wenn bisher noch völlig unklar ist, wie sie den Bund fürs Leben besiegeln wollen. Als Kollegen, die gemeinsam arbeiten, dürfen sie nicht privat verbandelt sein. Zwar weiß die zuständige Staatsanwältin seit einiger Zeit inoffiziell von ihrer Beziehung, aber eine Hochzeit würde alles offiziell machen und dann gäbe es ganz sicher Probleme. Eventuell könnte eine freie Trauung am Sylter Strand eine Lösung sein. Aber vielleicht fällt ihnen auch noch etwas anderes ein. Und wenn sich Silja Bastians Schlaflächeln so anschaut … wer weiß, ob er nicht gerade eine Idee dazu produziert.

Bevor Silja darüber nachdenken kann, welche Träume ihr Liebster vielleicht hat, wiederholt sich das Geräusch.

Es ist das Telefon. Natürlich, das hätte sie sich gleich denken können. Leise seufzend verlässt sie das Bett. Ihre Hoffnung, dass der Anruf sich als harmlos herausstellen könnte, geht gegen null. Sie hat heute Nacht Bereitschaftsdienst, und vermutlich ist irgendetwas vorgefallen, das ihre Anwesenheit erfordert. Wenn Bastian Glück hat, kann sie der Sache allein nachgehen und ihn weiterschlafen lassen. Auf leisen Sohlen läuft Silja in den großen Wohnraum, in den auch die Küche integriert ist. Das Telefon steht auf dem Küchentresen.

»Hallo, Silja Blanck hier«, nuschelt sie in den Apparat und erschrickt, als ihr klar wird, wie verschlafen ihre Stimme klingt.

»Tut mir leid, dass ich Sie aufgeweckt habe. Aber wir brauchen Sie dringend in Hörnum.« Der Kollege ist im Gegensatz zu Silja hellwach und ziemlich aufgeregt.

»Was ist denn los?«

»Ein Mann ist erschossen worden. Aus nächster Nähe, wie es scheint. Mitten in den Hörnumer Dünen.«

»Sind Sie vor Ort?«

»Schon zum zweiten Mal heute Nacht.« Der Kollege seufzt. »Erst war’s ’ne nächtliche Ruhestörung. Ein Anwohner hat sich über eine Party am Strand beschwert. Wir haben vermittelt und deeskaliert.«

»Und dann?« Langsam wird Silja wach.

»Gab es den zweiten Anruf. Diesmal war es eine Anwohnerin aus diesem riesigen Glaskasten im Nielsglaat, der die ganze Gegend hier verschandelt.«

»Ich habe davon gehört«, Silja klingt ungeduldig. »Was wollte die Frau?«

»Einen Schuss melden. Sie war sich ganz sicher und ließ sich nicht beruhigen, also sind wir noch mal hin.« Wieder seufzt der Beamte. »Zuerst dachten wir, es wäre blinder Alarm. Aber die Frau aus dem Glaskasten wollte einfach keine Ruhe geben. Angeblich vermisste sie ihre Kollegin oder Freundin oder was weiß ich. Und das schon seit Stunden. Also haben wir die Dünen durchsucht.«

»Der Tote war doch aber ein Mann, oder habe ich das falsch verstanden?«

»Nee, alles korrekt. Anstelle der gesuchten Frau haben wir ziemlich schnell den Toten entdeckt. Der liegt hier mitten in der schönsten Einsamkeit.«

»Und die Freundin? Ist die wieder aufgetaucht?«

»Da bin ich überfragt. Wir haben genug damit zu tun, den Tatort zu sichern. Ist ja eher unwegsames Gelände hier.«

»Immerhin wird es keine Schaulustigen geben«, erwidert Silja lakonisch. »Man sollte stets auch das Gute an den Dingen sehen.«

»Haha«, ist alles, was der Kollege antwortet.

»Gibt’s irgendetwas Verdächtiges in der Nähe? Außer der verschwundenen Freundin, meine ich.«

»Da war eine Party am Strand, habe ich doch schon gesagt. Wiederholte nächtliche Ruhestörung. Keine Ahnung, ob die Jungs was mit dem Mord zu tun haben.«

»Sind die noch da?«

»Ich denke mal schon.«

»Sollen alle bleiben, wo sie sind, ich breche sofort auf. Aber zwanzig Minuten brauche ich bestimmt, das ist Ihnen hoffentlich klar. Schicken Sie mir die GPS-Daten aufs Handy?«

»Besser, ein Kollege erwartet Sie an der nächsten Straße. Der Tote liegt, wie gesagt, mitten in den Dünen.«

»Okay, dann schicken Sie mir die Adresse. Ich verständige inzwischen Dr. Bernstein. Er wird begeistert sein, wenn wir ihm das Wochenende vermiesen. Aber was soll’s. Schließlich hätte er sich auch einen anderen Beruf suchen können. Bis gleich.«

Silja legt das Telefon aus der Hand und schließt für einen Moment die Augen. Das ist keine Sache, die sie allein erledigen kann. Da wird Hauptkommissar Bastian Kreuzer ein andermal weiterträumen müssen.

Als Silja das Schlafzimmer betritt, sitzt Bastian schon aufrecht im Bett.

»Du hast telefoniert?«

»Wir müssen schnellstmöglich nach Hörnum. Es gibt einen Toten.«

»Kann Sven das nicht übernehmen? Der ist doch ohnehin dort. War diese Party von seinem Schulfreund nicht gestern Abend? Wie spät ist es überhaupt?«

»Sven ist auf einem Junggesellenabschied, schon vergessen? Alkohol, flotte Sprüche, vielleicht eine Stripperin. Vermutlich weißt du besser als ich, wie so etwas abläuft.« Silja verdreht die Augen, während sie nach ihrer Jeans und einem T-Shirt angelt. »Ist wohl besser, wenn wir ihn da raushalten.«

»Hast ja recht. Wäre nur praktisch gewesen«, seufzt Bastian und stemmt sich aus dem Bett. Während er sich anzieht, führt Silja ein kurzes Telefonat mit dem Rechtsmediziner. Wie erwartet, zeigt er sich nicht gerade erfreut über die Störung.

Wenige Minuten später springen Silja und Bastian ins Auto und fahren los. »Wir nehmen den Weg durchs Zentrum«, beschließt Bastian, der am Steuer sitzt. »Das ist kürzer, und um diese Uhrzeit kommt uns sicher niemand in die Quere.« Dann setzt er das Blaulicht aufs Dach und gibt Gas. Norderstraße, Maybachstraße, Süderstraße. Wo sich tagsüber auf dem Weg zum Bahnhof oder zur Einkaufsmeile die Autos stauen, herrscht jetzt gähnende Leere. Das gelbe Licht der Laternen beleuchtet ein ausgestorbenes Viertel. Lediglich zweimal kreuzen kleinere Gruppen Jugendlicher ihre Route. Betrunken und schwankend wirken sie zwar fröhlich, aber auch ziemlich orientierungslos.

Nachdem die Kommissare Westerland hinter sich gelassen haben, beginnt die lange schnurgerade Straße, die über Rantum nach Hörnum in den Süden der Insel führt. Bastian drückt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Verschreckt fliegen einzelne Vögel aus dem Schilf längs der Straße auf.

»Lass dich bloß nicht von den Naturschützern erwischen«, murmelt Silja und wirft einen verstohlenen Blick aufs Tachometer. Einhundertsiebzig Stundenkilometer. Sie verkneift sich jeden Kommentar und versucht stattdessen, sich genau an die Infos zu erinnern, die sie von dem Kollegen am Telefon bekommen hat.

»Ein Schuss aus nächster Nähe. Klingt dramatisch«, kommentiert Bastian ihre Zusammenfassung. »Dabei ist Hörnum ja nun wirklich kein krimineller Hotspot.«

»Warten wir’s ab.«

Sonntag, 22. Juni, 03.17 Uhr, Braderuper Weg, Kampen

Die Sonne sticht vom Himmel. Anja Winterberg müht sich ab, ein Kornfeld zu durchqueren. Die Halme stehen hoch, sie kann fast nichts sehen, weiß aber genau, dass am Ende des Feldes jemand Wichtiges auf sie wartet. Ist es ihr kleiner Sohn Max? Oder doch die zwölfjährige Tochter Mette? Ist es ihr Mann Sven?

Oder sind es vielleicht alle drei? Ihre kleine Familie, auf die sie so stolz ist und für die sie alles tun würde?

Anja kämpft sich durch die Halme. Das Kornfeld scheint sich mit jedem Schritt auszudehnen. Die Sonne blendet sie, alles verschwimmt vor ihren Augen. Schweiß tropft aus ihren Haaren und läuft ihr übers Gesicht. Es ist ein extrem unangenehmes Gefühl, denn komischerweise ist ihr zusätzlich kalt. Und dann ist da dieses Geräusch. Ein Sägen? Nein, eher ein Kreischen. Laut und fordernd. Direkt neben ihr.

Anja schreckt auf. Sie liegt in ihrem Bett. Das Nachthemd ist nassgeschwitzt, die Decke zu Boden gerutscht. Aus dem geöffneten Fenster kommt ein Luftzug, der den Schweiß auf ihrem Körper herunterkühlt. Anja blinzelt ins Dämmerlicht. Die Sonne scheint bald aufzugehen, draußen steht ein fahler Streifen Helligkeit am Horizont. Durch die geöffnete Zimmertür kommt jetzt ein klagender Ruf.

»Mama, Durst.«

Anja setzt sich auf und atmet einmal tief durch. Mäxchen ist wach.

Sie braucht einen Moment, um ihrem Traum abzuschütteln. Das Kornfeld, die Hitze, die endlose Suche nach ihrer Familie. Nichts davon ist real. Alles ist in Ordnung, nur Mäxchen will etwas trinken. Noch ein tiefer Atemzug, dann steht sie auf. Geht zur Tür. Dreht sich nach wenigen Schritten doch noch einmal um. Blickt aufs Ehebett.

Der Platz neben ihrem ist leer.

Für Sekunden ist Anja verwirrt. Nachdenklich geht sie hinüber in Mäxchens Zimmer. Es liegt wie das Zimmer ihrer Tochter und das Elternschlafzimmer auf der oberen Etage ihres Hauses im Kampener Süden. Anjas früh verstorbene Eltern haben es ihr und Sven rechtzeitig überschrieben. Nur deshalb können sie sich das Wohnen auf diesem teuren Grund und Boden überhaupt leisten. Es vergeht kein Tag, an dem Anja nicht glücklich über die kluge Voraussicht ihrer Eltern ist und ihnen innerlich dafür dankt.

Jetzt öffnet Anja die Tür zum Zimmer ihres Jüngsten. Der Kleine steht im Gitterbett und rüttelt an den Stäben.

»Mama, Durst!«, wiederholt er ungeduldig. Der Schnuller liegt vier Meter entfernt auf dem Boden. Anja muss unwillkürlich lächeln. Seit einigen Wochen profiliert sich Mäxchen als Weitwerfer.

Sie hebt den Schnuller auf und steckt ihn dem Kleinen in den Mund.

»Ich hole dir ein Glas Wasser. Warte kurz.«

Mäxchen spuckt den Schnuller aus und rüttelt weiter. Energischer jetzt. Auch seine Stimme wird lauter. »Durst, Mama. Wasser jetzt!« Er beschließt seine Aufforderung mit einem lauten Heulen.

Anja geht zurück und nimmt den Kleinen auf den Arm. »Beruhig dich, mein Schatz. Mama nimmt dich mit in die Küche. Da bekommst du ein Glas Wasser. Okay?«

»So Durst«, wimmert Mäxchen und schmiegt sich an sie.

Auf dem Weg zur Treppe wirft Anja einen Blick hinüber zu Mettes Schlafzimmer. Dort regt sich nichts. Zum Glück.

Unten in der Küche füllt Anja zwei Gläser mit Wasser. Erst hilft sie Max beim Trinken, dann stürzt sie selbst den Inhalt ihres Glases hinunter. Das tut gut!

Max gluckst auf ihrem Arm. Er wird von Sekunde zu Sekunde wacher. Wenn sie ihn nicht schnellstens wieder ins Bett verfrachtet, kann sie den Rest der Nacht knicken. Das ist ihr völlig klar.

»Wir gehen jetzt wieder schlafen, mein Schatz.« Anja steigt mit dem Kleinen auf dem Arm die Treppe hinauf. Sie geht langsam und murmelt beruhigend auf ihn ein. Vielleicht gelingt es ja, ihn einzulullen. Zur Not muss sie ihn eben mit ins Ehebett nehmen, auch wenn Sven das gar nicht gut findet.

Unwillkürlich bleibt Anja stehen. Sven. Er ist nicht da. Das hatte sie zwischendurch ganz vergessen. Und es ist schon fast halb vier. Sie braucht einen Moment, um sich zu konzentrieren. Dann fällt es ihr ein.

Natürlich! Der Junggesellenabschied. Die überraschende Einladung von Svens altem Klassenkameraden. Sven und Anja hatten länger darüber geredet. Er war nicht sicher gewesen, ob er hingehen sollte. Es gab da ein paar Erinnerungen, die Sven lieber nicht aufrühren wollte. Doch Anja hat nicht lockergelassen und immer wieder versucht, ihn davon zu überzeugen, sich seinen Erinnerungen zu stellen. Schließlich sei es doch spannend zu sehen, was aus ehemaligen Freunden geworden sei, hat sie argumentiert. Und Sven müsse sich nun wirklich nicht verstecken. Er habe doch ein gutes Leben, beruflich und privat.

Unwillkürlich muss Anja lächeln. Offenbar ist es ein gelungener Abend geworden, sonst wäre Sven längst wieder zu Hause. Wer weiß, wo die Männer jetzt noch abhängen. Vielleicht sind sie sogar immer noch am Hörnumer Strand. Ein Sonnenaufgang über den Dünen ist jedes Mal etwas ganz Besonderes.

Fast ist Anja ein wenig neidisch. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie dieses Spektakel zum letzten Mal beobachtet hat. Aber auf diese Dinge hat sie in den letzten Jahren gern verzichtet. Dafür gibt es ihre beiden großartigen Kinder. Mette und Max. Versonnen streichelt Anja über Mäxchens blonde Locken. Er schmiegt sich weiter an sie und guckt dabei ziemlich schläfrig. Wenn sie Glück hat, kuschelt er sich gleich wieder in sein eigenes Kissen, und sie kann selbst noch eine Runde schlafen. Spätestens um sieben wird ihr Kleiner allerdings putzmunter sein und ihre volle Aufmerksamkeit fordern. Vielleicht ist Sven sogar bis dahin zurück und kann ihr zur Hand gehen. Wohl eher nicht, korrigiert sie sich insgeheim, während sie Max behutsam ins Bett legt. Sicher ist Sven dann todmüde und vermutlich auch ziemlich betrunken.

Samstag, 22. Juni, 03.25 Uhr, Hörnumer Dünen

»Das sieht doch schon sehr vielversprechend aus«, murmelt der Rechtsmediziner Dr. Bernstein und beugt sich mit einem zufriedenen Lächeln über die Leiche.

Der Tote liegt in einem Dünental dicht neben einer