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Sonnenaufgang am Strand von Westerland. Eine rothaarige Frau sitzt reglos in einem Strandkorb. Sie ist jung, sie ist schön, sie ist tot … Am Westerländer Strand wird eine junge Frau tot aufgefunden. Man hat sie wie ein Kunstwerk in einem Strandkorb drapiert. Als wenige Stunden später der angesehene Sylter Geschäftsmann Hubert Mönchinger seine Frau Marga als vermisst meldet, scheint der Fall bereits geklärt. Dem Foto nach handelt es sich bei der Toten um Marga Mönchinger. Doch als Hubert Mönchinger die Leiche identifizieren soll, stellt sich heraus, dass die Ähnlichkeit zwar groß, die Ermordete aber nicht seine Frau ist. Marga Mönchinger bleibt verschwunden, und dem Sylter Ermittlerteam um Sven Winterberg, Silja Blanck und Bastian Kreuzer stellt sich die Frage, ob die Ereignisse zusammenhängen. Wer wusste von der Ähnlichkeit der beiden Frauen? Wo ist Marga Mönchinger jetzt? Und ist auch ihr Leben in Gefahr? Unter enormen Zeitdruck suchen die Ermittler nach einem Anhaltspunkt in beiden Fällen. Doch auf das, was sie finden, sind sie nicht im Geringsten vorbereitet … Der dritte Fall für die Sylter Ermittler Winterberg, Blanck und Kreuzer
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Seitenzahl: 469
Eva Ehley
Männer schweigen
Ein Sylt-Krimi
FISCHER E-Books
Männer
schweigen
So und nicht anders stelle ich mir das Paradies vor. Die Nacht ist lau, ich kann ohne Verdeck fahren, und hätte ich mehr Haare auf dem Kopf, würde der Fahrtwind sie verwehen. Der Klassiksender im Autoradio hat ein ausführliches Mozart-Feature angekündigt, und der Musikredakteur scheint die gleichen Vorlieben zu haben wie ich. Die Landstraße vor mir ist fast leer, vielleicht sollte man häufiger nach Mitternacht unterwegs sein. Nur könnte ich das Marleen auf Dauer kaum erklären, sie ist ein eifersüchtiges Mädchen.
Ach, Marleen, wenn du wüsstest!
Ich frage mich langsam, wer überhaupt um Mitternacht von List nach Westerland fährt. Ein Fischhändler vielleicht, der es vorzieht, die Nacht in einer Westerländer Bar zu verbringen, anstatt mit seiner Angetrauten zu Hause vor dem Fernseher einzuschlafen? Morgen früh wird er verkatert ein aus dem Ruder gelaufenes Geschäftsessen vorschützen.
Ob Hubert Mönchinger auch manchmal um diese Zeit unterwegs ist? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich nicht, er hätte es mir doch sonst erzählt. Er erzählt mir alles, von dem er glaubt, dass es wichtig ist. Und diese eine freie Nacht, die er seiner Gattin pro Woche gönnt, hält er für ungeheuer wichtig. Er schämt sich furchtbar, wenn er darüber redet, aber er tut es trotzdem immer wieder. Tapfer. Wahrscheinlich lügt er nie. Denn Hubert Mönchinger will vor sich selbst als Ehrenmann dastehen – wenigstens das.
Wenn ihn seine Frau schon für einen Versager hält.
Der arme Kerl, er spricht fast nur von ihr. Er scheint nur durch sie zu existieren, als habe sie ihn am Tag ihrer Eheschließung aufgesogen, mit ihren Tentakeln erfasst und eingekreist. Unschädlich gemacht. Dabei hat er in seinem ganzen Leben bestimmt noch niemandem geschadet.
Aber halt, Manfred, alter Junge, pass auf, sonst sitzt du gleich neben deinem Patienten in der Marga-Mönchinger-Falle. Sie hält ihn ja gerade nicht für einen Versager. Nur darum ist er zu mir gekommen, und das finde ich durchaus nachvollziehbar.
Er fühlt sich, so sagt er, wie ein Fisch, den man nur angelt, um sein angstvolles Japsen verwundert zu betrachten. Niemand will ihn anschließend braten. Im Gegenteil. Stets wird er zurück ins Wasser geworfen. Allerdings nur vermeintlich mildtätig. Denn mit dem Angler eint ihn die Gewissheit, dass er jederzeit wieder aus dem Wasser gefischt werden kann. Hat Mönchinger eigentlich von einem Angler oder einer Anglerin gesprochen? Himmel, ich werde vergesslich! Gut, dass ich meine Aufzeichnungen habe.
Was ist denn da vorn los? Sieht aus, als habe dort einer die Promille der bescheidenen drei Martinis, die ich mir genehmigt habe, erheblich überschritten. Der beansprucht doch tatsächlich die volle Straßenbreite, beide Spuren. Witzig, er fährt das gleiche Auto wie ich. Sogar die Radkappen sind identisch. Wollen doch mal sehen, ob er sich auch die Turbo-Version geleistet hat.
Da schau einer an, er hat! Aber er traut sich nicht richtig. Vielleicht liegt das an dem Mädel auf dem Beifahrersitz. Scheint eine scharfe Nummer zu sein, so wie die blonden Locken fliegen.
Hoppla, jetzt hätte der Kerl mich doch beinahe gerammt. Ist ja gut, wollte mir doch nur deine Kleine etwas näher ansehen. Wenn der mal kein Fall für die Inselpolizei ist. Allein schon, weil man unmöglich an ihm vorbeikommt, jedenfalls, wenn man nicht in selbstmörderischer Absicht unterwegs ist. Am besten wäre es wirklich, ich würde stehen bleiben, rechts ranfahren und dann die Polizei rufen. Der Kerl ist eindeutig eine Gefahr für seine Mitmenschen.
Wenn ich nur wüsste, ob man meine Martinis noch riecht. Nicht, dass die Beamten dann auf die dumme Idee kommen, auch gleich bei mir einen Alkoholtest zu machen.
Marleen denkt ja, ich schlafe wieder mal auf der Couch in der Praxis. Dabei belüge ich das gute Kind so ungern. Aber es ging nicht anders. Oder hätte ich sagen sollen, ich wolle die Angaben eines Patienten überprüfen? Selbst Marleen hätte mich für komplett übergeschnappt gehalten. Wahrscheinlich zu Recht!
Ach, was weiß Marleen schon.
Mönchinger kommt seit mindestens zwei Monaten nicht weiter mit seiner Analyse. Natürlich war das vorauszusehen. Die beiden Mönchingers sind der klassische Fall für eine Paartherapie. Aber seine Marga will ja nicht. Behauptet er jedenfalls. Hier bin ich mir übrigens nicht ganz sicher, ob er die Wahrheit sagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie wirklich gefragt hat.
Ich weiß noch sehr genau, wie es war, als er mir zum ersten Mal die Bilder zeigte. Dieser Stolz, mit dem Mönchinger die Fotos aus der Brieftasche zog. Die absichtlich verzögerten Bewegungen, dazu ein Gesicht wie Weihnachten unterm Tannenbaum. Als ich seine Frau dann endlich anschauen durfte, war ich zugegebenermaßen beeindruckt. Flammend rote Haare, auch zwischen den Beinen, und dann diese Figur – Junge, Junge! Warum sie ihn wohl geheiratet hat? Er meint wegen seines lukrativen Jobs, der Naivling. Ich habe dazu nichts gesagt, aber du liebe Güte, was ist schon ein Kleinunternehmer? So, wie seine Marga aussieht, hätte die doch ganz andere haben können! Selbst ohne ihre pikante Veranlagung.
Natürlich ist keinesfalls sicher, ob auch wirklich alles stimmt, was Mönchinger mir über seine Frau erzählt hat. Aber genau das werde ich heute Nacht herausfinden. Das bin ich dem Ruf schuldig, der mir in Fachkreisen vorauseilt. Instinktsicher nennen mich die Kollegen, und neidvoll wispern sie sich zu: Diesen Instinkt, den hast du, oder du hast ihn nicht. Lernen kannst du das auf keiner Uni. Aber der Pabst, der hat ihn einfach.
Und ungewöhnliche Fälle erfordern eben ungewöhnliche Methoden.
Eines steht für mich jetzt schon fest: Wenn ich mit Marga Mönchinger verheiratet wäre, würde ich sie nicht eine Nacht pro Woche allein lassen. Jedenfalls nicht freiwillig. Etwas Selbstquälerisches hat er schon, der Hubert Mönchinger, man muss sich nur ansehen, wie er sich in meinem Sessel krümmt.
Was er wohl gerade tut? In dieser, und auch in all den anderen Donnerstagnächten, die er in der kleinen Pension neben dem Flensburger Büro seiner Firma verbringt, um seiner Ehefrau ein wenig Freiraum zu lassen. Welch eigenartige Formulierung.
Ob ich wohl Marga Mönchinger mit ihrem Liebhaber antreffen werde? Ich halte jede Wette, dass sie einen hat. Mönchinger selbst glaubt das natürlich auch.
Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe ist, Marga Mönchingers Treue zu überprüfen. Schließlich bin ich kein Privatdetektiv. Also umkehren? Denn was soll schließlich schon bei diesem Überraschungsbesuch herauskommen?
Ich klingele, sie öffnet. Und am nächsten Tag erzählt sie die ganze Geschichte verwundert ihrem Gatten.
»Sag mal Hubert, weißt du eigentlich, wer gestern Nacht hier vor unserer Tür stand? Du wirst es nicht glauben, Manfred Pabst, dein Analytiker. Doch, doch, mein Lieber, er hat sich mir ja vorgestellt. Oder glaubst du vielleicht, ich hätte ihn sonst hereingelassen? Was denkst du eigentlich von mir? Es war schon nach Mitternacht, er hat mich aus dem Schlaf geklingelt. Warum ich überhaupt die Tür geöffnet habe? Du stellst Fragen! Aus Sorge um dich natürlich. Dir hätte etwas passiert sein können in Flensburg. Warum sonst sollte ich wohl einen wildfremden Mann nachts in unser Haus lassen? Was denkst du eigentlich von mir? Was heißt, das habe ich dich eben schon gefragt? Natürlich habe ich eben schon gefragt, was du von mir denkst, aber du antwortest mir ja nie auf diese Frage.«
Diese Frau ist ihrem Mann himmelhoch überlegen. Aber um das festzustellen, muss ich nicht durch die Nacht fahren. Das weiß ich spätestens seit Mönchinger mir von einem äußerst pikanten nächtlichen Dialog erzählt hat.
Man stelle sich Folgendes vor: Beide liegen im Bett, nackt natürlich, der Mann hat sein Bestes gegeben, ist immer noch ein wenig atemlos, aber durchaus zufrieden, und sie sagt: »Hubert, mein Guter, es ist nicht so, wie du denkst …«
»Was meinst du, mein Schatz? Ich denke doch gar nichts.«
»Ich will nur nicht, dass du ein schlechtes Gewissen hast.«
Hubert Mönchinger hat gar kein schlechtes Gewissen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht, das hat er mir glaubhaft versichert. Er antwortet also: »Aber meine Liebe, ich bin rundum zufrieden, du etwa nicht?«
Und seine Frau, was sagt sie darauf? Sie sagt doch glatt: »Nein, ich bin leider nicht zufrieden. Wieder einmal leider nicht zufrieden.«
»Aber warum denn nicht mein Liebes?« Als sie die Antwort schuldig bleibt, fügt Mönchinger hinzu: »Fühlst du dich irgendwie, nun, wie soll ich es sagen … unterversorgt?«
»Unterversorgt …« Sie lässt das Wort im Mund zergehen, es scheint ihr zu gefallen, und während ihr dieses Wort so sichtbar gefällt, keimt in ihrem Mann der Verdacht, dass er soeben eine höchst gefährliche Vorlage geliefert hat. Mit bangem Blick beobachtet er seine Frau und sieht, wie sie einen Entschluss fasst. Scheinbar unkonzentriert murmelt sie: »Ach was, unterversorgt.«
Hubert Mönchinger atmet auf, völlig zu Unrecht, wie sich gleich herausstellen wird, denn sie redet weiter.
»Ich bin nicht unterversorgt, Hubert, ich bin einfach überbedürftig.«
»Überbedürftig …« Jetzt ist es an ihm, das Wort bedachtsam hin und her zu wenden.
Doch seine Frau lässt ihn nicht. »Bitte mach dir keine Sorgen, Hubert. Die Schuld liegt ganz auf meiner Seite. Und ich werde schon irgendwie damit fertig.«
Was antwortet man auf so eine Bemerkung? Ich weiß es genauso wenig, wie Hubert Mönchinger es gewusst hat. Immerhin rang er sich ein »Das ist bestimmt nicht einfach für dich« ab. Denn langsam begriff er, worauf sie anspielte.
Im Grunde genommen finde ich diese Replik ganz angemessen. Wenn sie nur nicht so dämlich klingen würde. Das fand wohl auch die rote Marga. Denn anstatt ihn zu trösten, sein Ego zu streicheln, ihre Worte zu relativieren, legt sie nach.
»Nein, natürlich ist es nicht einfach für mich. Das habe ich auch nicht behauptet. Aber weißt du, ich schaffe es schon.«
»Kann ich dir denn gar nicht dabei helfen, Marga?«
Da faucht sie ihn an: »Was sagst du? Helfen? Du willst mir helfen? Ach du liebe Güte, wie willst du mir denn helfen?«
Fehlt nur noch, dass sie hinzufügt: Ausgerechnet du! Aber das tut sie nicht. Das tut sie gerade nicht. Das ist eben das Perfide an Marga Mönchinger. Sie wirft den Fisch Hubert wieder ins Wasser. Und er darf seine Wunden pflegen, bis er das nächste Mal geangelt wird. Und ich, Manfred Pabst, bin derweil sein Wundarzt. Natürlich. Ich Trottel. Woche für Woche fange ich wieder von vorn an, bekomme den Ursprung des Übels aber nicht zu packen, denn er liegt nicht bei Hubert Mönchinger. Da kann ich suchen, bis ich schwarz werde. Nein, nein, Marga ist es, die die Fäden zieht.
Und darum ist es gut, dass ich sie mir einmal ansehe. Ungewöhnliche Fälle erfordern eben ungewöhnliche Methoden. So einfach ist das.
Wenn ich nur nicht so hundemüde wäre. Hätte ich doch bloß einen der Martinis durch einen Kaffee ersetzt, oder am besten gleich alle drei. Aber hinterher ist man immer schlauer. Und ohne die drei Martinis wäre ich vielleicht gar nicht erst losgefahren.
Wunderschön, dieses Klavierkonzert, geht mir richtig ins Blut, die Melodie. Und links und rechts. Beide Spuren völlig leer. Komisch, ich hab gar nicht gesehen, wo der Alkoholiker vor mir abgeblieben ist. Wahrscheinlich nach Kampen gefahren, erst einen Absacker in der Whiskystraße nehmen und anschließend seine schnucklige Beifahrerin auf dem Rücksitz poppen. Warum auch nicht. Und links und rechts. Da ist wieder dieses Motiv, diesmal bei den Streichern. Mist, das war aber knapp! So ein Ortsschild ganz aus der Nähe sieht nicht gerade einladend aus. Ach, diese Streicher. Und links und rechts.
Ich bin nicht unterversorgt, ich bin überbedürftig. Mit diesem Ausspruch seiner Gattin geht Mönchinger jetzt durchs Leben. Den Satz nimmt ihm keiner ab. Auch kein Analytiker. Ein Teufelsweib ist das. Ob sie wohl noch wach ist? Angeblich trinkt sie überhaupt keinen Alkohol.
Das würde alles noch viel schlimmer machen, Hubert.
Noch so ein Satz.
Was hat er sich bloß von dem Alkohol versprochen? Willig ist sie doch ohnehin. Daran jedenfalls hat Mönchinger nie einen Zweifel gelassen.
»Eine Nymphomanin, Herr Pabst.«
»Das gibt es nicht, Herr Mönchinger.«
»Doch, Herr Pabst, das gibt es. Sie kennen eben meine Frau nicht.«
Was sollte ich dazu sagen? Ich kannte eben seine Frau nicht.
Aber jetzt, in schätzungsweise fünf Minuten, wird sich das ändern. Die Ortseinfahrt von Westerland habe ich gerade passiert, jetzt muss ich nur noch nach links durch diese langweilige Backsteinsiedlung. Irgendwo dort wohnen die Mönchingers.
Ich stelle den Wagen lieber ein Stück entfernt ab, ein paar Schritte durch die klare Luft können mich nur beruhigen.
Ein schönes Haus, geschmackvoll. Und ein schöner Vorgarten. Ob die rote Marga wohl auch mit dem Gärtner …?
Manfred, alter Junge, jetzt halt dich aber zurück!
Sie macht nicht auf. Es sind auch alle Fenster dunkel. Also Sturmklingeln? Oder doch aufgeben? Halt, da scheint plötzlich etwas durch das Glas der Tür. Das Treppenlicht? Jetzt entriegelt jemand das Schloss.
»Wer ist da?«
Ihre Stimme ist schon mal eine Enttäuschung.
»Mein Name ist Manfred Pabst, gnädige Frau. Ich bin Hubert Mönchingers Analytiker. Ich weiß, dass er Ihnen von mir erzählt hat.«
»Bitte? Ich kann Sie so schlecht verstehen.«
Na dann mach doch endlich auf!
Langsam, ganz langsam öffnet sich die Tür. Nur einen Spalt weit, Marga Mönchinger hat immer noch die Kette vorgelegt. Aber sie tritt so in den Spalt, dass ich sie sehen kann. Heiliger Strohsack!
»Sind Sie Frau Mönchinger?«, frage ich fassungslos.
»Ja. Natürlich. Wer sind Sie? Und was wollen Sie hier um diese Zeit? Ist Hubert etwas geschehen?«
Sie trägt ein Blümchennachthemd. Baumwollflanell in einem unsäglichen Gelb mit etwa 2000 Streublümchen darauf und mit einer Rüsche rund um den Busen. Leider hat das Nachthemd keinen eingearbeiteten Büstenhalter. Und von roten Haaren kann schon überhaupt nicht die Rede sein. Verschwitzt kleben mausgraue Fäden an ihrem Kopf, der klein ist wie bei einem unterernährten Vögelchen. Wenn ich an die Mähne von der Rothaarigen auf dem Foto denke, wird mir ganz anders. Die Frau, die hier vor mir steht und behauptet, Marga Mönchinger zu sein, hat höchstens im Vergleich mit mir selbst eine Mähne auf dem Kopf. Jetzt zupft sie auch noch nervös an ihren Haaren herum. Ihre Stimme wird ganz zittrig vor Angst.
»Bitte sagen Sie doch etwas! Sie stehen doch nicht ohne Grund hier. O mein Gott …«
»Nein, nein, gnädige Frau, beruhigen Sie sich, es ist überhaupt nichts geschehen. Gar nichts. Ich wollte nur …«
Ach verdammt, ist das peinlich!
Ich nestele an meinem Jackett, um nicht weiter in dieses Gesicht sehen zu müssen. Natürlich sehen wir alle etwas zerknautscht aus, wenn man uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt. Aber doch nicht so zerknautscht. Diese faltigen Augen, dieser verkniffene Mund.
»Ist Ihnen nicht gut? Mein Gott, ich stehe hier und rede. Sie sind ja ganz blass! Warten Sie …«
Die Frau im Blümchennachthemd nestelt an der Türkette.
»Bitte bemühen Sie sich nicht, Frau Mönchinger, es geht schon besser. Ein kleiner Schwächeanfall, offenbar. Wissen Sie, ich kenne niemanden in Westerland, und in meiner Not kam mir Ihre Adresse in den Sinn. Es war natürlich ganz unverzeihlich von mir, Sie einfach so mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln. Bitte entschuldigen Sie vielmals, aber ich dachte …«
Jetzt hat sie die Kette aus dem Schloss gefummelt und winkt mich mit besorgter Miene ins Haus.
»Wirklich, Frau Mönchinger, es geht mir erheblich besser! Ich bitte Sie inständig: Nur keine Umstände! Es ist mir furchtbar unangenehm, Sie überhaupt gestört zu haben.«
Irgendwie schaffe ich es, wieder ins Auto zu kommen.
Mein Kopf ist leer. In einem wahrhaft erschreckenden Ausmaß leer. Ich wende und fahre ziellos durch die Straßen. Nur hin und wieder sehe ich auf die Uhr. Ordne meine Gedanken.
Bin ich nicht losgezogen, die Angaben Hubert Mönchingers zu überprüfen? Und habe ich sie nicht überprüft?
Nach und nach liegt es immer klarer vor mir, das Seelengemälde meines Patienten. Hubert Mönchinger ist ein schwer neurotischer Mensch, fast schon ein Psychopath. Was er sich einredet, grenzt an Schizophrenie. Mein Patient ist ein klassisch klinischer Fall, nur verdammt gut getarnt. Oder lügt er absichtlich, um sich wichtig zu machen? Nein. Dass er selbst die Geschichte mit der Rothaarigen glaubt, daran ist nicht zu zweifeln. Fragt sich nur, was er seiner Frau über die Donnerstagnächte erzählt, die er in Flensburg verbringt. Vielleicht bei der Rothaarigen? Im Liebestaumel? Irgendwo muss er das Foto schließlich herhaben. Wenn ich nur an die Pose denke, mit der dieses scharfe Weib an dem Wagen lehnt. Auf dem Foto ist eindeutig Mönchingers Auto zu sehen, ich war clever genug, mir das Kennzeichen zu merken. Und so ohne Weiteres lehnt sich doch keine feuerrote Schönheit an den Kotflügel eines durchschnittlichen Daimler und lässt für den Fotografen auch noch alle Hüllen fallen. Ich werde den guten Mönchinger bei unseren nächsten Sitzungen gehörig in die Zange nehmen müssen. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht herausfinden könnte, wer dieses Götterweib ist und wo sie wohnt.
Und dann: Ade Marleen! Und: Gnade dir Gott, du rote Teufelin!
Während auf der Wattseite der Insel gerade die Sonne aufgeht und als fetter roter Ball über dem Festland mit seinen Windrädern, Deichen und Feldern hängt, liegt der Westerländer Strand noch im Schatten der Kurpromenade. Schlapp rollen die Ebbewellen übers Wasser, feuchtgrau schimmert der Sand im Zwielicht, erste Möwen suchen zwischen den Strandkörben nach Essensresten. Die Körbe stehen in Reih und Glied, die Rückseiten zur Nordsee gedreht. Die Spuren eines Raupenfahrzeugs, das am Abend zuvor zwischen Wasserkante und der ersten Strandkorbreihe entlanggetuckert ist, sind noch unangetastet, kein Kind ist darüber gehüpft oder hat seine kleinen Füße in die rechteckigen Ausbuchtungen gedrückt.
Doch halt. An einer Stelle sind Schuhspuren zu sehen, tief haben sich die Abdrücke eines Paares großer flacher Schuhe in den Sand geprägt, und deutlich sind Hin- und Rückweg voneinander zu unterscheiden. Bald wird der Schattenwurf der steigenden Sonne Fuß- und Fahrzeugspuren überscharf akzentuieren und kurz darauf auch die eigentümliche Figur erfassen, die schräg in einem der Strandkörbe nah an der Wasserkante sitzt.
Es ist eine Frau, jung, nackt, sehr schlank ohne mager zu wirken. Ihre wenig gebräunte Haut leuchtet wie eine opalene Verheißung in der Morgendämmerung. Sanft modellieren sich Schultern, Brüste und Hüften vor dem blauweiß gestreiften Plastikbezug des Strandkorbs. Vollkommen entspannt, so scheint es, lehnt die Frau in der rechten Ecke des Sitzes, eine Hand locker über die Lehne gelegt. Ihre Füße stecken in hohen, sehr spitzen Schuhen von grellroter Farbe, die wie Fremdkörper in dem hellen Sand anmuten würden, wären da nicht die ungewöhnlich langen Haare der Frau, deren ebenfalls leuchtendes Rot gerade von den ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne ergriffen und zum Glühen gebracht wird. Wie ein Heiligenschein umgeben die Haare das Madonnengesicht, als wollten sie von den hässlichen Würgemalen ablenken, die unterhalb des Kinns am vorderen Hals zu sehen sind. Ebenfalls rot, wenn auch weniger leuchtend als Haare und Schuhe befinden sich hier deutlich sichtbar Fingernagelspuren, die zu winzigen Hautverletzungen geführt haben und dadurch wie verspielte Punkte auf einer nachlässig grundierten Leinwand wirken. Auch die zahlreichen Unterblutungen im Gesicht, vor allem rund um die schreckstarr geöffneten Augen nehmen das Thema der roten Farbe wieder auf. Nur die vielen Fliegen, die eifrig Gesicht und Körper untersuchen, stören die Vollkommenheit der Komposition erheblich.
Noch hat niemand die Leiche entdeckt, noch ist der Strand menschenleer, auch wenn jetzt das Licht der Sonne seinen Rotstich verliert und sich in reinem Gold über die bizarre Szene ergießt.
Keuchend stemmt Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer die 65-Kilo-Hantel. Es ist sein dritter Take in der vierten Runde, und er spürt langsam, wie die Gelenke zu zittern beginnen und damit das Ende der körperlichen Leistungsfähigkeit signalisieren. Langsam und vorsichtig lässt Kreuzer die Stange mit den Gewichten wieder sinken. Er weiß genau, dass sie, rutschte sie ihm aus der Hand, schwerste Verletzungen an Kehle oder Brustkorb verursachen würde. Es hat schon Fälle gegeben, in denen eine herabkrachende Stange einen Übenden erstickt hat, natürlich nicht in einem Studio, wo das Geräusch der herunterpolternden Gewichte sofort Helfer auf den Plan rufen würde. Auch hier stehen trotz der frühen Stunde zwei Männer in Sportbekleidung hinter dem Eingangstresen und haben ein Auge auf die wenigen Trainierenden.
Kreuzer richtet sich auf, legt die Gewichte zurück in die Halterung und greift nach dem Handtuch, das neben Handy, Wasserflasche und Garderobenschlüssel auf dem Boden liegt. Langsam wischt er sich den Schweiß von Stirn und Schultern, bevor er in langen Schlucken die Flasche leert. Das morgendliche Training absolviert der Hauptkommissar zweimal wöchentlich, nachdem er zu Beginn des Frühlings feststellen musste, dass der lange Winter und der Frust über das Ende seiner Beziehung zur Kollegin Silja Blanck offenbar seinem Gewicht nicht gut bekommen war. Wer monatelang in seiner kargen Freizeit vorzugsweise Burger in sich reinstopft und dabei wahllos alle Serien im Fernsehen an sich vorüberziehen lässt, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann nicht mehr muskulös, sondern eher korpulent wirkt. Eine abfällige Bemerkung Siljas, als sie Anfang März nach ihrer schweren Schulterverletzung wieder in den regulären Dienst eingetreten war, hatte das Fass dann zum Überlaufen gebracht. Seitdem trainiert Bastian im BodyCult, und zum Glück haben sich schon erste Erfolge eingestellt, so dass der Kommissar, als er seine Sachen einsammelt und langsam in Richtung der Umkleideräume geht, einige bewundernde Blicke von Trainingskameraden erntet. Zufrieden mit sich und der Welt schließt Kreuzer seinen Schrank auf, um das Duschzeug herauszunehmen, als ein Klingelton wie bei einem amerikanischen Telefon ertönt. Das Display auf Kreuzers Handy zeigt die Backsteinfassade des Westerländer Kriminalkommissariats, und am Telefon ist der diensthabende Kollege von der Schutzpolizei.
»Moin, moin, habe ich dich aus dem Bett geholt?«
»Da muss ich dich enttäuschen. Heute ist Freitag, mein Schönheitstag, du weißt schon, Fitnessstudio.«
»Na, da bist du ja schon auf dem Weg.«
»Auf dem Weg wohin?«
»Wir haben eine weibliche Leiche am Westerländer Strand. Die Frau ist blutjung, splitterfasernackt und mausetot. Erwürgt würde ich sagen, ohne allerdings dem Rechtsmediziner vorgreifen zu wollen.«
»Das ist ein schlechter Scherz zu früher Stunde, oder?«
»Mit Toten scherzt man nicht, das solltest du als verantwortungsbewusster Kriminalhauptkommissar am besten wissen.«
Bastian schweigt für einige Sekunden und wischt sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Es fällt ihm nicht ganz leicht vom Frühsport auf die Ermittlung umzuschalten. Mit kurzatmiger Stimme fragt er: »Wo genau finde ich euch?«
»Wir sind direkt hinter der Sylter Welle. Kannst du gar nicht verfehlen, wir haben oben auf dem Deich und auch hier unten schon alles abgesperrt. Zum Glück hat ein früher Jogger die Tote entdeckt, bevor die ersten Kinder über sie stolpern konnten.«
»Okay, ich bin in zehn Minuten da. Sagst du Sven Bescheid?«
»Mach ich. Hoffentlich habe ich nicht wieder seine vorlaute Tochter am Telefon, die mich zu sämtlichen Details befragt, bevor sie den Apparat gnädigerweise an ihren Vater weiterreicht.«
»Ich drück dir die Daumen, Kollege, bis gleich.«
Oberkommissar Sven Winterberg biegt mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz an der Sylter Welle ein. Das Spaßbad liegt im Westerländer Zentrum direkt hinter der Kurpromenade und dient mit seinen Becken, Rutschen und Saunen nicht nur den Urlaubern als Ort der Erholung an kalten Tagen. Zu dieser frühen Stunde ist der Parkplatz allerdings leer, so dass Sven dicht an die deichartig angelegte Kurpromenade heranfahren kann. Der schlanke, fast grazil wirkende Kommissar mit den stets sorgfältig frisierten dunklen Locken verlässt sein Auto und springt die wenigen Stufen zur Promenade hinauf. Die betonierte Flaniermeile, die sich längs des gesamten Strandes erstreckt, wirkt verwaist, jedenfalls wenn man den Trubel kennt, der tagsüber hier herrscht. Doch wer jetzt schon durch Zufall oder Gewohnheit hier ist, der steht gebannt und beobachtet das ungewöhnliche Treiben der Polizei unten am Strand.
Auch Sven nimmt sich Zeit für den grotesken Anblick, der fast wie ein Filmset wirkt.
Der Strand ist weiträumig mit rotweiß gestreiftem Flatterband abgesperrt. Im Licht der niedrig stehenden Sonne werfen die Strandkörbe lange Schatten auf den feuchten Sand. Vor zwanzig Minuten ist ein Wolkenband über die Insel getrieben und hat sich in einem heftigen Regenschauer entladen. Kurz darauf funkelte die Insel wieder wie frisch abgespült im Morgenlicht, der Himmel war blau und blank geputzt, und niemand, der mit dem Inselwetter nicht vertraut ist, hätte einem den Regenschauer geglaubt. Doch auf den Strandkörben perlt noch das Wasser. Sie alle sind leer bis auf den einen in der Mitte des abgesperrten Areals. Im Schutz der geflochtenen Muschel sitzt eine nackte rothaarige Schönheit. Ihr Körper lehnt entspannt im Strandkorb, obwohl er sie möglicherweise nicht ausreichend gegen den Regen geschützt hat. Denn die langen Haare sind feucht und legen sich wie Schlangen um Hals und Schultern. Die Tote wirkt wie Aphrodite, die eben erst dem Meerwasser entstiegen ist. Und sie hat es geschafft, sehr schnell für Aufsehen zu sorgen. Der Polizeifotograf bemüht sich um sie, als sei sie ein begehrtes Model, das ausnahmsweise nackt posiert. Rundherum wuseln Techniker, uniformierte Beamte und die Kollegen von der Spurensicherung über den Strand. Am Rand der Absperrung haben sie ihre diversen Utensilien aufgebaut oder abgestellt, um im Inneren nicht unnötig Spuren zu verwischen.
Unnahbar und bewegungslos thront die schöne Frau in ihrer Mitte.
Obwohl Sven sicher ist, dass Bastian irgendwo dort unten schon auf ihn wartet, lässt er die abstruse Szene noch länger auf sich wirken. Was sagt dieser Anblick über den Täter aus? Irgendjemand hat sich in der vergangenen Nacht die Zeit genommen, den toten Körper sorgfältig hier zu arrangieren. Es hätte auf der Insel weiß Gott genug abgelegene Plätze gegeben, um die Leiche zu verbergen. Doch darum ist es dem Täter ganz augenscheinlich nicht gegangen. Hier sollte ein Mensch ausgestellt werden. Oder ein Prinzip. Schönheit und Sünde, das sind die beiden Begriffe, die dem Oberkommissar spontan zu dieser Inszenierung einfallen, und er würde sich sehr wundern, wenn er mit dieser Assoziation falsch liegen sollte.
Langsam steigt Winterberg die Stufen zum Strand hinunter, wo nach wenigen Sekunden Bastian Kreuzer auf ihn aufmerksam wird, sein Freund, Kollege und Vorgesetzter, und das genau in dieser Reihenfolge, wie beide gern zu witzeln pflegen.
»Moin, moin, bist du deinen beiden Damen doch noch entkommen? Ich dachte schon, das wird heute nichts mehr.«
»Na, so spät bin ich nun auch nicht dran. Ich hab eine Weile oben gestanden und die Szene auf mich wirken lassen.«
»Hat was Obszönes, oder?«
»Das kannst du laut sagen.«
»Die Frau ist erwürgt worden, das steht schon mal fest. Aber wahrscheinlich war sie vorher baden und das vermutlich nicht allein. Körper und Haare sind voller getrockneter Salzspuren. Ob sie Geschlechtsverkehr hatte, wissen wir noch nicht. Verletzungen gibt es jedenfalls keine.«
»Habt ihr die Identität schon festgestellt?«
»Keine Chance. Von Kleidung und Papieren fehlt jede Spur. Nur die schicken Schuhe hat man ihr gelassen.«
»Sieht nicht unbedingt so aus, als sei sie zu einem Strandspaziergang verabredet gewesen«, entgegnet Sven mit einem Blick auf die knallroten High Heels.
»Oder der Täter hat die Schuhe mitgebracht, um sein Bild zu vervollkommnen.«
»Und wie nennen wir das Bild? Tote Unschuld am Strand?«
»Wohl kaum. Wie wär’s mit: Nackte Sünde im Sand?«
»Klingt besser. Aber eigentlich sollten wir Silja fragen.«
»Wegen ihrer Kunstgeschichts-Eskapade?«
»Lass dich nicht von ihr dabei erwischen, dass du ihr Studium so abtust.«
»Für mich ist sie immer noch in erster Linie Kriminalkommissarin«, gibt Bastian missgelaunt zurück.
»Jaja, schon gut, ich wollte dich nicht provozieren.«
Während ihrer Unterhaltung sind die beiden Kommissare näher an die Leiche herangetreten. Jetzt kann Sven kleine Unebenheiten in der Gesichtshaut erkennen, die ein wenig wie Spuren einer schlecht verheilten Akne wirken, die aber auch von den ersten Fliegenbissen herrühren können. Mit einer entschlossenen Handbewegung verscheucht Sven die Insekten, auch wenn er genau weiß, dass niemand den zügigen Verfall dieser Schönheit wird aufhalten können. Im Tod werden alte und junge, attraktive und weniger attraktive Menschen sich in rasender Geschwindigkeit ähnlich, ein Prozess, der vielleicht sogar etwas Tröstliches hat.
Entschieden reißt sich Sven von den metaphysischen Gedanken los und sagt leise: »Wenn wir ein Foto von diesem Gesicht an die Presse geben, dann wissen wir sofort, um wen es sich handelt. Wenn du diese Frau einmal gesehen hast, vergisst du sie nicht so schnell.«
»Wohl wahr. Allerdings sollten wir vorher prüfen, ob sie nicht schon vermisst wird. Wenn dir diese Frau plötzlich fehlt, dann merkst du das nämlich auch ziemlich schnell.«
Sven wirft dem Kollegen einen kurzen Blick zu. Diese Sorte von Gesprächsanfängen kennt er zur Genüge. Für gewöhnlich leiten sie eine Erörterung der gescheiterten Beziehung Bastians zur Kollegin Silja Blanck ein. Doch jetzt scheint der Hauptkommissar anderes im Sinn zu haben.
»Ich rede noch mal mit dem Rechtsmediziner, und dann fahren wir zurück ins Büro und gehen die Vermisstenanzeigen durch.«
»Irgendwelche Zeugen?«, will Sven wissen.
»Gibt es offenbar nicht. Der Jogger, der sie gefunden hat, hat sonst nichts und niemanden beobachtet. Und mit Spuren sieht es auch ganz schlecht aus. Der Jogger ist erst nach dem Regenguss losgelaufen. Da war natürlich auf dem Strand schon alles eingeebnet.«
Sven nickt, kann sich dann aber eine letzte Frage nicht verkneifen.
»Was glaubst du? Wird das eine harte Nuss oder eher ein Routinefall?«
Hauptkommissar Bastian Kreuzer schweigt einen Moment nachdenklich, dann antwortet er entschieden: »Das wird alles, nur kein Mittelmaß. Entweder wir haben diesen kranken Typen sofort, oder wir beißen uns die Zähne aus.«
»Und wenn es der Anfang einer Serie ist?«
»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand.«
»Muss ich doch gar nicht. Der sitzt ja schon als verführerische Hexe verkleidet direkt vor uns im Strandkorb.«
»Vorsicht Kollege, lass dich mit so einer Äußerung nicht von Silja erwischen.«
»Keine Sorge«, Sven sieht auf die Uhr. »Sie schläft bestimmt noch. Hat sich unheimlich auf ihr langes Wochenende gefreut. Soweit ich weiß, bekommt sie Besuch aus Hamburg. Eine Kommilitonin, die sie an der Uni kennengelernt hat.«
»Bist du sicher, dass es eine Frau ist?«
»Silja lügt nicht, so gut solltest du sie kennen.«
»Na, dann wollen wir mal hoffen, dass es uns gelingt, sie bis Montag aus den Ermittlungen rauszuhalten und das Ganze allein zu stemmen. Ich als Single habe kein Problem damit, das Wochenende durchzuarbeiten. Aber wie es deine Familie aufnehmen wird, wenn du deine Zelte für die nächsten drei Tage im Kommissariat aufschlägst, weiß ich natürlich nicht.«
Sven fährt sich nachdenklich durch die Haare. »Unsere Lütte ist auf Klassenfahrt in Sachsen, und Anja und ich wollten morgen eigentlich das hintere Stück vom Wall neu bepflanzen. Das ist ein ziemlicher Knochenjob, allein schafft Anja das niemals. Aber was soll’s, dann müssen wir das eben verschieben.«
Knallend fliegt die Tür des bescheidenen Reihenhauses ins Schloss. Mit eiligen Schritten läuft Birgit Westermür zu ihrem Auto. Sie hat in der letzten Nacht kaum geschlafen, ist am Morgen entsprechend schlecht aus dem Bett gekommen und hat wieder mal ewig gebraucht, um sich herzurichten. Wenn man als Lehrerin den ganzen Vormittag vor einer Klasse von Halbwüchsigen steht, dann möchte man nicht unbedingt aussehen wie ein hohlwangiges Gespenst. Und genauso fühlt sich Birgit Westermür, seit ihr Mann ihr vor einer knappen Woche eröffnet hat, dass er die Scheidung will. Selbst das Essen macht ihr seitdem weniger Spaß.
22 Jahre sind Gerd und Birgit jetzt schon verheiratet, die beiden Töchter studieren in Süddeutschland, und Birgit hatte bis vor einer Woche tatsächlich gehofft, dass endlich Ruhe in ihre Beziehung einkehren würde. Und nun das. Eine Scheidung.
Während Birgit den ersten Gang einlegt und langsam aus der Einfahrt rollt, versucht sie, sich auf die anstehenden Schulstunden zu konzentrieren. Der Röhm-Putsch in Geschichte und die Einführung der komplexen Zahlen in Mathematik. Danach eine vierstündige Klausuraufsicht und am Nachmittag die Fachbereichskonferenz. Wie soll sie das nur überstehen?
Ständig schwirren ihr die unterschiedlichsten Gedanken im Kopf herum. Hat Gerd eine Freundin? Und wenn ja, warum leugnet er es dann? Oder will er nur in Ruhe zu seinen Nutten gehen? Hat er vielleicht doch rausbekommen, dass sie ihm draufgekommen ist?
Nein, das kann unmöglich sein. Die Fotos hat sie ja schon vor einem halben Jahr entdeckt und nie darüber gesprochen. Damals dachte sie noch, ihre Ehe sei zu retten. Gehen nicht alle Männer hin und wieder mal zu einer Käuflichen? Und vielleicht ist Gerd noch nicht mal hingegangen, sondern hat sich die Frau mit ihren aufreizenden Posen nur im Netz angesehen.
Immer wieder erscheint der bleiche Körper mit den erstaunlich kleinen Brüsten vor Birgits innerem Auge. Sie hat damals, als sie den Link zufällig auf Gerds Computer entdeckte, alles in ihrem eigenen Rechner abgespeichert, gut geschützt natürlich, jedenfalls besser als Gerd selbst es offenbar für nötig gehalten hatte. Erstaunlicherweise musste sie nie wieder die entsprechende Datei anklicken, denn wie eingebrannt ist der feste junge Hurenkörper seitdem in ihrem Bewusstsein. In schöner Regelmäßigkeit geistert die Rothaarige durch Birgits Träume und verursacht mit ihren lasziven Bewegungen so manchen nächtlichen Schweißausbruch. Birgit hat das alles klaglos ertragen, und sie hätte es auch weiterhin getan, wenn nicht, ja, wenn nicht Gerd letzte Woche plötzlich von Scheidung geredet hätte. Als sie fassungslos nach seinen Gründen fragte, beschwerte er sich über ihr jahrelanges Nebeneinanderherleben, über das Verlöschen ihrer gemeinsamen Sexualität, vor allem aber über Birgits ständig anschwellenden Körper, der doch früher so rank und schlank gewesen sei.
Letzteres tat fast am meisten weh, denn Birgit bemüht sich ja darum Maß zu halten, sie will auf keinen Fall zu den fetten und unattraktiven Frauen gehören, die jenseits der vierzig nur noch mit Wechseljahresbeschwerden und steigendem Körpergewicht zu kämpfen haben. Aber die Verlockungen sind manchmal eben einfach zu groß, und wäre sie allein gewesen, hätte Birgit sich längst mit ihren Prachtmaßen arrangiert. Nur für Gerd hat sie immer noch gekämpft – und jetzt das.
Birgit Westermür nimmt die Einfahrt zum Schulparkplatz mit zu viel Schwung und fährt fast eine Fünftklässlerin über den Haufen, die gerade noch ihr Fahrrad zur Seite reißen kann. Die Lehrerin stoppt sofort, lässt das Seitenfenster herunter und entschuldigt sich wortreich. Die Schülerin nickt verschreckt und schaut Birgit Westermür mit großen Augen ins Gesicht.
Man sieht es, denkt Birgit erschrocken. Man kann schon sehen, wie schlecht es mir geht. Man kann sehen, was mir alles durch den Kopf schwirrt. Meine Sorgen, meine Ängste, meine Nöte.
Aber kann man auch den Hass sehen?, fragt sie sich jetzt. Diesen unglaublichen Hass auf Gerd und seine Nutten.
Mit einem schabenden Geräusch kommt der Zug am Bahnsteig zum Stehen. Das Sonnenlicht spiegelt sich in den dunklen Scheiben und glänzt auf den Wänden der Waggons. Knallend öffnen sich die Türen.
Kriminalkommissarin Silja Blanck steht im Schatten eines Vordaches. Sie trägt ein hellblaues Leinenkleid und flache schwarze Sandalen. Ihre dunklen Haare sind am Hinterkopf zu einem Knoten gedreht. Die junge Frau ist eine auffällig attraktive Erscheinung und hat in den zehn Minuten, die sie wartend auf dem Bahnsteig verbracht hat, etliche Blicke auf sich gezogen. Silja Blanck nimmt so etwas mit Gleichmut hin, weil sie sich darauf verlassen kann, dass ihre kühle Ausstrahlung die Menschen in der Regel davon abhält, sie anzusprechen. Auch jetzt ignoriert sie die mit ihr Wartenden und beobachtet stattdessen konzentriert die Ankommenden.
Ihre Freundin Judith Lissen ist groß und schlank und wird mit ihren langen blonden Haaren sicher inmitten der aussteigenden Touristen auffallen. Als Silja zu Semesterbeginn in ihrer ersten Hamburger Vorlesung saß, ist ihr Blick auch sofort an Judiths sonnenhellen Haaren hängen geblieben. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe über mittelalterliche Tafelmalerei haben beide sich dann kennengelernt, und Judith, die bereits im vierten Semester ist, hat Silja ein paar nützliche Tipps gegeben. Noch hat die Kommissarin nur einen Gasthörerstatus und besucht einmal in der Woche zwei Veranstaltungen. Nach einer schweren Schulterverletzung im letzten Sommer war sie monatelang dienstunfähig und hat in dieser Zeit beschlossen, sich mit dem Nebenstudium einen alten Traum zu erfüllen. Vielleicht wäre ihr die Mühe der wöchentlichen Hamburgfahrten nach ihrer Rückkehr in den Dienst bald zu viel geworden, doch da hatte sie schon Judith kennengelernt. Und mit der beginnenden Freundschaft gab es bald zwei Gründe für die Exkursionen in die Hansestadt.
Aber wo bleibt Judith bloß?
Wieder lässt Silja den Blick über die Eintreffenden schweifen. Doch bis jetzt kann sie nur ältere Ehepaare, Pulks von Jugendlichen und einige Alleinreisende mit Rucksäcken entdecken. Die üblichen Tagestouristen eben, die im Sommer von morgens bis abends die Insel überschwemmen und nicht immer mit dem Wohlwollen der Bewohner rechnen können.
Doch plötzlich hält ihr jemand von hinten die Augen zu. Obwohl Silja gleichzeitig Judiths Lachen hört, fährt ihr der Schreck in alle Glieder, und sie muss sich zusammenreißen, um nicht mit einer heftigen Abwehrbewegung zu reagieren.
»Hey, entspann dich. Ich bin’s.«
Lachend baut sich Judith vor der Freundin auf. Silja fährt sich mit einer erleichterten Bewegung über die Stirn.
»Hast du mich erschreckt! Irgendwie bin ich nicht mehr die Alte, seit diese Frau mich im letzten Sommer niedergeschossen hat.«
Judith hebt beide Arme, als wolle sie sich ergeben.
»Ich bin unbewaffnet und komme in friedlicher Absicht. Großes Kunsthistoriker-Ehrenwort.«
»Okay, überzeugt. Lass uns erst mal aus diesem Trubel hier flüchten. Wollen wir irgendwo frühstücken gehen oder willst du erst zu mir nach Hause das Gepäck abladen? Sind nur zehn Minuten zu Fuß.«
»Frühstücken wäre toll. Ich habe rasenden Hunger. Bin so früh aufgestanden, da habe ich noch nichts runtergebracht. Und auf die Bahn-Sandwiches stehe ich auch nicht so recht.«
»Wie schwer ist deine Tasche denn?« Silja hebt das Gepäckstück kurz an. »Also das können wir zu zweit gut tragen. Was hältst du davon, wenn wir erst mal in Richtung Meer gehen und dann ein Stück die Kurpromenade runter. Ich weiß dort ein tolles Café. Die Terrasse ist im Bäderstil, und das Frühstück richtig gut.«
»Super. Hört sich perfekt an.«
Während die Freundinnen durch die Strandstraße laufen, ziehen wieder Wolken am Himmel auf und ein kühler Wind fegt durch die Fußgängerzone, die am frühen Vormittag noch wenig belebt ist. Einige Rentnerpaare und Familien mit kleinen Kindern schlendern an den niedrigen Häusern vorbei. Überall befinden sich im Erdgeschoss Geschäfte oder Restaurants, der Teeladen neben der Konditorei, die Fischbude neben der Buchhandlung. Mit Blick auf die aneinandergereihten Geschäfte, Restaurants und Imbissbuden sagt Silja: »Wenn es heute noch ein oder zwei Schauer gibt, dann haben die hier einen guten Tag. Keiner geht mehr zum Strand und alle wollen shoppen.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Hoffentlich beruhigt sich das Wetter zum Wochenende. Ich habe mich so darauf gefreut, dir meinen Lieblingsstrand zu zeigen.«
»Wo ist der denn?«
»Zwischen Wenningstedt und Kampen, direkt unterm roten Kliff. Dort bei Sonnenuntergang zu sitzen ist überwältigend. Du warst noch nie auf Sylt, oder?«
Judith antwortet nicht gleich, und Silja blickt die Freundin irritiert an. Mit einer kurzen Verzögerung erklärt Judith: »Na ja, doch. Ein- oder zweimal. Ist aber lange her.«
»Als Kind?«
»Nö, so lange auch wieder nicht.«
Silja Blanck wäre keine Kriminalistin, wenn sie nicht merken würde, dass sie offenbar an ein Thema gerührt hat, über das Judith nicht sprechen möchte. Aber Judith ist keine Verdächtige, und Silja nicht dazu da, etwas aus ihr herauszukitzeln. Also redet sie möglichst unbekümmert weiter.
»Wir könnten am Abend unterm Roten Kliff ein Picknick machen. Weißwein und Tramezzini und ein paar Erdbeeren, was hältst du davon?«
»Klingt verlockend. Vielleicht heute? Morgen Abend lade ich dich nämlich ein. Ich weiß ein richtig gutes Restaurant.« Und mit einer kleinen Verzögerung fügt sie an: »Hat mir letztens eine Freundin empfohlen.«
Judith und Silja sind mittlerweile am Ende der Straße angekommen, wo nur noch die Kurpromenade sie vom Meer trennt. Der Wind ist hier viel stärker und lässt Judiths blonde Mähne wehen.
»Brauchst du ein Haargummi?«, fragt Silja und kramt in ihrer Tasche. »Ich habe normalerweise immer eins dabei, weil du nach einer Stunde Wind mit der Bürste nicht mehr durch die Haare kommst.«
»Ja danke.« Judith nimmt Silja das Gummi aus der Hand und zieht die Haare hindurch. Dabei stellt sie sich mit dem Gesicht zum Wind, der von Norden kommt.
»Guck mal da vorn, das ist ja merkwürdig.«
»Was denn?«
Silja muss nicht lange in die angewiesene Richtung sehen, um zu erkennen, was Judiths Aufmerksamkeit erregt hat. Während sich überall am Strand ein geselliges Leben entfaltet, Kinder buddeln und Paare Federball spielen, sind ein Stück weiter hinten alle Körbe leer. Nur ein paar große schwarze Taschen stehen am Rand einer Absperrung aus rotweißem Flatterband. Und wenn Silja nicht alle Sinne täuschen, dann wird gerade ein Leichensack auf einer Bahre über den Sand getragen.
»Mist, das sieht gar nicht gut aus. Vielleicht ist jemand ertrunken oder hat einen Herzschlag bekommen. Oder aber …«
»Oder es hat einen Mord gegeben?«, fragt Judith neugierig.
»Ich hoffe nicht. Denn dann ist es vorbei mit dem ruhigen Wochenende. Und ich habe mich so darauf gefreut.«
Angespannt zieht Silja ihr Handy aus der Tasche und mustert das Display. Noch ist jedenfalls keine Nachricht von den beiden Kollegen eingegangen. Und sie wird sich hüten, Sven und Bastian von sich aus zu kontaktieren. Vielleicht lässt sich das Wochenende mit Judith ja doch noch retten.
Fluchend sitzt Bastian Kreuzer in seinem Büro in der ersten Etage des Backsteinbaus. Während unten auf der Wache die uniformierten Kollegen sich wieder ihren alltäglichen Aufgaben widmen, geht für den Hauptkommissar jetzt die eigentliche Ermittlungsarbeit los. Vor sich hat Kreuzer sämtliche Vermisstenanzeigen der letzten zwei Wochen. Und zwar nicht nur aus Sylt, sondern aus ganz Schleswig-Holstein. Unter den vermisst gemeldeten Personen sind drei Frauen, die vom Alter her in etwa zu der Toten passen würden.
Die Erste, eine Bäckereifachverkäuferin aus Husum, verschwand nach einem Ehestreit. Die zuständigen Ermittler schließen einen Racheakt des Ehemannes nicht aus, er ist einschlägig vorbestraft. Aber die Verschwundene hat ein Lebendgewicht von mehr als 90 Kilo auf die Waage gebracht, das wird sie sich kaum in den vergangenen zwei Wochen abgehungert haben. Die zweite ist eine Studentin aus Kiel, deren auffällig rote Haare sogar betont werden, allerdings trug sie eine Kurzhaarfrisur. Und die dritte Frau, über deren berufliche Tätigkeit es keine Angaben gibt, ist eine türkischstämmige Deutsche mit deutlich brünetter Gesichtsfärbung und kräftigen dunklen Haaren. Fehlanzeige auf der ganzen Linie also.
Gerade loggt sich der Hauptkommissar ein, um die deutschlandweite Liste zu überprüfen, als die Bürotür auffliegt und der Kollege Winterberg hereinstürmt. Svens triumphierender Gesichtsausdruck sagt mehr als alle Worte.
»Hast du die Identität?«, fragt Bastian hoffnungsvoll.
»Sieht ganz so aus. Unten steht ein Herr im Anzug, dem die Gattin abhanden gekommen ist.«
»Letzte Nacht?«
»Bingo.«
»Hier auf Sylt?«
»Jepp.«
»Rothaarig?«
»Aber hallo.«
Bastian stöhnt.
»Weiß er schon, was wir gefunden haben?«
»Glaube ich kaum. Und ich habe auch erst mal die Klappe gehalten. Er scheint zwar ziemlich aufgeregt zu sein, was ja auch verständlich ist, aber er hat anscheinend überhaupt keine Ahnung, was mit seiner Angetrauten passiert sein könnte. Die beiden haben wohl auch keinen Streit oder so was gehabt. Jedenfalls sagt er davon nichts.«
»Hat er ein Foto dabei?«
Sven nickt, schluckt kurz und erklärt dann: »Das Hochzeitsfoto. Sie trägt ein weißes Kostüm, einen kleinen Schleier und sieht total glücklich aus.«
»Und so will er sie auch wiederhaben, nehme ich an«, murmelt Bastian betroffen.
»Klar, was denkst du denn.«
»Ich denke, wir haben einen Scheißjob. Wir gehen jetzt da runter, und zwei Minuten später erklären wir dem Typen, dass er seine Frau nur noch ein einziges Mal in diesem Leben wiedersehen wird. Und zwar im Kühlkeller. Wie ich das hasse!« Ächzend stemmt sich Bastian aus seinem Schreibtischstuhl. »Du willst das nicht zufällig allein übernehmen?«
»Wer ist denn hier der Boss? Doch wohl du.«
»Hast ja recht. Also los, bringen wir’s hinter uns.«
Als die beiden Kommissare in der holzgetäfelten unteren Etage ankommen, in der sich hinter einem langen Tresen mehrere Schreibtische der Streifenbeamten befinden, schlägt ihnen das leicht süßliche Rasierwasser eines Anzugträgers entgegen. Der Mann ist mittelgroß, leicht korpulent, hält sich aber sehr aufrecht. Seine Haare sind am Oberkopf schon ziemlich gelichtet, was einen merkwürdigen Gegensatz zu dem auffällig jugendlich wirkenden Gesicht bildet. Mit hoffnungsvollen Augen blickt er Bastian und Sven entgegen, ganz als könnten die Ermittler nur durch ihre bloße Anwesenheit die Vermisste wieder hervorzaubern.
»Bastian Kreuzer, Hauptkommissar. Meinen Kollegen Oberkommissar Sven Winterberg kennen Sie ja schon.«
Der Angesprochene nickt. Eine leichte Röte überzieht sein Gesicht. Wahrscheinlich Nervosität, denkt Bastian. Seiner Erfahrung nach ahnen die meisten Menschen bereits kurz vor den entscheidenden Sätzen, was gleich gesagt werden wird. Warum das so ist, wird er wohl nie begreifen. Und auch jetzt bleibt ihm keine Zeit, darüber nachzudenken, denn längst hat sich der Blick des Anzugträgers in Bastians Gesicht festgesetzt, als wolle er die entscheidenden Worte aus dem Kommissar heraussaugen. Mit zittriger Stimme fragt er nun: »Sie wissen etwas über Marga.«
»Vielleicht. Wollen Sie sich nicht setzen, Herr …?«
Erst jetzt fällt Bastian auf, dass Sven es versäumt hat, ihm den Mann vorzustellen.
»Nein, danke, ich stehe lieber. Mönchinger. Hubert Mönchinger ist mein Name. Und bitte spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.«
Bastian holt tief Luft. »Wir haben heute früh eine tote Frau am Strand gefunden. Mein Kollege sagte, Sie hätten ein Foto Ihrer Frau dabei?«
Stumm reicht Hubert Mönchinger dem Hauptkommissar die Aufnahme. Dem genügt ein einziger Blick. Alter, Statur und Haarfarbe stimmen. Sogar die Haarlänge kommt hin.
»Die Tote sieht Ihrer Frau leider sehr ähnlich. Ich muss Sie daher bitten, dass wir sie uns gemeinsam ansehen.«
Hubert Mönchinger nickt. Dann wird er bleich wie die Wand, vor der er steht. Kurz hebt er die Hand, als wolle er Einspruch gegen die Grausamkeit des Schicksals erheben, das ihm sein Liebstes genommen hat. Er öffnet den Mund, ohne dass ein einziger Ton herauskäme. Stattdessen beginnt sein ganzer Körper zu schwanken. Bevor Bastian und Sven eingreifen können, sackt Hubert Mönchinger ohnmächtig auf dem Fußboden der Westerländer Polizeistation in sich zusammen.
»Und dabei weiß er noch nicht mal, wie sie gestorben ist«, murmelt Sven.
Der Analytiker rutscht unruhig auf seinem Ledersessel hin und her. Manfred Pabst hat in der vergangenen Nacht wenig geschlafen. Erst in den Morgenstunden überfiel ihn eine tiefe und unangenehme Müdigkeit voller wirrer Träume. Seit zehn Uhr am Vormittag sitzt er jetzt in diesem Dachstudio, dessen abgestandene Luft ihn immer wieder zum Öffnen des Fensters zwingt. Jeder der drei Patienten, die Pabst seit dem Morgen empfangen hat, schien heute besonders stark zu transpirieren.
Die Mittagspause verbringt Pabst auf seinem eigenen Patientensofa. Bewegungslos, wie erstarrt und mit geschlossenen Augen liegt er eine geschlagene Stunde lang dort und denkt an die vergangene Nacht. Die Bilder seiner Eskapade trudeln durcheinander, überlagern sich gegenseitig und quälen ihn mit ihrer grellen Deutlichkeit. Erst das Schellen der Türklingel reißt den Analytiker aus seinen Erinnerungen. Mit wackligen Schritten geht Manfred Pabst in die schmale Diele und bittet den ersten Nachmittags-Patienten herein.
Es ist Fred Hübner, ein smarter, sportlicher Mann Ende 50, der in den letzten Jahren als Skandalbiograph und Enthüllungsjournalist ordentlich Kasse gemacht hat. Eigentlich nicht gerade der Typ, der sich freiwillig auf die Couch legt. Aber im letzten Sommer hat Hübner in seinem eigenen Schlafzimmer eine Tote gefunden, als er von einer Recherchetour zurückgekommen ist. Und es war nicht irgendeine Frau, die da lag, sondern seine Geliebte – und zugleich die Ehefrau eines vermögenden Hoteliers. Der Skandal war groß, und die Ereignisse, die die Tat nach sich zog, waren blutig.
Hübner, der sich zunächst in eine bereits überwunden geglaubte Alkoholikerkarriere geflüchtet hatte, ist etwa ein halbes Jahr später bei Manfred Pabst auf der Couch gelandet. Den Satz, mit dem der Journalist sich bei seinem ersten Termin vorgestellt hat, wird der Analytiker so schnell nicht vergessen.
»Wissen Sie, Herr Pabst, ich bin nicht ganz freiwillig hier. Es scheint mir schon seit einiger Zeit so, als müsse ich in meinem verkorksten Leben grundsätzlich etwas ändern.«
»Und? Haben Sie eine Idee, was das sein könnte?«, hatte Manfred Pabst gefragt.
»Vermutlich gibt es zwei Lösungen für mein Problem. Erstens: Ich könnte zu ’ner Nutte gehen. Oder zweitens: Ich leg mich bei Ihnen auf die Couch. Beides hat was mit Entspannung zu tun. Körperlich oder seelisch. Wahrscheinlich ist der Unterschied gar nicht so groß. Aber bei Ihnen hole ich mir wenigstens kein Aids.«
Pabst fand Gefallen an dem Galgenhumor des Journalisten und nahm ihn als Patienten an. Doch heute wären ihm andere lieber. Die Jammerer zum Beispiel, die ihren Analytiker als seelischen Mülleimer benutzen und recht pflegeleicht sind, solange man nur zuhört und ab und an nickt oder ein Das ist sicher nicht leicht für Sie einwirft. Fred Hübner dagegen fordert Aufmerksamkeit. Er ist ein schneller Denker, sprachgewandt und oft witzig, aber er sucht immer den Dialog, auch in der Therapie.
Dazu passt, dass er selten still auf der Bauhausliege ruht, sondern oft die Stellung wechselt, sich dreht und auf Augenkontakt zu seinem Analytiker aus ist. Ausgerechnet heute scheint Fred Hübner besonders agil zu sein, denn er fängt schon in der Tür an zu reden.
»Ich habe ein neues Projekt, davon muss ich Ihnen unbedingt erzählen.«
»Es scheint Ihnen gut damit zu gehen. Trotzdem sollten Sie sich erst mal hinlegen.«
Hübner fläzt sich auf die Couch und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, während Pabst sich auf dem Sessel niederlässt, der seitlich hinter Hübners Kopf steht. Beide, Patient und Analytiker, können aus dem großen Dachflächenfenster an der gegenüberliegenden Schräge die Wolken beobachten, die sich wie schwere Lasten über der Insel türmen.
»Ich habe letztens bei einem Empfang einen jungen Politiker kennengelernt, der noch so richtig begeisterungsfähig ist. Der brannte für seine Ideen, sage ich Ihnen. Jens-Uwe Behrmann, wahrscheinlich haben Sie den Namen schon mal gehört.«
»Ist das nicht dieser Umweltaktivist, der eigentlich aus der Werbung kommt?«
Manfred Pabst erinnert sich dunkel an einen Talkshow-Auftritt des Mannes, in dem der ihm ziemlich selbstgefällig vorgekommen ist.
»Genau. Der will hier auf Sylt richtig was bewegen. Windkraft und Ökostrom und so.«
»Und was interessiert Sie persönlich an dem Mann?«, versucht Pabst das Gespräch in therapierelevante Bahnen zu lenken.
»Ich denke daran, ein Buch über ihn zu schreiben. Eine Mischung aus Homestory und politischem Manifest wäre ideal. Ein ganz neues Format eben. Ich weiß, dass das ein schwieriger Ansatz ist, aber …«
Während Fred Hübner ein detailliertes Konzept entwickelt, wandern die Gedanken seines Analytikers immer wieder zurück zu den Ereignissen der vergangenen Nacht. Was gäbe er darum, alles rückgängig machen zu können!
Erst sein kleines privates Besäufnis, dann diese hirnrissige Autofahrt, die in der Begegnung mit der verhuschten Mönchinger-Ehefrau mündete, die so ganz anders wirkte, als die Rothaarige auf dem Foto, und anschließend seine Flucht …
»Sagen Sie mal, Herr Pabst, hören Sie mir überhaupt zu?« Die Stimme Fred Hübners reißt den Analytiker abrupt aus seinen Erinnerungen. »Sonst kann ich mir den Weg zu Ihnen nämlich in Zukunft auch sparen.«
Das ist deutlich. Fahrig streicht sich der Manfred Pabst übers Gesicht. Sein Patient hat sich längst aufgerichtet und mustert ihn mit irritiertem Blick.
»Ist irgendwas mit Ihnen? Wenn Sie wollen, können wir gern mal für zehn Minuten tauschen. Ich frage mich ohnehin schon seit Wochen, wie man sich fühlt, wenn man da hinten auf dem Sessel sitzt und Geld dafür kassiert, dass man im Seelenmüll anderer Leute rumstochert.«
Manfred Pabst bringt ein kurzes Lachen zustande, das sich eher wie ein verunglücktes Husten anhört.
»Ich habe in der letzten Nacht miserabel geschlafen. Und ich war eben wirklich unkonzentriert, tut mir leid. Vielleicht könnten Sie kurz Ihr Konzept noch einmal erläutern? Es scheint ja tatsächlich etwas zu sein, das Sie antreibt und endlich wieder nach vorn blicken lässt.«
Fred Hübner bedenkt seinen Analytiker zwar mit einem skeptischen Blick, als habe er große Zweifel an dessen Konzentrationsfähigkeit, lässt sich aber auf eine Wiederholung seiner Ausführungen ein.
Glück gehabt, denkt Pabst und nimmt sich vor, in der kommenden Nacht sicherheitshalber ein oder zwei Schlaftabletten zu nehmen, damit sich ähnliche Szenen in den nächsten Tagen nicht wiederholen werden. Wäre ja noch schöner, wenn er sich mit den Erinnerungen an die letzte Nacht seinen Ruf als Koryphäe des Fachs ruinieren würde. So viel Aufmerksamkeit hat Hubert Mönchingers kleine rothaarige Schlampe nun auch nicht verdient.
»Sie ist noch so, wie wir sie bekommen haben. Details zu den Umständen des Todes können Sie erst morgen erwarten, vorher wird das nichts mit der Autopsie«, raunt der Rechtsmediziner Bastian Kreuzer zu, als dieser mit Hubert Mönchinger den pathologischen Trakt der Nordseeklinik betritt. Dr. Bernstein ist ein hagerer Fünfzigjähriger, dessen Backenbart an Spitzweg-Figuren erinnert. Mit federnden Schritten führt er Bastian Kreuzer und den unglücklichen Ehemann zu der Bahre, auf der die Tote liegt.
»Es geht uns im Moment erst mal um die Identifizierung.« Der Hauptkommissar wendet sich Hubert Mönchinger zu. »Herr Mönchinger, sind Sie so weit?«
Als Dr. Bernstein vorsichtig das Tuch über dem Gesicht der Rothaarigen zurückschlägt, zuckt Mönchinger zusammen. Gegen die kalkig blaue Blässe des Frauengesichts wirkt die Haarfarbe wie ein Feuerkranz. Notdürftig hat man die Locken geordnet, aber die Fliegenbisse entstellen das ehemals schöne Gesicht. Geduldig wartet Bastian Kreuzer darauf, dass der Ehemann sich fasst. Es wundert ihn noch nicht einmal, als Mönchinger jetzt heftig den Kopf schüttelt. Natürlich will er nicht wahrhaben, dass die Liebe seines Lebens hier vor ihm auf einer Stahlliege gelandet ist. Ermordet und vielleicht sogar geschändet.
Doch Hubert Mönchinger hört gar nicht mehr damit auf, den Kopf zu schütteln. Heftig ringt er nach Luft, dann spuckt er die Worte einzeln aus, als ekelten sie ihn unendlich.