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Hochspannung im Norden Deutschlands: Auf Sylt geht ein Feuerteufel um, der einen perfiden Plan verfolgt … Es brennt auf Sylt. Der Speisesaal eines Luxushotels, das Wartehaus einer Bushaltestelle und das Verdeck eines Autos stehen in Flammen. Während die ermittelnden Kommissare Sven Winterberg, Silja Blanck und Bastian Kreuzer fieberhaft nach dem Brandstifter suchen, trifft der Journalist Fred Hübner seine einstige große Liebe Susanne wieder. Ihr hat das abgebrannte Hotel gehört, nur darum ist sie nach jahrelanger Abwesenheit auf die Insel zurückgekehrt. Doch schnell ist Fred der Grund für ihr Bleiben. Als Susanne darüber nachdenkt, ihren vermögenden Mann zu verlassen, geschieht ein Mord. Und das ist nur der Anfang … Der zweite Fall für die Sylter Ermittler Sven Winterberg, Silja Blanck und Bastian Kreuzer
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Seitenzahl: 415
Eva Ehley
Frauen lügen
Ein Sylt-Krimi
FISCHER E-Books
Ein gewaltiger Donnerschlag kracht durch die Sylter Sommernacht. Der starke Regen, der seit Stunden fällt, kann die Lautstärke kaum dämpfen. Blauschwarze Wolken türmen sich am Horizont und geben ihn nur für die grellen Blitze frei, die einander jetzt im Sekundenabstand folgen und fast zeitgleich mit dem Donnern den Himmel zerteilen. Das Zentrum des Gewitters muss sich direkt über Rantum befinden.
Albert Dornfeldt, der Geschäftsführer des kleinen aber sehr feinen Hotels Friesenperle, fährt aus dem Schlaf. Nur selten übernachtet er in der Friesenperle, aber am Wochenende hat die Tochter eines Wirtschaftsmagnaten hier ihre Hochzeit gefeiert, die letzten Gäste sind erst am vergangenen Abend abgereist, und das frischgetraute Paar wird auch die Flitterwochen hier verbringen. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten war der Geschäftsführer Tag und Nacht anwesend, um sicherzustellen, dass alles glattlief. Doch ab morgen wird er wieder in sein Apartment nach Morsum übersiedeln.
Ab morgen? Albert Dornfeldt sieht auf die Uhr und stellt fest, dass es bereits halb drei in der Nacht ist. Wieder geht ein Donner nieder, und ein Blitz zuckt über den Himmel. Zum Glück sind die Blitzableiter auf den Reetdächern des Hotelkomplexes ordnungsgemäß installiert. Obwohl also kein Grund zur Sorge besteht, ist Dornfeldt unruhig. Der Geschäftsführer der Friesenperle ist generell ein ängstlicher Mensch, auch wenn er seit Jahren ein smartes und selbstsicheres Auftreten kultiviert. Aus kleinen Verhältnissen kommend, hat Dornfeldt sich nach dem Besuch einer Hotelfachschule hochgearbeitet. Er ist stolz darauf, seit drei Jahren die Rantumer Luxusherberge zu leiten, zumal er mit seinen 28 Jahren sicher einer der jüngsten Hotelmanager Deutschlands ist.
Da seine Nachtruhe sowieso dahin ist, steht er auf und tritt ans Fenster.
Draußen scheint die Welt unterzugehen. Ein scharfer Wind lässt die Fahnenmasten klirren und peitscht die Gräser auf der Dünenkette, die sich direkt hinter dem Hotel erstreckt und bis an den Nordseestrand reicht. Das Brüllen des Meeres ist deutlich zu hören, und Dornfeldt kann sich die Zustände am Strand sehr gut vorstellen. Die Strandkorbwärter werden morgen alle Hände voll zu tun haben, um die vollgelaufenen und beschädigten Körbe zu bergen.
Als ein besonders heftiger Knall ertönt, fährt Albert Dornfeldt zusammen. Gleichzeitig scheint ein gleißend heller Blitz direkt vor seinem Fenster einzuschlagen. Noch Sekunden später fühlt sich Dornfeldt, als sei er erblindet, und nur langsam gewöhnen sich seine Augen wieder an das Dunkel der Nacht. Doch hat sich in der Zwischenzeit die Beleuchtung geändert? Oder ist es immer noch die Nachwirkung des Blitzes, die diesen rötlichen Schimmer am linken Rand seines Gesichtsfeldes verursacht?
Dornfeldt öffnet das Fenster, wobei er darauf achtet, beide Flügel mit kräftigem Griff festzuhalten, damit der Sturm sie ihm nicht aus den Händen reißen kann. Dann beugt er sich weit hinaus.
Was er erblickt, lässt seinen Atem stocken. Der flache Anbau mit dem Speisesaal, der sich links vom Hauptgebäude befindet, steht in Flammen. Blaugelb schlagen sie aus den Fenstern, deren Scheiben eine nach der anderen mit schrillem Ton platzen. Schon lecken die ersten Flammen an dem weit vorstehenden Reet des Daches.
Albert Dornfeldt lässt die Fensterflügel los, reißt sein Handy vom Nachttisch und gibt hektisch die Nummer der Feuerwehr ein.
Schnell muss es gehen, das ist die Hauptsache. Raus aus dem Ort und rauf auf die Landstraße. Bei diesem Wetter ist hier niemand außer mir – und das ist auch besser so. Nichts zu sehen vorn und nichts zu sehen an den Seiten. Nur Wasser, das wie aus Eimern gegossen herabfällt, eine einzige Mauer aus Nassem direkt vor der Windschutzscheibe. Die Scheinwerfer geben Licht für höchstens fünf Meter, danach beginnt die Finsternis, klatschnass, düster, leer. Hoffentlich leer, denn wenn jetzt jemand auf der Straße stehen geblieben ist, weil die Sicht so miserabel ist, dann rausche ich drauf, obwohl ich nur dreißig fahre. Mehr ist nicht drin, auch wenn ich natürlich sehr unter Zeitdruck stehe, denn ich habe noch einiges vor. Schließlich gilt es, eine Spur zu legen, die nicht so ohne weiteres gefunden werden soll. Doch später, wenn die Zeit reif dafür sein wird, sollen der Polizei die Augen aufgehen. Dann wird es keine Rettung mehr geben für alles, was ich vernichten will. Dann kommt der Moment der Abrechnung, auf den ich mich jetzt schon freue, unbändig und mit ganzem Herzen.
»Es kann nicht der Blitz gewesen sein, Sven. Der Hotelmanager hat eindeutig ausgesagt, dass der Speisesaal zunächst innen gebrannt hat. Das Dach hat erst später Feuer gefangen.«
»Vielleicht war es ein Kurzschluss in der Elektrik. Verursacht von einem Blitz. Dann könnte das Feuer auch von innen gekommen sein.«
Nervös fährt sich Sven Winterberg durchs Haar. Die vollen dunklen Wellen sind wie immer sorgfältig gestylt. Aber die wohlmanikürten Hände des Kriminaloberkommissars bewegen sich längst nicht mehr vorsichtig genug, um die Ordnung auf seinem Kopf nicht durcheinanderzubringen. Denn Sven Winterberg ist kurz vor dem Umfallen. Gestern Abend hat er mit seiner Frau Anja in deren 40. Geburtstag hineingefeiert. Sie hatten das Haus voller Gäste und waren erst weit nach Mitternacht im Bett.
Sven Winterberg lebt mit seiner Frau und der achtjährigen Tochter Mette in dem von Anjas Eltern geerbten Haus in Kampen. Damit gehören sie zu den wenigen echten Syltern, die noch auf der Insel geblieben sind. Die meisten Normalverdiener haben längst angesichts der horrenden Gebote der örtlichen Immobilienhaie aufgegeben und ihr Sylter Domizil gegen eine billigere Wohnung oder ein kleines Häuschen auf dem Festland getauscht. Jetzt bevölkern sie Morgen für Morgen den Pendlerzug über den Hindenburgdamm. Für die Einsatzkräfte bei der Polizei und der Feuerwehr ist diese Lösung aus arbeitstechnischen Gründen aber heikel. Schließlich müssen sie jederzeit abrufbereit sein, falls ein Notfall vorliegt. Zum Glück gehört neben Sven auch die Jungkommissarin Silja Blanck zu den Inselbewohnern. Sie hat eine winzige Wohnung in der Westerländer Innenstadt gemietet, die den großen Vorteil bietet, dass die Kommissarin zu Fuß das Polizeigebäude erreichen kann.
Als letzte Nacht der Notruf kam, dauerte es keine halbe Stunde, bis Oberkommissar Sven Winterberg und seine Kollegin vor Ort waren. Seitdem sind die beiden im Einsatz, und der Schlafmangel macht sich jetzt deutlich bemerkbar. Der schmale, feingliedrige Körper des Oberkommissars sendet bereits erste Notsignale. Als Sven sich der Kaffeemaschine in der Ecke seines Büros nähert, um seinen Becher aufzufüllen, sind seine Schritte leicht schwankend.
»Willst du auch noch was, Silja?«
»Ich hatte schon zwei Tassen. Mehr hält mein Kreislauf nicht aus. Lass uns lieber sehen, ob wir was zum Frühstück bekommen. Die Bäcker machen wahrscheinlich gerade auf.«
»Kluges Mädchen. Ich habe vorhin schon einem Kollegen Bescheid gesagt, er bringt aus Morsum ein paar Kliffkanten mit.«
»Kieler wären mir lieber.«
»Du kannst ihn ja anrufen und die Bestellung ändern.«
»Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. Was hat er denn über die Lage am Morsumer Bahnhof gesagt?«
»Noch ist alles undurchsichtig. Die Insel-Feuerwehr kam relativ spät, weil sie ja mit dem Hotel beschäftigt war. Das Feuer ist in einem Wartehäuschen an der Bushaltestelle neben dem Bahnhof ausgebrochen, nicht im Bahnhofsgebäude selbst. Wie überall auf der Insel war das Häuschen reetgedeckt. Es hat natürlich gebrannt wie Zunder. Der Backsteinbau des Bahnhofs war feuerresistent, und drumherum stehen auch nur Häuser mit Ziegeldächern. Zum Glück konnte ein Mieter des benachbarten Wohnhauses nicht schlafen, hat den Brand gesehen und uns alarmiert. Darum ist auch niemand verletzt worden.«
»Und zum noch größeren Glück hat der Bahnhof kein Reetdach.«
»Das nicht. Aber weißt du, was merkwürdig ist? Bis etwa zwei Uhr morgens gibt es dort Zugverkehr. Dann verlässt der letzte Bahnangestellte seinen Arbeitsplatz. Und eine halbe Stunde später fängt es an zu brennen.«
»Du denkst, das war kein Zufall?«
»Zum Denken bin ich zu müde. Aber auffällig ist es schon.«
»Vielleicht hatte um diese Zeit das Gewitter gerade seinen Höhepunkt erreicht. Das können uns die Meteorologen sicher sagen. Hinterher wissen die ja immer alles ganz genau. Nur vorher kannst du nicht erfahren, ob es in zwei Stunden regnen wird oder nicht.«
Silja Blanck verdreht die Augen und lässt ihren grazilen Körper auf einen der Bürostühle sinken. Seit sie mit dem Kollegen Bastian Kreuzer von der Kriminalpolizei Flensburg liiert ist, hat sie noch um einiges an Sexappeal zugelegt, findet Winterberg. Die sehr schlanke mittelgroße Kollegin besitzt eindeutig das gewisse Etwas, das durch ihre kühle, fast schon unnahbare Ausstrahlung nur noch betont wird. Auch jetzt nach etlichen Stunden fieberhafter Ermittlungen wirkt die Jungkommissarin wie frisch geduscht. Selbst die Schatten unter ihren Augen betonen nur den Charme des ebenmäßigen Gesichts, das von langem dunklem Haar umrahmt ist. Immer wieder fragt sich Winterberg, ob Silja wohl um ihre unterkühlte Attraktivität weiß.
»Aber wenn du recht hättest, Sven, dann hieße das doch, dass wir es mit Brandstiftung zu tun haben. Das kann ich nicht glauben, nicht hier auf Sylt. Andererseits ist es schon merkwürdig, wenn in einer Nacht gleich an zwei Stellen Großfeuer ausbrechen. Gewitter hin oder her. Das hatten wir noch nie. Selbst damals nicht, als Axel Springers Trutzburg am Kampener Watt brannte.«
»Du meinst den Klenderhof? Das ist doch ewig her. Aber davon mal ganz abgesehen, damals war es auch Brandstiftung. Man hat den Täter nie gefunden – bis er sich vor ein oder zwei Jahren zu dem Anschlag bekannt hat.«
»Kunststück, die Tat ist längst verjährt.«
»Hoffentlich brauchen wir diesmal nicht auch so lange, bis wir wissen, wer’s war.« Nervös nippt Sven an seinem Kaffeebecher.
»Dir ist es also tatsächlich ernst mit der Brandstifter-These?«
»Lass mir noch ein wenig Zeit. In einer Stunde spreche ich mit dem Bahnangestellten, der letzte Nacht in Morsum Dienst hatte, dann sehen wir weiter.«
»Und Sie haben wirklich nichts Ungewöhnliches bemerkt, Herr Zwinger?«
»Der Sturm war ja schon ungewöhnlich genug. Und dann der Regen, es hat gepladdert, als solle die Insel absaufen. Natürlich habe ich mich da nicht weiter draußen vor dem Bahnhof umgesehen. Ist ja auch nicht meine Aufgabe.«
Nervös reibt sich Kurt Zwinger die breiten Hände. Er ist Anfang sechzig und von stämmiger Statur. Seine Augen sind gerötet, das Gesicht wirkt übernächtigt. Auch er hat nur wenige Stunden geschlafen.
»Und was ist Ihre Aufgabe genau?«
»Ich muss vor allem die Straßenschranke dort hinten hoch- und runterlassen. Wir haben hier immer noch so eine Kurbel für den Handbetrieb auf dem Bahnsteig. Zwar ist sie seit ein paar Jahren überdacht, aber bei dem Schietwetter kommt der Regen ja von allen Seiten.«
Sven Winterberg mustert die hüfthohe Kurbel unter dem Plexiglasdach.
»Von hier aus können Sie den Bahnsteig ja bestens im Auge behalten.«
»Ist aber meist nicht viel los.«
»Keine Unregelmäßigkeiten? Prügeleien oder Schmierereien?«
»Eigentlich nicht. In Westerland haben sie damit schon mehr Probleme. Da kommen dann die jungen Leute aus den Discos, haben zu viel getrunken und oft kein Bett für die Nacht. Dann fangen die an durchzudrehen. Aber das wisst ihr bei der Polizei ja besser als ich. Und bei uns in Morsum geht es zum Glück gesitteter zu.«
»Aber Sie haben schon ein Auge auf die Ein- und Aussteigenden?«
»Klar. Wäre ja sonst auch zu langweilig. Oft überlege ich mir, was die machen. Beruflich meine ich. Und ob sie hier wohnen, oder jemanden besuchen wollen.«
»Eigentlich müssten Sie doch viele der Reisenden kennen.«
»Sicher. Unsere Westerland-Pendler fahren jeden Morgen und Abend die Strecke. Aber in der Nacht ist das anders. Wer kommt schon regelmäßig so spät nach Hause. Da gibt es nur einige Frauen, die ich häufiger sehe.« Kurt Zwinger wirft Kommissar Winterberg einen kumpelhaften Blick zu. »Das sind Bardamen, wenn sie mich fragen. Wer sonst arbeitet in Westerland so lange.«
»Und gestern Abend war alles wie sonst?«
Kurt Zwinger nickt bedächtig. »Alles wie üblich. Vielleicht ein bisschen weniger los als sonst – aber das war bei diesem Schietwetter auch kein Wunder.«
»Okay, dann beschreiben Sie mal genau, was Sie getan und gesehen haben, nachdem der letzte Zug durch war.«
»Das war um 1.58 Uhr, der Zug kam aus Niebüll und endete in Westerland. Danach gibt’s keine Verbindung mehr. Der letzte Zug aufs Festland war schon um 1.09 Uhr durch. Früher war das ja noch ganz anders …«
Kurt Zwinger holt tief Luft, um endlich einmal in aller Ruhe von vergangenen Herrlichkeiten schwärmen zu können. Sven Winterberg unterbricht ihn höflich aber bestimmt.
»Es geht jetzt aber um gestern, Herr Zwinger, und nicht so sehr um früher.«
»Ja, schon klar. Also gestern …«, Enttäuschung schwingt in der Stimme des Bahnangestellten mit. »Es hat ja immer noch geschüttet wie sonst was, als ich raus bin. Hatte natürlich keinen Schirm dabei, mein Wagen steht auch immer gleich da vorn beim Eingang.«
»Sie mussten also nur wenige Schritte durch den Regen laufen.«
»Genau. Ich habe die Jacke über den Kopf gezogen und bin so schnell es ging ins Auto. Dabei habe ich nicht nach rechts und links gesehen, tut mir leid.«
»Das kann Ihnen keiner verdenken, und das wird Ihnen auch niemand übelnehmen. Trotzdem muss ich weiter fragen: Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie im Wagen saßen? Manchmal verschnauft man dann ja erst mal und sieht sich ein wenig um.«
»Ich wollte bloß schnell nach Hause unter die warme Federdecke. Außerdem ist der Bahnhofsvorplatz nachts auch nicht bis in alle Ecken erleuchtet. Da könnte sich schon jemand verstecken. Aber ich habe niemanden gesehen, auch nicht, nachdem ich die Scheinwerfer angemacht hatte. Ich habe gewendet und bin dann gleich runter vom Vorplatz … aber warten Sie mal …«
»Ja?«
»Da stand noch einer.«
»Ein Mensch?«
»Nein, ein Wagen. Der parkte ein bisschen abseits, direkt vor dem Reetdachhäuschen an der Bushaltestelle. Ich hab noch gedacht, dass das bestimmt Ärger gibt am nächsten Tag.«
»Das ist interessant. Können Sie den Wagen näher beschreiben?«
»Nein, leider nicht. Er war hell, das weiß ich noch, weil ich ihn sonst wahrscheinlich gar nicht gesehen hätte, und nicht besonders groß, also keine Limousine oder so etwas. Eher bescheiden. Ich dachte noch, da ist so ein Jungspund auf eine Party gefahren und hat den letzten Zug versäumt.«
»Aber an ein Kennzeichen oder die Automarke können Sie sich nicht erinnern?«
»Nee, ehrlich nicht. Hat mich auch nicht interessiert und bei dem Wetter schon mal gar nicht.«
»Das kann ich gut verstehen. Eine letzte Frage habe ich noch, Herr Zwinger. Wo hängt hier eigentlich der Fahrplan? Im Gebäude oder draußen?«
»Na, auf dem Bahnsteig, so ist es üblich.«
»Es kann also jeder in der Nacht um den Bahnhof herumgehen und sehen, wann der letzte Zug kommt oder gekommen ist.«
»Ja klar. Die Beleuchtung am Bahnsteig geht auch nachts nicht ganz aus. Das wird automatisch geregelt. Die Hälfte der Lampen schaltet sich ab, die andere Hälfte brennt weiter. Wäre ja Stromverschwendung sonst.«
»Und mit öffentlichen Geldern wollen wir alle sorgsam umgehen. Das haben Polizei und Bahn in jedem Fall gemeinsam.«
»Wenn Sie das sagen, Herr Kommissar …«
Seit mehr als zwei Stunden sitzt Fred Hübner allein an seinem Tisch auf der Terrasse des angesagten Restaurants Rauchfang mitten im Trubel des berühmtberüchtigten Kampener Strönwai, der sogenannten »Whiskystraße«. Die Gäste dieses Abends haben natürlich nur ein Thema: die beiden Brände der letzten Nacht. Die Fakten, die die Polizei herausgegeben hat, sind spärlich, umso schillernder sind die Gerüchte, die auf der Insel kursieren. Von Brandstiftung ist immer häufiger die Rede, und so mancher spekuliert bereits über eine Sylter Bürgerwehr, die das Luxushotel und das Wartehäuschen am Bahnhof in Brand gesetzt haben soll, um gegen den Ausverkauf der Inselimmobilien an die Reichen der Republik zu protestieren. Anderen Gerüchten zufolge sollen sich linke Kräfte aus der Hamburger Besetzerszene jetzt auch auf der Insel betätigen. Sogar von einer Einwanderung Berliner Chaoten ist die Rede, denn wer in Kreuzberg teure Autos anzündet, für den müsse Sylt mit seinem allsommerlichen Aufgebot an Nobelkarossen ein wahres Paradies des Zündelns sein.
Fred Hübner lauscht den kursierenden Gerüchten aufmerksam. Er ist viel zu sehr Journalist, um nicht das Potential der Ereignisse der letzten Nacht zu erkennen. Der Bahnhof ist kaum beschädigt, und das Wartehäuschen wird schnell ersetzt werden können, aber der Anbau des Rantumer Hotels ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Immerhin konnte ein Übergreifen der Flammen auf das Hauptgebäude verhindert werden. Doch vorher sind alle Gäste, unter ihnen einige illustre Persönlichkeiten, in eine Halle des Sylter Flughafens evakuiert worden. Die Fotos einer desorientierten Gruppe von Pyjamaträgern vor dem brennenden Speisesaal waren in jeder Gazette der Republik zu sehen.
Normalerweise würde sich auch Fred leidenschaftlich für die Hintergründe der Brände interessieren, doch heute Abend ist er abgelenkt. Seit zwei Stunden schon starrt er hinüber auf die andere Seite der Terrasse. Dort steht eine Frau, die seiner Jugendliebe Susanne zum Verwechseln ähnlich sieht. Alles stimmt. Die blonden Haare, der schlichte Knoten im Nacken. Die knochigen Schultern und die etwas eckigen Bewegungen, die hochgewachsene Frauen manchmal an sich haben und die sie unerwartet rührend wirken lassen – wie frisch geborene Giraffen. Fred ist sich fast sicher, dass sie es ist, auch wenn er weiß, dass sie sich seit dem Ende ihrer Affäre nie wieder auf der Insel hat sehen lassen. Dabei erbte sie nach dem Tod ihrer Eltern zwei lukrative Sylter Hotels, die mittlerweile Millionenerträge abwerfen müssten.
Fred Hübner stutzt, dann holt er sein iPhone aus der Jacketttasche. Eine schnelle Recherche ergibt, dass eines der Hotels eben jene Friesenperle ist, die in der vergangenen Nacht Feuer gefangen hat.
Ist Susanne vielleicht deswegen zurückgekehrt?
Ab und an meint Fred sogar, ihre Stimme heraushören zu können aus diesem Rufen und Lachen, Reden und Husten, das die Luft des Kampener Sommerabends erfüllt. Es ist Viertel vor zwölf, und im Rauchfang baut sich genau die Stimmung auf, für die das Restaurant weit über die Grenzen Sylts hinaus bekannt ist. Die Terrasse um die Außenbar ist gedrängt voll mit Menschen. Es geht um Sehen und Gesehen werden. Man konsumiert mittelmäßige Drinks zu überteuerten Preisen, dazu gibt es als Ausgleich jede Menge willige Mädchen fast umsonst. Eine Flasche Champagner als Anzahlung, die zweite dann, um den Deal perfekt zu machen und das Mädchen gefügig.
Fred kennt das Spiel genau, er hat es selbst jahrelang gespielt. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als nicht nur er seine große Zeit hatte, sondern auch die Insel. Alle waren sie hier, in den Sechzigern sogar Ulrike Meinhof mit ihrem Mann. Beide sind gern und oft gekommen, und erst Jahre später begann Ulrike, auf die zu schießen, mit denen sie vorher die Restaurants geteilt hatte. Fred Hübner hat diese Entwicklung nie verstehen können und schoss selbst ausschließlich mit seiner Feder – und das nicht nur in die rechte Ecke. Er verfasste die Chronique scandaleuse jener Zeit und veröffentlichte sie in den maßgeblichen Journalen der Republik. Fred war damals wichtig und einflussreich – und die Mädchen wussten das genau. Wenn andere zwei Flaschen Schampus investieren mussten, kam Fred mit zwei Glas Weißwein zum Ziel. Oft auch ganz ohne Alkohol, nur mit einigen wohlgewählten Worten, dafür aber direkt zwischen den Dünen.
Fast zehn Jahre lang hat er es so getrieben, dann ist Susanne aufgetaucht. Groß, schlank, blond, Hotelbesitzerstochter. Susanne veränderte alles. Vor allem ihn selbst, aber auch seine Sicht auf die Welt. Natürlich hat er damals zu ihr nie davon gesprochen, warum hätte er sich auch ohne Not entblößen sollen?
Vermutlich war das der größte Fehler seines Lebens.
Denn nach einem knappen Jahr reinen Glücks hat Susanne Boysen Fred Hübner überraschend verlassen, um einen Hotelier vom Festland zu heiraten. Fred hat sie seitdem nie wiedergesehen, obwohl ihr Mann, wie Fred sehr genau weiß, eine Villa direkt hinter den Kampener Dünen besitzt.
An die zwei Jahrzehnte nach der Trennung von Susanne erinnert Fred sich nur ungern. Sein Stern sank genau in dem Maß, in dem die Bundesrepublik erwachsen wurde und begann, sich gut zu benehmen, indem sie achtsam, verantwortungsbewusst und langweilig wurde.
Irgendwann war nur noch der Alkohol an Freds Seite, um ihn treu auf allen Stationen seines sozialen Abstiegs zu begleiten – bis hinauf nach List in das baufällige Gartenhaus, das er jahrelang bewohnt hat, und bis hinab in die peinlichste Armut und um ein Haar ins letale Delirium.
Doch dann geschah ein Wunder, ein erstes Wunder, korrigiert sich Fred und gönnt sich noch einen Blick auf die Blonde, deren Anwesenheit er geneigt ist, für das zweite Wunder zu halten. Wenn es tatsächlich Susanne sein sollte, die sich dort mit einigen Herren mittleren Alters unterhält, dann hätte sich seine Jugendliebe in den letzten zwanzig Jahren erstaunlich wenig verändert.
Durch ein winziges Winken mit der Hand bestellt er sich einen weiteren Espresso. Keinen Drink, keinen Wein, noch nicht einmal ein Bier. Nur Kaffee und Wasser stehen noch auf seiner persönlichen Getränkeliste. Seit genau zwanzig Monaten ist Fred Hübner trocken.
Es ist viel Kraft nötig, um dem zu widerstehen, was ihm über zwei Jahrzehnte lang einziger Freund und Begleiter gewesen ist, aber Fred weiß genau, dass dies seine letzte Chance ist. Im vorletzten Sommer ist ihm die ultimative Story in Form eines verzweifelten Elternpaars buchstäblich über den Weg gelaufen. Beim Abendspaziergang am Strand von List, Sylts nördlichster Siedlung, bei dem Fred – wie damals eigentlich immer – sturzbetrunken war. Die Eltern waren außer sich, ihr Kind, ein siebenjähriges Mädchen, war verschwunden. Die Polizei war ratlos, es gab nicht den Hauch einer Spur. Nur Fred hatte so eine dunkle Ahnung. Und er schaffte es im Verlauf der nächsten Tage tatsächlich, die Chose nicht zu vermasseln.
Als der Espresso kommt, trinkt Fred ihn mit einem einzigen Schluck und bestellt gleich den nächsten. Heute Nacht will er fit bleiben, er wird die Blonde am anderen Ende der menschengefüllten Terrasse nicht aus den Augen lassen, nicht, bevor er mit Sicherheit sagen kann, ob es sich tatsächlich um seine damalige Liebe handelt.
Steht dort wirklich Susanne? Die Frau, der er nie wieder unter die Augen treten wollte, abgerissen und dauerbetrunken, wie er es in den letzten Jahren leider ständig war.
Doch jetzt ist alles anders. Seine Maisonettewohnung im feinen Wenningstedter Norden kann sich sehen lassen. Von der Terrasse blickt er auf den Dorfteich und hinter dem Schlafzimmerfenster im Obergeschoss kann er die Dünen zählen. Er hat begonnen, Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren. Von April bis Oktober schwimmt er jeden Morgen in der Nordsee, und alle Wege auf der Insel legt er mit einem seiner beiden Fahrräder zurück. Er ist jetzt 57 Jahre alt, schlank, drahtig und braungebrannt.
Und vermögend. Der Tatsachenbericht über die drei verschwundenen Mädchen hat ihn reich gemacht. Zunächst war da nur sein reißerischer Artikel über den spektakulären Kriminalfall, den der Spiegel überraschend bereitwillig gedruckt hat. Im Anschluss daran bekam Fred das Angebot eines renommierten Verlages für einen ausgedehnten Report in Romanform. Solche Bücher verkaufen sich zurzeit wie verrückt, hieß es, und die Konditionen, die seine eilig angeheuerte Agentin aushandelte, bestätigten diese Einschätzung.
Ein knappes Jahr hat Fred anschließend in völliger Askese an dem Manuskript gearbeitet, auch sein Alkoholentzug fiel in diese Zeit. Vor einem halben Jahr hat dann die Buchpremiere stattgefunden, groß aufgemacht im feinsten Club von Hamburg. Die ganze Meute war da. Ehemalige Kollegen, die seinen Namen noch aus den glorreichen Zeiten kannten, ebenso wie Newcomer, die ihn plötzlich hochachtungsvoll behandelten. Ihre Blicke sprachen Bände. Hübner war ein alter Hase, der es immer noch konnte.
Einige Wochen lang führte Fred sogar die Sachbuch-Bestsellerliste an, er hat auf den Sofas aller wichtigen Talkshows gesessen und es bereits auf einige Feuilletontitel geschafft. Seit zwei Wochen verhandelt der Verlag über eine Verfilmung des Stoffs. Fred Hübner, der alte Kämpfer, ist plötzlich wieder wer in der Kulturszene. Wenn er jetzt den besten Tisch im Rauchfang will, dann bekommt er ihn und zwar allein. Selbst dann, wenn er den ganzen Abend lang nur Kaffee trinkt, so wie heute. Fred selbst ist es, mit dem sich das Restaurant schmückt, den Umsatz machen die anderen Gäste, die nicht nur, aber auch gekommen sind, um Prominente wie ihn zu sehen.
Es wäre also durchaus möglich gewesen, dass die hochgewachsene Blondine ihm einen neugierigen Blick zuwirft. Doch sie tut es nicht, hat es den ganzen Abend lang nicht getan. Nur ihre Begleiter gucken immer wieder mal herüber. Für Fred ist dieser Umstand der zwingende Beweis dafür, dass sie es tatsächlich ist. Susanne, seine große Liebe, die vielleicht ebenso wie er selbst Angst vor der Vergangenheit hat.
Plötzlich macht ihn der Gedanke an die Zeit mit Susanne wütend. Sie hat ihn nur so lange benutzt, bis sich ein Besserer fand, eben dieser reiche Schnösel aus Hamburg, der mit seinen drei Designhotels der perfekte Schwiegersohn für ihre Eltern war. Zwanghaft sucht Fred Hübner in den Speichern seines Hirns nach dem Namen des erfolgreichen Nebenbuhlers, aber er will ihm einfach nicht einfallen. Leider ist das eine Erfahrung, die er häufiger macht. Immer wieder stößt Hübner auf Areale seines Gehirns, denen der jahrelange Alkoholmissbrauch nicht besonders gut bekommen zu sein scheint. Die Gedächtnislücken weiten sich manchmal sogar zu bedrohlich blinden Flecken auf der Karte seiner Erinnerungen aus. Wenn das so weitergeht, wird er irgendwann nicht mehr schreiben können. Wenn es so weitergeht …
Frustriert beschließt Hübner zu gehen. Was ist schon geschehen? Eine Immobilie dieses verwöhnten Mädchens da drüben, das längst eine Frau ist, hat Schaden genommen. Da ließ sich die Rückkehr der Besitzerin auf die Insel ihrer Jugend wohl nicht mehr vermeiden. Pech für ihn, dass er sich ausgerechnet diesen Abend ausgesucht hat, um seinen Kaffee im Rauchfang zu trinken und auf diese Weise mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden. Hübner legt einen Geldschein auf den Tisch und steht entschlossen auf. Fast gegen seinen Willen wirft er einen letzten Blick zu der Blonden hinüber. Da geschieht das Wunder doch noch: Sie hebt leicht die Hand wie zum Gruß und lächelt ihn an.
Fred bleibt wie vom Donner gerührt stehen. Plötzlich ist alles wieder da: die Sehnsucht, das Verlangen. Aber Fred bemüht sich, seine Gefühle zu ignorieren, er reißt sein Fahrrad vom Zaun des Nebengebäudes und tritt in die Pedale, als gelte es, eine Meisterschaft zu gewinnen. Sein Weg führt ihn auf der asphaltierten Radstrecke quer durch die nächtlich duftende Heide, vorbei an dem Kampener und dem Wenningstedter Campingplatz mit ihren letzten Geräuschen. Bei den Hügelgräbern dagegen ist es ganz still, und auch am Wenningstedter Dorfteich ist niemand mehr unterwegs. Hübner sperrt die Eingangstür der gedrungenen Reihenhausanlage auf, in der sich seine Wohnung befindet. Er durchquert das offen gestaltete Erdgeschoss und nimmt sich noch eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er nach oben in sein Schlafzimmer geht und wie betäubt ins Bett fällt.
Als Silja Blanck vor dem Grundstück des Ehepaares Michelsen aus ihrem Kleinwagen steigt, kommt ihr das eigene Auto noch winziger vor. Alles ist in dieser Straße breit und mächtig. Die doppelflügeligen Friesentore, die sich beidseitig anschließenden Wälle aus Naturstein, die Heckenrosenpflanzen auf den Wällen und besonders natürlich die protzigen Karossen und die reetgedeckten Villen dahinter.
Nur wenige Sekunden nachdem Silja geklingelt hat, ertönt ein scharfes Summen, das es ihr ermöglicht, das Tor aufzudrücken. Am Ende des Kiesweges führen zwei flache Stufen hinauf zu einer blau-weiß lackierten Eingangstür, in der eine überschlanke, attraktive Dame lehnt. Sie trägt einen Zopfmuster-Pullover über ihrer Jeans und Wildleder-Slipper an den Füßen. Ihr auffallend hellblondes Haar ist zu einem lässigen Knoten gesteckt, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst haben und das aparte Gesicht umschmeicheln. Wenn Silja Blanck nicht aus ihren Recherchen wüsste, dass Susanne Michelsen 43 Jahre alt ist, würde sie sie vermutlich auf Mitte dreißig schätzen.
»Hallo Frau Kommissarin. Wir haben vorhin telefoniert, oder?«
»Genau. Silja Blanck, guten Tag. Und vielen Dank noch einmal, dass Sie so schnell Zeit für mich hatten.«
»Aber ich bitte Sie, es ist doch mein Hotel, das in Flammen stand. Ich tue alles, um Ihnen die Ermittlungen zu erleichtern. Bitte kommen Sie herein.«
Durch eine schwarz-weiß geflieste Halle, deren hintere Seite direkt auf die Terrasse führt, geht die Hausherrin voran.
»Sie haben hoffentlich nichts dagegen, draußen zu sitzen?«
»Nein, gar nicht.«
»Es ist zwar noch ein wenig kühl, aber ich finde, am Morgen riecht die Insel immer besonders gut.«
Wie zur Bekräftigung ihrer Worte holt Susanne Michelsen tief Luft und weist mit der Hand auf die beiden Korbstühle, die einen runden Glastisch flankieren. Silja setzt sich und blickt sich um.
»Schön haben Sie es hier. Von der Straße ahnt man gar nicht, dass das Grundstück so riesig ist.«
»Ja, leider. Man kann es nicht einsehen, alle Nachbarhäuser sind hinter Hecken verborgen. Wenn hier mal jemand einbrechen will, dann hat er leichtes Spiel.«
»Das glaube ich kaum«, gibt Silja zu bedenken und deutet auf die beiden Kameras, die an den Hausecken direkt unter dem Reetdach angebracht sind.
»Natürlich haben wir die beste Alarmanlage, die man für Geld kaufen kann. Die ist allerdings so kompliziert, dass ich schon gar keine Lust habe, sie einzuschalten. Um ehrlich zu sein, verleidet mir der Gedanke daran seit Jahren jeden Aufenthalt auf der Insel. Obwohl ich von hier stamme, bin ich nur noch selten auf Sylt.«
»Trotz dieser prächtigen Villa?«
Susanne Michelsen zuckt mit den Schultern, als ginge es um ein Paar abgetragene Schuhe.
»Das Haus gehört meinem Mann. Mit dem Kauf hat er sich einen Jugendtraum erfüllt. Für mich hätte es gern eine Nummer kleiner sein dürfen. Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Wasser, Saft?«
Susanne Michelsens Geste weist auf zwei bereitstehende Karaffen.
»Ein Glas Wasser, bitte.«
Während die Hausherrin einschenkt, erkundigt sie sich lächelnd: »Womit kann ich Ihnen denn nun helfen?«
»Das will ich Ihnen gern erklären. Um es einfach zu machen, stellt sich für uns die Sachlage folgendermaßen dar: Ihr Hotel hat gebrannt. Dafür kommen zwei Ursachen in Betracht. Erstens: Blitzeinschlag. Zweitens: Brandstiftung. Falls es Brandstiftung war, sind wiederum zwei Motive denkbar. Ein persönlicher Racheakt. Oder eine politisch motivierte Tat.«
»Sie sind gründlich, das muss ich Ihnen lassen.«
»Das ist mein Job. Wir bemühen uns natürlich, möglichst schnell die Wahrscheinlichkeiten aller denkbaren Ursachen abzuschätzen. Je intensiver wir in eine Richtung ermitteln können, umso größer sind unsere Erfolgsaussichten.«
»Und welche Ursache halten Sie bisher für die wahrscheinlichste?«
»Zunächst zu den beiden Auslösern: Blitzeinschlag oder Brandstiftung. Unsere Techniker halten eine Brandstiftung für sehr wahrscheinlich. Wie Sie vielleicht schon erfahren haben, ist vermutlich ein Stapel Tischdecken in Brand geraten. Ich muss Ihnen ja nicht sagen, dass Leinen nicht unbedingt zu den selbstentzündlichen Materialien gehört. Da ist mindestens eine Zigarette hineingefallen.«
»Mitten in der Nacht?«
»Eben. Ein Zufall wird das nicht gewesen sein.«
»Und was meinen Sie mit politischen Motiven?«
»Hass auf das Establishment, Protest gegen die Immobilienspekulationen auf Sylt, so etwas in der Art.«
»Aber wir sind doch keine Makler, sondern Hoteliers.«
»Aber in Ihren Hotels steigen die Reichen ab. Entschuldigen Sie, dass ich das so direkt sage, aber ich habe mir gestern mal Ihre Zimmerpreise im Internet angeschaut.«
»Tja, billig ist das nicht, da haben Sie schon recht.«
»Es gibt trotzdem ein Argument, das dagegen spräche: Der Brand am Bahnhof. Denn die These, dass Morsum der kommende It-Place der Insel ist, halte ich doch für etwas zu gewagt, auch wenn wir wissen, dass schon viele Prominente dort Ferienhäuser besitzen. Allerdings gehen wir auch in diesem Fall von Brandstiftung aus. Unsere Suchhunde sind auf Spuren von Brandbeschleuniger gestoßen.«
»Aber das alles hört sich für mich eher nach einem Irren als Täter an.«
»Es gibt weniger Irre auf dieser Welt, als gemeinhin angenommen wird, das können Sie mir glauben, Frau Michelsen. Fast jede Tat ist motiviert und damit in sich logisch. Die Betonung liegt auf in sich. Die Aufgabe der Polizei ist es, eine irgendwie geartete innere Logik des Täters zu erschließen. Und dafür brauchen wir Sie – und leider einige Informationen aus Ihrem Privatleben.«
»Was wollen Sie haben? Eine Liste meiner verschmähten Liebhaber?« Lachend greift Susanne Michelsen nach der Wasserkaraffe, um auch sich ein Glas einzuschenken. »Nein, im Ernst, mein Mann und ich haben keine Feinde. Ich wüsste wirklich nicht, wer uns so etwas antun sollte.«
»Die Friesenperle gehört nach dem Grundbucheintrag Ihnen, das ist doch richtig?«
»Ja schon. Ich habe dieses Hotel genau wie den Sonnenhof in List von meinen Eltern geerbt. Aber als sie starben, war ich schon verheiratet. Und Jonas besaß damals bereits drei eigene Hotels. Also habe ich ihn gebeten, sich auch um die beiden geerbten zu kümmern. Ich habe mit dem Geschäftlichen gar nichts zu tun, nur auf dem Papier.«
»Trotzdem ist das Feuer hier ausgebrochen und nicht in den Hamburger Hotels Ihres Mannes. Haben Sie oder er vielleicht weitere Investitionen auf der Insel vor? Gibt es jemanden, dem es nutzen könnte, Sie finanziell zu schädigen?«
»Zweimal ein klares Nein, Frau Kommissarin. Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.«
»Frau Michelsen, eine Frage hätte ich trotzdem noch. Hat es in Ihrem Privatleben in den letzten Wochen irgendeine maßgebliche Veränderung gegeben? Denken Sie nach. Alles ist wichtig. Neue Freundschaften, eine Krankheit oder auch ein Wechsel beim Personal.«
Aufmerksam beobachtet Silja das Gesicht ihrer Zeugin. Ist deren Wimpernschlag nicht allzu heftig und die Pause bis zur Antwort nicht ein wenig zu lang?
»Nein, auch da muss ich Sie enttäuschen. Es ist alles beim Alten, unsere Hamburger Zugehfrau kommt schon seit mehr als zehn Jahren, sie gehört also fast zur Familie. Und unser Freundeskreis ist auch stabil.«
Silja ist erfahren genug, um zu merken, wann eine Zeugin dichtmacht. Und bei Susanne Michelsen ist jetzt eindeutig dieser Zeitpunkt erreicht. Fragt sich nur, ob sie auf eine heiße Spur gestoßen ist oder ob Frau Michelsen einfach von der Stichhaltigkeit ihrer Aussage überzeugt ist.
»Tja, dann wäre es das für heute. Nur eines noch: Wie lange werden Sie noch hier auf der Insel bleiben, wenn ich fragen darf?«
»Ein oder zwei Wochen vielleicht. Ich war sehr lange nicht mehr auf Sylt, das habe ich Ihnen ja vorhin erzählt. Und wenn man dann nach so langer Zeit wiederkommt, ist man doch sehr gefangen von dem Charme der Insel.«
Nachdenklich fährt Susanne Michelsen sich übers Gesicht, bedeckt es mit beiden Händen und reibt sich ausführlich die Augenbrauen, eine Geste, bei der Silja auffällt, dass sie eher nach Verzweiflung als nach Verzückung aussieht. Auch wenn die Kommissarin spontan keine Erklärung für diese Ungereimtheit weiß, beschließt sie doch, sich den Zusammenhang zu merken.
Ungewöhnlich früh ist Fred aus einem unruhigen Schlaf erwacht. Wirre Träume lösten sich in schneller Folge ab, zum Glück hat er sie alle schon vergessen. Seinen Frühstückskaffee braut er heute besonders stark, und er schlägt nicht ein, sondern gleich drei Eier in die Pfanne. Ihm ist, als habe die Begegnung des gestrigen Abends an seinen Kräften gezehrt und die eiserne Moral untergraben, der er sich seit seinem Aufstieg vom Alkoholiker zum Bestsellerautor unterworfen hat. Doch wozu hat er sein strenges Morgenritual, wenn nicht, um genau solche Tücken des Alltags zu überwinden?
Obwohl es kühl und windig ist, schwingt Fred sich direkt nach dem Frühstück auf sein Fahrrad. Schnell hat er den Radweg von Wenningstedt hinüber nach Kampen erreicht. Flankiert von Kornfeldern hinter mannshohen Wildrosenbüschen bietet die gerade Strecke einen makellosen Blick auf den Leuchtturm. Freds Ziel ist der menschenleere Strandabschnitt auf Höhe des Kampener Campingplatzes, an dem er jeden Morgen schwimmen geht. Hinter dem Campingplatz, der gemütlich und beschaulich zwischen Krüppelkiefern und dem ersten Dünenkamm liegt, führt ein schmaler Schotterpfad zum Strand. Rechts ducken sich am Ende eines weiten Heidefeldes die Reetdächer der ersten Kampener Häuser in die Wellen der Landschaft. Es ist ein Blick wie gemalt, und doch kommen die meisten Touristen niemals hierher. Und Einheimische auch nicht. Keine Chance für Autos. Nur Radfahrer und Fußgänger kennen den Weg.
Fred strampelt drei Dünen hoch, dann wieder hinunter, bringt zwei Links- und eine Rechtskurve hinter sich, um die Nase den kräftigen Gegenwind von der Nordsee und in der Luft den intensiven Geruch nach Heidekraut. Bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit ist hier niemand. Fred auf seinem Fahrrad hat die Natur ganz für sich allein, Sand, Gräser, Möwen. Am Ende des Weges stehen ein paar Metallbügel, um die Räder anzuschließen. Fred braucht kein Schloss. Ein klappriger Drahtesel aus den achtziger Jahren wird nicht gestohlen. Natürlich hat er sich längst ein neues teures Rennrad zugelegt, aber er hängt immer noch an dem alten Teil, vielleicht weil es ihm im Sommer vor zwei Jahren so treue Dienste geleistet hat.
Fred schiebt das Rad neben einen der Bügel, zieht die Schuhe aus und lässt sie neben dem Fahrrad zurück. Jetzt noch einige Meter die Düne hinauf, wobei der Sand eine Wohltat für die Füße ist, obwohl er feucht und kalt zwischen den Zehen klebt. Der Wind vom Meer wird mit jedem Schritt stärker. Und Stück für Stück tauchen die Wellen auf. Fred steht jetzt ganz oben auf dem roten Kliff, das über zwanzig Meter steil abfällt. Außer dem Tosen der Brandung ist nichts zu hören. Selbst bei schönem Wetter liegt hier die einsamste Stelle des Strandes. Keine Strandkörbe, keine Toiletten, keine Gastronomie. Nur einige Hartgesottene mit ihren knallbunten Windmuscheln trotzen dann den Elementen. Einen Bademeister gibt es nicht, auch keine Bekleidungsvorschriften. Die meisten tragen am Strand Badekleidung, gehen aber nackt ins Wasser. Doch zu dieser Stunde ist der Strand menschenleer. Nur am nördlichen Horizont nähert sich ein einsamer Spaziergänger.
Langsam steigt Fred die Holzstufen hinunter. Das letzte Stück läuft er mit großen Schritten durch den steil abfallenden Sand, bleibt kurz vor dem Flutsaum stehen und atmet tief durch. Sein Morgenritual. Er kommt fast bei jedem Wetter her. Von April bis Oktober. Hier tankt er die Kraft, die ihm am Abend hilft, den Gedanken an den Alkohol zu widerstehen. Hier und auf seinen endlosen Fahrradtouren quer über die Insel. Und im Fitnessstudio. Und am Laptop.
Schnell zieht Fred sich aus. Sweater, Jeans, T-Shirt, Boxershorts fallen auf den feuchten Sand neben das Handtuch. Zum Wasser sind es nur wenige Meter. Die Nordsee ist eisig kalt, aber die Wellen werden ihn wärmen. Man darf nur nicht zögern beim Hineingehen. Und nicht nachdenken, das ist ja gerade der Sinn der Übung. Die Gedanken bleiben am Strand zurück, der Körper geht schwimmen, lässt sich vom Meer tragen, schaukeln oder schütteln, je nach Heftigkeit der Brandung.
Heute ist eher schütteln angesagt. Die Wellen brechen sich an unvorhersehbaren Orten und der Sog ist stark. Freds Widerstand gegen die Kräfte der Natur braucht den ganzen Mann, alle Konzentration und Schwimmkunst, die er aufbieten kann. Keine Chance für Gedanken, Erinnerungen, Überlegungen. Fred ist ganz allein bei seinem allmorgendlichen Kampf gegen das Element, und er genießt das Gefühl, sich jeden Tag von neuem beweisen zu können, dass er diesem Kampf gewachsen ist.
Als nach wenigen Minuten die Sonne durch ein Loch in den Wolken bricht und den Strand mit ihrem frühen Gold zum Leuchten bringt, durchströmt Fred Hübner ein plötzliches Glücksgefühl. Er ist nackt, er ist stark, und er befindet sich am schönsten Ort der Welt. Mit einem lauten Schrei stürzt er sich dem nächsten Brecher entgegen, taucht unter ihm durch, verliert für Sekundenbruchteile die Orientierung, bekommt aber schnell wieder Boden unter die Füße und richtet sich auf. Die Welle läuft gerade am Strand aus, und bis zur nächsten sind es noch wenige Sekunden. Zeit genug für einen Blick zurück auf Sand und Klippen im Sonnenlicht. Außer der Gestalt in der grünen Barbourjacke, die sich beharrlich von Norden her nähert, ist Fred immer noch der einzige Mensch am Strand. Längst ist ihm das Zeitgefühl abhandengekommen, nie kann er sagen, wie lange seine Aufenthalte in den kalten Fluten wirklich dauern, und es ist auch nicht wichtig. Man muss nur darauf achten, die eigenen Kräfte nicht zu überschätzen. Spätestens wenn es einem unerwartet die Beine wegreißt und man zu einem längeren Tauchgang als geplant gezwungen wird, ist es Zeit, die See zu verlassen. Diesmal ist es das Salzwasser, das Fred in Nase und Rachen bekommt, das ihn zum Husten bringt und ihm zeigt, dass es genug ist für heute. Geblendet vom Licht kämpft er sich zurück zum Strand. Auch in die Augen ist Wasser gekommen, er reibt sich die brennenden Lider.
Als Fred Hübner wieder auf dem Trockenen ist, kann er für Sekunden seine Kleidung nicht finden, die Strömung hat ihn stärker abgetrieben als sonst, er ist fast schon an der nächsten Buhnenkante angekommen. Fred dreht sich um und blinzelt ins Licht. Natürlich, da liegt ja der flache Stapel am Strand. Schnell läuft er hinüber, denn von der anderen Seite nähert sich jetzt der Spaziergänger. Es ist eine Frau, schmal und mit streng zurückgenommenen hellblonden Haaren, die wie eine goldene Kappe im Morgenlicht glänzen. Sie läuft direkt auf seinen Kleiderhaufen zu. Noch sind es fünfzig Meter, bald zwanzig, dann fünf. Fred blickt der Frau ins Gesicht.
Nein, es ist kein Zweifel möglich. Die Spaziergängerin ist niemand anderes als Susanne. Sie bleibt direkt vor ihm stehen, mustert den nackten, tropfnassen Fred langsam von oben bis unten und sagt mit ihrer melodiösen Stimme, die er einmal geliebt hat:
»Guten Morgen, Fred. Du hast dich erstaunlich wenig verändert.«
Mit schnellen Schritten läuft Susanne Michelsen durch die Strandstraße. Sie führt vom Kampener Zentrum Richtung Meer und ist gesäumt von teuren Hotels und Apartmenthäusern auf der linken Seite. Rechts kann der Blick weit über die Heide gleiten, denn hier beginnt bereits eines der vielen Naturschutzgebiete der Insel. Ein asphaltierter Fußweg führt parallel zur ersten Dünenkette hindurch und endet unterhalb der Sturmhaube, einem noblen Restaurant, das wegen seiner unvergleichlichen Lage überaus beliebt ist. Nach einem heißen Strandtag kommen die Badegäste gern und häufig auf einen Aperitif an die Außenbar, um erst danach in ihre Jeeps oder Limousinen zu steigen, die auf einem der beiden großen Strandparkplätze warten. Jetzt sind die Parkplätze fast leer, und auch auf dem gepflasterten Weg, der zu dem Holzsteg direkt am Strand führt, begegnet Susanne niemandem. Kein Wunder, denn auf der Dünenkuppe schlägt ihr der Wind vom Meer mit unerwarteter Heftigkeit ins Gesicht. Gut, dass sie die Haare zurückgebunden hat. Entschlossen versenkt Susanne beide Hände in den Taschen ihrer Jacke und betritt den Sand. Er ist feucht und fest unter ihren Seglerschuhen, der Regen und die Winde der vergangenen Nacht haben feine Rillen in ihn gegraben. An der Meereskante legen die Wellen der Flut immer wieder neue Muster vor Susannes Füße. Sie senkt den Blick und marschiert nach Süden, den steil aufragenden Felsen des Roten Kliffs entgegen. Ihre Hand in der linken Tasche umklammert das iPhone. Susanne weiß, sie sollte Jonas anrufen und sich mit ihm abstimmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die neugierige Polizistin auch ihn vernehmen wird oder jemanden in Hamburg beauftragt, das zu tun. Jonas muss wissen, was sie gesagt und was sie verschwiegen hat. Diskretion war schon immer die Geschäftsgrundlage ihrer Ehe.
Doch als Susanne das Handy aus der Tasche zieht, sieht sie schnell, dass der Empfang nicht für ein vernünftiges Telefonat ausreichen wird. Dann eben nicht. Sie senkt den Kopf und beschleunigt ihre Schritte. Der scharfe Wind treibt die Gedanken aus ihrem Hirn und macht es frei. Das Brüllen des Meeres schafft einen Geräuschkokon, in dem sie sich geschützt und aufgehoben fühlt. Sie hatte ganz vergessen, dass es das gibt. Sie war ihrer Insel untreu geworden und kann es jetzt überhaupt nicht mehr verstehen.
Als die Sonne plötzlich durch die Wolken bricht und den Strand zum Strahlen bringt, weiß Susanne genau, dass sich etwas ändern wird. Warum sollte sie in Zukunft auf die Möglichkeit verzichten, hier Kraft zu tanken, nur weil diese Insel in einem früheren Leben einmal eine so wichtige Rolle für sie gespielt hat? Die unbeschwerte Zeit mit Fred Hübner, diesem chaotischen Playboy, ist das Schönste an ihrer Jugend gewesen, vielleicht gerade, weil ihr immer klar war, dass die Liaison keinen Bestand haben würde. Susanne hatte jahrelang nicht mehr an Fred gedacht, als sie erfuhr, dass er mit seinem Buch den großen Coup gelandet hat. In einer Talkshow, die sie sich neugierig ansah, wirkte er erstaunlich frisch und nur zu seinem Vorteil gealtert. Es würde sie interessieren, wie es ihm in den letzten beiden Jahrzehnten ergangen ist. Doch als sie ihn gestern Abend im Rauchfang unter den Gästen gesehen hat, war es aus verschiedenen Gründen nicht der richtige Zeitpunkt, um den ehemaligen Geliebten anzusprechen – auch wenn es sie amüsiert hat, wie nachdrücklich er sie anstarrte.
In ihren Gedanken gefangen wird Susanne unachtsam, und prompt überspült eine Welle ihre Schuhe. Das Wasser ist kalt und ungemütlich. Sie bleibt stehen und zieht die Schuhe aus. Sie weiß, sie sollte zurückkehren, bevor sie sich erkältet, aber andererseits entwickelt der menschenleere Strand in der Morgensonne eine starke Faszination. Vorn am Übergang zum Campingplatz badet sogar ein einzelner Irrer in den Fluten. Bis dorthin wird sie laufen und nicht weiter. Ihr Telefonat mit Jonas wird solange warten müssen.
Als Susanne sich der badenden Gestalt nähert, sieht sie, dass es ein Mann ist, der nackt gegen die Wellen anspringt. Sein Körper wirkt kräftig und trainiert genug, um der Wucht des Meeres standzuhalten. Susanne hat den Badenden fast erreicht, als er zurück an den Strand läuft.
Sie traut ihren Augen nicht, denn Gesicht und Körper kommen ihr sehr bekannt vor. Nach wenigen Schritten gibt es keinen Zweifel mehr. Vor ihr steht Fred Hübner, ihr Liebhaber aus längst vergangenen Tagen. Belustigt mustert sie ihn und fasst dann ihren Eindruck in Worte.
»Guten Morgen, Fred. Du hast dich erstaunlich wenig verändert.«
Hübner starrt sie an wie einen Geist, und wenn Susanne nicht alles täuscht, wird er sogar rot. Eine Antwort bekommt sie nicht.
Susanne bückt sich und reicht Fred Hübner sein Handtuch.
»Wir können unsere Konversation gern verschieben, bis du dich abgetrocknet und angezogen hast. Oder willst du prinzipiell nicht mehr mit mir reden?«
»Doch, natürlich. Warum nicht? Ich war nur überrascht, dich hier zu sehen.«
»Du hast mich doch gestern Abend schon gesehen – und das stundenlang, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Ich konnte es einfach nicht glauben.«
Er rubbelt sich heftig über Arme und Beine, als wolle er mit dem Wasser auch gleich die Haut entfernen.
»Was konntest du nicht glauben? Dass ich es bin? Oder dass ich auf Sylt bin?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich beides. Es ist so lange her.«
Hübner klingt unwirsch, findet Susanne, fast abweisend. Und sie verspürt plötzlich große Lust, seine Abwehr zu knacken und ihn neugierig auf sich zu machen.
»Ich bin wegen des Brandes gekommen. Die Friesenperle hat doch meinen Eltern gehört, erinnerst du dich nicht?«
»Und jetzt gehört das Hotel dir? Oder deinem Mann?«
»Mir. Warum fragst du?«
»So führt man gemeinhin Unterhaltungen. Einer erzählt etwas und der andere fragt nach.«
Mit heftigen Bewegungen reißt Hübner ein Kleidungsstück nach dem nächsten aus dem Sand und stülpt es über seinen Körper.
»Hör mal, Fred. Ich will dich nicht belästigen, aber ich finde, dass wir beide doch gut und gern einen Tee oder wenn du magst auch einen Grog miteinander trinken könnten. Dir würden ein bisschen innere und äußere Wärme jetzt sicher nicht schaden, und ich muss dringend meine Füße ins Warme bringen.«