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Die Tote am Morsum-Kliff ist erst der Anfang: Ihr achter Kriminalfall führt Silja Blanck, Bastian Kreuzer und Sven Winterberg direkt ins dunkle Herz Sylts – und bringt die Kommissarin in unmittelbare Gefahr. Frost glitzert auf den Stängeln des Heidekrauts am Morsum-Kliff, als Grabungen ein grausames Geheimnis offenbaren. Unter der idyllischen Landschaft ruht seit 15 Jahren das kopflose Skelett eines jungen Mädchens. Besonders für Kommissarin Silja Blanck ist der Fund ein Schock: Könnte es eine Verbindung zu ihrer kleinen Schwester geben, die zur gleichen Zeit sterben musste und deren Mörder nie gefunden wurde? Oder jagt die Kommissarin einem Hirngespinst hinterher? Erfolgsautorin Eva Ehley konfrontiert ihre Leser einmal mehr mit rätselhaft abgründigen Vorgängen auf der beliebten Urlaubsinsel Sylt.
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Seitenzahl: 494
Eva Ehley
Einsames Grab
Ein Sylt-Krimi
FISCHER E-Books
Es ist diese Stille. Nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Land’s End auf Friesisch. Die Rede ist von Morsum. Eigentlich vom Morsum Kliff. Wenn man vom Autozug runterfährt, sieht man nur Watt und Weite. Möwen, Schilf, Schlick. Es riecht salzig und frisch, der Wind ist sanft oder heftig, aber immer prickelnd.
Maria Wallot war schon als Kind hier. Ihre Eltern hatten ein Ferienhaus in Morsum. Sie kauften es, als Sylt hip wurde und ihnen Kampen längst zu teuer war. Und zu schickimicki, wie man damals sagte. Maria hat das Haus nach dem Tod ihrer Eltern behalten, auch wenn sie nur noch selten auf die Insel gefahren ist. Zu viel zu tun. Der Wallot-Verlag, auch ein Erbe ihrer Eltern, fraß ihre ganze Zeit. Und die Nebenkosten für das Ferienhaus fraßen bald einen Großteil ihrer Einnahmen. Kleine Verlage werfen schon lange nichts mehr ab. Sie sind ein teures Hobby. Mehr oder weniger. Ein Hobby, das sich Maria Wallot immer noch leistet. Doch irgendwann musste das Haus dran glauben. Sie hat es zu einem astronomischen Preis verkauft. Aber das Geld konnte Maria nur schlecht über den Verlust hinwegtrösten. Plötzlich fehlte ihr die Insel, obwohl sie davor kaum dort war. Jedenfalls nicht leibhaftig. In Gedanken schon häufiger.
Bei einem sentimentalen Besuch vor wenigen Jahren entdeckte sie, dass sich im Landhaus Morsum ein kleines, luxuriöses Hotel etabliert hatte. Die Lage des Gebäudes direkt am Kliff war schon immer etwas ganz Besonderes. Es ist das erste Haus, das man auf der rechten Seite sieht, wenn man über den Hindenburgdamm kommt. Die Sonnenuntergänge im Sommer sind ebenso spektakulär wie die Nebel im Herbst und der Raureif auf den Feldern im Winter.
Seit dieser Entdeckung ist Maria hier regelmäßig zu Gast. Immer im Hochzeitszimmer, obwohl Hochzeiten nicht gerade zu ihren Lieblingsveranstaltungen gehören. Hat persönliche Gründe, ist nicht wichtig. Aber das Zimmer bietet die Aussicht übers ganze Kliff, Tageslicht im Badezimmer und das bequemste Bett, das Maria sich denken kann. Und Ruhe. Sobald sie das Hotel verlässt, umfängt sie diese einzigartige Atmosphäre.
Deshalb hat Maria Wallot diesen Ort auch für das Treffen ausgesucht, das morgen ansteht und von dem so viel abhängt. Es geht um das Überleben des Wallot-Verlages. Wobei Überleben möglicherweise der falsche Ausdruck ist. Wenn Marias Plan aufgeht, wenn alle Beteiligten sich mögen und zu einer Einigung kommen könnten, dann wäre der Verlag saniert. Maria weiß nur zu genau, dass dies ihre letzte Chance sein wird. Verbittert muss sie sich eingestehen, dass sich der Wallot-Verlag schon seit Jahren nur noch mit Esoterik und drittklassigen Autoren herumschlägt. Lange hat sie versucht, sich dies schönzureden, aber irgendwann muss frau der Wahrheit ins Gesicht sehen. Und dieses Irgendwann ist genau jetzt. Deshalb setzt die Verlegerin nun alle verbliebenen Hoffnungen auf morgen, denn morgen wird es ums ganz große Geschäft gehen.
Maria Wallot hat den dicksten Fisch der Saison am Haken.
Alice Zabriski, die weltberühmte Archäologin, war der Aufreger des letzten Sommers. Erst wurde sie in Afghanistan entführt, dann kam sie unter spektakulärsten Umständen aus der Geiselhaft frei. Kidnapping ist zurzeit am Hindukusch das größte Geschäft überhaupt. Niemand weiß, was die Bundesregierung diesen Banditen versprochen hat. Oder der Botschafter. Oder wer auch immer. Fest steht jedenfalls, dass die Rebellen Zabriski freigelassen haben. Ihre Kollegin und Lebensgefährtin hatte nicht so viel Glück. Sie ist direkt nach der Entführung geköpft worden. Das Video von der Hinrichtung kann man im Internet sehen. Und die Klickzahlen sprechen für sich.
Natürlich ist Alice Zabriski schwer traumatisiert. Und natürlich ist sie in engmaschiger psychotherapeutischer Behandlung. Zum Glück für Maria Wallot hat ihr die Therapeutin geraten, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Offenbar war das genau der richtige Ratschlag, denn es sind innerhalb kurzer Zeit an die hundert Seiten Rohmaterial zusammengekommen. Und zum noch größeren Glück ist Maria mit ebenjener Therapeutin befreundet. Sie hat den Kontakt vermittelt.
Maria hat die hundert Seiten bereits gelesen. Was heißt gelesen? Sie hat sie verschlungen. Hot stuff, wie man so sagt. Jetzt muss das Ganze nur noch in eine mediengerechte Form gebracht werden. Aber das soll nicht Alice Zabriskis Job sein. Sie ist psychisch immer noch sehr instabil, und niemand wird sie mit stilistischen Details behelligen wollen. Das muss jemand anderes machen. Jemand, der etwas von Reißern versteht, vom Feuilleton und von Skandalliteratur.
Maria hat dabei an den Journalisten Fred Hübner gedacht.
Er hat sich in diesem Metier seit einigen Jahren einen Namen gemacht. Und da Fred Hübner auf Sylt lebt, lag es nahe, die Insel für ein Treffen vorzuschlagen. Zumal Frau Zabriski in Hamburg wohnt und schnell herüberkommen kann. Maria Wallot hat alle Beteiligten im Landhaus einquartiert. Schließlich geht es darum, sich näherzukommen, sich kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Und dafür ist ein ruhiger Platz, komfortabel und nicht überlaufen, genau richtig. Die Hotelkosten kann Maria von der Steuer absetzen, und wenn alles glatt läuft, wird sich die Ausgabe bestimmt rentieren.
Es ist eine Megachance für den kleinen Verlag. Die größte, die er je hatte. Und vermutlich die letzte, die er haben wird.
Maria Wallot würde alles für dieses Buch tun.
Alles.
Maria Wallot zieht sich die Schlafbrille vom Gesicht und blickt auf ihr Handy. Erstaunt stellt sie fest, dass sie zwei Stunden länger als üblich geschlafen hat. Für eine Frau Mitte fünfzig ist das durchaus nichts Alltägliches und ein sicheres Zeichen dafür, dass die Entspannung bereits eingesetzt hat.
Maria springt aus dem Bett und läuft zum Fenster. Sie zieht die Vorhänge auf und blinzelt ins Licht. Draußen ist es gleißend hell.
Über Nacht ist eine dünne Schneedecke gefallen, auf die nun die Morgensonne scheint. Heide und Dünen haben sich in eine weiße Märchenlandschaft verwandelt. Schneekristalle glitzern auf den sperrigen Trieben des Heidekrauts und den bizarren Ästen der kahlen Kartoffelrosen, die überall im Naturschutzgebiet wachsen. Nur an den Hängen der Dünen scheint stellenweise noch der gelbe Sand durch die zarte weiße Schicht. Auf dem Weg hinunter zum Strand sind im puderfeinen Schnee kaum Fußspuren zu sehen.
Aber weiter hinten ist richtig was los. Direkt neben der Straße wühlt ein kleiner Bagger in der Erde. Mehrere Arbeiter in gelber Kleidung stehen um große helle Säcke mit stabilen Tragegriffen herum. Die Männer sind offenbar damit beschäftigt, die stark wurzelnden Rosen herauszureißen, um mehr Platz für das empfindlichere Heidekraut zu schaffen. Maria erinnert sich, dass diese Arbeiten schon in ihrer Kindheit alle paar Jahre durchgeführt wurden, um das ursprüngliche Gleichgewicht im Naturschutzgebiet zu erhalten.
Schade, dass es ausgerechnet heute sein muss, es wird diese ganze Schneeidylle zerstören, denkt sie bedauernd. Doch dann öffnet sie das Fenster und beugt sich weit hinaus. Die kalte, klare Luft vertreibt schlagartig jede Müdigkeit aus ihrem Körper. Es prickelt auf ihren nackten Armen und im Gesicht. Tief atmet sie durch. Genauso hat sie Morsum im Winter in Erinnerung. Und ein besseres Begrüßungswetter für ihren heiklen Gast aus Hamburg hätte sie sich nicht wünschen können.
Sonnenschein!
Sonnenschein, der Alice Zabriski den Beginn eines neuen und besseren Lebensabschnitts nach den Katastrophen der jüngsten Vergangenheit ankündigen soll. Sonnenschein, der seinen Glanz auch auf die kommende Zusammenarbeit mit Verlegerin und Ghostwriter werfen wird. Der das erste Treffen erhellen und good vibrations in die Zukunft senden soll.
Um halb zwölf wird sich Maria mit Fred Hübner, dem auserkorenen Ghostwriter, auf dem Morsumer Bahnhof treffen. Um zwölf kommt dann der Zug aus Hamburg mit der traumatisierten Archäologin an Bord. Geplant ist ein kleiner Fußweg zurück zum Hotel. Das Gepäck kann ein Taxi bringen, aber für Frau Zabriski wäre ein erster Eindruck von der idyllischen Umgebung schön, hat sich Maria überlegt. Und in der mittäglichen Wintersonne ist der zwanzigminütige Spaziergang allemal lohnend.
Maria singt unter der Dusche und geht summend hinunter zum Frühstück. Das Haus ist nicht ausgebucht, vier Pärchen und zwei Einzelreisende sitzen in dem hellen Restaurant, das Fensterfronten nach drei Seiten bietet. Man grüßt sich oder nickt sich zumindest freundlich zu. Dann Zeitungsrascheln und leise Unterhaltungen. Kaffee, Müsli, Eierspeisen. Kraft tanken, den Tag beginnen.
Als sie zum Bahnhof aufbricht, ist es bereits kurz nach elf. Sie will den Journalisten nicht warten lassen, den sie am Telefon als intelligent und zuverlässig kennengelernt hat. Natürlich ist Maria über Fred Hübners Alkoholvergangenheit informiert. Sie hat äußerst gründlich recherchiert, aber dann entschieden, dass sie Vertrauen haben wird. Hübner ist seit mehreren Jahren trocken und hat sich echte Meriten als Biograph ungewöhnlicher Personen erworben. Er wird auch mit der psychisch labilen Alice Zabriski zurechtkommen, davon ist sie überzeugt.
Während sie die Allee entlangeilt, die nach Westen und damit zum Bahnhof führt, wird die Stille immer wieder durch das Kreischen von Motorsägen unterbrochen. Beim Näherkommen sieht Maria, dass ein Trupp Arbeiter damit begonnen hat, die Alleebäume zu beschneiden. Ausgerechnet heute! Vielleicht sollte sie ihren Gast doch gleich mit dem Taxi zum Hotel bringen. Andererseits hat Alice Zabriski als Folge ihrer Gefangenschaft eine Engephobie entwickelt, die ihr den Aufenthalt in Flugzeugen, Fahrstühlen, WC-Kabinen und eben auch Autos fast unmöglich macht. Maria kann nur hoffen, dass die nervtötenden Sägegeräusche nicht auch irgendwelche Erinnerungen wachrufen werden. Sicherheitshalber spricht sie einen der Arbeiter an und erkundigt sich nach der Mittagspause. Zwischen zwölf und eins würden die Arbeiten ruhen, erfährt sie. Glück gehabt.
Am Morsumer Bahnhof wird Maria Wallot schon von Fred Hübner erwartet. Er lehnt neben einem Rennrad und trägt eine enge Funktionshose, einen Fleeceblouson, dick gepolsterte Handschuhe und einen schnittigen Helm. Nicht gerade ein klassisches Businessoutfit, aber vielleicht gerade deswegen vertrauenerweckend.
Fred Hübners Händedruck, natürlich ohne die Handschuhe, ist angenehm fest, sein Blick direkt und offen. Er ist eher groß, ebenso wie Maria selbst, und wirkt überhaupt nicht so, als habe er die sechzig schon überschritten. Maria, die bisher nur mit dem Journalisten telefoniert hat, gratuliert sich insgeheim zu ihrer guten Auswahl. Unkonventionell, aber vertrauenerweckend, so wollte sie es. Und ein paar heftige Kurven im Lebenslauf werden in den Augen Alice Zabriskis nur von Vorteil sein.
»Aber wo ist Ihr Gepäck?«, erkundigt sie sich mit Blick auf das Rennrad. »Sie werden doch auch mit uns im Landhaus wohnen, oder?«
»Da drüben steht das Taxi mit meinen Sachen. Ich habe den schönen Tag gleich fürs morgendliche Fitnesstraining genutzt. Das stört Sie doch nicht, oder?« Seine letzten Worte werden bereits vom Geräusch des sich nahenden Zuges geschluckt.
Maria mustert die Aufschriften der Waggons.
»Die erste Klasse ist vorn. Sie wissen, wie Frau Zabriski aussieht?«
»Als sie freigekauft und ausgeflogen wurde, kam das sogar in der Tagesschau. Jeder in diesem Land weiß, wie Alice Zabriski aussieht. Ich schätze mal, das ist ein Teil ihres Problems.«
Bevor Maria antworten kann, steigt Alice Zabriski einige Meter vor ihnen aus dem Zug. Sie ist klein und zierlich, das Gesicht ist blass mit einer scharf geschnittenen Nase und Augen, die sehr tief in den Höhlen liegen. Sie trägt einen roten Wollrock, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Darunter Wanderstiefel und darüber eine grobe Daunenjacke. Suchend blickt die Archäologin sich um. Misstrauen liegt in ihrem Blick und eine Angst, die sich nur schlecht verbergen lässt. Der Stock, auf den sie sich stützt, zittert leicht in ihrer Hand.
»Frau Zabriski, wie schön, Sie wiederzusehen. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?« Maria Wallot legt alles, was sie an Wärme und Zuneigung aufbieten kann, in ihre Stimme.
Die Angesprochene kneift kurz die Augen zusammen, als müsse sie sich in Erinnerung rufen, wer sie hier willkommen heißt, dann nickt sie und erlaubt sogar einem kleinen Lächeln, auf ihrem Gesicht Platz zu nehmen.
»Ja, danke. Es war angenehmer, als ich erwartet hatte. Und Sie sind …?«
Ihr Blick streift Fred Hübner. Für Sekunden steht Irritation darin.
»Ich würde gern Ihr Ghostwriter werden. Nur falls wir uns mögen, natürlich. Fred Hübner ist mein Name.«
Erleichtert stellt Maria fest, dass das offene Lächeln und die unverstellte Art des Journalisten gut bei Zabriski anzukommen scheinen. Fast schon amüsiert mustert sie den Helm und die Radfahrerkluft.
»Sie wollen mich aber nicht auf Ihrem Rad transportieren«, scherzt sie.
»Nur, wenn Sie darauf bestehen.«
»Ich dachte, wir gehen zu Fuß«, wirft Maria ein. Es klingt ziemlich lahm. »Oder ist das mit dem Stock für Sie zu beschwerlich?« Sie könnte sich dafür ohrfeigen, dass sie dieses Detail nach den ersten beiden Treffen mit Frau Zabriski nicht in Erinnerung behalten hat. Ganz blöder Planungsfehler.
»Nein, ich bewege mich gern. Der Stock ist auch eher der Besorgnis meines Arztes geschuldet. Er hält mich, glaube ich, für fragiler, als ich bin. So ein alter Archäologendino ist nicht so leicht kleinzukriegen.«
Alice Zabriski nickt im Takt ihrer Worte. Es wirkt, als wolle sie dadurch deren Wahrheitsgehalt erhöhen.
Fred Hübner nimmt dem Zugbegleiter den Rollkoffer der Archäologin ab und trägt ihn zu dem wartenden Taxifahrer. Dann machen die drei sich auf den Weg zum Hotel. Die Wintersonne steht mittlerweile recht hoch am Himmel und wärmt sogar ein wenig. Immer wieder hebt Alice Zabriski das Gesicht ins Licht und schließt kurz die Augen.
»Die Insel wird Ihnen guttun«, versichert Maria und gratuliert sich insgeheim zu der Ortswahl. »Wer hier nicht zur Ruhe kommt, dem ist nicht mehr zu helfen.« Den irritierten Blick Zabriskis ignoriert die Verlegerin geflissentlich. Stattdessen weist sie auf die weiten Wiesen rechts und die letzten schmucken Friesenhäuser links des Weges. »Da vorn hört die Bebauung dann ganz auf, und das Naturschutzgebiet beginnt. Und dort hinten können Sie schon das Hotel sehen. Es ist das einzige Haus weit und breit.«
Beim Anblick des gedrungenen reetgedeckten Gebäudes scheint sich Alice Zabriski tatsächlich zu entspannen. Sie schreitet kräftiger aus und vergisst manchmal sogar, den Stock zu benutzen. Zum Glück halten sich die Baumarbeiter an die geplante Pausenzeit, so dass die drei Spaziergänger ohne Lärmbelästigung bis kurz vor das Hotel gelangen. Als sie auf Höhe des großen Parkplatzes sind, der mitten in den Wiesen für die Touristen angelegt worden ist, die das Morsumer Kliff besuchen wollen, schreckt Motorengeräusch sie auf. Es stammt allerdings nicht von den Kettensägen, sondern von zwei Polizeifahrzeugen, die viel zu schnell an ihnen vorbeifahren, um kurz hinter dem Hotel zu stoppen.
»Was ist da wohl los?«, wundert sich Alice Zabriski.
»Keine Ahnung. In der Heide ist seit heute früh ein Trupp von Landschaftspflegern zugange.« Maria zuckt die Achseln.
»Vielleicht haben die etwas Ungewöhnliches gefunden. Soll ich nachschauen?«, bietet Fred Hübner unternehmungslustig an.
»Wir können doch alle zusammen gehen. Es ist so schön hier in der Sonne, da mag man gar nicht ins Haus.« Unerwartet temperamentvoll schwenkt Zabriski ihren Stock.
»Also nichts wie hin. Es sind ja nur ein paar Schritte.« Maria ist froh über die gute Laune der Archäologin und würde alles tun, um sie zu erhalten. Da ist ein kurzer Wortwechsel mit den Landschaftspflegern vielleicht genau das Richtige.
Doch dann sieht sie, wie die Polizisten aus den Wagen springen und im Eiltempo über die Straße laufen. Die Arbeiter, die vorhin noch an unterschiedlichen Stellen der Heide beschäftigt waren, stehen jetzt alle vor einem Erdhügel, der sich direkt neben der Fahrbahn befindet. Er ist durchsetzt von dem Wurzelgeflecht eines besonders großen Rosenstocks, den der kleine Bagger offenbar kürzlich aus dem Erdreich gehoben hat. Neben dem Bagger klafft eine beachtliche Grube.
»Was, zum Teufel, ist an einer entwurzelten Rose so aufregend?«, murmelt Fred Hübner und schreitet schneller aus.
Auch Alice Zabriski ist neugierig geworden. »Wer weiß, auf welche Fundstücke die Arbeiter gestoßen sind. Es gibt auf Sylt doch auch steinzeitliche Zeugnisse, oder?«
»Keine Ahnung. Möglich ist es. Aber eigentlich geht es um ein landschaftsgärtnerisches Problem. Die Kartoffelrosen haben extrem aggressive Wurzeln, die mit den Jahren alles um sie herum ersticken«, erklärt Maria. »Deshalb müssen sie ab und an aus der Heide entfernt werden, damit der ursprüngliche Bewuchs erhalten werden kann.«
»Unter Polizeiaufsicht?« Zabriskis Stimme klingt spöttisch.
Inzwischen kann man deutlich sehen, dass das Interesse der Arbeiter ebenso wie das der Polizisten nicht dem Rosenstock und auch nicht dem Erdhügel, sondern der Grube daneben gilt.
»Vielleicht sollten wir doch lieber nicht zu nahe herangehen«, beginnt Maria vorsichtig, aber es ist zu spät. Mit ein paar energischen Schritten hat Alice Zabriski die Grube erreicht. Sie sieht hinein und erstarrt. Maria bleibt nichts anderes übrig, als ihrem Blick zu folgen.
Zwischen feuchtglänzenden Erdklumpen und Wurzelresten liegen einzelne Knochen. Ein menschliches Becken ist gut zu erkennen. Ebenso der untere Teil einer Wirbelsäule. Eine klauenartige Hand befindet sich auf Höhe des Beckens, und zwei Mittelfußknochen ragen wie makabre Blütenstände aus einem Wurzelstumpf hervor. Aber oberhalb von Schulterblättern und Halswirbelsäule, also dort, wo ein Schädel liegen müsste, ist nichts außer Erdklumpen und kleinen Steinen.
Niemand sagt ein Wort. Die Arbeiter vom Naturschutzamt schauen neugierig auf die beiden Polizisten, die ebenfalls stumm an der Grube stehen und den Anblick auf sich wirken lassen.
Maria flucht innerlich, gestattet sich aber nur einen kleinen Seufzer. Dann hebt sie den Blick und lässt ihn über die idyllische Landschaft gleiten. Sonnenlicht auf Puderschnee, glitzerndes Weiß im leichten Wind. Der würzige Duft nach Schlick und Salz. Und mittendrin diese Knochen in der Grube. Wie alt mögen sie sein? Und woher stammen sie? Kann es sich wirklich um ein steinzeitliches Grab handeln?
Schließlich richtet einer der Beamten das Wort an die Arbeiter. Seine Frage reißt alle Anwesenden aus ihren Überlegungen. »Einen Kopf haben Sie aber nicht gefunden?«
»Nö, bisher nich, ne«, kommt die Antwort in schönstem Platt.
»Aber niemand vergräbt einfach so eine kopflose Leiche«, murmelt Fred Hübner und runzelt die Brauen.
Die Worte kopflose Leiche sind noch nicht verklungen, als Alice Zabriski plötzlich nach Luft schnappt und anschließend einen markerschütternden Schrei ausstößt. Er schallt so weit über die Heide, dass sein Echo von den Dünen zurückgeworfen wird.
Fred Hübner und Maria Wallot blicken sich alarmiert an. Zabriskis Freundin ist vor einem halben Jahr von ihren Entführern enthauptet worden. Und wir haben uns von allen Orten auf der Welt ausgerechnet diesen hier ausgesucht, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Sekunden später sackt Alice Zabriski ohnmächtig zwischen dem Journalisten und der Verlegerin zu Boden.
Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer steigt aus der Dusche, rubbelt sich den Körper ab und hängt dann das Handtuch zum Trocknen auf. Bevor er zum Bademantel greift, wirft er einen skeptischen Blick in den Spiegel. Er hat mit den Jahren einen Bauch bekommen, daran ist leider nicht zu rütteln. Zwar ist er immer noch muskulös und ziemlich durchtrainiert, aber die kleine Wampe will einfach nicht verschwinden. Doch was soll’s. Silja und er kochen und essen nun einmal gern, und es ist vermutlich eher ungewöhnlich, dass Silja nach wie vor gertenschlank ist. Seit er sie vor gut vier Jahren bei seiner ersten Ermittlung auf Sylt kennen- und lieben gelernt hat, hat sie sich kaum verändert. Die schmale Figur, die mädchenhafte Ausstrahlung und die ungeheure, manchmal fast schon verbissene Energie, die sie in ihrem Beruf an den Tag legt, haben ihn von Anfang an fasziniert.
Natürlich war es nicht unproblematisch, ausgerechnet eine Affäre mit einer Kollegin zu beginnen. Aber gegen die Liebe kommt schließlich niemand an. Inzwischen wohnen sie seit über einem Jahr zusammen. Und überraschenderweise hat sogar die sonst so bärbeißige Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen nichts gegen diese Vermischung von Beruflichem und Privatem unternommen.
Bastian schlüpft in den Bademantel, schließt den Gurt vor dem ungeliebten Bauch und verlässt das Bad. In der Küche hört er Silja rumoren.
»Beeil dich, du Faulpelz. Bei anderen steht schon das Mittagessen auf dem Tisch. Ich habe längst Brötchen geholt, und der Kaffee ist auch gleich fertig.«
»Lange ausschlafen und dann noch ein bisschen kuscheln, das macht doch das Wochenende erst schön. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann hast auch du bis vor einer Stunde noch neben mir im Bett gelegen. Aber trotzdem: Du bist die Heldin des Tages! Kann ich gleich, so wie ich bin, kommen, oder soll ich mich noch anziehen?«
»Wir feiern hier doch keine Pyjamaparty. Zieh dich gefälligst an.«
Bastian geht ins Schlafzimmer und angelt sich seine Lieblingsjeans und ein frisches Sweatshirt aus dem Schrank. »Machen wir nach dem Frühstück einen Schneespaziergang am Meer? Da ist es jetzt bestimmt traumhaft schön.«
»Mal sehen. Ich bin schließlich schon durch den Schnee zum Bäcker gestapft.«
»Jetzt tu mal nicht so, als ob wir hier am Nordpol seien und der Schnee meterhoch liegen würde.«
Er betritt die Küche, die sich zum Wohnraum hin öffnet. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, selbst an frische Blumen hat Silja gedacht.
»Oh, Kräuteromelette und Orangensaft. Gibt’s was zu feiern?«
»Vielleicht. Das hängt ein bisschen von dir ab.«
Silja sitzt schon am Tisch und lächelt ihn geheimnisvoll an.
»Hört sich vielversprechend an. Darf ich vorher noch einen Schluck Kaffee trinken?«
Bevor Bastian zur Tasse greifen kann, klingelt das Telefon, das auf dem Tresen zwischen Küchenzeile und Wohnraum steht. Bastian beugt sich weit zur Seite und nimmt den Hörer vom Netzteil. Silja runzelt die Stirn, sagt aber nichts. Aufmerksam beobachtet sie die Gesichtszüge ihres Freundes: Ärger über die unverhoffte Störung steht darin, dann Überraschung und schließlich Entsetzen.
Als Bastian das Gespräch beendet, sagt er leise: »Wir kommen früher als gedacht zu unserem Schneespaziergang. Aber nicht am Weststrand, sondern am Watt. In der Morsumer Heide haben sie beim Graben menschliche Knochen gefunden. Die müssen wir uns ansehen.«
»Wer ist sie?«
»Irgendwelche Naturpfleger, die für die Landschaftsschutzgebiete zuständig sind.«
»Und wie alt sind die Knochen?«
»Jedenfalls nicht von vorgestern. Es gibt keinerlei Gewebereste, und Kleidung lag auch nicht dabei.«
»Hört sich nicht gut an.«
»Das Schlimmste weißt du noch gar nicht. Das Skelett ist annähernd komplett, aber der Schädel fehlt.«
Silja wird bleich. Sie schließt die Augen und atmet einmal tief durch. »Ist Dr. Bernstein schon informiert?«
»Die Kollegin von der Wache ruft ihn an. Unser verehrter Rechtsmediziner wird sicher hocherfreut sein, wenn er so unsanft aus seiner geliebten Wochenendroutine gerissen wird. Aber damit ist er nicht allein.« Bastian lässt seinen Blick bedauernd über den liebevoll gedeckten Frühstückstisch wandern. »Ich habe mich so sehr auf ein entspanntes Wochenende mit dir gefreut.«
»Dann iss wenigstens ein Brötchen, bevor wir aufbrechen. Wenn die Leiche schon so lange in der Heide gelegen hat, dass nur noch die Knochen übrig sind, kommt es auf ein paar Minuten auch nicht mehr an.«
Bastian nickt und greift zu. Allerdings sieht er, dass Silja ihre Kaffeetasse unschlüssig zwischen den Fingern dreht, ohne das Frühstück auch nur anzurühren. »Dir ist der Appetit gründlich vergangen, oder?«
»Ich wollte was mit dir besprechen, aber das muss jetzt warten.«
»Du machst mich neugierig, und du weißt, das kann ich schlecht aushalten. Komm, sag schon!«
Sie lächelt schmal. »Wart’s ab.« Dann steht sie auf und geht ins Bad, wo sie sich die Zähne putzt.
Bastian denkt nach. Silja hat nächsten Monat Geburtstag, vielleicht hat sie sich etwas Besonderes überlegt? Oder sie hat noch einen speziellen Wunsch? Er wird sie fragen. Heute Abend, wenn diese Sache am Morsum Kliff geklärt ist. Alte Knochenfunde, was soll schon Großartiges daran sein. Bastian schiebt sich das letzte Brötchenstück in den Mund und steht auf. In der Diele schlüpft Silja bereits in ihre Winterstiefel.
»Kann’s losgehen?«
»Von mir aus immer.«
Thieß Hansen fühlt sich unwohl. Seit Stunden schon drückt er sich in den Morsumer Dünen herum, immer darauf bedacht, dass die ehemaligen Kollegen ihn nicht entdecken. Als er heute früh den frischen Schnee gesehen hat, wählte er helle Kleidung, sogar eine weiße Pudelmütze hat er aufgesetzt. Und jetzt steht er gut verborgen durch einen mit hohem Gras bewachsenen Dünenhügel mit dem Rücken zum Watt und dem Gesicht zur Heide.
Seufzend lässt Thieß den Feldstecher sinken. Es ist gar nicht so einfach, plötzlich Rentner zu sein. Jahrzehntelang hat er die Pflege der Naturschutzgebiete auf der Insel koordiniert. Er hat für seinen Job gelebt und sich mehr engagiert, als irgendjemand je von ihm gefordert hätte. Seit September letzten Jahres ist er im Ruhestand, und seitdem hat sich alles verändert.
Was hat er davon, dass er theoretisch ausschlafen könnte, so lange er will, wenn er doch jeden Morgen um halb sieben aufwacht? Und auch die Aussicht, nicht nur ein paar schnelle Blicke in die Zeitung zu werfen, sondern sich ganz gemütlich der Lektüre hingeben zu können, war verlockender, als es nun die Realität ist. Seit er endlos Zeit hat, kommt es ihm so vor, als stünde in der Zeitung jeden Tag das Gleiche. Und die Radionachrichten, die er immer auf dem Weg zur Arbeit gehört hat, sind ohnehin aktueller.
Thieß’ Rente ist nicht schlecht, und eigentlich könnte er sich die Welt ansehen, bevor es zu spät ist. Mit seiner Frau ist er immer gern verreist, sie beide sind im Auto durch ganz Deutschland kutschiert. Aber Wiebke ist vor sieben Jahren an Krebs gestorben, und allein hat er einfach keine Lust zum Reisen.
Ja, er vermisst seinen Job mehr, als er je zugeben würde. Er vermisst seine Kollegen, er vermisst es, ihre Arbeitspläne zu erstellen und die durchgeführten Arbeiten zu kontrollieren und auszuwerten. Und am meisten vermisst er es, immer wieder durch die Heide zu stapfen, den würzigen Geruch einzuatmen und das gute Gefühl zu genießen, dass er dafür sorgen kann, das Gleichgewicht der Pflanzen zu erhalten.
Natürlich darf er auch als Privatmann endlos durch die Sylter Heide spazieren, aber eben nur auf den vorgegebenen Wegen und ohne Weisungsbefugnis, falls ihm etwas Ungutes auffallen sollte. Und das ist längst nicht das Gleiche.
Also treibt er sich immer wieder in der Nähe der ehemaligen Kollegen herum, beobachtet mit Argusaugen und oft auch mit dem Fernglas die Arbeit seines Nachfolgers und bemüht sich natürlich, möglichst unsichtbar zu sein. Ein Unterfangen, das nicht ganz leicht ist bei den weiten Sylter Horizonten. Manchmal hat er sich sogar schon kostümiert, unmögliche Sachen angezogen, in denen die ehemaligen Kollegen ihn nie vermuten würden, und schrille Hüte aufgesetzt.
Ab und an gönnt er es sich, tatsächlich den zufälligen Spaziergänger zu markieren und die Kollegen anzusprechen. Das is ja ’n Ding, das wir uns über den Weg laufen. Seit wann seid ihr hier und was macht ihr gerade? So was in der Art.
Die Reaktion der Kollegen ist immer positiv, sie freuen sich sichtbar, ihn zu sehen, und lassen sich gern auf einen Schwatz ein. Aber Thieß macht sich keine Illusionen darüber, dass sie ihn ganz schnell als Stalker einstufen würden, wenn sie wüssten, wie oft er auf ihren Spuren unterwegs ist. Sie würden sich bestenfalls über ihn lustig machen, schlimmstenfalls würde sein Nachfolger sich überwacht fühlen. Das fehlte noch.
Also hält Thieß Hansen sich versteckt.
Das tut er auch jetzt, obwohl es ihm unendlich schwerfällt. Denn irgendetwas haben die Kollegen beim Aushub der Kartoffelrosen entdeckt. Warum sonst hätten sie die Polizei gerufen? Und jetzt haben die Beamten auch noch Verstärkung bekommen. Der Mann und die Frau in Jeans und Daunenjacken, die gerade angekommen sind, wirken zwar wie Privatleute und sind auch aus einem Privatwagen gestiegen, aber ihr Gebaren ist durch und durch professionell. Wenn Thieß sich recht erinnert, hat er zumindest den bulligen Mann schon einmal gesehen. Das war vor gut vier Jahren, als die ganze Insel in Aufruhr war, weil in kurzem Abstand drei kleine Mädchen verschwanden. Und es gab nicht die leiseste Spur. Bei aufkommendem Sturm und Starkregen hat die Kripo am Weststrand schließlich die Kleidung eines der drei Mädchen gefunden. Damals ist Thieß als beratender Fachmann mit von der Partie gewesen. Und der stämmige Mann da drüben, dessen Körper in der Daunenjacke wie aufgeblasen aussieht, hat den Einsatz geleitet. Er ist also von der Kriminalpolizei.
Thieß gäbe einiges dafür, auch zu sehen, was sich neben dem Bagger in der Grube befindet, über die sich immer wieder alle beugen. Aber er hält sich zurück. Mehr noch, er macht sich aus dem Staub. Nach einem letzten Blick durch den Feldstecher verstaut er ihn in seinem Futteral und klettert von der Düne. Dann steigt er hinunter zum Watt. Keinesfalls wird er es riskieren, den Kollegen jetzt noch in die Arme zu laufen. Er wird die klare Winterluft genießen und am Wasser entlang bis nach Morsum stapfen, wo er am Bahnhof seinen Wagen geparkt hat. Und er wird sich beeilen.
Nicht, dass die da drüben noch auf die Idee kommen, einen Suchtrupp durch die Dünen zu schicken. Bei der Kriminalpolizei weiß man ja nie. Es wäre zu blöd, wenn seine heimlichen Aktionen ausgerechnet in einem so heiklen Zusammenhang auffliegen würden.
»Wann ist der Mensch dort unten wohl gestorben?«
Hauptkommissar Bastian Kreuzer blickt fragend zu dem Rechtsmediziner Dr. Olaf Bernstein, der mit griesgrämiger Miene und sehr schweigsam seit einigen Minuten neben der ausgehobenen Grube steht. Zu seinen üblichen Cordhosen und den ausgetretenen Schuhen mit den dicken Kreppsohlen trägt er eine uralte Barbour-Jacke, die ihm viel zu groß ist und an seiner hageren Gestalt wie an einer Vogelscheuche hängt. Unter der Jacke lugt der dicke Rollkragen eines Norwegerpullis hervor.
»Sie wollen den Todeszeitpunkt wissen? Jetzt gleich? Na, Sie sind lustig.« Dr. Bernstein wirft Bastian einen spöttischen Blick zu.
»Ich wollte ja nur eine grobe Einschätzung«, versucht dieser sich zu rechtfertigen. »Also sind die Knochen jetzt eher hundert oder eher zehn Jahre alt?«
Der Rechtsmediziner schweigt einige Sekunden, bis er sich schließlich zu einer Antwort herablässt. »Einesteils haben wir hier am Kliff fast reine Sandböden«, nuschelt er. »Die sind für eine schnelle Verwesung ideal. Da kann bei günstigen Bedingungen eine Leiche schon nach fünf Jahren skelettiert sein.«
»Und was sind in diesem Fall günstige Bedingungen?«, erkundigt sich Silja.
»Trockenheit. Je weniger Wasser von außen an die Leiche kommt, umso ungestörter können die inneren Verwesungsprozesse ablaufen. Deswegen sind bei Wüstenvölkern Särge überflüssig. Die vergraben ihre Leichen nur in Tücher verpackt im Sand. Bei uns braucht’s die Särge, um das Wasser von außen abzuhalten, damit innen alles nach Plan ablaufen kann.«
»Aber hier regnet es doch ziemlich oft«, wirft Bastian ein.
»Das schon. Allerdings kann die Feuchtigkeit durch den losen Boden ebenso schnell wieder abfließen. Sie staut sich nicht um den Leichnam herum. Und wenn ich das richtig einschätze …«, der Rechtsmediziner beugt sich so tief zu dem Skelett herunter, dass Bastian und Silja erschrockene Blicke tauschen. Beide fürchten, er könne in die Grube rutschen. Doch Bernstein hält problemlos das Gleichgewicht. »Also wenn ich das richtig einschätze, dann sind die kleinen Skelettteile auch schon verwest. Zehenknöchelchen kann ich beispielsweise überhaupt nicht entdecken.«
»Das heißt?«
»Ganz grob geschätzt ist dieser Mensch da unten vor acht bis fünfzehn Jahren gestorben. Auf keinen Fall liegt er schon länger als zwanzig Jahre hier.« Er richtet sich wieder auf und reibt die Handflächen an seiner Cordhose ab, als habe er bereits Kontakt mit den Knochen gehabt. »Genaueres kann erst eine forensische Untersuchung ergeben. Und das dürfte dauern.«
»Bevor wir die Knochen überhaupt bergen können, muss die Kriminaltechnik eine Fotodokumentation machen.« Bastian zieht das Handy aus der Tasche. »Ich sage gleich in Flensburg Bescheid. Aber vor heute Nachmittag sind die bestimmt nicht hier. So lange müssen die uniformierten Kollegen das Grab sichern.«
Bernstein nickt. Er wirkt allerdings, als sei er nicht ganz bei der Sache. »Wo ist eigentlich der Kopf?« Sein Tonfall hört sich fast beiläufig an.
»Das wüssten wir auch gern.«
»Wenn wir den hätten, könnten wir einen Zahnstatus nehmen. Das hilft meistens. Vor allem bei Kindern, die ja regelmäßig zum Schulzahnarzt gehen und dann häufig eine Spange tragen müssen.«
»Bei Kindern?« Silja und Bastian sagen es wie aus einem Mund.
»Das da unten ist höchstwahrscheinlich ein Kinderskelett, das müssen Sie doch selbst gesehen haben. Mit Kopf nicht größer als einhundertfünfzig, höchstens einhundertfünfundfünfzig Zentimeter.« Bernstein hebt fragend die Augenbrauen und blickt von Bastian zu Silja, als könne er nicht fassen, dass dieser Umstand den Ermittlern entgangen sein sollte. Andererseits scheint ihn genau das zu weiteren Spekulationen herauszufordern. »Und wenn ich eine vorsichtige und höchst vorläufige Einschätzung hinzufügen darf …«, beginnt er, wobei sich ein gänzlich unangebrachtes, fast schelmisches Lächeln auf sein Gesicht stiehlt. »Ich halte es für ein weibliches Skelett. Für die Größe des Körpers ist die Hüfte unverhältnismäßig breit. Das wäre sicher eine junge Dame mit einem recht gebärfreudigen Becken geworden.«
»Ich … wir … also wir haben …«, keucht Silja, dann bricht sie ab, dreht sich abrupt um und läuft mit schnellen Schritten ein Stück die Straße hinauf.
»Was ist los mit Ihrer Kollegin?«, will Bernstein wissen.
Bastian antwortet nicht, sondern eilt seiner Freundin hinterher. Als er sie eingeholt hat, sieht er, dass sie kreidebleich ist. Er nimmt sie fest in den Arm.
»Ein Kind! In dieser Grube da hinten liegt ein junges Mädchen, Bastian«, schluchzt sie.
»Du denkst an deine Schwester?«
Silja nickt unter Tränen. Ein paar Sekunden lang klammert sie sich wortlos an ihm fest, dann platzt es aus ihr heraus: »Franziska war elf, als dieses Monster sie missbraucht und ermordet hat.«
»Das weiß ich doch. Aber …« Bastian stockt. Er scheut sich, das Unsagbare auszusprechen. Schließlich gibt er sich einen Ruck. »Du glaubst, hier könnte ein weiteres Opfer liegen?«
Silja schüttelt unter Tränen den Kopf. »Eigentlich nicht. Wir haben in Niebüll gelebt, als Franziska … als das geschah.« Sie schnieft und sucht nach einem Taschentuch. Als sie sich geschnäuzt hat, redet sie weiter. »Auch das zweite missbrauchte Mädchen ist damals auf dem Festland gefunden worden. Nichts spricht also für einen Täter von der Insel. Aber trotzdem … Beim Anblick dieser Knochen war plötzlich alles wieder da. Die Verzweiflung, das Bangen und am nächsten Morgen dann die furchtbare Gewissheit, dass wir sie nur noch begraben konnten. Entschuldige, dass ich so unprofessionell reagiere, aber es fühlt sich gerade so an, als sei es erst gestern passiert.«
Sie bricht ab und blickt verstört hinüber zu der Grube, die den grausigen Fund birgt. Behutsam dreht Bastian sie zu sich um.
»Es ist vollkommen normal, dass dich diese Sache aufregt. Am besten wird es sein, du fährst erst mal nach Hause und beruhigst dich etwas. Ich koordiniere hier den Rest und komme dann so schnell es geht nach. Okay?«
Silja nickt und wischt sich kurz über Gesicht. »Am Montag habe ich mich bestimmt wieder unter Kontrolle, dann gehen wir das Ganze gemeinsam an.«
»Ist gut. Nimm du ruhig den Wagen, ich komm schon zurück.«
»In Bernsteins Klapperkiste? Viel Spaß!« Silja zwinkert ihm zu.
Erleichtert atmet Bastian durch. »Na siehst du, es wird schon wieder.« Mit einem aufmunternden Lächeln wirft er ihr die Autoschlüssel zu.
»Muss ja«, antwortet Silja und greift sich die Schlüssel aus der Luft.
Die Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen liegt in ihrer Badewanne und plätschert entspannt in den Schaumbergen. Nach einer langen und anstrengenden Joggingtour durchs nasskalte Flensburg hat sie sich das luxuriöse Bad hinreichend verdient, findet sie und greift nach dem Becher mit duftendem grünen Tee, der auf dem Wannenrand neben dem Handy steht. Während sie noch trinkt, klingelt das Telefon. Es ist der Sylter Journalist Fred Hübner, mit dem Elsbeth seit anderthalb Jahren liiert ist.
»Hallo, schöne Frau. Wobei störe ich denn?«
Anstelle einer Antwort plätschert Elsbeth etwas lauter.
»Oh, verstehe. Madame entspannen sich in heißem Wasser. Sehr vernünftig bei diesen Temperaturen.«
»Ich hab vorhin schon gesportelt. Jetzt bin ich völlig durchgefroren. Und du? Hast du die Archäologin schon kennengelernt?«
»Hab ich. Die ersten zwanzig Minuten liefen gut, aber dann haben irgendwelche Naturschützer direkt neben dem Hotel ein paar Knochen ausgegraben, und Alice Zabriski ist prompt zusammengeklappt.«
»Wegen ein paar Knochen? Ich dachte, sie sei Archäologin?«
»Es war ein Skelett, dem der Kopf fehlte.«
»Enthauptet. Pikant.«
»Nix pikant. Sei nicht so zynisch. Das hat die gute Frau natürlich an das furchtbare Schicksal ihrer Freundin erinnert.«
»Verstehe. Hat sie sich halbwegs wieder eingekriegt?«
»Keine Ahnung. Wir haben sie wiederbelebt, dann ist sie auf ihr Zimmer gegangen und wurde seitdem nicht mehr gesehen.«
»Und die Knochen?«
»Liegen bestimmt schon seit Jahren dort. Hab von meinem Hotelfenster aus gesehen, dass Kreuzer und die kleine Blanck vor Ort sind. Wobei die auch nicht ganz stabil zu sein scheint.«
»Die wirft doch sonst so schnell nichts aus der Bahn. Sah das Skelett denn so gruselig aus?«
»Überhaupt nicht. Eher wie im Biologieunterricht.«
»Warte mal kurz, ja?« Elsbeth legt das Handy zur Seite und trinkt noch einen Schluck Tee. Dann erhebt sie sich aus der Wanne. Ihre roten Locken kleben auf Schultern und Rücken, als sie nach einem Handtuch greift, um ihren üppigen Körper trocken zu rubbeln.
»Könntest du wohl kurz den Bildschirm zuschalten?«, quakt es aus ihrem Handy.
»Lüstling«, ruft sie zurück, wickelt sich in das Handtuch, setzt sich auf den Badewannenrand und nimmt das Handy wieder in die Hand. Dann wird ihr Tonfall professionell. »Weiß Bernstein schon Bescheid?«
»Der ist, glaube ich, immer noch da draußen in der Heide. Aber was soll er schon sagen? Das ist eher ein Fall für einen Anthropologen.«
»Ich rufe ihn nachher trotzdem an. Werde aber höflichkeitshalber auf die offizielle Benachrichtigung durch Kreuzer warten.« Sie trinkt noch einen Schluck Tee, bevor sie weiterredet. »Bei einer Leiche ohne Kopf muss unser geschätzter Hauptkommissar alle Register ziehen. Sämtliche Cold Cases durchwühlen. Das wird ihm gar nicht passen.«
»Stimmt. Ein klassischer Aktenfresser sieht anders aus.« Fred lacht leise am anderen Ende der Leitung.
»Höre ich da so etwas wie Schadenfreude heraus?«
»Du weiß genau, dass Kreuzer und ich alte Feinde sind. Auch wenn wir zwischenzeitlich einen Waffenstillstand geschlossen haben.«
Elsbeth kichert. »Er ist bestimmt begeistert, wenn er herausfindet, dass du zurzeit direkt neben der Fundstelle wohnst. Wie lange soll euer Treffen übrigens dauern?«
»Geplant sind drei Tage.«
»Und wie ist sie so?«
»Die Archäologin? Traumatisiert, hab ich doch schon gesagt.«
»Die meine ich nicht. Ich rede von der Verlegerin. Hab mir Fotos im Internet angesehen. Diese Maria Wallot entspricht ziemlich genau deinem Beuteschema. Klug, attraktiv, erwachsen. Und sie ist gerade solo, habe ich gelesen.«
»Willst du mich jetzt verkuppeln, oder was?«
»Im Gegenteil. Ich will dich warnen. Es ist nie eine gute Idee, den Zorn einer Staatsanwältin auf sich zu ziehen. Das ist dir hoffentlich klar.«
»Sonnenklar, meine Liebste. Aber vielleicht möchtest du ja zu uns stoßen und mich persönlich überwachen?«
»Ich werde darüber nachdenken«, antwortet Elsbeth von Bispingen, haucht einen Kuss durch die Leitung und unterbricht die Verbindung.
Maria Wallot liegt auf ihrem Hotelbett und schaut aus dem Fenster. Ihr Blick gleitet über Heide und Dünen bis zum Wattenmeer. Sie bemüht sich nach Kräften, die Aussicht zu genießen, aber immer wieder schieben sich die Bilder vom Mittag dazwischen. Die körnige Erde, die Wurzelreste, die Knochen. Porös und zerbrechlich wirkten sie da unten in der Grube, ziemlich unwirklich und doch erschreckend real. Beine, Becken, Wirbelsäule, Arme, Schulterblätter, alles war im grellen Mittagslicht gut zu erkennen. Nur da, wo der Schädel hätte liegen müssen, war … einfach nichts.
Kein Wunder, dass Alice Zabriski bei diesem Anblick zusammengebrochen ist. Zum Glück kam sie schnell wieder zu sich, wenn sie auch danach noch etwas verwirrt schien. Immerhin konnte sich die Archäologin, gestützt von Fred Hübner, zurück ins Hotel schleppen, wo sie sich nach einem kräftigen Schnaps und unter gutem Zureden schließlich beruhigte. Eine kleine Verschnaufpause würde Alice Zabriski guttun, befand Maria schließlich und war heilfroh, dass ihr Gast sich folgsam auf sein Zimmer führen ließ. Es liegt direkt neben ihrem eigenen. Dort rumorte Alice Zabriski noch eine Zeitlang herum, wie Maria deutlich hören konnte, aber irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn seit zwei Stunden herrscht drüben Funkstille.
Zwei Stunden, in denen Maria gründlich darüber nachdenken konnte, ob und wie der grausige Fund ihre Planungen beeinflussen wird. Vielleicht werden sie alle drei mehr Zeit brauchen. Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Zeit, um etwas Gemeinsames zu entwickeln. Ein Anruf an der Rezeption stellte sicher, dass die drei Zimmer auch für den Rest der nächsten Woche noch buchbar wären, was Maria beruhigte. Zunächst. Natürlich hat sie auch darüber nachgedacht, das Quartier zu wechseln. Aber würde das dem Knochenfund nicht eine zusätzliche Bedeutung verleihen, die Alice Zabriski vielleicht noch mehr verstören könnte?
Nein, sie werden hierbleiben und das Ganze so normal wie irgend möglich handhaben. Maria kann nur hoffen, dass die Knochen bald abtransportiert werden. Und bis dahin sollten sie und Fred Hübner tunlichst dafür sorgen, dass Alice Zabriski ein weiterer Blick in die Grube erspart bleibt.
Weil Maria die Straße von ihrem Fenster aus nicht sehen kann, zieht sie sich an und geht hinunter, um einen Kontrollblick auf die Fundstelle zu werfen. Leider hat sich dort noch nicht wirklich etwas getan. Das Areal ist mit Flatterband abgesperrt, zwei Beamte in Uniform frieren sich am Grubenrand die Beine ab, und unten liegen immer noch die Knochen. Da die Wintersonne schon sehr tief steht, wirkt das Ganze jetzt deutlich unheimlicher und erheblich düsterer als unter der Mittagssonne.
»Wissen Sie, wann man das alles abholen wird?«, erkundigt sich Maria.
»Angeblich ist ein Spezialist aus Flensburg unterwegs.« Der angesprochene Polizist wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Schon fast fünf. Der müsste jeden Moment hier sein, nach dem, was Hauptkommissar Kreuzer gesagt hat.«
»Im Dunkeln kann er ja ohnehin nicht mehr viel machen, oder?«
»Wenn Sie wüssten, was wir für starke Scheinwerfer im Wagen haben …«
»Ach so? Aber heute Abend kommen die Knochen doch sicher noch weg, oder?«
»Ist nicht unsere Entscheidung, gute Frau.«
Maria seufzt und wünscht den beiden Beamten einen schönen Feierabend, dann geht sie zurück ins Hotel. Ein kurzer Blick in den Speisesaal und ein zweiter zur Bar beruhigen sie. Noch scheint Alice Zabriski ihr Zimmer nicht verlassen zu haben. Ob sie sie wecken soll? Wäre vielleicht besser, denn aus eigener leidvoller Erfahrung weiß Maria, dass jemand, der tagsüber zu lange schläft, dafür gerne mal nachts länger wach liegt. Und die Gedanken, die einen bei dieser Gelegenheit einholen können, sind nicht immer die angenehmsten.
Also klopft die Verlegerin an Alice Zabriskis Zimmertür. Erst zaghaft, dann fordernder. Nichts rührt sich drinnen. Kein Schnaufen, kein Husten und schon gar keine tapsenden Schritte sind zu vernehmen. Maria klopft noch ein weiteres Mal, diesmal laut und lange. Nichts.
»Frau Zabriski?«, ruft sie schließlich durch die geschlossene Tür. »Frau Zabriski, sind Sie wach?«
Keine Antwort.
Jetzt donnert Maria mit der Faust gegen die Tür. Nichts regt sich drinnen.
Dafür öffnet sich eine andere Tür weiter hinten am Gang, und Fred Hübner mustert sie irritiert.
»Alles in Ordnung? Sie scheuchen ja das ganze Hotel auf.«
»Ich wollte mit Alice Zabriski reden. Aber sie reagiert einfach nicht.«
Mit wenigen Schritten ist Fred Hübner bei ihr.
»Frau Zabriski, wir sind es. Bitte machen Sie doch auf!«
Als wieder nichts passiert, wechseln beide einen besorgten Blick. Schließlich spricht Maria es aus: »Sie wird sich doch nichts angetan haben.«
»Moment, das haben wir gleich.«
Fred Hübner eilt zur Treppe und nach unten. Sekunden später ist er mit einer Mitarbeiterin des Hotels wieder oben. Nach erneutem Klopfen und Rufen öffnet diese die Zimmertür mit der Generalkarte.
Der Raum ist leer, das Bett unberührt.
»Sie hat gar nicht geschlafen«, japst Maria. Dann wendet sie sich an die junge Frau von der Rezeption. »Haben Sie Frau Zabriski vielleicht weggehen sehen?«
»Das nicht. Aber ich war auch nicht immer hinter dem Tresen. Vielleicht ist sie ja einfach nur unten in der Sauna.«
Alle drei hasten ins Tiefgeschoss. Maria reißt zweimal hintereinander die Türen der Wärmekabine und der finnischen Sauna auf. Nichts. Es liegen auch keine benutzten Handtücher in den Körben und keine gebrauchten Teebeutel im Abfallbehälter.
»Hier war sie auch nicht«, stellt Fred Hübner schließlich fest.
»Abgereist kann sie aber nicht sein, ihre Tasche stand ja noch unausgepackt oben im Zimmer«, fügt Maria hinzu.
»Vielleicht hat sie einen Spaziergang gemacht?«, schlägt die Angestellte vor.
»In ihrem Zustand? Und dann an der Grube da draußen vorbei? Hoffentlich nicht.« Fred Hübner rollt mit den Augen.
»Wir gehen raus und fragen die Beamten, die die Fundstelle bewachen«, entscheidet Maria und stürmt wieder nach oben. Fred Hübner hinterher.
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Neben der Grube parkt ein Kastenwagen, auf dessen Ladefläche einige Taschen stehen. Zwei starke Scheinwerfer sind am Rand der Grube aufgebaut. Sie leuchten nach unten und tauchen die Knochen in grelles Licht. Ein Mann im weißen Overall hockt neben dem Skelett und betastet vorsichtig die Fundstücke. Die beiden Polizisten wärmen sich währenddessen im Fond des Kastenwagens auf. Als Maria an die Fensterscheibe klopft, lassen sie das Glas nur widerwillig herunter.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Die Frau, die heute Mittag hier zusammengebrochen ist. Haben Sie die später noch mal gesehen?«
Die Männer blicken sich an, dann nicken sie gleichzeitig. »Die Dünne in dem komischen Rock? Ja, die war noch mal hier. Hat lange da runtergestarrt und ist dann weggehetzt, als ob der Teufel persönlich hinter ihr her wäre. War ’ne ziemlich komische Nummer.«
»In welche Richtung ist sie gelaufen?«
Die Polizisten deuten die Straße hinauf nach Osten, zum Ende der Insel hin. Maria stöhnt.
»Warum, um Himmels willen, haben Sie keinen Alarm geschlagen? Sie haben ja am Mittag schon gesehen, wie die Frau reagiert hat.«
»Wir sind doch keine Kindermädchen für überempfindliche Touristen.«
»Alles klar. Vielen Dank für Ihre Umsicht!« Wütend wendet sie sich ab. Dann sieht sie Fred Hübner fragend an. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir gehen sie suchen. Was sonst?«
»Hier draußen? Morsum ist einer der dunkelsten Flecken Deutschlands. Ideal zum Sterne-Beobachten. Aber ganz bestimmt nicht geeignet, um nachts durch die Heide zu stolpern.«
»Und wenn sie einfach nur zum Bahnhof gelaufen und nach Westerland gefahren ist, um sich abzulenken?«
»Wäre sie so cool drauf gewesen, hätte sie uns sicher vorher Bescheid gesagt. Außerdem geht’s zum Bahnhof in die andere Richtung.«
»Dann müssen wir wohl bis morgen früh warten und hoffen, dass sie wieder auftaucht.«
»Na, Sie haben Nerven. Die Frau ist extrem suizidgefährdet, das muss Ihnen doch klar sein.« Maria schließt die Augen und atmet einmal tief durch. Dann sagt sie entschieden: »Ich weiß, was wir machen. Wir alarmieren die Polizei.«
Kriminaloberkommissar Sven Winterberg stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz neben dem Backsteingebäude ab und steigt aus dem Auto. Sven ist schlank und sportlich, seine dunklen Locken trägt er kurz geschnitten. Im Mund hat der Kommissar noch den Geschmack des köstlichen Plundergebäcks, das auf der Insel den Namen »Bürgermeister« trägt. Es besteht aus Blätterteig, der mit Marzipan gefüllt und jede Kaloriensünde wert ist. Jedenfalls behauptet das Svens Frau Anja, die seit der Geburt ihres kleinen Nachzüglers Max ein bisschen mehr als früher auf ihre Figur achten muss. Aber heute waren Svens Eltern zum Kaffee bei ihnen, und alle haben kräftig zugelangt. Die Stimmung war gut, vor allem, weil der kleine Max zur Freude der Eltern und der Großeltern seine ersten Schritte getan hat. Mit äußerst konzentriertem Gesicht wankte er vom Tischbein zu seiner Mama, wo er sich, vielleicht aus Erschöpfung, vielleicht auch wegen des unerwarteten Jubels fallen ließ. Sogar Mette, die zwölfjährige Tochter der Winterbergs, konnte ihre Rührung nicht verbergen. »Er läuft, wie niedlich ist das denn«, hat sie gejuchzt.
Dann platzte Bastian Kreuzers Anruf in die allgemeine Aufregung. Svens Vorgesetzter ist schon lange ein Freund der Familie. Aber gleich bei Bastians ersten Worten war klar, dass dies ein dienstlicher Anruf werden würde.
»Sven, tut mir leid, dass ich dich stören muss, aber ich brauche dich. Die Hütte brennt, und zwar an zwei Ecken gleichzeitig.«
»Muss das sein? Wir haben die Eltern hier, und Klein-Mäxchen ist gerade unter die Läufer gegangen.«
»Lass stecken und komm her. In der Morsumer Heide haben Landschaftsschützer ein Gerippe ohne Kopf ausgegraben. Und nach einer potenziellen Selbstmörderin müssen wir auch noch suchen.«
Mit diesen Sätzen im Kopf ist Sven so schnell wie möglich nach Westerland ins Kriminalkommissariat gedüst. Jetzt verriegelt der Oberkommissar seinen Wagen und eilt ins Gebäude. Er grüßt erst den Pförtner, dann den wachhabenden Beamten, der hinter dem Tresen irgendwelche Akten sortiert. Der Beamte sieht nur kurz auf, murmelt: »Ist ja mächtig was los heute in der Heide«, dann widmet er sich weiter seinen Unterlagen. Sven spart sich jeden Kommentar und läuft die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo die Kriminalpolizei ihre Räume hat.
Als er den großen Büroraum betritt, in dem die Schreibtische der drei Kommissare stehen, blickt Bastian Kreuzer erleichtert von seinem Rechner auf.
»Gut, dass du da bist. Ist nicht besonders lustig, in den Akten von verschwundenen Kindern zu wühlen.«
»Wieso Kinder?«, fragt Sven alarmiert.
»Das Skelett in der Heide gehört höchstwahrscheinlich zu einem Mädchen, geschätztes Alter: zwischen zehn und vierzehn Jahren. Eher vierzehn, der Größe nach zu urteilen. Genauer konnte Bernstein das nicht sagen. Allerdings ist gerade ein Fachmann vor Ort, der hat zwar die Schätzung aufgrund der Größe der Handwurzelknochen vorläufig bestätigt. Aber er nimmt alles mit und untersucht es noch gründlich.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Erstens sind in den letzten Jahren keine Kinder auf Sylt verschwunden und zweitens …« Sven bricht ab und rauft sich kurz die Haare. »Wie lange liegt dieses Skelett denn schon in der Heide?«
»Zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Das heißt, dass das Mädchen etwa genauso lange tot ist, wie es vorher gelebt hat.«
Sven lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Ich glaube, ich brauch jetzt einen Schnaps.« Dann weist er auf Bastians Rechner. »Gab’s denn damals irgendwelche unaufgeklärten Fälle?«
»Leider ja. Gitta Kaltenbach, eine vierzehnjährige Schülerin aus Rantum, kam vor ziemlich genau vierzehn Jahren nicht von einem Kinobesuch in Westerland zurück. Zeitlich würde das also passen. Niemand hatte sie nach dem Ende der Vorstellung gesehen, und es hat auch niemand nach ihrem Verschwinden noch irgendetwas von ihr gehört. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«
»Und du meinst, das könnte sie sein?«
Bastian weist auf einen dicken Aktenstapel, der vor ihm liegt. »Damals haben die Kollegen in mehrere Richtungen ermittelt. Man hielt es offenbar auch für möglich, dass Gitta einfach ausgebüxt ist. Sie galt als frühreif und hatte es zu Hause nicht besonders komfortabel.«
»Aber das ist noch lange kein Grund wegzulaufen, oder?«
Bastian seufzt. »Eigentlich nicht. Liebe hat ja nichts mit Geld zu tun. Allerdings ist Gitta Kaltenbach schon vor ihrem endgültigen Verschwinden zweimal weggelaufen und erst auf dem Festland wieder aufgegriffen worden. Beim ersten Mal in Niebüll, beim zweiten Mal ist sie bis Hamburg gekommen. Reeperbahn.«
»Mit vierzehn?« Sven Winterberg denkt unwillkürlich an Mette, die er vor einem halben Jahr beim Tindern erwischt hat. Mit zwölf! Die heftige Reaktion ihres Vaters hat Mette schwer verschreckt, und Sven kann nur hoffen, dass sie derartige Unternehmungen in Zukunft lässt. Die Erinnerung an diese unschöne Geschichte hat den Oberkommissar abgelenkt. Jetzt sieht er Bastian entschuldigend an. »Was hast du gerade gesagt?«
»Als Gitta Kaltenbach nach Hamburg abgehauen ist, war sie erst dreizehn. Muss ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein.«
»Scheint so. Trotzdem sind für ihr drittes Verschwinden andere Ursachen möglich. Theoretisch könnte sie sehr wohl unsere Tote sein.«
»Auf jeden Fall. Das wird der Forensiker klären müssen. Der Vater lebt nicht mehr, aber die Mutter schon. Ich habe das prüfen lassen. Sie ist kurz nach dem Tod ihres Mannes von Rantum nach Keitum gezogen. Vermutlich hat sie es in der alten Wohnung nicht mehr allein ausgehalten, nachdem niemand von ihrer Familie mehr da war.«
»Wir werden sie um eine DNA-Probe bitten müssen«, seufzt Sven. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und schließt kurz die Augen. »Es ist schon hart, wenn man einer Mutter nur ihr totes Kind wiedergeben kann.«
»Immerhin hätte die Mutter dann Gewissheit und könnte vielleicht Ruhe finden«, wirft Bastian ein. »Aber so weit sind wir noch lange nicht.«
Er beginnt in seinem Aktenstapel zu wühlen, bis er eine schmale Mappe herauszieht. Er tippt mit dem Finger darauf und sagt: »Damals hat man zwar mit Spürhunden in Rantum und auch in Westerland gesucht, aber natürlich hat niemand die ganze Insel abgeklappert. Und die Morsumer Heide ist ja nun wirklich ziemlich abgelegen. Es ist also möglich, dass wir diesen alten Fall noch mal ganz neu aufrollen müssen.«
»Kann man denn dem Skelett irgendwelche Gewaltanwendung ansehen?«
»Frag mich was Leichteres. Auf jeden Fall kann man ihm ansehen, dass der Kopf fehlt. Und den sollten wir jetzt möglichst schnell finden.«
»Darüber habe ich schon während der ganzen Fahrt nachgedacht: Warum liegt der Kopf woanders?«
»Irgendwelche Vorschläge? Spekulationen sind hochwillkommen.«
»Es gibt eigentlich nur eine Erklärung. Der Kopf verrät uns etwas über den Mörder, das uns das restliche Gerippe nicht verrät.«
»Oder über die Tote. Allerdings wissen wir nicht, ob wir diese Spuren auch noch nach mehr als zehn Jahren werden lesen können.«
Sven nickt. Dann sagt er irritiert: »Andere Frage: Wo ist Silja?«
Bastian schluckt. Er senkt den Kopf, denkt kurz nach und beginnt zögerlich: »Du erfährst es ja doch. Silja wollte nie, dass darüber geredet wird, aber jetzt wird es sich kaum vermeiden lassen.«
»Was ist los? Mach’s nicht so spannend.«
»Silja hatte eine acht Jahre jüngere Schwester. Franziska. Nach Siljas Abitur sind die Eltern mit den Kindern von Rantum nach Niebüll gezogen. Wegen der deutlich niedrigeren Mietpreise, kannst du dir ja vorstellen. Die Familie wohnte noch nicht lange dort, als Franziska nicht zum Abendessen von Spielplatz nach Hause kam. Am nächsten Morgen fand man sie tot in einem Gebüsch. Missbraucht und erdrosselt.«
»O Gott. Und mit dieser Erinnerung läuft Silja durchs Leben?«
»Weißt du, wie sie es selbst nennt? Harte Schale, kaputter Kern«, murmelt Bastian. Dann strafft er den Oberkörper. »Diese Geschichte war der Auslöser dafür, dass Silja zur Polizei gegangen ist. Wir haben in den letzten Jahren immer mal wieder darüber geredet. Ich habe eigentlich gedacht, dass sie das Ganze inzwischen überwunden hat, soweit man so etwas überhaupt überwinden kann. Aber als Bernstein vorhin in seiner unnachahmlich flapsigen Art darauf hinwies, dass es sich vermutlich nicht um das Skelett eines Erwachsenen handelt, ist sie mir zusammengeklappt. Ich hab sie nach Hause geschickt und denke, dass wir möglicherweise ohne sie klarkommen müssen. Wenn wir uns noch weiter in diese Sache reinwühlen und es tatsächlich einen Zusammenhang geben sollte … das steht sie nicht durch.«
»Wann genau ist ihre Schwester umgebracht worden?«
»Vor fünfzehneinhalb Jahren. Und kurz vorher hatte es noch einen weiteren Mädchenmord gegeben. Auch auf dem Festland. In Husum.«
»Der Husumer Fall ist auch nicht aufgeklärt?«
Bastian schüttelt den Kopf. »Das wüsste Silja.«
»Und warum hat man, als Gitta verschwand, keine Verbindung zu den beiden Fällen auf dem Festland hergestellt?«
»Was weiß ich. So genau habe ich die Ermittlungsakten noch nicht geprüft. Vielleicht, weil die ersten beiden Morde zeitlich so nah beieinanderlagen und bis zum dritten anderthalb Jahre vergangen waren. Oder weil man im dritten Fall nie eine Leiche gefunden hat. Oder weil die Sylter Kollegen einfach geschlampt haben.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Dein Vorgänger war ein ganz Gründlicher.«
»Wir müssen auf jeden Fall mit ihm reden.«
»Hast du die Bispingen schon informiert?«
»Hab mit ihr gesprochen, bevor ich dich angerufen habe.«
»Und?«
»Was und?«
»Na kommt sie her?«
»Logisch. Ach übrigens … eines ist kurios. Das Skelett wurde ganz nah am Landhaus Severin*s gefunden. Und jetzt rate mal, wer dort gerade zu Gast ist.«
»Sag du es mir.«
»Fred Hübner, unser alter Bekannter und inzwischen der Lover unserer geschätzten Staatsanwältin.«
»Fred Hübner im Hotel? Was macht der da? Er hat doch eine Wohnung in Wennigstedt.«
»Ich weiß es nicht. Ich hab es auch nur von den Kollegen vor Ort erfahren. Er war wohl in Begleitung von zwei Damen. Die eine sah noch ziemlich knackig aus, die andere war schon älter und wirkte ein bisschen klapprig. Als sie das Skelett sah, sei sie erst mal in Ohnmacht gefallen. Dann sind sie rüber ins Landhaus gegangen.«
»Muss ja eine beeindruckende Veranstaltung gewesen sein.«
»Durchaus. Aber der Clou kommt noch. Die klapprige ältere Dame ist jetzt auch verschwunden.«
»Was?«
»Du hast ganz richtig gehört. Sie hat das Skelett gesehen und ist umgekippt. Kaum war sie wieder zu sich gekommen, war sie auch schon weg.«
»Wie? Weg?«
»Vermutlich raus aus dem Hotel, und dann schwups … weg eben.«
»Wer hat sie denn vermisst gemeldet?«
»Ihre Verlegerin.«
»Wer ist das nun wieder?«
In knappen Sätzen berichtet Bastian, was er von Maria Wallot über Alice Zabriski erfahren hat. Er schließt mit den Worten: »Du erinnerst dich sicher an den Vorfall in Afghanistan. Die geköpfte Archäologin war die Lebenspartnerin von Alice Zabriski. Kein Wunder, dass diese Geschichte jetzt wieder in ihr hochkocht.«
»Sie könnte sich was angetan haben?«
»Jepp.« Bastian steht auf. »Und deshalb werden wir jetzt auch alles mobilisieren, was zwei Beine hat, und uns schnellstens auf die Suche nach ihr machen.«