Mörder weinen - Eva Ehley - E-Book
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Mörder weinen E-Book

Eva Ehley

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Beschreibung

Sylt. Zwei Morde innerhalb von zwölf Stunden. Drei Ermittler unter extremem Zeitdruck. Vier Kunstwerke, die Rätsel aufgeben. Und ein Journalist, der alles enthüllen kann … Bei einer Vernissage auf Sylt sollen vier Werke des kürzlich ums Leben gekommenen Malers Artur Faust versteigert werden. Seine besten Freunde sind in Geldnot und haben beschlossen, den Elemente-Zyklus zu veräußern. Doch noch in der Nacht wird der Galerist erschlagen – mit einem der Kunstwerke. Der Mörder hinterlässt eine Botschaft: Elements of Crime – Wasser steht mit dem Blut des Opfers auf das Bild geschrieben. Die Sylter Kommissare Winterberg, Blanck und Kreuzer sind sich sicher, dass die vier Freunde des Malers mehr über den Mord wissen, als sie zugeben. Bis auch einer von ihnen stirbt – und die restlichen drei in Panik geraten … Der vierte Fall für die Sylter Ermittler Winterberg, Blanck und Kreuzer

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Eva Ehley

Mörder weinen

Ein Sylt-Krimi

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Inhalt

Samstag, 4. August, 21.00 Uhr, Galerie Specht, KampenSamstag. 4. August, 21.06 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSamstag, 4. August, 22.36 Uhr, Galerie Specht, KampenSonntag, 5. August, 02.13 Uhr, Nachtclub Rotes Kliff, KampenSonntag, 5. August, 02.31 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 5. August, 02.32 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSonntag, 5. August, 02.32 Uhr, Morsum-KliffSonntag, 5. August, 02.36 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 5. August, 02.41 Uhr, Pension Möwe, WesterlandSonntag, 5. August, 03.07 Uhr, Hotel Rungholt, KampenSonntag, 5. August, 03.42 Uhr, Alte Dorfstraße, WesterlandSonntag, 5. August, 4.28 Uhr, Hauptstraße, WenningstedtSonntag, 5. August, 04.50 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 05.35 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 05.51 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 5. August, 06.13 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandSonntag, 5. August, 06.57 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 5. August, 07.12 Uhr, Hotel Rungholt, KampenSonntag, 5. August, 07.44 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandSonntag, 5. August, 07.50 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSonntag, 5. August, 07.55 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandSonntag, 5. August, 08.03 Uhr, Hörnum OddeSonntag, 5. August, 08.10 Uhr, Galerie Specht, KampenSonntag, 5. August, 08.12 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 08.14 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSonntag, 5. August, 08.18 Uhr, Morsum-KliffSonntag, 5. August, 08.20 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 08.20 Uhr, Café Wien, WesterlandSonntag, 5. August, 08.42 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 09.23 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSonntag, 5. August, 09.29 Uhr, Hotel Rungholt, KampenSonntag, 5. August, 09.41 Uhr, Hörnumer Straße, RantumSonntag, 5. August, 10.02 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 10.05 Uhr, Nielsglaat, HörnumSonntag, 5. August, 10.13 Uhr, Dorfteich, WenningstedtSonntag, 5. August, 10.22 Uhr, Redaktion der Sylter Rundschau, WesterlandSonntag, 5. August, 10.28 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 10.48 Uhr, Weststrand, WenningstedtSonntag, 5. August, 11.17 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandSonntag, 5. August, 11.26 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 11.27 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 11.29 Uhr, Rantumer Landstraße, HörnumSonntag, 5. August, 11.37 Uhr, Rotes Kliff, KampenSonntag, 5. August, 11.50 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 11.51 Uhr, Friedhof St. Severin, KeitumSonntag, 5. August, 11.57 Uhr, Üp Klef, MorsumSonntag, 5. August, 12.07 Uhr, Friedhof St. Severin, KeitumSonntag, 5. August, 12.09 Uhr, Galerie Specht, KampenSonntag, 5. August, 12.35 Uhr, Keitumer Landstraße, TinnumSonntag, 5. August, 12.39 Uhr, Friedhof St. Severin, KeitumSonntag, 5. August, 12.55 Uhr, Galerie Specht, KampenSonntag, 5. August, 13.03 Uhr, Weißes Kliff, BraderupSonntag, 5. August, 13.17 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 13.23 Uhr, Fußgängerzone WesterlandSonntag, 5. August, 13.24 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 13.30 Uhr, Kurpromenade, WesterlandSonntag, 5. August, 14.11 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland5. August, 14.15 Uhr, Flughafen Sylt, Westerland5. August, 14.31 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 14.35 Uhr, Gogärtchen, KampenSonntag, 5. August, 14.41 Uhr, Haus Wattblick, MunkmarschSonntag, 5. August, 15.07 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 15.18 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 5. August, 15.20 Uhr, Kurpromenade, WesterlandSonntag, 5. August, 15.25 Uhr, Parkplatz an der Severinskirche, KeitumSonntag, 5. August, 15.27 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 15.40 Uhr, Munkmarscher Chaussee, KeitumSonntag, 5. August, 15.50 Uhr, Strandstraße, WenningstedtSonntag, 5. August, 15.51 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 15.58 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 5. Juli, 16.12 Uhr, Strandstraße, WenningstedtSonntag, 5. August, 16.13 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 16.14 Uhr, Strandstraße, WenningstedtSonntag, 5. August, 16.40 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 16.47 Uhr, Zellentrakt im Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 17.03 Uhr, Kriminalkommissariat WesterlandSonntag, 5. August, 17.55 Uhr, Nordseeklinik WesterlandSonntag, 5. August, 18.57 Uhr, Strandstraße, WenningstedtSonntag, 5. August, 20.44 Uhr, Sturmhaube, KampenDankSven Winterberg, Silja Blanck [...]Donnerstag, 20. September, 20.51 Uhr, Metropolitan Museum, New YorkDienstag, 3. Oktober, 22.40 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtMittwoch, 4. Oktober, 9.17 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Samstag, 4. August, 21.00 Uhr, Galerie Specht, Kampen

Stimmen schwirren durch die Sylter Sommernacht. Kies knirscht unter eleganten Schuhen. Champagner perlt in schlanken Gläsern. Die Galerie Specht präsentiert eine sensationelle Ausstellung.

Es sind nur vier Gemälde, die an den glatt geputzten Wänden im Kampener Ortskern hängen. Doch nicht etwa die beeindruckende Größe von jeweils gut einem Quadratmeter oder die ausufernde Farbigkeit des Dargestellten sorgen für höchstmögliche Aufmerksamkeit. Vielmehr ist es das skandalumwitterte Leben des kürzlich verstorbenen Malers Artur Faust. Als dieser vor wenigen Wochen unter mysteriösen Umständen mit seinem Privatflugzeug über dem Keitumer Watt abstürzte, gab es in den Gazetten tagelang kein anderes Thema. Und als das öffentliche Interesse gerade abzuebben begann, traten die vier besten Freunde des Malers mit der überraschenden Ankündigung an die Öffentlichkeit, dass jeder von ihnen ein Werk des unlängst verstorbenen Meisters verkaufen würde.

Und zwar nicht bei Sotheby’s in London oder Christie’s in New York, sondern in der vergleichsweise kleinen Galerie Specht in Kampen auf Sylt.

An diesem Abend ist die Crème de la Crème der Kunstwelt auf die Insel gekommen, um der Vernissage beizuwohnen. Das Wetter ist großartig, selbst jetzt um neun Uhr abends herrschen noch so angenehme Temperaturen, dass die Damen in den leichten Sommerkleidern nicht frieren müssen und die Herren ihre Jacketts locker über die Schultern gehängt tragen können. Im Inneren der Galerie, die in einem alten schmalen Friesenhaus in der Nähe des Kampener Dorfparks residiert, ist es laut und schwül.

Ronald Specht, der Galerist, ein etwa vierzigjähriger schmächtiger Mann mit spitzer Nase und leicht hervorquellenden Augen, der die dunklen schulterlangen Haare stets zu einem kurzen Nackenzopf zusammenfasst, eilt von Gruppe zu Gruppe, unterbricht debattierende Kritikerrunden und flirtende Paare ebenso wie fotogeile B-Promis, die sich in der Hoffnung auf ein gelungenes Bild immer wieder vor den Meisterwerken in Pose werfen.

»Bitte kommen Sie doch nach draußen. Wir haben die Mikrophonanlage auf dem Vorplatz aufgestellt, und ich würde gern zu Ihnen allen sprechen.«

Niemand hat den Inhaber der Galerie je in einer anderen Farbe als Schwarz gesehen, und auch heute Abend trägt Ronald Specht zur schwarzen Designerjeans ein ebensolches T-Shirt. Sein linkes Handgelenk schmückt ein geflochtenes Lederband, und die nackten Füße stecken in dunklen Wildlederslippern, mit denen er fast geräuschlos durch die beiden Räume der Galerie huscht.

Auf dem Kiesweg und dem Rasen vor dem Friesenhaus wird es langsam eng. Die Stehtische vor der Bar eines bekannten Champagnerherstellers sind schon seit einer Stunde umlagert, auf den drei Teakholzbänken vor den Rhododendronbüschen, die das Grundstück zu den Nachbarn abgrenzen, sitzen einige der schönsten Frauen der Republik und lassen sich von einer Riege Herren bewundern, die im Halbkreis um sie herumstehen. Etliche prominente und einige nicht ganz so prominente Sommergäste, denen es trotzdem gelungen ist, eine Einladung zum Top-Event der Saison zu ergattern, stehen dicht an dicht auf der Grünfläche. Und die Kunstkritiker aller großen deutschen und beeindruckend vieler ausländischer Zeitungen drängen sich seitlich der Mikrophonanlage, um freie Sicht auf die Besitzer der angebotenen Bilder zu haben, die sich gerade in einer Reihe neben dem Galeristen aufstellen.

Nach einem kurzen Mikrophoncheck beginnt Ronald Specht zu reden. Er begrüßt die Anwesenden, nennt einzelne Kritiker und Sammler mit Namen und wendet sich dann den vier Herren an seiner Seite zu.

»Obwohl ich davon ausgehen darf, dass fast alle der Anwesenden die stolzen Eigentümer der vier Faust’schen Meisterwerke kennen, möchte ich doch einige Worte zu ihrer Biographie verlieren.«

Der Galerist macht eine kleine Kunstpause, in der er sich mit einer affektierten Geste über die glattrasierten Wangen fährt. Dann redet er in der etwas gestelzten Sprache weiter, die ihm eigen ist.

»Zunächst möchte ich Bertold Freiherr von Brüssow sehr herzlich willkommen heißen, der für diesen ganz besonderen Abend seine Ländereien in der Uckermark verlassen hat, um heute hier bei uns zu sein. Bertold von Brüssow ist, wie Sie vielleicht wissen, einer der ältesten Freunde des so tragisch verstorbenen Künstlers gewesen. Die beiden kannten sich schon von Kindesbeinen an. Umso mehr freut es uns, dass der Freiherr sich entschließen konnte, eines der Werke seines Freundes in unsere Galerie einzuliefern.«

Specht schaut zu einem sehr aufrecht stehenden grauhaarigen Herrn mit imposanter Hakennase und jagdgrüner Bundfaltenhose unter einer cremefarbenen Joppe, so als wollte er das Gesagte bestätigt wissen. Der Freiherr nickt knapp und senkt dann den Blick, als gehe ihn dies alles wenig an. Schnell wendet sich der Galerist dem nächsten Verkäufer zu.

»Heiner Schwartz muss ich Ihnen wohl kaum vorstellen. Sein Brotberuf ist Unternehmer, aber seine mäzenatische Großzügigkeit und die immense Sammelleidenschaft machen ihn seit langem zu einer prägenden Figur in der Kunstszene. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass er vor gut zwanzig Jahren zum ersten Sammler Artur Fausts wurde und mittlerweile insgesamt stolze 14 Werke des Meisters besitzt. Oder bin ich da falsch informiert?«

Heiner Schwartz, ein bescheiden gekleideter Mann, wirkt peinlich berührt angesichts der Nennung seines Besitzes, denn jeder der Anwesenden weiß genau, dass ein echter Faust schon zu Lebzeiten des Malers nicht unter 300000 Euro zu haben war. Die aktuellen Preise dürften sich vermutlich in noch ganz anderen Dimensionen bewegen.

Samstag. 4. August, 21.06 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Laut fluchend knallt Fred Hübner sein Rennrad gegen die Kellerwand. Gestern ist der sportliche Endfünfziger damit noch von Wennigstedt bis hinunter zum Rantumbecken und wieder zurück gefahren. Und jetzt ist die Kiste platt. Dabei ist er ohnehin schon spät dran. In der Redaktion des Sylt-Kuriers erwartet man bis spätestens morgen Mittag einen detaillierten Bericht von dem abendlichen Top-Event der Insel. Fred Hübner bedenkt sein Rennrad mit einem wütenden Blick und einem heftigen Tritt gegen den platten Reifen. In der Galerie Specht werden sie wohl kaum auf ihn warten. Seit seinem letzten Rückfall in den Alkoholismus und dem mehrmonatigen Aufenthalt in einer Entzugsklinik wartet ohnehin kaum noch jemand auf den Journalisten. Das öffentliche Interesse an seiner Person ist ziemlich erlahmt, und prompt sind auch die lukrativen Aufträge ausgeblieben. Da die teure Eigentumswohnung am Wenningstedter Dorfteich längst noch nicht abbezahlt ist, hat sich Hübner vor zwei Monaten schweren Herzens entschlossen, als fester freier Mitarbeiter beim Sylt-Kurier anzuheuern. So wird das immer schneller schrumpfende Ersparte wenigstens ab und an mal durch zusätzliche Einnahmen ergänzt.

Allerdings hasst Fred Hübner seinen neuen Job. Obwohl seine tägliche Kolumne den prunkvollen Titel »Fred Hübner exklusiv« trägt, berichtet er meistens von so wenig glamourösen Ereignissen wie Feuerwehrfesten und Schuljubiläen, von Reisebüro-Eröffnungen und Hafenevents. Und nur allzu selten von den Veranstaltungen der Schönen und Reichen, zu denen er im letzten Jahr noch als gern gesehener und allseits hofierter Gast geladen war. Seit die Einladungen ausgeblieben sind und Fred den neuen Job angetreten hat, muss er sich das peinliche »Presse«-Schild ans Jackett heften und kann sich freuen, wenn die interessanten Leute ihn überhaupt wahrnehmen und sich herablassen, auf seine dämlichen Fragen zu antworten.

Umso ärgerlicher ist es, dass er ausgerechnet heute zu spät kommen wird. Niemand weiß, wie sich die Preise bei den angebotenen Faust-Originalen entwickeln werden, denn die Exponate sind keineswegs mit Fixpreisen versehen, sondern sollen gegen Gebot veräußert werden. Vermutlich wird es sich kaum lohnen, mit einem Gebot, das wesentlich unter einer halben Million liegt, hier einzusteigen. Schließlich sprach die ganze Republik wochenlang über den spektakulären Absturz der Privatmaschine des Malers über dem Sylter Watt.

Auch Fred hat sich in seiner Kolumne mehrfach damit beschäftigt, denn die Umstände des Absturzes waren spektakulär. Artur Faust war nämlich keineswegs in einem normalen Privatflugzeug unterwegs, sondern mit einer Zlin, einem Tiefdecker aus slowakischer Produktion, der alles andere als zeitgemäß war. Diese Flugzeuge sind schwer und laut, verbrauchen jede Menge Kerosin, fliegen mit Vollgas allerdings auch satte 260 bis 280 Stundenkilometer, wie Fred recherchiert hat. Eine Cessna bringt es nur auf 190 Kilometer pro Stunde. Aber so eine Maschine wäre dem exzentrischen Maler natürlich nicht auffällig genug gewesen. Eine Zlin dagegen sticht allein schon durch ihre schwerfällige Bauart, den massigen Rumpf und die klobige Form auf jedem Flugfeld hervor. Außerdem gibt es Modelle ohne Dach, so dass der Pilot unter freiem Himmel sitzt.

Unter Liebhabern gilt das offenbar als Nonplusultra des Fluggefühls. Fred konnte das nicht so ganz nachvollziehen, sondern fühlte sich eher an den Film »Der englische Patient« erinnert, in dem Ralph Fiennes und Kristin Scott Thomas miteinander ebenfalls in einer offenen Maschine in den Tod fliegen. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gab es in Nordafrika natürlich noch keine Flugwacht, auf deren Schirm sie hätten erscheinen können. Jetzt ist das anders, zumal in Deutschland. Wenn man allerdings, wie Artur Faust es offenbar getan hat, unbeaufsichtigt mitten in der Nacht von einem winzigen Grasplatz in Schleswig Holstein startet und dazu noch den Transponder ausschaltet, der die Verbindung zur Flugwacht in Bremen hält, dann hat man im Fall eines Absturzes auch heute noch schlechte Karten. Denn wenn eine Maschine nie als blinkendes Zeichen auf dem Radarschirm vorhanden ist, fällt ihr Verschwinden auch niemandem auf.

Die Frage aller Fragen war nur: Warum in Teufels Namen hatte Artur Faust das getan? Niemand konnte sich nach seinem Absturz erklären, was den Maler zu diesem unprofessionellen Verhalten getrieben hatte. Auch Fred Hübner, der anfangs eine heiße Story witterte, war letztendlich wenig dazu eingefallen. Alle seine Recherchen liefen ins Leere. Jeder wusste, dass Artur Faust das Risiko geliebt hatte und immer wieder für überraschende Aktionen gut gewesen war. Und bei dieser letzten war er tragischerweise ums Leben gekommen. Mehr war an dieser Geschichte einfach nicht dran. Bald nachdem man die Überreste der Maschine und den Leichnam des Malers aus dem Watt geborgen hatte, stellte die Polizei die Ermittlungen ein. Auch die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung musste passen. Fremdverschulden wurde ausgeschlossen und nach der Beerdigung das Testament des Malers eröffnet. Es hatte auch dabei keine Überraschungen gegeben. Artur Faust war unverheiratet und kinderlos geblieben und hatte schon vor Jahren eine Stiftung gegründet, an die nun sein gesamter Besitz und auch seine Sylter Villa fallen sollten.

Der Verkauf der vier Faust-Originale durch seine besten Freunde war offenbar der letzte Akt in diesem Drama. Die allgemeine Aufmerksamkeit war immens, und entsprechend schwierig war es für Fred Hübner gewesen, eine der begehrten Pressekarten für die Vernissage zu ergattern.

Jetzt muss er nur noch pünktlich sein.

Entschlossen greift Hübner nach einem alten und sehr staubigen Fahrrad, das unangeschlossen in einer dunklen Ecke des Kellers lehnt. Die klapprige Möhre hat ihm in den Jahren vor seinem plötzlichen Aufstieg zum Bestsellerautor als treues Beförderungsmittel gedient. Fred hat das Rad aus Nostalgie aufgehoben, wenn auch in den letzten Jahren kaum mehr benutzt. Die Reifen müssen aufgepumpt werden, sind aber sonst in Ordnung. Nur die Tretlager sind ausgeleiert, und die Gangschaltung funktioniert schon lange nicht mehr, aber mit etwas mehr Körpereinsatz wird es schon gehen.

Der Radweg von Wenningstedt nach Kampen beginnt fast vor Fred Hübners Haustür, und es dauert tatsächlich nur rekordverdächtige sechs Minuten, bis der Journalist am Kampener Dorfkrug vom Fahrrad springt. Achtlos lehnt er es gegen einen Friesenwall und schlendert betont lässig zur Galerie Specht hinüber, die etwa fünfzig Meter entfernt in einer Seitenstraße liegt. Schon von weitem kann Fred Hübner die Stimme des Galeristen hören, der gerade die Vorstellung der vier Herren beendet, deren Faust-Originale heute Abend zum ersten Mal öffentlich gezeigt werden.

Die Eigentümer der Bilder stehen in einer Reihe neben dem Galeristen und blicken etwas beschämt in die Menge. Natürlich hat sich Fred Hübner über die Herren informiert, aber gesehen hat er sie bisher noch nicht. Neugierig mustert er einen nach dem anderen. Der hochgewachsene Adlige drückt die Schultern durch und sieht auch in seiner legeren Kleidung aus, als würde er Uniform tragen. Der junge Architekt mit dem Kitschroman-Namen Florian Seebrück, der so verdammt gut zu seinem Aussehen passt, reibt sich ständig die Hände, als müsse er eine Schandtat abwaschen. Dabei hat er doch nach allem, was Fred Hübner über ihn weiß, nur ganz legal das prächtige Wohnhaus des Malerfürsten in Morsum entworfen und sich mit einem zehnjährigen Wohnrecht in der dazugehörigen Einliegerwohnung bezahlen lassen. Und offenbar mit einem Faust-Original, wie Fred jetzt insgeheim hinzufügt. Denn dass das normale Einkommen des jungen Architekten für die Preise auf dem Kunstmarkt ausreicht, kann sich Fred nicht vorstellen. Anders sieht das bei dem dritten Herrn in der Reihe aus. Heiner Schwartz ist der Gründer und Alleinbesitzer einer Drogeriekette, die europaweit Filialen unterhält, und hat sich seit Jahren in der Kunstszene als Sammler und Mäzen einen Namen gemacht. Er ist berühmt für seine persönliche Bescheidenheit, die fast schon an Geiz grenzt, und sich im Moment recht gut an seiner Kleidung erkennen lässt. Die Cordhose schlackert um die Hüften und ist am Bein zu kurz, während die einfachen Manschetten des Oberhemdes zu weit und die Ärmel zu lang sind. Wie ein trauriger Clown steht Heiner Schwartz zwischen dem smarten Architekten und einem fülligen Herrn im Smoking und lässt seine melancholischen Augen nachsichtig über die Menge auf dem Kiesplatz gleiten.

Der Herr im Smoking ist der inselweit bekannte Autohändler Johann Liebig. Der gebürtige Hamburger pflegt einen jovialen, man könnte auch sagen groben Umgangston, wie Fred Hübner erfahren hat, und ist mit seinem Slogan »Lieber Liebig« auf den Sylter Plakatwänden dauerhaft vertreten. Johann Liebig hat sich schon vor zwanzig Jahren auf Luxuskarossen spezialisiert, und die ganze Insel weiß, dass der verstorbene Malerfürst bei ihm alle zwei Jahre einen neuen Rolls-Royce bestellt hat. Dass Johann Liebig auch Kunst sammelt, ist dagegen selbst für Eingeweihte eine Überraschung gewesen. Und auch jetzt zeigt der Autohändler wenig Interesse für die anwesende Kunstgemeinde. Er hat nur Augen für eine einzige Person.

Die hochgewachsene Blonde in dem schmal geschnittenen schwarzen Kleid ist auch Fred Hübner sofort aufgefallen. Sie steht zwei Schritte hinter dem Galeristen und reicht ihm ab und an eine knallgelbe Karteikarte, von der dieser dann den nächsten Teil seiner Rede abliest. Mit ausdruckslosem Gesicht nimmt die Blonde anschließend die nicht mehr benötigte Karteikarte zurück und steckt sie hinter den Stapel, wobei jede ihrer Bewegungen von den Glupschaugen des Fetten im Smoking verfolgt wird. Die ist eindeutig zu schön für dich, denkt Fred Hübner gerade und überlegt, ob er selbst wohl Chancen hätte, als er sieht, wie die Blonde dem Smokingmann einen zwinkernden Blick zuwirft.

Frauen! Empört wendet Fred sich ab.

Samstag, 4. August, 22.36 Uhr, Galerie Specht, Kampen

»Puh! Die Assistentin eines Galeristen zu sein ist anstrengender, als ich erwartet hätte.« Judith Lissen wirft die langen blonden Haare in den Nacken, streicht ihr schwarzes Cocktailkleid glatt und fischt sich ein Glas Champagner vom Tablett eines Kellners. »Umso mehr freue ich mich, dass du so lange geblieben bist. Jetzt habe ich endlich Zeit für dich.« Sie hebt ihr Glas der Freundin entgegen und blendet ganz bewusst das übermütige Treiben auf dem Kiesplatz vor der Galerie aus.

Kriminalkommissarin Silja Blanck lächelt und greift ebenfalls nach einem frischen Champagnerkelch. »Du, kein Problem. Ich fand es ganz unterhaltsam, einfach mal zum Spaß Leute zu beobachten, ohne ihnen gleich Mordabsichten unterstellen zu müssen.« Sie lässt den Blick über die dicht an dicht stehenden Vernissagebesucher schweifen, deren Unterhaltungen und Gelächter sicher bis zum nahe gelegenen Dorfpark zu hören sind. »Ehrlich gesagt, ich find’s toll, dass du mich hier eingeschleust hast. Und wenn man dann noch so gut verköstigt wird …« Sie trinkt einen Schluck aus ihrem Glas und schließt genießerisch die Augen. »Wer zahlt dieses luxuriöse Catering eigentlich?«

»Einiges ist gesponsert, den Rest übernimmt die Galerie. Und nur kein Mitleid! Die Provisionen, die Ronald einstreicht, sind stattlich.«

»Ihr duzt euch?«

Judith zuckt die Schultern. »Das sagt gar nichts. Ist unter Künstlern so üblich.« Sie produziert ein betont falsches Lachen, wirft mit großer Geste die Haare in den Nacken und streicht sich übertrieben affektiert über die Hüften. »Und sind wir nicht alle Künstler, irgendwie?«

Silja lacht herzlich über die Showeinlage ihrer Freundin, wird aber schnell wieder ernst. »Na ja, du in jedem Fall, finde ich. Schließlich hast du einen Kunstgeschichts-Abschluss in der Tasche, während ich schon nach drei Semestern das Teilzeit-Studium aufgegeben habe.«

»Weil du dich eben doch für den Beruf entschieden hast, den du gelernt hast und den du liebst.«

»Umso mehr freue ich mich, dass du dieses Praktikum hier auf der Insel ergattern konntest. Du hättest ja auch nach New York gehen können – oder nach Mumbai.«

»Wie kommst du denn auf Mumbai?«, erkundigt sich Judith verwirrt und stürzt gleich darauf den restlichen Champagner hinunter. »Ah, das tut gut. Auch wenn ich seit heute Mittag nichts mehr gegessen habe. Aber was soll’s, morgen kann ich ausschlafen.« Sie angelt sich zügig ein weiteres Glas vom Tablett eines Kellners.

»Dabei ist morgen doch bestimmt Hochbetrieb in der Galerie. Schließlich sollen die Bilder ja Käufer finden, oder?«, wendet Silja ein.

»Alles halb so schlimm. Ich glaube, eins ist schon so gut wie weg. Das genaue Gebot weiß ich nicht, aber Ronald wirkte vorhin ziemlich zufrieden.«

»Und wer sind die Käufer?«

Judith Lissen zuckt die Schultern. »Betriebsgeheimnis. So weit geht unser Vertrauensverhältnis nun doch wieder nicht. Aber es sind ja genügend Promis anwesend. Da wird der eine oder andere schon das nötige Kleingeld haben.« Sie blickt sich vorsichtig um. »Die Dame mit den fetten Perlen in den Ohren, die da hinten an der Bar gerade den Herrn im grellroten Kaschmirpulli zutextet, ist, glaube ich, eine schwerreiche Verlegerwitwe. Und vorhin ist mir ein ziemlich prominenter Schauspieler über den Weg gelaufen, der immer mal wieder in Kunst investiert. Übrigens, da wir gerade die Leute durchhecheln – weißt du vielleicht, wer der schlanke Grauhaarige mit dem süffisanten Grinsen und dem Presse-Schild am Revers ist? Irgendwie kommt mir der bekannt vor.«

Silja Blanck runzelt die Stirn. »Du hast doch nicht ernsthaft Interesse an dem? Ich kenne ja deine Vorliebe für ältere Männer, aber von Fred Hübner kann ich dir echt nur abraten.«

»Er hat eine nette Art zu flirten. Ziemlich cool und witzig. So was trifft man nicht allzu oft. Aber warte mal – Fred Hübner, das ist doch dieser Skandalbiograph mit dem Alkoholproblem.« Judith wirft einen knappen Blick zu dem Journalisten hinüber, der ein halbvolles Wasserglas in der Hand hält und sich gerade bemüht, den smarten Architekten, von dem eines der Exponate eingeliefert worden ist, in ein Gespräch zu verwickeln. »Na egal. Jetzt scheint er jedenfalls trocken zu sein.«

»Trotzdem«, warnt Silja. »Der Typ hat die unselige Tendenz, sich in irgendwelche Verbrechen verwickeln zu lassen und uns dann in die Quere zu kommen.«

Lachend blickt Judith sich um. »Aber heute Abend ist hier doch alles friedlich. Oder glaubst du tatsächlich, dass einer der Anwesenden im Champagnerrausch zum Mörder wird?«

Sonntag, 5. August, 02.13 Uhr, Nachtclub Rotes Kliff, Kampen

Leicht und fein wie eine sehr gute Daunendecke hüllt die Sommernacht das Promidorf ein. Die Stimmen vor der Galerie sind längst verhallt, und die Straßen um den Dorfpark herum liegen still und friedlich im Mondlicht. Nur die Kreuzung vor dem Nachtclub Rotes Kliff ist noch belebt. In dem Durchweg zum Innenhof wird die Currywurst-Bude belagert, und an den Stehtischen halten sich rauchend und lachend etliche Nachtschwärmer auf. Gerade tritt ein Grüppchen junger Leute aus dem Club. Die drei smarten Männer in Chinos und Jackett, einer hellblond, zwei dunkelhaarig, werden von zwei brünetten Mädchen mit edlen Gesichtszügen begleitet, die dünne Cocktailkleider tragen. Alle fünf sind ziemlich angetrunken und staunen lauthals über die Wärme der Nacht.

»Das gibt’s hier auf der Insel höchstens zwei- oder dreimal im Jahr«, ruft das schlankere der Mädchen viel zu laut und bläht ihre Nasenflügel, die an die Nüstern eines Rennpferdes erinnern. Bei dem Versuch, sich lässig an eines der Luxusautos vor dem Club zu lehnen, verliert sie fast das Gleichgewicht.

»Mensch, Odette, pass auf, dass du dem Schlitten nicht die Tür eintrittst«, warnt der breitschultrige Blonde und lallt dabei ein wenig.

»Meine kleine Schwester ist berühmt für ihre Zerstörungswut«, lästert einer der beiden Dunkelhaarigen, verdreht übertrieben die Augen, bietet der jungen Frau aber gleichzeitig seinen Arm als Halt an.

»Danke, Oskar«, nuschelt sie und legt ihren Kopf in einer graziösen Geste auf die Schulter des Bruders.

»Süße, du solltest dich vielleicht flachlegen«, rät mit kühler Stimme ihre Freundin, deren ausgesprochen weibliche Figur das Seidenkleid an den richtigen Stellen füllt.

»Bevor es ein anderer tut?«, gibt Odette kichernd zurück.

»Mädels, wir sind Gentlemen von Kopf bis Fuß«, erklärt der zweite Dunkelhaarige und schiebt sich die Dolce-&-Gabbana-Mütze in den Nacken.

»Was du nicht sagst.« Der Kurvenstar wirft dem jungen Mann mit der Mütze einen erstklassigen Flirtblick zu. »Wenn man schon Dorian heißt, sollte man vielleicht beim Thema Gentleman den Mund nicht zu voll nehmen.«

»Ah, Viktoria erweist sich als literarisch gebildet«, murmelt der Blonde und steckt sich eine Zigarette an.

»Moritz, wenn du mich beleidigen willst, musst du früher aufstehen«, kontert Viktoria und schnappt sich sein silbernes Zigarettenetui. »Gib mir lieber eine von deinen Selbstgedrehten, ich kann dieses ganze Marlboro-Zeug nicht mehr sehen.«

Sofort zückt Dorian galant sein Feuerzeug und hält es der jungen Frau hin.

»Light my fire, baby«, flüstert Viktoria, während sie sich mit einem tiefen Blick in Dorians grüne Augen bedankt.

»Seid ihr wirklich sicher, dass ihr Brüder seid?« Odette, die sich immer noch auf den Arm von Oskar stützt, schüttelt ungläubig den Kopf, während ihre Augen von dem schmalen, dandyhaft wirkenden Dorian zu dem muskulösen Moritz wandern.

»Nur weil Oskar und du Augen und Nasen wie geklont habt, muss das bei uns ja nicht auch so sein. Wir sind eben unabhängige Individuen. Was nicht heißt, dass wir uns nicht heiß und innig lieben.«

Moritz legt seinem jüngeren Bruder lässig den Arm um die Schulter.

»Hört auf mit dem Scheiß«, mischt sich Viktoria in das Geplänkel. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns noch eine Flasche Wein schnappen und zum Watt gehen.«

»Wäre ja nicht der erste Sonnenaufgang, den wir in der Kupferkanne begrüßen«, antwortet Oskar und beugt sich besorgt zu seiner Schwester. »Kannst du laufen, Odette?«

»Selbstverständlich. Ich bin doch nicht betrunken«, gibt sie kichernd zurück.

»Sonst sag was, und ich trage dich, wohin du willst«, grinst Moritz.

»Siehst du, Dorian, so benehmen sich echte Kavaliere.« Viktoria zieht Dorian die Mütze vom Kopf und setzt sie sich selbst auf. »Mir nach. Mein Wagen steht da hinten vor der Galerie.«

»Du willst doch jetzt nicht mehr fahren, oder?« Dorian klingt plötzlich ehrlich besorgt.

»Quatsch, natürlich nicht. Aber die Nacht ist noch jung, und in meinem Kofferraum langweilen sich zwei Flaschen Wein und ein Korkenzieher.«

»Viktoria, du bist die Größte. Wir folgen dir blind.« Moritz salutiert kurz und schlägt die Hacken seiner Lackschuhe zusammen.

»Immerhin, das haben sie dir in deinem englischen Internat beigebracht«, lacht Viktoria und marschiert mit strammen Schritten genau auf den Vorgarten der Galerie Specht zu.

Fünf Sekunden später hallt ihr Schrei markerschütternd durch die Nacht. Die drei jungen Männer stürzen zu ihr und folgen mit ihren Blicken Viktorias ausgestreckter Hand.

»Holy Shit«, murmelt Dorian, als er den Männerkörper sieht, der auf dem Kies direkt vor der Mikrophonanlage hingestreckt liegt. Schmale Hüften in einer schwarzen Jeans, nackte Füße in Lederslippern, ein dunkles T-Shirt, das über einem Waschbrettbauch hochgerutscht ist. Und ein Kopf mit einer klaffenden Schläfenwunde, die kaum noch blutet.

»O Gott, das ganze Blut, wie furchtbar. Lebt der noch?«, flüstert Odette, die langsamer nachgekommen ist und jetzt von hinten über Oskars Schulter schaut.

»Kann ich mir nicht vorstellen.« Sanft dreht sie der Bruder von dem am Boden Liegenden weg. Dabei fällt sein Blick auf das riesige Ölbild, das neben dem Männerkörper liegt. Eine nackte Frau mit gelber Haut und roten Haaren sitzt in einem kobaltblauen Strandkorb, dessen Maße merkwürdig verzerrt sind. Den Hintergrund bildet eine ebenfalls kobaltblaue Fläche, die offensichtlich das Meer darstellen soll, wie an den einzelnen weißen Wellenkämmen zu erkennen ist.

Der Rahmen des Bildes ist blutverschmiert, und bei genauerem Hinsehen bemerkt Oskar, dass sich auch auf der Leinwand Blut befindet. Allerdings sind es keine Spritzer oder Flecken, sondern blutige Buchstaben, die seitlich des Strandkorbes wie hingeschmiert scheinen. Doch bevor er die Worte entziffern kann, zieht ihn Odette schluchzend zurück zum Straßenrand, wo sie sich in den Rinnstein übergibt. Während Viktoria hektisch auf ihrem Handy die Notrufnummer der Polizei eintippt, tritt Moritz sehr nah an den am Boden Liegenden heran. Vorsichtig beugt er sich über ihn und hält ihm einen Handrücken vor den weit offen stehenden Mund. Sein Bruder ist ihm gefolgt, betrachtet jetzt aber das Bild genauer.

»Ich glaube nicht, dass er noch lebt«, ruft Moritz nach hinten, dann tritt er zu Dorian, um mit ihm gemeinsam im Licht des Mondes die Worte auf dem Bild zu entziffern.

Elements of Crime steht links vom Strandkorb in blutigen Buchstaben. Und rechts davon befindet sich fast schon unleserlich noch ein einzelnes Wort, das sehr groß geschrieben ist und fast nicht mehr aufs Bild passt: Wasser.

»Wie viele Elemente gibt es noch mal? Vier?«, flüstert Dorian seinem Bruder zu.

»Ja, Wasser, Feuer, Luft und Erde«, antwortet Moritz ebenso leise.

»Dann möchte ich jetzt nicht in der Haut der Polizei stecken.« Dorian blickt zum hellen Mond hinauf, der die Szene ausleuchtet, als handle es sich um einen Gruselfilm. »Denn dann war das hier erst der Anfang.«

Sonntag, 5. August, 02.31 Uhr, Braderuper Weg, Kampen

Ein aufdringliches Geräusch stört den Schlaf von Oberkommissar Sven Winterberg. Schnarcht Anja wieder einmal? Blinzelnd dreht sich Sven zu seiner Frau um, aber sie liegt still und friedlich neben ihm und umarmt ihr Kissen, als handle es sich um einen heimlichen Liebhaber. Trotzdem schmiegt sich Sven an sie und versucht, wieder einzuschlafen. Doch da ist wieder dieses Geräusch. Es kommt aus der unteren Etage ihres Hauses und wiederholt sich regelmäßig. Verdammt, Sven ahnt längst, was ihn geweckt hat, aber er will es einfach nicht wahrhaben. Doch was hilft es schon, sich dagegen zu sperren? Er flucht leise und schaut auf den Wecker. Halb drei. Das Telefon klingelt immer noch.

Verschlafen trabt Sven nach unten und nimmt den Anruf an. Sein Freund und Vorgesetzter Hauptkommissar Bastian Kreuzer ist in der Leitung.

»Habe ich dich geweckt?«

»Machst du Witze? Natürlich hast du mich geweckt. Und ich hoffe, es gibt einen guten Grund dafür.«

»Leider ja. Bei dir um die Ecke liegt ein Toter in einem Vorgarten. Hab’s eben von den Jungs auf der Wache erfahren.«

»Und was heißt bei mir um die Ecke genau?«

»Galerie Specht, sagt dir das was?«

»Klar, die hatten gestern Abend ein Mega-Event. Die Wagen von der Cateringfirma hab ich schon morgens beim Brötchenkaufen gesehen.«

»Na, dann weißt du ja Bescheid. Spring in deine Klamotten und sieh zu, dass du rüberläufst. Ich komme so schnell wie möglich nach.«

»Weiß man schon, wer es ist? Und wer hat ihn gefunden?«

»Eine Horde von jungen Leuten. Ziemlich betrunken, sagt der Kollege von der Wache. Aber identifiziert hat die Leiche noch niemand.«

»Na toll. Ich bin in fünf Minuten drüben. Bis gleich.«

Leise holt Sven seine Jeans und ein T-Shirt aus dem Schlafzimmer. Anja seufzt im Schlaf und drückt das Kissen fester an sich. Was sie gerade träumt, will Sven lieber nicht wissen.

Draußen ist es wunderbar warm. Die niedrigen Reetdachhäuser mit ihren Friesenwällen und dem Bewuchs aus Rosen und Buchsbaum sehen im Mondlicht aus wie die Kulisse zu einem Heimatfilm. Oder einem Gruselschocker, schießt es Sven durch den Kopf. Alles ist schließlich eine Frage der Perspektive. Und die Tonspur passt eindeutig nicht in eine Idylle. Gerade biegt ein Krankenwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke, und im Näherkommen hört Sven auch schon die Stimmen der uniformierten Kollegen.

Der Vorgarten der Galerie Specht ist bereits mit Flatterband abgesperrt und bietet im grellen Licht der Polizeilampen ein schauriges Bild. Die roten Ziegelmauern des perfekt restaurierten Reetdachhauses, der gepflegte grüne Rasen davor, darauf die bodenlangen weißen Tischtücher der Stehtische und zwischen allem der Tote. Er liegt in leicht gekrümmter Haltung auf dem Boden und blickt aus ratlosen Augen zum Nachthimmel hinauf. Sein Schädel weist eine Wunde an der Schläfe auf, aus der er stark geblutet hat. Die Lache ist noch nicht ganz getrocknet und glänzt im Scheinwerferlicht wie schwarzer Lack.

Dicht neben dem Toten liegt ein großformatiges Bild mit frischem Blut auf Rahmen und Leinwand. Das Motiv des Bildes erinnert Sven an ihren letzten großen Fall, die Tote im Strandkorb vom vergangenen Sommer. Offensichtlich ist auch ein berühmter Maler ab und an dankbar für eine Inspiration aus der Realität, überlegt Sven gerade, als er sieht, dass die Sanitäter dem Opfer bereits den Rücken zukehren.

»Da ist nichts mehr zu machen«, sagt einer von ihnen leise und zuckt die Schultern.

»Ihr werdet mit ihm keine Arbeit mehr haben, wir dafür umso mehr«, erwidert Sven und beugt sich erst tief über den Toten und dann über das Bild daneben. An einer Ecke klebt besonders viel Blut, und ein Teil des Rahmens ist abgesplittert. Wahrscheinlich hat jemand den Mann mit dem Gemälde erschlagen, überlegt der Kommissar. Genauer kann das natürlich erst der Gerichtsmediziner sagen. Und auch die Ergebnisse der Spurensicherung wird man abwarten müssen. Doch die Truppe in den weißen Schutzanzügen wird erst im Morgengrauen mit der Arbeit beginnen können. Schließlich muss sie aus Flensburg angefordert werden, auf der Insel gibt es solche Spezialisten nicht. Kurzentschlossen ruft Sven die Bereitschaft in Flensburg an. Je früher Leo Blum und seine Mitarbeiter informiert werden, umso besser. Es wird schwer genug werden, den Tatort bis zum Tagesanbruch so zu sichern, dass kein Unbefugter ihn betreten kann. Schließlich liegt die Galerie mitten in Kampen, und der Anblick, der sich jedem Vorbeikommenden zwangsläufig bietet, ist spektakulär genug.

Seufzend wendet sich Sven den uniformierten Kollegen zu, die neben den beiden Streifenwagen in der Einfahrt stehen. Zwischen den Autos kauert ein Grüppchen von Zivilisten am Boden. Das müssen die jungen Leute sein, von denen Bastian gesprochen hat. Die Mädchen weinen leise, während die drei Männer versuchen, ihre Erschütterung durch Coolness zu überspielen.

»Hallo zusammen. Sven Winterberg, Oberkommissar von der Kripo Westerland. Sie waren als Erste am Tatort?«

Die jungen Frauen sehen kaum auf, aber ihre Begleiter wenden sich ihm zu. Sie scheinen froh zu sein, dass jemand die Führung übernimmt. Als Erster beginnt der Blonde zu reden.

»Wir wollten zur Kupferkanne und da den Sonnenaufgang abwarten. Das machen wir manchmal, wenn wir lange genug gefeiert haben. Und kaum hatten wir uns auf den Weg gemacht, hat Viktoria das hier entdeckt.«

Er weist mit der rechten Hand, die eine brennende Zigarette hält, auf den Toten im Gras.

»Viktoria?« Fragend mustert Sven Winterberg die beiden Frauen.

»Das bin ich.« Die Üppigere blickt auf und wischt sich gleichzeitig mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, erklärt sie mit leiser Stimme. »Vor ein paar Stunden war der doch bestimmt noch ganz fröhlich und hat nicht geahnt, dass er den Sonnenaufgang nicht mehr erleben wird.«

»Kannten Sie den Mann?«, will der Kommissar wissen und bezieht mit einer Geste die ganze Gruppe in seine Frage mit ein. Doch das zweite Mädchen blickt noch nicht einmal auf. Sie schluchzt hysterisch und beginnt noch heftiger zu weinen. Die beiden dunkelhaarigen jungen Männer schütteln fast gleichzeitig den Kopf, nur Viktoria sagt leise: »Woher denn?« Nach einer kurzen Pause fügt sie allerdings hinzu: »Ich kenne die Galerie natürlich vom Vorbeigehen, aber wer da im Gras liegt, weiß ich nicht. Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte, Moritz?«

Der Blonde wirft seine Zigarette zu Boden und tritt sie aus, was ihm sofort einen strafenden Blick von Sven Winterberg einträgt.

»Die heben Sie mal ganz schnell wieder auf. Sonst landet sie nämlich nachher in einer Tüte der Spurensicherung, und Sie landen ganz oben auf der Liste unserer Verdächtigen.«

»Das ist doch absurd«, murmelt der Blonde, bückt sich aber brav und verstaut den Stummel in einem silbernen Zigarettenetui. »Außerdem waren wir den ganzen Abend über zusammen. Und zu fünft werden wir den Typen ja wohl kaum erschlagen haben.«

»Haben Sie denn irgendetwas Außergewöhnliches beobachtet? Einen anderen Passanten? Ein Auto, das Ihnen begegnet ist? Oder irgendetwas hier am Haus?«

Diesmal schütteln alle fünf die Köpfe. Einer der beiden Dunkelhaarigen schiebt seine Mütze in den Nacken und murmelt: »Nichts, wirklich. Am Haus war alles dunkel, außer uns war hier niemand weit und breit, jedenfalls haben wir niemanden gesehen. Nur den Toten – und der hat uns auch nichts erzählt.«

»Sparen Sie sich Ihre Witze«, gibt Sven zurück, während er aus den Augenwinkeln sieht, wie der Wagen von Hauptkommissar Bastian Kreuzer mitten auf der Straße zum Stehen kommt, der Kollege herausspringt und über den Rasen läuft.

»Auf jeden Fall brauchen wir Ihre Namen und Adressen. Das können Sie gleich mit einem der uniformierten Kollegen erledigen. Und spätestens morgen Vormittag, wenn Sie wieder nüchtern sind, möchte ich Sie alle auf der Wache sehen. Wir müssen Ihre Aussagen aufnehmen.«

Gerade will er sich abwenden, als die schmalere der beiden Frauen den Kopf hebt und mit tränenerstickter Stimme sagt: »Ich weiß, wer der Mann ist.« Sie umfasst mit beiden Armen ihren Oberkörper und wiegt ihn langsam hin und her, als wolle sie sich selbst trösten.

»Und?«, will Sven Winterberg ungeduldig wissen.

»Das ist der Galerist. Den Namen habe ich vergessen, aber er war vor kurzem bei uns im Haus, um zwei Stiche zu schätzen, die meine Mutter verkaufen wollte.«

Sven holt sein Handy aus der Hosentasche, gibt den Namen der Galerie ein und sucht im Netz nach deren Website. Sekunden später hat er ein Foto auf dem Bildschirm. Er pfeift kurz durch die Zähne, läuft mit dem Handy vor Augen quer über den Rasen, stellt sich dicht neben Hauptkommissar Bastian Kreuzer und weist mit dem Apparat auf den Toten.

»Eines hätten wir schon mal geklärt. Vor uns liegt Ronald Specht, alleiniger Inhaber der gleichnamigen Galerie. Spezialisiert auf moderne Kunst.«

»Mit der man ihn prompt erschlagen hat«, erwidert Kreuzer mit Blick auf den kaputten Rahmen des blutbesudelten Gemäldes. »Da soll noch mal einer sagen, dass Kunst und Leben nichts miteinander zu tun haben.«

»Vielleicht sind es doch eher Kunst und Tod, die sich uns hier in inniger Verbindung präsentieren. Genauer wird uns das sicher Silja erklären können.«

»Wer hätte gedacht, dass sich ihr Hamburger Kunststudium noch mal als nützlich erweisen wird«, fügt Bastian unwillig hinzu.

Sonntag, 5. August, 02.32 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Fred Hübner kippt den Espresso in einem Zug. Neben der frischgeleerten Tasse stehen bereits zwei weitere, in denen die Kaffeereste schon zu braun-flockigen Ringen getrocknet sind.

Hübners Laptop steht aufgeklappt auf dem Esstisch, und der Text für die Kolumne ist fast fertig. Diesmal macht sie dem hochtrabenden Namen »Fred Hübner exklusiv« sogar alle Ehre.

Promi-Schaulaufen beim Kunst-Event ist der markige Titel. Weiter geht es mit der Aufzählung der illustren Gäste und einer knappen Schilderung des abendlichen Ablaufs. Natürlich bleibt der großzügige Sponsor der Getränke nicht unerwähnt, und der Qualität des Champagners wird ein ausführlich huldigender Satz gewidmet. Zeitungsleser regen sich gern darüber auf, was den oberen Zehntausend so alles hinterhergeschmissen wird.

Fred liest den Artikel noch einmal durch und lehnt sich dann zufrieden zurück. Ja, so kann es gehen. Jetzt fehlt nur noch ein markiger Abschlusssatz.

Eines der vier Meisterwerke ist bereits am Vernissageabend verkauft worden, und sicher wird der eine oder andere Interessierte heute weniger über Wind und Wellen als über eine lohnende Kunstinvestition nachdenken, tippt Fred. Aber er weiß eigentlich sofort, dass es das noch nicht ist. Zu lang, zu umständlich. Außerdem würde er gern etwas zu einem möglichst großen Verkaufserfolg beisteuern, schließlich hat er vor dem Verlassen der Galerie bei der schnuckligen Assistentin des Besitzers seine Visitenkarte hinterlassen, und es wäre doch denkbar, dass sie sich mit einem Anruf für den publicityträchtigen Artikel bedankt.

Diese Judith Lissen hat ihn ziemlich beeindruckt, das muss sich Fred fast gegen seinen Willen eingestehen. Smart, schön und sexy noch dazu, Frauen mit diesen Eigenschaften gibt es nicht oft. Seit den tragischen Vorfällen vor zwei Jahren, die Freds gesamte Lebensplanung an einem einzigen Tag zerstörten, ist ihm keine einzige der vielen Damen, denen er begegnet ist, so erstrebenswert erschienen. Nein, falsch, korrigiert sich Fred Hübner sofort. Nicht nur nicht so erstrebenswert, sondern überhaupt erstrebenswert. Manchmal hat er schon gedacht, er sei für das Feld des Werbens und Flirtens völlig verloren. Ein Beziehungskrüppel, Opfer eines endgültigen Libido-Defekts, gerade noch fähig zu den längst ritualisierten allwöchentlichen Besuchen bei Dahlia, der Westerländer Prostituierten.

Und jetzt ist diese Judith Lissen in sein Leben getreten, eine Frau, deren spöttische Blicke ihn anmachen, deren leises Lachen wie eine Verheißung klingt und in deren Bewegungen Sex pur zu stecken scheint. Fred Hübner ist wild entschlossen, um diese Ausnahmefrau mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu werben. Und eines davon wäre sicher ein knackiger Abschluss seiner Kolumne.

Also, welcher Satz?

Fred geht zum Küchentresen, nimmt ein Glas aus dem Regal, füllt es mit eiskaltem Leitungswasser und trinkt in langen Zügen. Nach dem Espresso ist dies der endgültige Weckruf für seine müden Gehirnzellen. Los, Jungs, strengt euch an, es geht um eine Lady, die es wirklich wert ist.

Doch Freds Hirn ist leer, nur verhaltene Blitze zucken noch durch seinen Schädel. Kleine Ideen, die viel zu wenig Wirkung entfalten werden. Aber was hilft’s, Fred sammelt in Gedanken, was ihm einfällt.

Und dann weiß er es plötzlich.

Wenn schon Werbetext, dann richtig. Der Wahrheitsgehalt ist da eher Nebensache. Wen interessiert schon, dass diese merkwürdige Galerie Specht bisher eher am Rand des Scheiterns unterwegs war als auf Erfolgskurs. Da hat man mit gezielten Werbekampagnen doch schon ganz andere Totgesagte wiederbelebt.

Fred setzt sich zurück an den Esstisch und knallt zwei Sätze in den Rechner.

Mit diesem Mega-Event hat sich die Kampener Galerie Specht in die erste Garde der Kunsthändler dieser Republik katapultiert. Man darf gespannt sein, was hier als Nächstes zu erwarten ist.

Das ist wahrscheinlich gelogen und im Grunde genommen auch nicht glamouröser als sein letzter Einfall, aber entschieden zweckdienlicher, befindet Hübner, sichert den Text und mailt ihn gleich an seinen Chef. Der wird hoffentlich zufrieden sein und ihn morgen ausnahmsweise einmal ausschlafen lassen. Die Uhr im Rechner zeigt fast drei, als Fred ihn herunterfährt. Zeit für ein ausgedehntes Schläfchen mit vielleicht sogar süßen Träumen von seiner neuen Flamme. Hochzufrieden steigt Fred Hübner die Stufen seiner Maisonettewohnung hinauf.

Sonntag, 5. August, 02.32 Uhr, Morsum-Kliff

Im fahlen Mondlicht wirken die Klippen des urzeitlichen Kliffs wie eine Reihe von gebeugten Gestalten, die mit ausgebreiteten Mänteln den Übergang vom Land zum Watt bewachen. Sie haben die Köpfe in unförmigen Kapuzen verborgen und schreiten im Takt des Windes die selbstgesetzte Grenze ab. Die Dünengräser gleichen Haarbüscheln, die unter den Kapuzen hervorlugen und widerspenstig von den Köpfen abstehen. Einzelne Böen legen die Büschel flach, jede Flaute lässt sie sich wieder aufrichten. Das leise Plätschern der Wasserkante gleicht wispernden Beschwörungen nach jahrtausendealten Ritualen, deren intime Kenntnis den Klippenmännern vorbehalten bleibt. Nur die Nachtvögel mit ihren seltenen Rufen stören die uralten Formeln.

Mit bangen Blicken mustert Florian Seebrück immer wieder die zerfurchte Steilküste, als fürchte er, dass sich einer der Klippenmänner unversehens auf ihn stürzen könnte. Trotz seiner Steppjacke und der milden Nachttemperatur friert der Architekt im Wind. Seine Schritte sind zögernd und unschlüssig. Er weiß nicht so recht, was er an dieser gottverlassenen Stelle unterhalb der Klippen eigentlich zu dieser Stunde zu suchen hat.

Und doch hat es ihn hergetrieben.

Einem unklaren Zwang folgend, ist er nach dem Verlassen der Vernissage – er war einer der Letzten, die sich von dem Galeristen verabschiedet haben – direkt zum großen Parkplatz am Morsum-Kliff gefahren, hat sich im Mondlicht den Weg zum Kliff und von dort aus den schmalen Pfad hinunter zur Wasserkante gesucht. Und nun steht er hier, die raunenden Gestalten aus uraltem Fels im Rücken, das feuchtglänzende Watt unter den Füßen und die im Licht grauschwarz schillernde Wasserfläche vor Augen. Irgendwo dahinten in der flüsternden Finsternis ist vor wenigen Wochen der Maler Artur Faust abgestürzt.

Die Villa des Toten hat Seebrück selbst entworfen. Es war sein erster großer Auftrag und hätte der Door-Opener zu einem anderen Kundenkreis sein sollen. Nur deshalb hatte sich Seebrück damals auf den Deal eingelassen, anstelle eines angemessenen Honorars ein zehnjähriges mietfreies Wohnrecht im Faust’schen Gästeapartment zu erhalten. Seit neuneinhalb Jahren logiert er jetzt dort oben, nur ein paar hundert Meter weiter westlich. Doch seit dem furchtbaren Unfall kann Seebrück den phantastischen Blick aufs Wattenmeer nicht mehr genießen. Immer wieder muss er sich vorstellen, dass Artur Faust von seinem Schlafzimmer aus jahrelang genau die Stelle im Blick gehabt hat, an der er schließlich seine letzten Atemzüge tun würde.

Direkt nach der Beerdigung des Malers auf dem Keitumer Kirchhof ist Seebrück hinauf in dessen Schlafzimmer gestiegen und hat lange grübelnd am Fenster gestanden. Seitdem ist ihm dieser Ausblick immer vertrauter geworden, denn seit dem Unfall schläft Seebrück schlecht und schaut häufiger, als ihm guttut, von Fausts Schlafzimmer aus übers nächtliche Watt.

Und heute hat es ihn wieder einmal hinaus zu den Klippen getrieben. Diese Nacht, so hofft Seebrück, wird sein Leben verändern. Der Verkauf des Gemäldes mit den segelnden Möwen vor blauem Himmel könnte ihm ein kleines Vermögen einbringen und die damit verbundene Publicity ihm vielleicht zum beruflichen Durchbruch verhelfen.

Und das wäre auch höchste Zeit. Die zehn Jahre seines Wohnrechts sind Seebrück damals endlos lang erschienen und doch wie im Flug vergangen. Längst wollte er etwas Eigenes auf der Insel besitzen, aber leider hat es zu dem ganz großen Wurf bisher nicht gereicht. Sicher, die Auftragslage war nicht schlecht, und der Maler hat seinen Architekten nach Kräften weiterempfohlen, doch häufig waren Seebrücks Entwürfe zu eigenwillig für die eher konservative Klientel auf der Insel. Und nun ist Artur Faust tot, und niemand wird den Architekten Seebrück mehr protegieren.

Dafür verfolgt ihn der tote Maler. Nacht für Nacht geistert Artur Fausts Schatten durch Seebrücks Träume. Und jetzt meint er ihn sogar über dem Watt erkennen zu können. Schreitet da nicht eine aufrechte Gestalt in wehendem schwarzen Mantel übers Wasser? Hebt der Malerfürst nicht sogar die Hand und winkt ihm mit einer der für ihn typischen großen Gesten zu?

Das empörte Krächzen eines Vogels unterbricht Seebrücks Gedanken und holt ihn in die Wirklichkeit zurück. Wahrscheinlich haben seine Schritte das Tier aus der Nachtruhe gerissen. Flügelschlagend steigt der Vogel auf und entschwindet über die Kliffkante. Genau dasselbe hat Artur Faust in der stürmischen Frühsommernacht, die ihn das Leben kosten sollte, mit seinem Privatflugzeug versucht. So jedenfalls lautet die offizielle Erklärung. Der Maler soll mit seiner Maschine ins Trudeln gekommen sein, irgendwann oben und unten verwechselt haben, schließlich die Kontrolle über den Flieger verloren haben und während des Absturzes herausgeschleudert worden sein. Die Spitze des Flugzeugs hat sich tief ins Watt gebohrt, der Rumpf ist auseinandergebrochen. Als ein Vogelkundler die Maschine im Morgengrauen direkt vor den Klippen entdeckt und die Polizei alarmiert hat, trieb Artur Fausts lebloser Körper schon seit Stunden im trübschlickrigen Wasser des Watts.

Und mögen auch die sterblichen Überreste des Malerfürsten Artur Faust inzwischen auf dem Keitumer Friedhof ruhen, seine Seele hat noch lange keine Ruhe gefunden und geistert weiterhin Nacht für Nacht übers Watt, davon ist Florian Seebrück fest überzeugt. In den vergangenen Nächten konnte er sie nur erahnen, aber jetzt scheint er sie auch sehen zu können. Und kommt die Gestalt im wehenden Mantel nicht sogar näher, stürmt mit weiten Schritten übers Wasser? Rachedurstig wirkt das und unheilverkündend. Und wenn Seebrück an den vergangenen Abend denkt, kann er die unbändige Wut des toten Malers sogar sehr gut verstehen.

Sonntag, 5. August, 02.36 Uhr, Nielsglaat, Hörnum

Prasselnd fällt der Holzstapel im Kamin zusammen, ein Scheit rollt herunter und bleibt gefährlich nah am Rand der Feuerstelle liegen. Heiner Schwartz wirft einen Blick zu der leeren Wand über dem Kamin, an der bis vor wenigen Tagen noch das Bild mit dem brennenden Reetdach lehnte, das nun in den Ausstellungsräumen der Galerie Specht hängt. Schwartz nimmt einen großen Schluck aus seinem Rotweinglas und lässt den Blick seitlich aus dem Panoramafenster in die dunkle Nacht gleiten. Der Mond steht käsig am Himmel, streicht die Dünenkuppen kalkweiß und streut sein Silber übers Meer. In klaren Nächten findet Heiner Schwartz die Aussicht aus seinem Wohnzimmerfenster noch schöner als bei Tag. Nichts und niemand befindet sich dann zwischen ihm und der wogenden See.

Die einzigartige Lage des Hauses hoch über dem Hörnumer Weststrand hat ihn und seine Frau vor mehr als zwanzig Jahren zum Kauf bewogen. Sorgfältig haben sie darauf geachtet, das bucklige alte Friesenhaus äußerlich unverändert zu erhalten. Nur im Inneren hat Konstanze die nötigsten Modernisierungen durchgesetzt. Wäre es nach ihm gegangen, besäßen sie bis heute keine Geschirrspülmaschine und würden sich in einer Plastikkabine aus den sechziger Jahren duschen. Luxus ist Heiner Schwartz nicht wichtig. Am liebsten würde er alles Geld für Kunst ausgeben, aber seine kluge Frau weiß immer wieder den Ausgleich zwischen ihren und seinen Bedürfnissen herzustellen.

Schwartz stemmt sich ächzend aus dem Sessel, um das Holzscheit zurück in die Mitte des Kamins zu befördern. Wieder gleitet sein Blick nach oben zu der verwaisten Stelle. Das Bild fehlt ihm schon jetzt. Er hat sich nur äußerst widerwillig entschließen können, das Werk einzuliefern, die drei Freunde mussten ihn lange überreden, bis er schließlich nachgegeben hat. Sicher, es bleiben noch viele andere Werke des Künstlers in seinem Besitz, doch dieses Bild, mag es auch handwerklich nicht zu den stärksten gehören, hatte einen besonderen Platz in seinem Herzen. Und jetzt hängt es in Kampen, einem Ort, der, wenn es nach ihm ginge, komplett von der Sylter Karte verschwinden könnte. Ausgerechnet dort ist sein geliebtes Feuerbild, das so gut über den Kamin gepasst hat, den begehrlichen Blicken aller möglichen Banausen ausgeliefert. Wie eine Hure am Straßenrand.

Wenn er seine Entscheidung, das Werk zum Verkauf anzubieten, doch nur rückgängig machen könnte!

Schwartz richtet sich auf, hängt den Feuerhaken wieder in die gusseiserne Halterung und kehrt zu seinem Sessel zurück. Noch einmal greift er nach seinem Glas und trinkt bedächtig. Der Rotwein ist schon etwas zu warm, das Aroma von Rauch und Beeren wirkt fast überreif, doch Schwartz nimmt gleich noch einen weiteren Schluck. Nein, die Entscheidung, das Bild zu verkaufen, wird sich wohl kaum rückgängig machen lassen. Alles was er in dieser Angelegenheit noch unternehmen würde, müsste nur unnötigen Verdacht auf ihn und die drei anderen Freunde lenken. Es wird ihm wenig anderes übrigbleiben, als mit seinem schlechten Gewissen allein fertigzuwerden. Heiner Schwartz sieht sie schon kommen, eine lange Reihe von Nächten wie diese. Während Konstanze schlafend im Ehebett liegt, wird er sich davonstehlen, das Feuer im Kamin anfachen und allein sein mit seinen Erinnerungen an das geliebte Bild und an ein gebrochenes Versprechen. Seufzend beugt sich Schwartz über den Beistelltisch, um eine neue Flasche Rotwein zu entkorken.

Sonntag, 5. August, 02.41 Uhr, Pension Möwe, Westerland

Unruhig wälzt sich Bertold von Brüssow in seinem Bett. Die Matratze ist durchgelegen und die Decke zu massig für diese Jahreszeit. Gerade ist er aus dem Schlaf aufgeschreckt, hat sich mühsam aus einem Traum befreit, in dem er unter einem Berg von Farbtuben und Leinwänden lag und verzweifelt nach Luft rang. Bei diesem Monstrum von Bettdecke ist es auch kein Wunder, wenn einen solche Bilder im Schlaf heimsuchen, überlegt von Brüssow und wirft die schwere Decke kurzerhand zu Boden. Anschließend versucht er, sich in das Laken einzuwickeln. Jetzt ist es kühler und angenehmer, aber es gelingt ihm trotzdem nicht, wieder einzuschlafen. Der Ärger darüber, dass er den letzten Autozug verpasst hat, steigt wieder auf. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte die Insel schnell verlassen und zügig auf sein Gut zurückkehren können.

Schließlich hat sich alles zum Guten gefügt. Wenn auch erst in letzter Minute.

Sein Bild ist bereits zwei Stunden nach Beginn der Vernissage verkauft worden, ein Umstand, der ihn stolz macht. Er selbst fand die düstere Erdlandschaft mit dem kreuzähnlichen Spaten darin schon immer deutlich besser als die anderen drei Elemente-Werke. Eine schlichte, pure Verherrlichung der Scholle, nichts, was vom Thema ablenkt, und auch nichts, was irgendwie gefällig wirkt – wie zum Beispiel auf diesem dämlichen Strandkorbbild, das nur allzu deutlich an die Frauenmorde vom vergangenen Sommer erinnert. Was bitte schön sollte das denn mit Kunst zu tun haben? Immer wieder hat von Brüssow versucht, den alten Schulfreund Artur Faust in ein Gespräch über die unterschiedliche Qualität der vier Bilder zu verwickeln, aber vergeblich. Selbst die Erinnerung an die gemeinsamen ersten Versuche im Porträt- und Landschaftszeichnen konnten den Maler nicht umstimmen. Artur Faust wollte sich einfach nicht zu dem künstlerischen Wert des Elemente-Zyklus äußern.

Umso mehr befriedigte von Brüssow die Nachricht vom raschen Verkauf seines Bildes. Wenigstens andere sind in der Lage zu erkennen, wo sich wahre Meisterschaft zeigt. Und der erzielte Preis liegt einiges über seinen kühnsten Erwartungen. Auch wenn es ihm nicht leichtgefallen ist, das Bild herzugeben, so wird doch das Geld bei der Instandsetzung des Familiensitzes gut angelegt sein. Scholle zu Scholle, Erde zu Erde, Asche zu Asche, denkt von Brüssow gerade, als ihm einfällt, dass er vergessen hat, den Wecker im Handy zu aktivieren. Der erste Autozug geht morgens um sechs, und wenn er dann bis in die Uckermark durchfahren will, könnte er die restlichen zwei Stunden Schlaf gut gebrauchen. Von Brüssow schiebt sich an den äußersten Rand der Matratze, um nicht gleich wieder in die Kuhle zu rollen. Wer mitten in der Nacht nach einem Lager sucht, und das auf Sylt in der Hochsaison, darf eben nicht wählerisch sein. Sonst hat er bei seinen ohnehin seltenen Besuchen auf der Insel meist in Arturs Haus gewohnt, aber jetzt erschien es ihm pietätlos, im Haus eines Toten zu schlafen. Außerdem hat er Florian Seebrück noch nie ausstehen können. Der ist nichts weiter als ein Luftikus ohne Anstand und Würde, der sich seit Jahren bei Artur durchschnorrt. Aber damit ist sicher bald Schluss. Wenn Seebrücks Wohnrecht erlischt, wird das Morsumer Haus der Faust’schen Künstlerstiftung zufallen und jungen Talenten ein zeitweiliges Heim sein. Dann werden dort ernsthafte Künstler wohnen und arbeiten, die sicher auch den Unterschied zwischen einem echten Kunstwerk und bloß gefälliger Farbkleckserei erkennen können.

Mit diesem beruhigenden Gedanken im Kopf und dem Handy zwischen den Fingern schläft Bertold von Brüssow ein.

Sonntag, 5. August, 03.07 Uhr, Hotel Rungholt, Kampen

Ein lautes Rasseln reißt Johann Liebig aus dem Schlaf. Noch während er verwirrt ins Dunkle blinzelt, spürt er, dass seine Augen übel zugeschwollen sind. Dieser verdammte Alkohol, denkt Liebig und lässt die Lider unten. Immerhin ist das Rasseln plötzlich weg. Sollte er vielleicht wieder einmal von seinem eigenen Schnarchen aufgewacht sein? Und wenn schon. Es wäre auch kein Wunder bei der schlechten Luft im Zimmer. Alkohol und Männerschweiß sind keine besonders erfrischende Kombination. Außerdem ist es viel zu warm.

Ächzend rollt sich Johann Liebig an den Rand des überbreiten Bettes, wirft achtlos die voluminöse, aber federleichte Decke in dem feinen Satinbezug zu Boden und wuchtet die Beine aus dem Bett. Der Holzboden unter seinen Füßen ist kühl und glatt. Jetzt öffnet er doch die Augen, zunächst nur einen Spalt weit, blinzelt, schließt sie wieder, beim zweiten Versuch gelingt es dann. Liebig stößt sich mit beiden Armen von der Matratze ab und stemmt sich aus dem Bett. Beim Aufstehen schwankt er leicht, muss sich erst orientieren. Richtig, da drüben ist das Fenster.