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Der sechste Sylt-Krimi mit dem sympathischen Ermittlerteam Sven Winterberg, Silja Blank und Bastian Kreuzer Gibt es das perfekte Verbrechen? Ohne Spuren? Ohne Tatort? Motiv? Die Biikefeuer erleuchten die kalte Sylter Februarnacht, als man im Gebüsch eine junge Frau findet. Ihr Unterkörper ist entblößt. Ein Sexualverbrechen? Doch was hat der säuberlich halbierte Slip zu bedeuten, der neben der Leiche liegt? Verdächtige gibt es viele, denn die Verstorbene hatte sowohl heimliche Verehrer als auch Feinde. Doch eine Domina am falschen Ort, ein verbrannter Personalausweis und einige pikante Aktaufnahmen lassen die Sylter Polizei vermuten, dass es hier um ein ganz anderes Verbrechen geht. Ein atmosphärisch dichter Kriminalroman, der die Insel Sylt in einem anderen Licht erscheinen lässt. Spannung und beste Unterhaltung garantiert!
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Seitenzahl: 449
Eva Ehley
Sünder büßen
Ein Sylt-Krimi
FISCHER E-Books
Sünder
büßen
Er kauert im Gebüsch. Allein. Die Sonne versinkt. Es ist kalt. Erst mit dem Feuer wird es warm werden. Wenn auch nicht sehr, jedenfalls nicht hier, weit ab von dem riesigen Scheiterhaufen, den die Keitumer alljährlich zum Winterende aufrichten. Überall auf der Insel brennen in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar die Biikestapel. Sie wärmen die Umstehenden und vertreiben böse Geister. Und den Winter gleich mit. Der alte Brauch wird sehr in Ehren gehalten, zum Biikebrennen kommen alle. Immer. Viele kennt er, andere hat er noch nie gesehen. Sie tragen lodernde Fackeln in der Hand und sind dick eingemummelt. Die Feuerwehr ist auch schon da. Er blickt auf seine Uhr. Bald geht es los. Der Platz ist voll, die Aufregung steigt. Doch er geht absichtlich nicht näher heran. Er will die Übersicht behalten und nicht gesehen werden. Nicht, bevor er sie entdeckt hat. Larissa, die Frau seines Lebens. Wenn alles nach Plan läuft, dann ist sie heute Nacht endlich ganz in seinen Händen. Er schließt die Augen und malt sich zum tausendsten Mal aus, was er alles mit ihr anstellen wird. Lustschauer überrieseln ihn. Von Kälte keine Spur mehr.
Doch noch fehlt Larissa. Wo sie nur bleibt? Hektisch sucht er die Menschenmenge ab. Dann endlich entdeckt er sie.
Larissa steht ganz dicht an der Biike. Ihre schlanke Gestalt mit den langen blonden Haaren hebt sich deutlich von dem Hintergrund aus alten Tannenbäumen, Strandgut und unbrauchbaren Holzpaletten ab. Sie ist schon achtunddreißig und sieht immer noch aus wie ein Mädchen.
Larissa trägt eine rote Daunenjacke und weiße Handschuhe, die im Schein der Fackeln rot leuchten. Als habe sie in Blut gefasst. Der Gedanke amüsiert ihn. Doch das Kichern verkneift er sich. Stattdessen mustert er Larissa gründlich. Sie ist allein. Zum Glück.
Seine Blicke tasten ihren Körper ab, kreisen um die verborgenen Höhlungen. Die festen Ohrmuscheln, das pochende Grübchen am Hals. Die Achseln, warm und ein bisschen verschwitzt. In seinen Gedanken ist sie nackt. Er kann den Bauchnabel sehen und die Scham. Lockend duftende Höhle.
Er ruft sich zur Ordnung. Noch nicht! Nicht jetzt. Denn gleich wird das Feuer entzündet.
Schon bilden alle einen Kreis um den riesigen Scheiterhaufen, wo eine kurze Rede auf Sölring gehalten wird – das Sylter Friesisch hat er noch nie verstanden. Aber die laut gerufenen Worte Maaki di Biiki ön hallen bis zu ihm ins Gebüsch.
Applaus brandet auf, und dann werden die Fackeln in den Holzstapel gesteckt. Sekunden später lodern die Flammen.
Die Welt wird hell.
Der Lichtschein legt rote Bahnen über Heide und Watt, er klebt den Menschen lange, zuckende Schatten an und lässt eine Säule aus Qualm aufsteigen. Wie hypnotisiert starren alle ins Feuer. Doch er weiß, das wird nicht lange so bleiben.
Der Zauber der Flammen ist ein flüchtiges Spektakel, das auf Dauer nicht ankommt gegen die Lust am Reden und Lachen. Und richtig, bald gruppieren sich die Leute neu. Nur Larissa bleibt nah an der Biike zurück. Woran sie wohl denkt?
Er richtet sich vorsichtig auf. Nur kein Geräusch machen, man kann nicht achtsam genug sein, auch wenn das Knacken und Prasseln des Feuers das Rascheln aus dem Gebüsch schlucken müsste. Ein letztes Schütteln der Glieder, ein Lockern der Muskeln und Sehnen, dann spannt er sich an. Das Tier ist bereit zum Sprung.
Gebückt kriecht er aus seinem Versteck. Er schleicht sich von hinten an. Langsam. Unauffällig. Näher, immer näher zu ihr hin. Er trägt eine dunkle Jacke und hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Niemand achtet auf ihn. Gut so. Dann steht er neben ihr, viel zu dicht natürlich. Sie wendet den Kopf und erschrickt. Es dauert unendlich lange, bis sie ihn wirklich ansieht.
Dann fällt sie ihm um den Hals. Damit hat er nicht gerechnet.
Mit rauer Stimme sagt sie: »Du hier? Warum hast du nichts gesagt?«
»Warum hätte ich dich warnen sollen?«, gibt er lächelnd zurück.
Ihre Augen werden weit, erst vor Erstaunen, dann vor Angst. Seinen Händen wächst an ihrem Hals eine ungeahnte Kraft zu. Ihre langen Haare verbergen alles. Ihr Zucken fällt in dem ganzen Gedränge kaum auf. Er presst sie an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen. Und so ist es ja auch. Seine Hände umklammern ihren Hals. Es ist, als durchführe ein Krampf seine Finger. Unmöglich, sie wieder zu strecken, unmöglich, Larissa auch nur das kleinste bisschen Luft zum Atmen zu lassen. Noch einmal zuckt sie, wirft die Arme in die Luft, fast sieht es aus wie eine begeisterte Geste. Dann, viel schneller, als er erwartet hat, gibt sie auf und sinkt leblos in seinen Armen zusammen. Er drückt sie an sich und hebt sie hoch. Ihr Kopf fällt auf seine Schulter, als schmiege sie sich an ihn.
Endlich.
Er will sich gar nicht mehr von Larissa trennen.
Seiner großen Liebe.
Der Frau seines Lebens.
Henry Loos steigt aus seinem alten Ford und zieht die Kapuze tief in die Stirn. Henry ist Schlosser und hat den festen Tritt eines Mannes, der weiß, was er will. Seine kräftige Figur sprengt fast die dicke Arbeitsjacke, unter der er noch einen groben Pullover trägt. Es kommt ihm jetzt viel kälter vor als gestern Abend, wo vielleicht der eine oder andere Glühwein mehr gewärmt hat, als man so glaubt. Henry lässt seinen Blick über die abgebrannte Biike wandern, die jetzt nur noch ein trauriger Haufen verkohlter Balken ist. Dann mustert er den Müll, der auf dem zertretenen Gras liegt. Pappbecher, leere Zigarettenschachteln, Flaschen. Mit einer lässigen Geste grüßt er die Kumpels, die ebenfalls angetreten sind, um hier aufzuräumen. Natürlich lägen sie alle lieber im Bett, um den Rausch auszuschlafen. Aber das hier ist Ehrensache unter den Keitumer Jungs aus seinem Freundeskreis, auch wenn sie mittlerweile alle auf die vierzig zugehen.
Wenigstens regnet es heute nicht, auch das hat Henry schon erlebt. Dann ist alles matschig und der Dank fürs Aufräumen oft eine saftige Erkältung. Doch heute herrscht klares Winterwetter. Vor einer Stunde ist die Sonne aufgegangen, und seitdem taucht sie die Welt in ihren kalten Glanz.
Henry zieht die Arbeitshandschuhe über und geht direkt zur Biike. Neben den verkohlten Hölzern steht schon der Pritschenwagen mit offener Ladeklappe bereit. Außer Henry kümmern sich noch zwei andere Kumpels um die Feuerstelle. Schnell sind die Holzreste zusammengesammelt und aufgeladen. Die Asche wird der Wind im Lauf des Tages übers Watt wehen. Keiner redet groß während der Arbeit, lieber gehen sie hinterher alle zusammen noch auf ein Konterbier zu Agnes in die kleine Kneipe am Dorfrand.
Aber noch sind sie hier nicht fertig. Ein paar Stände müssen abgebaut werden, und der Müll muss auch noch weg. Henry greift sich einen von den festen grauen Säcken und beginnt am Straßenzugang mit dem Einsammeln. Er arbeitet sich systematisch bis zu dem dunkel verbrannten Stück Erde vor, auf dem in der letzten Nacht die Flammen gelodert haben. Dann umkreist Henry den Platz in immer größeren Ringen. Manchmal stößt er leise Flüche aus, wenn er sieht, was die Leute alles achtlos auf den Boden werfen. Einiges haben sie aber auch verloren. Das nagelneue Schweizermesser zum Beispiel oder auch die kleine pinkfarbene Geldbörse, in der über fünfzig Euro stecken. Er wird diese Sachen im Friesensaal abgeben, wo sich die meisten ohnehin am Nachmittag zum Grünkohlessen wiedersehen werden.
Henry blickt prüfend über den Platz. Sieht alles schon viel besser aus. Nur da hinten, wo am Übergang zum Watt eine kleine Gehölzgruppe steht, leuchtet etwas Rotes zwischen den Zweigen. Wahrscheinlich eine Plastiktüte, die der Nachtwind dorthin geweht hat. Vielleicht ist es aber auch etwas, das die Feuerwehr verloren hat.
Henry geht hinüber und schiebt ein paar Zweige beiseite.
Vor ihm liegt Larissa auf dem taufeuchten Boden.
Henry erkennt sie sofort, schließlich sind sie miteinander zur Schule gegangen. Als sei es gestern gewesen, hört Henry ihr übermütiges Lachen und sieht ihren schwingenden Gang. Doch Larissa lacht nicht mehr, und sie wird nirgendwo mehr hingehen. Denn die Larissa, die hier vor ihm liegt, ist tot.
Ihre früher so glänzenden Haare sind nun matt und schmutzig, ihr Gesicht ist dreckverschmiert. Die Augen sind weit aufgerissen, und aus dem Mund quillt eine Zunge, die viel zu groß für das zierliche Gesicht ist. Larissa trägt eine rote Daunenjacke, deren Reißverschluss bis unters Kinn zugezogen ist. Unterhalb der Jacke ist Larissa nackt. Keine Hose, keine Unterwäsche, keine Schuhe, keine Strümpfe. Ihre Beine sind gespreizt, die Scham ist dicht mit feinen blonden Haaren bewachsen. Das üppige goldfarbene Gekräusel schimmert in der Wintersonne, und Henry kann den Blick einfach nicht abwenden.
Schließlich zwingt er ihn zurück in Larissas gequältes Gesicht, das im Leben so schön war. Dann prüft er mit einer schnellen Drehung des Kopfes, ob ihn einer der Kumpels beobachtet. Aber die sind alle mit dem Rangieren des Pritschenwagens beschäftigt. Hastig bückt sich Henry, zieht dabei den rechten Arbeitshandschuh aus und legt anschließend für einen Moment seinen Zeigefinger an Larissas Scheide. Die Haare kitzeln ihn, aber die Haut darunter fühlt sich eiskalt und seifig an. Henry atmet tief durch, zieht den Finger zurück und stülpt sich den Handschuh wieder über.
Er kriecht aus dem Gebüsch hervor, holt das Handy aus der Tasche und ruft die Polizei.
»Ich finde, man sollte den Petritag zum bundesweiten Feiertag erklären. Am Abend davor ein mächtiges Feuer, dann ausschlafen und nachmittags mit guten Freunden Essen gehen. Das könnten im düsteren Februar doch bestimmt auch alle die gebrauchen, die dummerweise nicht an der Nordsee wohnen«, murmelt Kriminalkommissarin Silja Blanck und sieht hinüber zu der anderen Betthälfte, in der ihr Freund und Vorgesetzter Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer liegt. Als keine Antwort kommt, rüttelt sie sanft an dessen Schulter. »Sag mal, schläfst du noch?«
»Jetzt nicht mehr«, brummt Kreuzer und dreht sich unwillig auf die andere Seite.
»Hallo, ich rede mit dir. Wir wohnen doch erst seit gut drei Monaten zusammen, und du benimmst dich, als ob wir bereits seit drei Jahrzehnten verheiratet wären«, beschwert sie sich und kneift ihn in die Seite.
Bastian Kreuzer zuckt kurz und beginnt anschließend vernehmlich zu schnarchen.
Silja lacht. »Ertappt! Du schnarchst nicht. Nie. So viel weiß ich inzwischen.«
»Wenn du mich noch einmal an meinem freien Tag so früh weckst, fang ich aber damit an«, droht er und wendet sich ihr zu. »Guten Morgen, Traumfrau.«
Er drückt ihr einen verrutschten Kuss auf die Schläfe und blinzelt ins Licht. »Unglaublich, aber wahr. Es ist mal wieder Tag geworden.«
»Hast du daran gezweifelt?«
»Na ja, bei diesen Winternächten weiß man nie, ob sie je wieder aufhören. Und gestern Abend, als ich vor der brennenden Biike stand, habe ich kurz überlegt, ob die Geister, die wir gerade vertreiben, das nicht auch alles ganz anders verstehen könnten.«
»Wie denn?«
»Als Aufforderung, es noch möglichst lange dunkel sein zu lassen, weil wir so viel Spaß mit dem Feuer haben.«
»Echt jetzt?«
»Quatsch. Oder denkst du, ich glaube an Geister?«
»Eigentlich nicht«, gibt sie zurück und lässt die Hand wie zufällig über seine Hüfte wandern.
Bastian Kreuzer seufzt wohlig. »So werde ich schon viel lieber geweckt.«
In diesem Moment läutet das Telefon in der Wohnküche.
»Ach verdammt, ausgerechnet jetzt«, schimpft Bastian und wälzt sich aus dem Bett.
»Wenn’s die Kollegen von der Wache sind, sag einfach, dass wir immer noch betrunken sind«, ruft ihm Silja hinterher. »Sie sollen sich an Sven wenden. Der trinkt ja aus Solidarität mit der schwangeren Anja seit Monaten nichts mehr.«
Als keine Antwort kommt, horcht sie angespannt. Das Schlafzimmer der Wohnung an der alten Dorfstraße zwischen Westerland und Wenningstedt liegt von der Straße abgewandt nach Osten. Wenn Silja und Bastian ausschlafen können, beobachten sie manchmal vom Bett aus den Sonnenaufgang. Wenn alle Fenster geschlossen sind, so wie jetzt, ist es ziemlich still in der Wohnung. Bei offenen Fenstern kann es schon lauter werden, aber das haben Silja und Bastian in Kauf genommen, als sie im letzten Herbst auf Wohnungssuche waren. Auf der Insel sind bezahlbare Unterkünfte für Einheimische Mangelware. Das Wenige, das angeboten wird, ist überteuert und trotzdem erschreckend schnell weg.
Aus der Küche ist noch immer nichts zu hören.
»Bastian, telefonierst du noch?«, ruft Silja laut. Vergeblich wartet sie auf eine Antwort. Das Einzige, was sie zu hören bekommt, ist Bastians tiefe Stimme, die jetzt ganz wach klingt und beruhigend auf jemanden einzureden scheint.
Silja schlüpft aus dem Bett und geht hinüber in die Wohnküche. Der Raum ist L-förmig angelegt, am langen Ende stehen zwei Sofas, ein niedriger Tisch und in der Ecke der Fernseher. Am kurzen Ende gibt es eine Küchenzeile und vor dem Fenster den gemütlichen Esstisch. Hier lehnt Bastian und redet leise ins Telefon.
»Jetzt beruhige dich erst mal. Ich komme sofort und seh mir die Leiche an. Und achte darauf, dass dieser Henry Loos nicht durchdreht, hörst du? Am besten, du setzt ihn in den Streifenwagen, dann rede ich gleich mit ihm.«
Bastian hebt den Blick zu Silja und verdreht entschuldigend die Augen. Auf ihre stumme Frage Was ist? wiegt er bedenklich den Kopf und formt mit den Lippen die Worte: Eine Tote. Beim Biikebrennen. In Keitum.
Silja stöhnt und geht ins Bad, um sich schnell zu duschen.
Ihr ist klar, dass sie den gemütlichen Petritag jetzt vergessen können.
Kriminaloberkommissar Sven Winterberg steht in T-Shirt und Boxershorts in der Küche des gemütlichen Friesenhauses, das er mit Frau und Tochter bewohnt. Während er den Kaffee in die Maschine füllt, denkt er dankbar an seine Schwiegereltern, die ihrer Tochter noch vor ihrem Tod das schöne Kampener Haus überschrieben haben. Hier wird auch für das Baby, das Anja und er im April erwarten, genug Platz sein. Das Kleine wird im Garten spielen und auf den friedlichen Straßen herumtollen können. Es wird zwischen Heide, Watt und Meer auf der schönsten aller Inseln aufwachsen, ohne dass sich seine Eltern Sorgen um die Kosten machen müssen. Sven kennt etliche Familien, denen es nicht so gut geht und die auf ein zweites Kind verzichten, weil sie sich eine größere Wohnung nicht leisten könnten.
Gerührt beobachtet Sven, wie sorgfältig Mette, ihre zehnjährige Tochter, den Frühstückstisch deckt. Seit dem letzten Sommer geht sie auf das Westerländer Gymnasium und ist mittlerweile ganz schön groß geworden. Hoffentlich wird sie nicht allzu eifersüchtig auf das Kleine sein, überlegt er gerade, als er einen unterdrückten Schrei aus dem Badezimmer im oberen Stockwerk hört.
Sven lässt den Kaffeelöffel fallen, das Pulver verteilt sich über die ganze Arbeitsplatte, aber das ist ihm egal. Auf der Treppe nimmt er zwei Stufen auf einmal. »Anja? Was ist los?«
Sven reißt die Badezimmertür auf und findet seine Frau gekrümmt vor dem Waschbecken. Sie presst beide Hände auf den schwangeren Bauch und japst nach Luft.
»Hast du Wehen?«
Anja hechelt ein paarmal, bevor sie stöhnt: »Ich glaube schon.«
»Aber der Entbindungstermin ist doch erst am 9. April …«
»Das weiß ich selbst«, antwortet Anja, während sie sich auf den Toilettendeckel fallen lässt. »Jetzt wird es langsam weniger. Gott sei Dank«, seufzt sie. »Aber wenn das keine Wehe war, dann weiß ich auch nicht.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir fahren in die Nordseeklinik, was sonst? Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelt Anja. In ihren Augen stehen Tränen.
Sven nimmt seine Frau fest in die Arme. »Die kriegen das schon wieder hin. Wahrscheinlich brauchst du nur ein bisschen Ruhe.«
»Vielleicht hätte ich besser nicht mit zweiundvierzig noch mal schwanger werden sollen«, schluchzt sie.
»Ach Blödsinn!«, schimpft Sven. »Bisher lief doch alles gut. Das Kind hat sich normal entwickelt, und du bist richtig aufgeblüht.« Er geht vor ihr in die Knie und sieht ihr fest in die Augen. »So schön wie jetzt warst du noch nie. Mach dir erst mal keine Sorgen. Wir fahren gleich in die Klinik. Es kann sein, dass sie dich zur Beobachtung dabehalten. Aber vielleicht hast du Glück, und es gibt heute Mittag auch da den traditionellen Grünkohl, was meinst du?«
Anja lächelt unter Tränen. »Du bist so lieb. Aber Mette wird ganz schön enttäuscht sein, wenn wir nicht alle zusammen zu deinen Eltern zum Petri-Essen gehen. – Au, ich glaube, es geht wieder los.«
Ihr Gesicht verzieht sich, sie beißt die Zähne zusammen und schließt die Augen.
»Du bleibst am besten hier sitzen. Ich hole dir was zum Anziehen und sag schnell Mette Bescheid, okay?«
Anja nickt. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt.
Sven hechtet nach unten. Mette erwartet ihn schon am Fuß der Treppe. In der Hand hält sie das Telefon, und bevor er etwas sagen kann, erklärt sie: »Bastian Kreuzer ist dran. Er sagt, es ist dringend.«
Sven reißt ihr das Telefon aus der Hand. »Ich kann jetzt nicht.«
»Spinnst du? Wir haben eine Tote. Liegt direkt neben dem Keitumer Biikeplatz.«
»Bastian, das ist mir scheißegal. Anja hat Frühwehen. Wir müssen ins Krankenhaus.«
»Nee, oder?« Bastian Kreuzers Stimme klingt zweifelnd. Und verärgert.
»Das ist kein Scherz. Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß.«
Sven legt auf. Erst jetzt sieht er, wie Mette ihn anstarrt.
»Muss das Baby jetzt sterben?«
»Nicht doch, Kleines. Mami und ich fahren in die Nordseeklinik. Es wird bestimmt alles gut. Ich bin spätestens zum Mittagessen wieder hier. Versprochen!«
Mette nickt. Jetzt weint auch sie.
Als Bastian Kreuzer den Polizeibus betritt, nimmt er als Erstes die trockene Luft der Standheizung wahr. Dann riecht er Henry Loos’ Schweiß. In Anbetracht der Außentemperaturen kommt ihm das merkwürdig vor, und er mustert den Mann genauer. Henry Loos ist groß, ziemlich massig, hat auffallend blonde Haare und ein harmlos wirkendes Kindergesicht.
Der Hauptkommissar lässt sich auf die Bank gegenüber von Loos fallen und beginnt: »Kreuzer ist mein Name. Kripo Westerland. Sie haben die Leiche gefunden?«
Loos nickt. Sein Gesicht ist blass, am Hals zeigen sich rote Flecken, die auf eine gewisse Nervosität hindeuten. Als er sprechen will, kommen zunächst nur heisere Laute heraus. Er muss sich räuspern, dann geht es besser. »Ich hab beim Aufräumen geholfen. Wie jedes Jahr. Hab den Müll zusammengesammelt. Unglaublich, was die Leute alles auf den Boden werfen. Zuerst hab ich gedacht, da liegt eine Plastiktüte im Gebüsch. Hab nur diesen knallroten Fleck gesehen. Es war aber ihre Daunenjacke und dann …«, er schluckt und schlägt die Augen nieder. »Na, Sie haben Larissa ja bestimmt schon gesehen.«
»Larissa«, wiederholt Kreuzer langsam. »Wie weiter?«
»Larissa Paulmann.«
»Sie kannten sie?«
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Bis zur mittleren Reife.« Henry Loos senkt den Blick. »Ich war ein bisschen verschossen in sie. Aber sie hat sich nicht für mich interessiert. Für keinen von uns.« Er zuckt die Schultern. »Dachte wohl, sie ist was Besseres.«
»War sie denn was Besseres?«
Henry Loos zögert kurz, was den Kommissar wundert. Doch gleich darauf redet er umso entschlossener weiter.
»Was Besseres? Nee, warum auch? Nur weil sie mit ihren Eltern bei den Reichen auf dem Grundstück wohnen durfte?« Er dreht sich um und weist mit der ausgestreckten Hand hinüber zu der Straße, die sich am Watt entlangzieht. »Gleich da hinten haben die ihre Villa. Sind wahrscheinlich kaum hier, wie so viele Hausbesitzer. Deshalb brauchen sie jemanden, der das Grundstück pflegt und im Haus nach dem Rechten sieht.«
»Und das machen die Eltern von Frau Paulmann?«
»Nicht mehr, sie sind tot. Schon seit zwanzig Jahren oder so. War ein schrecklicher Unfall. Mit der Bahn, glaube ich. Aber davor haben sie das gemacht. Seitdem kümmert sich Larissa.«
Bastian nickt, dann kneift er die Augen zusammen und blickt durchs Autofenster die Straße hinunter. »Die genaue Adresse wissen Sie nicht zufällig?«
Henry Loos schüttelt den Kopf. »Nee, aber Sie können das Haus gar nicht verfehlen. Es steht ganz hinten, ist das breiteste von allen und hat vorn eine große halbrunde Veranda. Da drin wohnen aber die feinen Leute. Larissa hat mit ihren Eltern in so einem kleinen Extrahaus gelebt. Da kommen Sie besser von hinten ran. Am Ingiwai geht eine schmale Stichstraße aufs Grundstück.«
»Sie kennen sich da aber gut aus«, murmelt Bastian wie nebenbei. Er lächelt verbindlich und wartet gespannt auf die Antwort.
Henry Loos windet sich ein bisschen. »Na ja, wir sind da als Jungs manchmal rumgeschlichen. Sie war ein ziemlich heißer Feger, die Larissa.«
»Wieso war? Nach allem, was ich sehen konnte, hat sich das bis jetzt nicht geändert.«
»Also wirklich, Herr Kommissar, das ist bannig lange her. Inzwischen bin ich verheiratet und hab eine Tochter. Und Larissa hat ja auch geheiratet. Nach der Enttäuschung mit diesem Gewalttäter. Der sitzt immer noch im Knast, glaube ich.«
»Das war ihr früherer Freund, versteh ich recht? Was war da los?«
»Er hat jemanden erschlagen. War damals eine große Sache. Wundert mich eigentlich, dass Sie sich nicht dran erinnern können.«
»Wann war das ungefähr?«
»Na, so vor zehn oder fünfzehn Jahren, würde ich sagen.«
»Da war ich noch auf dem Festland. Aber ich werde die Kollegen fragen.« Bastian Kreuzer macht eine kleine Pause, bevor er weiterredet. »Und Larissa Paulmanns Ehemann? Kennen Sie den?«
Henry Loos schüttelt den Kopf. »Der ist nicht von hier und hat sich aus allem komplett rausgehalten. Ist nicht bei der freiwilligen Feuerwehr und in keinem Verein. Wir wissen noch nicht mal, was er arbeitet.«
»Aber er wohnt mit ihr in dem kleinen Haus auf dem großen Grundstück?«
»Ich denke doch. Warum fragen Sie mich das alles? Ich hab sie nur gefunden. Das war schlimm genug. Hab längst nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, schon seit Jahren nicht mehr, das werden Sie mir ja wohl glauben!«
Bastian sieht Henry Loos nachdenklich an. Er wirkt ehrlich erschüttert und aufrichtig entrüstet. Trotzdem bleibt der Hauptkommissar misstrauisch. Es hat sich oft gezeigt, dass gerade diejenigen, die eine Leiche entdecken, mehr mit dem Fall zu tun haben, als man vielleicht anfangs denkt. Jeder Täter hat eine ganz eigene Beziehung zum Tatort. Es zieht sie oft magisch dorthin zurück. Und natürlich sind der Moment des Leichenfundes und die ersten Aktivitäten der Kriminalpolizei besonders interessant für sie. Daher kommt es nicht selten vor, dass sie sich in der Nähe herumtreiben. Und sich einmischen. Anbieten zu helfen. Oder eine Aussage machen wollen, obwohl sie anscheinend gar nichts auszusagen haben, nichts gesehen, nichts beobachtet haben. Solche Figuren wirken oft aufdringlich und neugierig. Und sie sind verdächtig, das weiß jeder Ermittler. Sie glauben, sie tarnen sich, indem sie auffallen. Vielleicht ist es nur ihre Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Vielleicht handeln sie aber auch aus ganz anderen Motiven.
Beruhigend streichelt der Arzt Anja Winterbergs Hand. Er ist sicher schon über sechzig, hat volle weiße Haare und ein erstaunlich faltenfreies Gesicht. Anja liegt bekleidet mit einem Krankenhausnachthemd in einem Klinikbett und schaut mit halb ängstlichem, halb hoffnungsvollem Blick zu ihm auf. Auf der anderen Seite des Bettes steht Sven. Als er spürt, wie das Handy in der Brusttasche seiner Jacke vibriert, schaltet er den Empfang aus. Es ist ihm egal, wer jetzt anruft. Anja ist wichtiger.
»Wir behalten Sie erst mal hier und geben Ihnen noch ein bisschen was zur Beruhigung der Wehen. Wenn das anschlägt, und davon geh ich jetzt mal aus, können Sie nach ein paar Tagen auch wieder nach Hause. Allerdings müssen Sie versprechen, dass Sie sich schonen. Haben Sie noch mehr Kinder?«
»Eine Tochter«, antwortet Anja. »Mette ist zehn und schon ziemlich selbständig.«
»Außerdem gibt es ja noch den Vater.« Der Arzt sieht auffordernd zu Sven hinüber. »Der hilft doch sicher kräftig im Haushalt mit.«
Sven nickt und denkt an die Kollegen, die sich jetzt gerade mit einem neuen Fall rumschlagen müssen. Das ist sicher kein guter Moment, um etwas mehr Zeit für die Familie einzufordern. Aber das wird er schon irgendwie in den Griff kriegen. Erst mal geht es darum, Anja zu beruhigen. »Ich werde alles tun, was nötig ist«, versichert er.
»Na hoffentlich auch ein bisschen was darüber hinaus«, entgegnet der Arzt lächelnd. »Wissen Sie, eigentlich haben Sie noch Glück im Unglück. Im Herbst gehe ich in Pension, und was dann hier mit der Geburtsstation geschieht, wissen die Götter. Vielleicht werden im nächsten Jahr gar keine kleinen Sylter mehr auf die Welt kommen. Jedenfalls nicht hier auf der Insel.«
»Aber das geht doch gar nicht«, wendet Anja ein.
»Wenn das Geld fehlt und keine Stellen da sind, dann kann das ganz schnell gehen«, erklärt der Arzt. »Wir wären nicht die erste Insel, auf der es keine Geburten mehr gibt.«
»Und was machen die Schwangeren dann? Sie können doch nicht wegziehen.«
»Die Frauen müssen zwei bis drei Wochen vor dem errechneten Termin aufs Festland reisen und dort entbinden. Da hilft alles nichts.«
»Wie schrecklich«, murmelt Anja. »Und die Hebammen? Machen die wenigstens noch die Hausgeburten?«
»Tja, auch da sehe ich schwarz. Es ist für jede Hebamme doch ein ziemlich großes Risiko, sich auf eine Hausgeburt einzulassen, wenn sie für den Notfall kein geeignetes Krankenhaus in der Nähe weiß.« Er unterbricht sich und schüttelt kurz den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er gerade sagt. Dann fährt er fort: »Aber das ist im Moment ja nicht unser Problem. Zum Glück. Noch sind wir hier und können dafür sorgen, dass Sie wieder stabil werden.« Er weist auf den Tropf mit dem Wehenhemmer, dessen Anschlussschlauch in der Kanüle auf Anjas linker Hand steckt. »Das wirkt ja schon ganz gut. Jetzt müssen Sie nur noch innerlich zur Ruhe kommen, dann merkt das auch das Kind und bleibt sicher gern noch etwas länger bei Ihnen.« Er lässt seine Hand ganz leicht über Anjas stattlichen Bauch gleiten, der sich deutlich sichtbar unter der Bettdecke wölbt. »Und jetzt lasse ich Sie allein. Ruhen Sie sich aus, und wenn irgendetwas ist, klingeln Sie einfach.«
Lächelnd verlässt er den Raum.
Sven lässt sich neben Anja auf das freie Bett sinken, das mit einer Plastikplane abgedeckt ist. Dann atmet er einmal tief durch. »Das war ein ganz schöner Schreck«, sagt er leise. »Aber jetzt wird alles gut, du hast es ja gehört.« Er lächelt seiner Frau aufmunternd zu.
Anja nickt, sieht aber nicht überzeugt aus. »Wer hat da eben angerufen?«, erkundigt sie sich nervös.
Sven wundert sich, dass sie den Anruf überhaupt mitbekommen hat. Schließlich war sein Handy auf lautlos gestellt. Jetzt holt er den Apparat aus der Tasche und sieht nach. »Bastian. Wer sonst. Entschuldige bitte, ich muss kurz mal zurückrufen.«
»Hoffentlich ist nichts passiert. Das hätte jetzt gerade noch gefehlt.«
Immerhin hat sie den Anruf heute Morgen bei uns zu Hause nicht gehört, denkt Sven erleichtert. Er weiß genau, dass er jetzt alles, aber auch wirklich alles vermeiden muss, was Anja aufregen könnte. Und ein plötzlicher Mordfall, der den vollen Einsatz aller Ermittler erfordert, gehört ganz bestimmt dazu.
»Ich geh zum Telefonieren kurz mal raus, okay?« Bevor Anja antworten kann, steht Sven schon in der Tür. »Bin gleich wieder da.«
Draußen holt er noch einmal tief Luft. Dies ist genau die Situation, vor der er sich seit Beginn der Schwangerschaft gefürchtet hat. Es gibt Komplikationen bei Anja und gleichzeitig Stress im Job. Er kann nur hoffen, dass Bastian und Silja Verständnis haben werden.
Bastians Stimme hört sich schon mal nicht nach Verständnis an. Der Hauptkommissar klingt hektisch und genervt, als er sich meldet.
»Hallo, hier ist Sven. Tut mir leid, dass ich dich vorhin so abgewürgt habe, aber Anja ist …«, beginnt er mit sanfter Stimme.
Doch Bastian poltert sofort los.
»Hör mal Kumpel, so läuft das nicht. Ich bin immer noch dein Vorgesetzter. Und wenn ich dich um kurz nach neun anrufe, weil ich dich für einen Einsatz brauche, dann hast du auf der Matte zu stehen. Und zwar sofort.« Bastian Kreuzer macht eine kurze Pause und holt so tief Luft, dass Sven es deutlich hören kann. Dann redet er weiter. »So viel fürs Protokoll. Wie geht’s Anja?«
»Sie ist wieder stabil, braucht aber Ruhe, sagt der Arzt.«
»Das heißt, sie bleibt im Krankenhaus.«
»Erst mal ja.«
»Dann musst du die Kleine zu deinen Eltern bringen. Oder sind die gerade wieder verreist?«
»Nee, im Gegenteil. Wir sind heute alle drei zum Petri-Essen bei ihnen eingeladen«, antwortet Sven zögernd.
»Na, Gott sei Dank. Dann fährst du Mette am besten gleich vorbei. Und grüß die beiden von mir. Aber quatsch nicht so lange, wir brauchen dich hier in Keitum. Die Sache ist ziemlich unappetitlich. Eine Frau, Ende dreißig, sehr attraktiv, ist gestern Nacht erwürgt worden. Direkt neben der Keitumer Biike. Wir haben sie in einem Gebüsch gefunden. Halbnackt.«
»Was heißt das genau?«
»Oben ist sie komplett bekleidet, aber unten, also von der Taille abwärts ist sie so, wie der Herrgott sie erschaffen hat. Und das ist noch nicht alles. Ihre Hose, der Slip, die Socken, die Stiefel sind auch halbiert. Gewissermaßen.«
»Was meinst du mit ›gewissermaßen‹?«, erkundigt sich Sven irritiert.
»Tja, das ist merkwürdig. Wir haben einen ihrer Stiefel, einen Socken und jeweils die Hälfte ihrer Jeans und ihres Slips gefunden. Lag alles ordentlich gestapelt ein paar Meter von der Leiche entfernt.«
»Und die anderen Hälften?«
»Weg.«
»Wie? Weg?«
»Na verschwunden«, poltert Bastian, beruhigt sich aber gleich wieder. »Die Sachen sind einfach nicht da. Und die Kollegen haben ziemlich gründlich gesucht.«
»Können vielleicht irgendwelche Tiere das Zeug verschleppt haben?«
»Glaub ich nicht. Die hätten doch auch in dem Stapel gewühlt. Außerdem haben die keine Scheren. Und die Jeans und der Slip sind fein säuberlich genau in der Mitte durchgeschnitten.«
»Ist ja pervers«, murmelt Sven. Gleichzeitig spürt er, wie sich irgendeine sehr ferne Erinnerung in ihm regt. Er kneift die Augen zusammen und verzieht angestrengt das Gesicht, als könne er die Erinnerung auf diese Weise heraufbeschwören. Doch sie driftet immer weiter weg.
Nach einer Weile kommt Bastian Kreuzers irritierte Stimme aus dem Hörer.
»Bist du noch dran?«
»Ja schon. Ich denke nach. Hat man sie vergewaltigt?«
»Ich hab keine Verletzungen entdecken können. Aber Doktor Bernstein ist gerade gekommen. Wenn er sich die Tote erst mal gründlich angesehen hat, wird er uns sicher bald mehr sagen können.«
»Hat er sich schon zum Todeszeitpunkt geäußert?«
»Du kennst ihn doch. Dem muss man alles aus der Nase ziehen. Aber ich habe mittlerweile mit ein paar Leuten gesprochen, die sie gestern Abend noch lebend bei der Biike gesehen haben. Es ist also nicht auszuschließen, dass Larissa Paulmann ihren Mörder kannte und freiwillig mit ihm gegangen ist.«
»Oder mit ihnen«, entfährt es Sven.
»Stimmt, es könnten durchaus auch mehrere gewesen sein«, überlegt Bastian am anderen Ende der Leitung. »Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen. Da kannst du mal sehen, wie nötig wir dich brauchen.«
Sven beißt sich auf die Lippen und verzichtet auf eine Antwort.
Fröstelnd betritt Fred Hübner seine Wohnung. Der drahtige Endfünfziger legt die Tüte mit den Frühstückscroissants auf die Anrichte in der Diele und zieht die Daunenjacke aus. Der kurze Weg durch die Kälte zum Bäcker weckt jeden Morgen seine Geister. Danach fühlt er sich frisch und unternehmungslustig, fast so fit wie nach den frühmorgendlichen Wellenbädern, mit denen er von Mai bis September seine Tage beginnt. Im Winter verlegt er sich mehr aufs Radfahren. Er wird gleich einen starken Kaffee trinken, die Zeitung lesen und anschließend zu einer längeren Tour aufbrechen. Hoch nach List, vielleicht den Ellenbogen entlang und dann am Hafen ein deftiges Fischbrötchen essen. Der strahlende Sonnenschein draußen ist verlockend, und gegen die klirrende Kälte gibt es ja die passende Kleidung.
Fred Hübner wirft die Kaffeemaschine an und schaltet das Radio ein. Die Lokalnachrichten laufen, und die Stimme des Moderators klingt irgendwie anders als sonst. Fred stellt die Kaffeetasse ab und wendet sich ganz dem Radio zu.
»Gestern Abend haben viele von uns dort noch am lodernden Feuer gestanden und den Winter verabschiedet«, sagt der Moderator gerade in diesem merkwürdigen Tonfall. Er holt tief Luft, bevor er fortfährt: »Und heute früh wurde der Polizei ein grausiger Fund gemeldet. Eine Frau lag tot am Rand des Keitumer Biikeplatzes. Dem Vernehmen nach handelt es sich um die achtundreißigjährige Larissa Paulmann, die seit ihrer Kindheit auf der Insel lebt. Paulmann war gelernte Floristin, hat aber seit dem Tod ihrer Eltern als Verwalterin für eine Schweizer Unternehmerfamilie gearbeitet. Sie hat die Medien bereits vor fünfzehn Jahren beschäftigt, als ihr damaliger Freund in einen aufsehenerregenden Prozess verwickelt war und verurteilt wurde …«
Fred erstarrt. Er hört nicht mehr zu, denn er hat größte Mühe, sich gegen den Ansturm der Erinnerungen zu wehren. Der Rönneberg-Prozess. Ganz Sylt verfolgte damals gebannt die Verhandlungen. Und auch er, dessen Karriere seit einigen Jahren vor sich hindümpelte, sah noch einmal seine ganz große Chance. Er bemühte sich um den Auftrag für eine Reportage über den Fall. Schließlich hatte sich alles auf Sylt zugetragen, und er war doch immer noch der republikbekannte Sylt-Kolumnist. Das Ohr der Republik am Puls der Reichen und Schönen – auch wenn sein Stern schon damals längst nicht mehr so hell wie in den siebziger und frühen achtziger Jahren strahlte. Er hatte sich das nie so recht eingestanden, obwohl ein Blick auf seine Kontoauszüge genügt hätte. Fred Hübner weiß nicht mehr genau, wann er sich abgewöhnt hatte, die Briefe von der Bank zu öffnen. Damals kamen die Auszüge ja noch mit der Post. Er ahnte natürlich, wie es um ihn stand, aber verdrängte es nach Kräften. Es war ein Schlag, als dann auch noch die beiden großen Magazine sein Ansinnen rundweg ablehnten.
Aber Fred gab nicht auf. Er schaltete auf stur und schrieb die Reportage trotzdem. Ohne Vorschuss und auf eigenes Risiko. Er würde es diesen ganzen hochnäsigen Verlagsfuzzis zeigen. Auf Knien sollten sie zu ihm kriechen und ihn um die Rechte bitten. Fred recherchierte und befragte die Zeugen. Es gab viele, die sich äußerten. Nur Larissa Paulmann gehörte nicht dazu. Sie schwieg eisern, obwohl Fred ihr ein stattliches Honorar anbot. Ein Honorar, das er gar nicht hätte zahlen können. Aber das wusste Frau Paulmann ja nicht. Trotzdem sagte sie kein Wort, weder zu ihm noch zu einem anderen Journalisten.
Lars Rönneberg verhielt sich anders. Natürlich erst nach seiner Verurteilung. Er ging auf Freds Angebot ein und plauderte freizügig aus seinem Leben. Und aus dem von Larissa Paulmann. Vielleicht war Rache im Spiel oder gekränkte Eitelkeit, jedenfalls lieferte Rönneberg jede Menge pikanter Details. Allerdings zogen sich die Gespräche hin, und als Fred endlich mit seiner Reportage fertig war, empfing man ihn in den Chefetagen der Magazine gar nicht mehr. Und die untergeordneten Chargen hatten nur ein abfälliges Schulterzucken für ihn übrig. Die Story war längst kalt, niemand interessierte sich noch für die Geheimnisse eines verurteilten Verbrechers und seiner ehemaligen Geliebten.
Damals brach Freds gesamte finanzielle Basis zusammen. Er hatte geborgt, wo es nur ging, und zum Schluss sogar windige Schuldscheine unterschrieben. Jetzt wollten plötzlich alle ihr Geld. Auch die Bank verlor die Geduld. Freds Hausstand wurde gepfändet. Er besaß ein wenig Kunst, einen nagelneuen Porsche, eine Wahnsinnsstereoanlage und eine teure Fotoausrüstung. Als alles verkauft war, konnten seine Schuldner knapp befriedigt werden. Nur Rönneberg sah nie etwas von dem vereinbarten Honorar. Zum Glück saß der im Knast und konnte sich nicht wehren. Und Fred hatte andere Sorgen. Er brauchte eine neue Bleibe, die so gut wie nichts kosten durfte. Damals zog er nach List in ein baufälliges Gartenhaus, das auf dem Grundstück einer Witwe stand. Die Bude war so marode, dass selbst der anspruchsloseste Tourist davor zurückschreckte, sie zu mieten. Nur Fred war froh, als die Witwe ihn aufnahm. Er lebte zehn Jahre in dem verfallenen Gartenhaus. Er trank unmäßig, um das alles zu ertragen, und wäre fast daran zugrunde gegangen.
Und dann kam die zweite große Wende in seinem Leben.
Auf der Insel verschwanden drei kleine Mädchen, und Fred mischte sich in die Ermittlungen ein. Endlich einmal half ihm sein journalistisches Gedächtnis, auch wenn er es durch den Suff inzwischen fast ruiniert hatte. Er löste den Fall, und danach schrieb er zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder eine Reportage. Diesmal rissen sich die Medien um ihn. Es war ein glanzvolles Comeback und der Beginn eines neuen Daseins. Gesittet und ohne Alkohol, auch wenn der Dämon bis heute nicht ganz vertrieben ist.
Doch meistens kann Fred widerstehen. Die Erinnerung an seine Abstürze im Gartenhaus ist noch deutlich. Überhaupt, das Gartenhaus. Es war eine feuchte Bleibe, die im Winter nicht richtig geheizt werden konnte. In jeder Ecke saß der Schimmel und fraß sich durch Freds spärliche Habe. Es war ihm nicht viel geblieben außer seinen Manuskripten und den Belegexemplaren der Zeitungen und Zeitschriften, in denen seine Artikel veröffentlicht worden waren. Fred verwahrte sie in modrig riechenden Kartons, die mit den Jahren immer feuchter wurden.
Als der Journalist vor vier Jahren in die schicke Maisonette am Wenningstedter Dorfteich zog, besorgte er neue Kartons und schichtete die alten, vergilbten und angefeuchteten Journale um. Sie stehen als Zeugen seiner ruhmreichen Vergangenheit immer noch im Keller, allerdings ohne dass Fred seit dem Umzug je einen Blick hinein geworfen hätte. Warum auch? Schließlich sind inzwischen einige weitere Kartons dazugekommen, deren Inhalt propper und trocken ist. Das Buch über das Verschwinden der drei Mädchen, das sogar verfilmt worden ist. Die Reportage über die rätselhaften Morde an zwei rothaarigen Frauen in Westerland. Und zuletzt der Bericht über den Kampener Kunstskandal im letzten Sommer.
Fred seufzt und greift zu seiner Tasse, aber der Kaffee ist inzwischen kalt und schmeckt nicht mehr. Der Radiomoderator hat sich anderen Themen zugewandt. Und in der Tageszeitung kann noch nichts über den Leichenfund sein. Wahrscheinlich steht die Polizei ganz am Anfang der Ermittlungen. Und niemand ahnt, dass sich irgendwo in dem dunklen Keller unter Fred Hübners Wohnung interessante Hinweise auf die Vorgeschichte Larissa Paulmanns verbergen könnten. Doch sicher ist das nicht. In den vergangenen fünfzehn Jahren ist viel geschehen, und das nicht nur in seinem Leben. Auch Larissa Paulmann dürfte einiges erlebt haben.
Vielleicht sogar etwas, das den in der vergangenen Nacht an ihr verübten Mord erklären könnte.
Im klaren Licht der Morgensonne gehen Silja Blanck und Bastian Kreuzer am Tipkenhoog entlang. Links schillert das Watt im Sonnenlicht, und rechts reihen sich die Filetgrundstücke mit der prächtigen Aussicht aneinander. Links schnattern Wasservögel und Möwen. Rechts herrscht noble Stille. Die stattlichen Anwesen mit Blick auf die Wattlandschaft sind ganz ans hintere Ende der Grundstücke gebaut, so dass man als Spaziergänger kaum Details der Fassaden und Terrassen erkennen kann. Doch die große Glasveranda, von der Henry Loos gesprochen hat, ist nicht zu übersehen.
»Das muss die Villa von diesen Schweizer Unternehmern sein. Ist ein ziemlicher Kasten«, murmelt Bastian, als sie daran vorbeilaufen.
»Und da vorn geht ja auch schon die andere Straße ab, die das Grundstück noch mal von hinten erschließt«, fügt Silja an.
Die beiden Ermittler biegen in den Ingiwai ein. Tatsächlich führt die unauffällige Straße an der Rückfront einiger der großen Grundstücke entlang. Andere Grundstücke sind geteilt und am Ingiwai mit kleineren Häusern bebaut worden. Doch nirgendwo ist ein Mensch zu sehen, niemand geht einkaufen, fährt zur Arbeit, führt einen Hund aus.
»Gespenstisch, oder?« Silja hakt sich bei Bastian unter und drängt sich dicht an ihn heran. »Wahrscheinlich ist das hier im Winter eine komplette Geisterstraße. Noch nicht mal zum Biikebrennen kommen die reichen Ferienhausbesitzer her.«
»Also ich weiß nicht. Immerhin hat Larissa Paulmann hier gelebt. Vielleicht haben die anderen Villenbesitzer auch solche Verwalter, die irgendwo auf ihren riesigen Grundstücken untergebracht sind.«
»Das glaube ich eigentlich nicht. Es gibt auf der Insel genug Betriebe, die sich genau darauf spezialisiert haben. Sie pflegen den Rasen, sie warten das Haus. Und wenn man will, organisieren sie auch die Vermietung.«
Bastian lacht kurz. »Das will hier wahrscheinlich keiner.«
»Wer weiß. Wir können ja Herrn Paulmann fragen.«
»Nee, Süße, das lassen wir schön bleiben«, widerspricht Bastian mit energischer Stimme. »Ein Ehemann, dem die Polizei mitteilt, dass seine Frau in der letzten Nacht ermordet worden ist, hat das Recht darauf, nicht mit solchen Fragen behelligt zu werden.«
»Entschuldige. Ich bin so blöd! Ich weiß schließlich selbst, wie schrecklich das ist«, sagt sie mit leiser Stimme.
Bastian bleibt stehen und legt seiner Freundin beide Hände auf die Oberarme. »Ist schon okay. Manchmal ist es ganz gut, wenn man ein bisschen mehr Distanz zu seinen Fällen aufbauen kann. Dann kommt es schon mal vor, dass man vergisst, mit welchen furchtbaren Dingen wir eigentlich zu tun haben.«
»Trotzdem«, unterbricht ihn Silja. »Ich schäme mich so!«
»Sieh es als Zeichen größerer Professionalisierung. Schließlich haben deine Erinnerungen dir lange genug die Arbeit schwergemacht.«
Silja nickt und denkt an ihre kleine Schwester, die vor etlichen Jahren ebenso wie Larissa Paulmann in einer kalten Nacht gelegen hat, bis man sie schließlich fand. Missbraucht und ermordet. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ihr nicht von selbst die Übereinstimmung aufgefallen ist. Nur weiß Silja nicht genau, ob sie dies wirklich als positives Zeichen werten soll. Vielleicht ist es einfach nur das Merkmal einer beginnenden Abstumpfung. Und Abstumpfung ist allemal der Anfang einer Gleichgültigkeit, die noch keinem Ermittler gut bekommen ist.
»Schau mal, dieses Häuschen hier steht auf einem riesigen Grundstück, und das da hinten könnte doch die Rückfront des großen Kastens mit der auffälligen Veranda sein, an dem wir vorhin entlanggelaufen sind.«
Bastians Worte reißen Silja aus ihren Gedanken. Sie atmet tief durch und sieht auf das Klingelschild, das halb von altem Efeu überwuchert ist.
»Viel Besuch scheinen die aber nicht zu haben«, murmelt sie, schiebt die Ranke mit den schweren Beeren zur Seite und liest statt, wie erwartet, eines Namens gleich zwei. »Paulmann und van de Kock. Weißt du, wer van de Kock ist?«
Bastian schüttelt den Kopf, während er fest auf den Klingelknopf drückt. Ganz leise ist der Dreitongong aus dem Inneren des kleinen Hauses zu hören.
»Vielleicht hat Larissa Paulmann bei der Hochzeit ihren Mädchennamen behalten, und das ist der Name ihres Mannes. Ich habe in der Eile die Personalien noch nicht überprüfen lassen. Ich wollte möglichst schnell zum Ehemann. Und dieser Henry Loos schien sich ja bestens mit den Lebensumständen der Toten auszukennen.«
»Vielleicht haben die Paulmanns auch einen Untermieter, weil es finanziell ein bisschen klemmt. Jedenfalls scheint niemand da zu sein.«
»Vielleicht schläft der Typ auch einfach nur tief und fest. Wahrscheinlich hat er noch gar nicht bemerkt, dass seine Frau in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Sonst hätte er sich bestimmt schon bei uns gemeldet.«
»Oder er sucht sie gerade«, wendet Silja ein.
»Auch möglich.«
Bastian drückt noch einmal auf die Klingel. Als nichts geschieht, drückt er versuchshalber die Gartenpforte auf.
»Nicht abgeschlossen. Komm, wir sehen uns mal um.«
Der Vorgarten des Verwalterhauses wirkt gepflegt. Zwei Blumenrabatten längs des Weges sind ordentlich geharkt. In Reih und Glied stehen Buchsbaumkugeln und winterkahle Rosenstöcke. Auf der blauen Friesenbank vor dem Haus glitzert Raureif. Hinter den beiden niedrigen Fenstern links und rechts von der Eingangstür stehen üppig blühende Orchideen. Gardinen gibt es nicht. Silja geht zum linken Fenster, um ins Haus hineinsehen zu können.
»In der Küche ist schon mal niemand. Es wirkt alles sehr aufgeräumt, nicht so, als sei jemand hier plötzlich überrumpelt worden. Die Blumen sind übrigens aus Plastik.«
»Vielleicht ist Herr Paulmann wirklich auf der Suche nach seiner Frau«, mutmaßt Bastian, während er in das andere Fenster späht. »Im Wohnzimmer sitzt er jedenfalls auch nicht.«
Die beiden Ermittler gehen um das Haus herum. Auf der Terrasse an der Rückseite stehen ein abgedeckter Strandkorb und ein paar ältere Tontöpfe, in denen die Pflanzen längst erfroren sind. Eine verglaste Tür führt in den langen und schmalen Flur, an dessen Ende man die Eingangstür von innen ahnen kann.
»Der Wohnraum hat gar keinen Terrassenzugang, wie schade«, murmelt Silja.
»Tja Süße, das ist natürlich ein gravierender Mangel. Dann werden wir die Hütte wohl doch nicht kaufen«, witzelt Bastian.
Aber Silja geht nicht auf seinen Tonfall ein. »Hast du diesen Loos eigentlich gefragt, ob er Larissa Paulmann gestern Abend beim Biikebrennen gesehen hat?«
»Er sagt, nein, aber ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll. Warum willst du das wissen?«
»Es wäre doch interessant zu erfahren, ob sie allein oder mit ihrem Mann dort war. Denn wenn der mit war und jetzt plötzlich verschwunden ist …«
»Sie war allein, das hat mir einer der anderen Männer, die beim Aufräumen geholfen haben, gesagt. Und sie hat wohl auch mit niemandem gesprochen, sondern nur versonnen ins Feuer gestarrt.«
»Komisch. Dabei geht man doch da hin, um Freunde und Bekannte zu treffen, oder?«
»Kommt drauf an, ob man welche hat. So, wie’s aussieht, war diese Paulmann eher eine Einzelgängerin.«
Fred Hübner hält sich nicht gern im Keller seiner Wohnung auf. Ihn stört weniger die düstere Atmosphäre und auch nicht die leicht modrige Luft, sondern eher die bedrückende Nähe zur eigenen Vergangenheit. Viele Erlebnisse und Erfahrungen, die Fred in den Jahrzehnten auf der Insel gemacht hat, sind in seine Reportagen und Berichte eingeflossen. Und die Schilderungen der Kriminalfälle, an deren Lösung er in den letzten Jahren beteiligt war, sind ihm schon deshalb besonders nah, weil er bei seinen Ermittlungen nicht nur einmal sein Leben aufs Spiel gesetzt hat.
Doch um diese neueren Zeugnisse geht es jetzt nicht. Fred sucht nach dem abgelehnten Manuskript, das Larissa Paulmanns Leben beschreibt und von dem er hofft, dass er es nicht weggeworfen hat.
Fluchend arbeitet sich der Journalist durch die Kistenstapel bis ganz nach hinten vor, wo die älteren Sachen stehen. Er wirbelt Staubflocken auf und wischt sich immer wieder Spinnweben vom Gesicht. Als er an der Kellerwand angekommen ist, muss er feststellen, dass sich in den letzten Jahren die Feuchtigkeit des Kisteninhalts auch auf die neuen Kartons ausgedehnt hat. Aus der festen Pappe ist eine labberige Masse geworden, die beim Öffnen nachgibt wie Gummi. Auf den Zeitschriften im Inneren der Kiste sitzen übelriechende Verzierungen aus feinsten Schimmelsporen. Vorsichtig hebt Fred Journal für Journal heraus, immer auf der Suche nach dem einen letztendlich abgelehnten Manuskript, das damals seinen Niedergang besiegeln sollte.
Die jahrzehntealten Titelbilder und Headlines rühren ihn fast, gemahnen sie doch an eine Welt ohne Computer, Handys und Internet. Eine Welt, der der letzte Krieg noch so in den Knochen steckte, dass von ihm absolut nie die Rede war. Eine Welt, die sich mit verzweifelter Lust bemühte, alles neu, rein und glänzend zu erhalten. Eine Welt, die noch nichts von Finanzkrisen und Cyberspionage ahnte.
Immer wieder ist Fred Hübner versucht, das eine oder andere Magazin aufzuschlagen und sich in den Beschreibungen dieser vermeintlich heilen Welt, die seine besten Jahre geprägt hat, festzulesen, doch letztendlich gewinnt sein Spürsinn die Oberhand. Irgendwo muss dieses verdammte Manuskript doch stecken. Er erinnert sich deutlich, dass er besonderes Gewicht auf die Kindheits- und Jugendgeschichte Larissa Paulmanns gelegt hat. Zum einen, weil sein Kronzeuge, der damals gerade frisch inhaftierte Lars Rönneberg, gar nicht genug davon bekommen konnte, die zum Teil recht pikanten Details vor Fred auszubreiten. Und zum anderen, weil es in dem damaligen Kriminalfall ein paar Unsicherheiten gab, denen kein Richter auf die Spur kommen konnte, die Fred aber meinte, mit seinem psychologischen Bericht erhellen zu können.
Doch das Manuskript taucht nicht auf. Fred hat sich inzwischen bis zum Boden der Kiste durchgearbeitet und ist umgeben von feuchten und verblichenen Magazinen. Er erinnert sich dunkel daran, dass er beim Umzug alle Manuskripte, die auch gedruckt worden sind, aussortiert und weggeworfen hat. Vielleicht ist ihm der Larissa-Paulmann-Report einfach mit durchgerutscht und fault längst auf einer Mülldeponie seiner endgültigen Verwesung entgegen.
Fred seufzt und beschließt aufzugeben, alles wieder zurück in die Kiste zu werfen und aus dem Keller mit den zwiespältigen Zeugnissen seines Lebens nach oben zu flüchten. Zurück in die Gegenwart, in die Helligkeit eines sonnigen Februartages. Er weiß genau, eigentlich sollte er die Gelegenheit nutzen und eine ganz neue, trockene Kiste besorgen, doch er hat keine zur Hand und er will jetzt schnell fertig werden. Also muss es die alte noch einmal tun. Stapel für Stapel wandert zurück.
Fred achtet kaum auf die chronologische Ordnung der Magazine, eher darauf, dass der Platz in der Kiste vernünftig ausgenutzt wird. Und nur darum fällt ihm vielleicht ein etwas dickeres Heft auf, das aus dem Jahr stammt, in dem Lars Rönneberg, der damalige Freund Larissa Paulmanns, verurteilt worden ist. Fred wundert sich, denn zu diesem Zeitpunkt hat er doch gar nichts mehr publiziert. Er nimmt das Heft zur Hand, beginnt zu blättern und erinnert sich plötzlich an seine wirklich kindische Reaktion auf die Ablehnung seines Vorhabens. Er hatte die Ausgabe des Magazins gekauft, in dem er den Artikel gern als Aufmacher gesehen hätte. Als er dann mit seinen Recherchen fertig war, legte er den inzwischen erheblich längeren Report dort hinein. Als symbolische Geste. Damit die Reportage wenigstens an ihrem Bestimmungsort aufbewahrt wurde.
Wie sentimental ich doch war. Unwillkürlich muss Fred Hübner lächeln. Versonnen streicht er über das alte Cover des Magazins, in dessen Innerem sich die getippten Seiten befinden. Schnell sortiert Fred die restlichen Hefte zurück in die Kiste, verzichtet darauf, den Deckel zu schließen, weil er fürchtet, die Pappe könne reißen. Außerdem hofft er, ein wenig Luftzirkulation könne die weitere Ausbreitung des Schimmels verhindern. Dann greift er sich Magazin und Manuskript, schlängelt sich zwischen den Kistenstapeln hindurch zum Gang, schließt die Kellertür und eilt hinauf in seine Wohnung.
Zum Lesen rückt sich Fred einen Sessel direkt vor ein Ostfenster, damit die Wintersonne die Erinnerung an die düstere Kelleratmosphäre möglichst schnell vertreibt. Der muffige Geruch der engzeilig beschriebenen Seiten ist schon schlimm genug.
Als Fred den ersten Satz liest, durchflutet ihn Stolz.
Larissa Paulmann war ein glückliches Kind.
Er hat es damals wirklich draufgehabt! Genau so muss man einen Artikel beginnen. Erst mal ein Statement setzen, eine These aufstellen, und dann ab in medias res.
Larissa Paulmann wuchs auf der schönsten aller Inseln in der deutschen Nordsee auf. Die Eltern waren kurz nach ihrer Geburt hierhergezogen, weil die Insel Arbeitsplätze und einen bescheidenen Wohlstand versprach. Sylt wurde schnell zu Larissas Heimat.
Die Eltern hatten ein Restaurant gepachtet, aber es lag abseits der Touristenpfade auf dem Südzipfel der Insel im Niemandsland zwischen Rantum und Hörnum. Zwar war das Restaurant gar nicht weit von der Sansibar entfernt, die im gleichen Jahr ihre Pforten öffnete, doch dem kleinen Betrieb war ein weniger glamouröses Schicksal beschert. In der Regel blieb der Gastraum leer. Die gutbürgerliche Küche, die Larissas Vater anbot, war nicht unbedingt das, was die verwöhnten Inselgäste vorgesetzt bekommen wollten. Nur ein Ehepaar aus der Schweiz hielt den Paulmanns die Treue.
Martin Bürgli liebte die Rouladen und den Sauerbraten von Larissas Vater über alles. Er war mit einem deutschen Kindermädchen aufgewachsen, das ab und an auch für die Familie kochte, und die Hausmannskost der Paulmanns erinnerte ihn an seine Jugend. Und seine Frau liebte alles, was Martin liebte, denn sie vergötterte ihn fast so sehr wie den gemeinsamen Sohn.
Aber natürlich konnten die regelmäßigen Besuche der Bürglis den Ruin der Paulmanns nicht wirklich aufhalten, zumal die Schweizer nur wenige Wochen im Sommer auf der Insel waren. In der restlichen Zeit stand ihr stattliches Reetdachhaus im feinen Keitum leer, ein Umstand, der ihnen regelmäßig Sorgen bereitete. Zwar gab es auf dem großen Anwesen ein Verwalterhaus, aber sie taten sich schwer damit, jemanden zu finden, dem sie vertrauten.
Doch als die Bürglis von der geplanten Schließung des Restaurants und der drohenden Arbeitslosigkeit der Paulmanns erfuhren, genügte ein kurzer Blickwechsel zwischen den Eheleuten. Martin Bürgli nahm noch einen letzten Bissen von der aromatischen Roulade, kaute besonnen, schluckte und spürte genüsslich der Füllung aus Zwiebeln, Gurken und Speck nach, bevor er langsam die Gabel niederlegte und Larissas Eltern zu sich an den Tisch winkte. Wie so oft in letzter Zeit, war es der Einzige im Lokal, der überhaupt besetzt war.