Falscher Glanz - Eva Ehley - E-Book

Falscher Glanz E-Book

Eva Ehley

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Beschreibung

Ihr siebter Fall lässt Bastian Kreuzer, Sven Winterberg und Silja Blanck tief in die Abgründe der menschlichen Seele blicken, wo Geltungsdrang und Begehren auch vor dem Tod nicht Halt machen. In einem Kampener Juwelierladen wird der junge und extrem attraktive Verkäufer Adnan Jashari tot aufgefunden. Seine Kehle ist durchgeschnitten, seine Augen ausgestochen. In seinen Augenhöhlen stecken zwei teure Ohrringe, im Mund des Toten befindet sich ein Ring. Erste Ermittlungen ergeben, dass der Tote aus einem kriminell aktiven arabischen Clan stammt, der in Berlin lebt. Weil auf seinem Konto größere Geldsummen bewegt wurden, vermutet man einen Fall von Geldwäsche. Als Winterberg, Kreuzer und Blanck jedoch von Jasharis Verhältnis mit seiner erheblich älteren Chefin erfahren, kommt auch Eifersucht als Motiv in Frage. Doch dann bringt die Entdeckung einer weiteren, ebenfalls mit Schmuck dekorierten Leiche alle Theorien zum Einsturz …

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Seitenzahl: 341

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Eva Ehley

Falscher Glanz

Ein Sylt-Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

Falscher GlanzPrologMittwoch, 24. Juli, 18.33 Uhr, Braderuper Straße, KampenDonnerstag, 25. Juli, 8.20 Uhr, Hotel Severin*s, KeitumDonnerstag, 25. Juli, 9.55 Uhr, Strandstraße, KampenDonnerstag, 25. Juli, 10.10 Uhr, Braderuper Weg, KampenDonnerstag, 25. Juli, 11.40 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtDonnerstag, 25. Juli, 12.50 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandDonnerstag, 25. Juli, 14.13 Uhr, Severins*s, KeitumDonnerstag, 25. Juli, 14.55 Uhr, Pizzeria Toni, WesterlandDonnerstag, 25. Juli, 16.40 Uhr, Autoshuttle Sylt, NiebüllDonnerstag, 25. Juli, 17.55 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandDonnerstag, 25. Juni, 18.12 Uhr, Braderuper Straße, KampenDonnerstag, 25. Juli, 19.10 Uhr, Am Sandwall, RantumFreitag, 26. Juli, 9.45 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandFreitag, 26. Juli, 10.06 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtFreitag, 26. Juli, 10.26 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandFreitag, 26. Juli, 12.20 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandFreitag, 26. Juli, 13.32 Uhr, Restaurant Gosch, WenningstedtFreitag, 26. Juli, 19.15 Uhr, Restaurant Tipken’s, KeitumSamstag, 27. Juli, 10.33 Uhr, Braderuper Weg, KampenSamstag, 27. Juli, 10.47 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSamstag, 27. Juli, 11.12 Uhr, Kottbusser Damm, Berlin-KreuzbergSamstag, 27. Juli, 11.42 Uhr, Strandstraße, KampenSamstag, 27. Juli, 12.13 Uhr, Mittelweg, Berlin-NeuköllnSamstag, 27. Juli, 12.22 Uhr, Hotel Severin*s, KeitumSamstag, 27. Juli, 13.07 Uhr, Rotes Kliff, WeststrandSamstag, 27. Juli, 16.10 Uhr, Severin*s Resort, KeitumSamstag, 27. Juli, 16.32 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSamstag, 27. Juli, 17.45 Uhr, Severin*s, KeitumSamstag, 27. Juli, 19.03 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtSamstag, 27. Juli, 22.23 Uhr, Bahnhof, WesterlandSamstag, 27. Juli, 22.45 Uhr, Alte Dorfstraße, ListSonntag, 28. Juli, 12.06 Uhr, Juwelier Bischoff, KampenSonntag, 28. Juli, 12.29 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandSonntag, 28. Juli, 17.45 Uhr, Severinskirche, KeitumSonntag, 28. Juli, 19.20 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 28. Juli, 19.42 Uhr, Alte Dorfstraße, ListSonntag, 28. Juli, 22.50 Uhr, Hotel Severin*s, KeitumSonntag, 28. Juli, 22.45 Uhr, Hotel Severin*s, KeitumMontag, 29. Juli, 00.07 Uhr, Norderstraße, WesterlandMontag, 29. Juli, 00.23 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandMontag, 29. Juli, 02.18 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtMontag, 29 Juli, 09.32 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juli, 09.35 Uhr, Verladestation Autozug, WesterlandMontag, 29. Juli, 09.41 Uhr, Hotel Severin*s, KeitumMontag, 29. Juli, 09.45 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandMontag, 29. Juli, 10.21 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juli, 11.13 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandMontag, 29. Juli, 11.27 Uhr, Wagner-Bestattungen, BerlinMontag, 29. Juli, 11.29 Uhr, Listlandstraße, KampenMontag, 29. Juli, 11.32 Uhr, Alte Dorfstraße, ListMontag, 29. Juli, 11.46 Uhr, Haus am Dorfteich, WenningstedtMontag, 29. Juli, 11.50 Uhr, Sylt Shuttle, Bahnhof, WesterlandMontag, 29. Juli, 12.00 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juli, 12.27 Uhr, Pizzeria Toni, WesterlandMontag, 29. Juli, 12.32 Uhr, Mikes Carservice, TinnumMontag, 29. Juli, 13.40 Uhr, Pension Möwe, TinnumMontag, 29. Juli, 13.54 Uhr, Alte Dorfstraße, ListMontag, 29. Juli, 13.55 Uhr, Mikes Carservice, TinnumMontag, 29. Juli, 15.03 Uhr, Strandpromenade, WesterlandMontag, 29. Juni, 15.22 Uhr, Mikes Carservice, TinnumMontag, 29. Juni, 15.50 Uhr, Nordseeklinik, WesterlandMontag, 29. Juni, 16.03 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juni, 16.27 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juli, 16.53 Uhr, Bahnhof, WesterlandMontag, 29. Juli, 17.03 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandMontag, 29. Juli, 17.20 Uhr, RE 11033, Bahnhof, WesterlandMontag, 29. Juli, 18.05 Uhr, Kriminalkommissariat, WesterlandDienstag, 30. Juli, 11.47 Uhr, Juwelier Bischoff, KampenDienstag, 30. Juli, 17.48 Uhr, Strönwai, KampenDanksagung

Falscher Glanz

Prolog

Noch ist der Körper warm, und das Gesicht hat diesen grandiosen Olivton, der angeboren sein muss und durch Sonnenbräune nie zu erreichen ist. Die Wangenknochen werfen elegante Schatten, und das Kinn erinnert mit seiner nervösen Kantigkeit an antike Götter, die mit eitlem Stolz auf äußerst fragwürdige Heldentaten zurückblicken. Die Brust wölbt sich unterm Muskelshirt, und die schmalen Hüften stecken in einer hautengen Jeans, die gekonnt löchrig ist. Perfekt pedikürte Füße, sehnig, elegant und männlich zugleich, ragen aus den schmalen Hosenbeinen hervor. Der Tote liegt auf blank gescheuertem Holz direkt vor dem gläsernen Verkaufstresen, in dessen Innerem kostbare Juwelen aus grob gezimmerten Schatztruhen quellen. Die Ringe und Ohrhänger, die Ketten und Armbänder sind reich mit Steinen bestückt, die in allen Regenbogenfarben leuchten. Smaragdgrün. Rubinrot. Saphirblau. Morganitrosa. Gefasst in Gold oder Platin und in tausend Facetten schillernd, wirken die Edelsteine wie vielkantige Götterwürfel, einzig geschaffen, um über Glück oder Unglück zu entscheiden. Über Liebe oder Leid, Reichtum oder Armut, Leben oder Tod.

Dem jungen Mann, der zu Füßen dieser Pracht am Boden liegt und dessen Kehle mit einem brutalen Schnitt durchtrennt worden ist, haben die Steine kein Glück gebracht, auch wenn sie ihn noch im Tode schmücken. Seine Pupillen sind tief in die Augenhöhlen gedrückt und durch zwei völlig identische riesenhafte Smaragde ersetzt, die zu glatten Ovalen geschliffen sind und in einer schmalen Goldfassung ruhen. Auch der sinnlich geschwungene Mund, leicht geöffnet, als entschlüpfe ihm gerade ein Liebesschwur, ist mit einem dieser Steine geschmückt. Er ist größer als die anderen beiden und in einem ebenso schlichten wie prächtigen Ring verarbeitet. Mit einem Lächeln scheinen die Lippen des Toten den Stein zu umfangen, als sei er ein lang erwartetes Präsent. Das intensive Grün der Smaragde in Mund und Augen der Leiche schillert obszön im gleißenden Licht der Deckenstrahler. Ebenso perfekt gefärbt wie geschliffen, sind die Edelsteine die Krönung eines noch im Tode atemberaubend attraktiven Männergesichts.

Mittwoch, 24. Juli, 18.33 Uhr, Braderuper Straße, Kampen

Die Abendsonne vergoldet die Blüten der Heckenrosen, sie liegt flirrend auf den Wiesen am Kampener Dorfrand und überzieht die Feldsteine, aus denen der Friesenwall rund um das niedrige Reetdachhaus gebaut ist, mit einem magischen Glanz. Der kräftige Westwind fährt in die Rhododendren, zaust die Silberpappeln und lässt die blau-weißen Kampener Fahnen flattern, die in fast jedem Vorgarten wehen. Gerade öffnet Kriminaloberkommissar Sven Winterberg seine Haustür von innen und schiebt einen schicken dunkelblauen Kinderwagen ins Licht. Wenig später tritt Anja Winterberg ins Freie. Sie hat die Haare zu einem schlichten Zopf im Nacken gebunden und trägt eine pinkfarbene Daunenweste über ihrer Jeans und dem hellen Pulli. Sie ist mittlerweile fast ebenso schlank wie vor ihrer Schwangerschaft, ein Ergebnis eiserner Disziplin. Als Anja einen prüfenden Blick in den Kinderwagen wirft, überzieht ein stolzes Lächeln ihr Gesicht.

»Weißt du eigentlich, dass unser Mäxchen heute genau fünf Monate alt ist?«

»Wenn ich’s nicht wüsste, hättest du es mir eben zum dritten Mal gesagt.« Sven Winterberg drückt seiner Frau einen Kuss auf die Wange und blickt sie unternehmungslustig an. »Wo gehen wir längs?«

»Vielleicht erst hoch in Richtung Uwe-Düne und dann durchs Dorf zurück«, schlägt sie vor. »Oder meinst du, es ist in der Heide zu windig?«

Sven schüttelt energisch den Kopf. »Was ein echter Friese werden will, der muss schon was aushalten.«

Wie zur Bestätigung fängt der kleine Max in seinem Wagen an zu glucksen. Er spuckt den Schnuller aus und schaut neugierig zum Himmel hinauf. Wolkentupfen vor intensivem Blau, das sich in seinen Augen spiegelt. Gerührt blicken die Eltern sich an. Immer wieder macht sie dieser späte Nachwuchs ehrfürchtig und sehr dankbar. Als Anja die Schwangerschaft im letzten Jahr bemerkte, war sie bereits zweiundvierzig und hatte nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet. Aber alle Familienmitglieder waren bei der Aussicht auf ein Baby begeistert, besonders Mette, die elfjährige Tochter des Paares. Und jetzt ist der kleine Max da, ein gesunder und kräftiger Bursche, der seine Eltern ordentlich auf Trab hält.

Einige Minuten laufen Sven und Anja schweigend nebeneinander her. Es ist Hochsaison auf der Insel, fast alle Ferienhäuser sind belegt. Zwei Bremer Porsche und ein SUV aus der Schweiz stehen in den Einfahrten der gegenüberliegenden Häuser. Ein bulliger Hund verbellt die kleine Familie aufgeregt, wobei er sich mit den Vorderpfoten auf das zum Glück geschlossene Friesentor des Anwesens stützt. Drei Kinder, ganz offensichtlich Geschwister, kurven mit ihren Rädern auf der leeren Straße herum und rufen sich Abzählreime zu. Anja und Sven lassen die Kinder hinter sich, überqueren die Hauptstraße und passieren auch auf der Meerseite stattliche Ferienhäuser. Die beiden laufen direkt auf die Küste zu und erreichen schnell die Heidelandschaft, die die Westseite Kampens von den Dünen trennt. Links und rechts des Schotterwegs blüht es in sattem Violett, dazwischen ranken wie hingetupft Geißblattpflanzen, die mit ihren langfingrigen weißen, rosa und roten Blüten wie filigrane Orchideen inmitten der handfesten Heide wirken. Der Wind ist hier stärker, er zaust an Anjas Haaren und bringt den Kinderwagen ins Schwanken. Dem kleinen Max fallen die Augen zu, ein seliges Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, und kurz darauf ist er eingenickt.

»Hoffentlich schläft er jetzt nicht zu lange«, murmelt Anja. »Sonst wird das wieder eine unruhige Nacht.«

»Ich kümmere mich dann um ihn und bringe ihn dir nur zum Stillen ins Bett«, beruhigt sie Sven. »Im Moment ist im Kommissariat nicht besonders viel los, da muss ich morgens nicht so superfit sein. Und dass Mette mit meinen Eltern verreist ist, entlastet uns doch auch ein bisschen.«

Anja nickt und merkt gleichzeitig, dass ihr die Tochter jetzt schon fehlt, obwohl von den geplanten zwei Wochen Urlaub mit den Großeltern erst drei Tage vergangen sind.

»Wie man im Hochsommer freiwillig nach Griechenland fliegen kann, wenn es hier so traumhaft ist, verstehe ich zwar nicht …«, beginnt sie, wird aber in ihren Überlegungen von zwei Damen in schicken Outfits und edlen Schuhen unterbrochen, die sie gerade von hinten überholen.

»Verzeihung, können Sie uns vielleicht sagen, wo dieser neue Juwelier ist, von dem alle reden?«

»Äh, nein, nicht direkt. Hier gibt’s ja jede Menge Schmuckgeschäfte.« Anja verdreht die Augen.

»Ja, aber wir meinen ein ganz bestimmtes.« Die ältere der beiden Damen wirft der jüngeren einen verschwörerischen Blick zu.

»Ach so«, begreift Anja jetzt. »Sie suchen nach dem neuen Dorf-Adonis, den die Bischoff eingestellt hat.«

»Er soll ja ausschließlich barfuß bedienen«, murmelt die Jüngere. »Und natürlich ist der Schmuck vom Feinsten«, fügt die Ältere mit maliziösem Lächeln hinzu.

»Wenn Sie weiter geradeaus gehen und dann die Strandstraße rechts rein, können Sie das Geschäft gar nicht verfehlen«, erklärt Anja und blickt den beiden amüsiert hinterher.

»Die können es echt nicht erwarten, ihr Geld loszuwerden, was?«, mokiert sich Sven.

»Also wenn du mich fragst, dann war die Geschäftsidee von dieser Carina Bischoff einfach grandios. Der Kerl, den sie als Verkäufer angeheuert hat, ist ein echter Hingucker. Und die weiblichen Badegäste haben oft genug unter der Woche zu viel Zeit …«

»… und zu wenig männliche Zuwendung …«, wirft Sven ein.

»… und zu viel Geld sowieso«, komplettiert Anja den Satz.

»Apropos Geld …« Sven bleibt stehen und nimmt Anja in den Arm. »Ich habe da noch so eine kleine Rücklage und dachte mir, dass du dir ja vielleicht auch etwas Nettes aussuchen könntest. Als Dankeschön für den ganzen Stress mit der Schwangerschaft.«

»Das muss doch nicht sein.«

»Muss nicht, kann aber schon«, beharrt Sven. Und als die kleine Familie wenig später die Strandstraße erreicht, steuert er entschieden auf den Juwelierladen zu.

Carina Bischoff Juwelen steht in goldenen Lettern unter dem Reetdach. Vor den Schaufensterscheiben drängen sich etliche Damen mit teuren Taschen, klobigem Schmuck und wohlfrisierten Haaren. Man muss kein Detektiv sein, um zu sehen, dass ihre verlangenden Blicke weniger der Auslage gelten als den Dingen, die im Inneren des Juweliergeschäfts vor sich gehen. Neugierig mischen sich Anja und Sven unter die Schaulustigen.

Panthergleich mit ebenso geschmeidigen wie kraftvollen Bewegungen huscht der junge Verkäufer durch den Laden. Er ist tatsächlich barfuß, seine Jeans sitzt gefährlich eng über den Hüften, und das Muskelshirt spannt über der durchtrainierten Brust. Er bedient zwei Damen gleichzeitig und scheint es locker zu schaffen, jeder von ihnen das Gefühl zu geben, dass seine volle Aufmerksamkeit allein ihr gilt. Manchmal hebt er die Stimme, so dass sein wohlmodulierter Bass die Scheiben der Auslage und ganz bestimmt auch die Herzen seiner Kundinnen zum Vibrieren bringt.

»Unglaublich. Wo sie den wohl aufgegabelt hat?«, murmelt Anja. »Meinst du, er hat überhaupt eine Ahnung von dem Zeug, das er da anpreist?«

»Das Preisschild wird er wohl lesen können. Und das nötige Fachwissen bringen die Kundinnen wahrscheinlich schon selbst mit. Du siehst ja, womit sie sonst so behängt sind.«

Anja mustert die Damen, die neben ihr stehen. Deren Schmuck kann durchaus mit dem in der Auslage mithalten. Allerdings ist die Anordnung im Schaufenster entschieden phantasievoller.

Schatztruhen aus sägerauen Brettern, grob mit rostigen Nägeln zusammengezimmert stehen aufgeklappt auf hellem Sand. Wie zufällig verstreut wirken die Ringe und Ketten, die Ohrhänger und Armbänder mit ihren prächtigen Steinen, die in den Truhen liegen oder aus ihnen heraushängen. Die ungeordnete Ausbeute eines Schatzgräbers. Der Laderaum eines frisch geplünderten Schiffes.

Anja lässt ihre Augen über die roten, violetten und gelben Steine schweifen. Dann fällt ihr Blick auf ein äußerst schlicht wirkendes Paar goldener Ohrhänger mit glatten grünen Steinen. Dicht daneben liegt ein passender Ring.

Sven hat sie aufmerksam beobachtet und fragt nun leise: »Gefallen dir die?«

Anja versucht, ein Preisschild zu entdecken. Aber da ist nichts.

»Die sind bestimmt viel zu teurer.« Energisch dreht sie der Auslage den Rücken zu. Gleichzeitig schlägt der kleine Max die Augen auf und stülpt seine Lippen auf der Suche nach dem Schnuller vor. Er schmatzt ein paarmal unruhig, wirft den Kopf hin und her, dann beginnt er zu weinen. Sven greift nach dem Kinderwagen und schaukelt den Kleinen sanft. Doch das Weinen wird nur lauter. »Wo ist bloß wieder dieser verdammte Schnuller?«, murmelt Sven, während er zwischen Kissen und Bettdecke herumtastet. Mäxchen hat sein Weinen inzwischen zu intensivem Brüllen gesteigert, was einige irritierte Blicke der umstehenden Damen provoziert. Zum Glück findet Sven jetzt den Schnuller und schiebt ihn dem kleinen Kerl zwischen die Lippen. Sofort ist Ruhe. Der sattgelbe Plastikknopf in der Mitte des Schnullers bewegt sich heftig. Es sieht aus, als wolle der kleine Max den Schnuller am liebsten einsaugen und verschlucken.

Donnerstag, 25. Juli, 8.20 Uhr, Hotel Severin*s, Keitum

Carina Bischoff streckt sich noch einmal in ihrem bequemen Bett und beobachtet die Streifen von Morgenlicht, die quer über dem Boden und den eleganten, aber schlichten Möbeln liegen. Das Fenster ihres Zimmers ist leicht geöffnet, sie kann die Möwen am Watt hören und den Wind spüren, der wie ein Versprechen durch den Raum streicht. Schwungvoll steht sie auf und geht hinüber ins Bad. Unter dem kräftigen Strahl der Dusche wird sie vollends wach. Sie frottiert ihren Körper ab und steigt auf die Waage. 64 Kilo. Für eine Frau Mitte fünfzig ist dies ein akzeptables Gewicht. Zufrieden zieht Carina Bischoff sich an. Eine weiße enge Hose und ein blaues lässiges Seidenshirt. Dazu weiße Sneakers und ein übergroßer Turmalinring in einer auffälligen Fassung. Und natürlich die goldene Uhr, ohne die sie nie ihre Wohnung verlässt. Und selbstverständlich auch nicht das Hotelzimmer.

Seit drei Wochen wird Carinas Westerländer Wohnung generalüberholt, in weiteren zwei Wochen wollen die Handwerker fertig sein. In der Zwischenzeit hat sie sich eine Auszeit im noblen Keitumer Severin*s gegönnt. Zwar kann sie hier nicht ganz so ungeniert mit ihrem jungen Liebhaber turteln wie zu Hause, aber dafür genießt sie den entspannten Luxus, der sie umgibt, in vollen Zügen.

Unten im Frühstücksrestaurant herrscht fröhlicher Trubel. Kinder balancieren vollbeladene Teller zu den Tischen ihrer Eltern, Paare lesen entspannt in der Zeitung, während sie noch eine Tasse Kaffee trinken, Stammgäste schnacken mit dem Personal. Carina Bischoff holt sich eine Schale Müsli vom Büfett und bittet um einen grünen Tee. Dann sucht sie sich einen ruhigen Ecktisch und checkt ihre Mails am Handy.

Zwei Zulieferer kündigen neue Ware an, eine gute Kundin fragt nach einem ganz besonderen Schmuckstück, und der Steuerberater bittet um einen Termin. Nichts Außergewöhnliches, nichts Besorgniserregendes. Carina schaltet das Handy aus und lehnt sich zurück. Ihr Kampener Geschäft öffnet erst um zehn. Sie hat also noch Zeit.

Nach einem weiteren Pott Tee und einem kurzen Blick in die Zeitung geht Carina wieder auf ihr Zimmer. Zähneputzen, Tasche packen. Handy, Portemonnaie, Ladenschlüssel. Ihr Wagen steht unten auf dem Parkplatz, und der Weg über Munkmarsch und Braderup nach Kampen ist für sie eine der schönsten Autostrecken der Insel. Vorbei an der Kirche St. Severin und dem alten Fährhaus, dann zwischen Golfplatz, Weiden und Watt, den weißen Leuchtturm zur Linken, nach Kampen fahren.

Noch ist das Dorf leer und erholt sich vom Trubel der letzten Nacht. Nur vor dem Bäcker gibt es die übliche Schlange. Herren in kurzen Hosen und Daunenwesten, den schlanken Hund an der Leine. Ältere Damen mit wettergegerbten Gesichtern und Joggingschuhen, die ihr Morgentraining schon hinter sich haben. Junge Mädchen mit verschlafenem Blick, denen die letzte Nacht noch in den Knochen steckt.

Lächelnd biegt Carina Bischoff in die Hauptstraße ein und parkt wenig später auf dem Stellplatz hinter ihrem Geschäft. Adnans Motorrad steht schon hier, natürlich. Carina steigt aus und geht um das schmale Haus herum zur Vorderfront. Im gleichen Augenblick rast ein ziemlich alter dunkelgrüner Passat um die Ecke und hält mit quietschenden Reifen direkt vor ihr. Ein bulliger Mann springt heraus und geht geradewegs auf sie zu. Carina bleibt stehen. Der Typ sieht zwar nicht so aus, als interessiere er sich für ihren Nobelschmuck, aber man kann ja nie wissen.

»Guten Morgen. Carina Bischoff, mein Name. Kann ich etwas für Sie tun?«

Er nickt, dann holt er eine Plastikkarte aus der Tasche und hält sie ihr unter die Nase. HauptkommissarBastian Kreuzer, Kriminalpolizei liest sie.

»Ist etwas passiert?« Ihre Stimme bleibt ruhig, doch ihr Blick geht irritiert zum Schaufenster ihres Geschäfts. Alles liegt an seinem Platz, aber die Lampen im Inneren brennen. Merkwürdig. Carina kommt nicht dazu, darüber nachzudenken, denn der Typ von der Polizei irritiert sie. Er steht immer noch direkt vor ihr. Er lässt sie nicht aus den Augen, beobachtet sie genau. Was will er von ihr? Carina räuspert sich und weist auf den Ladeneingang.

»Ich schließe jetzt auf.« Sie nestelt in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund. Ihre Finger zittern. Als sie die Schlüssel findet und herausholt, greift der Polizist sofort danach.

»Also hören Sie mal, was fällt Ihnen ein?«, entrüstet sich Carina. Jetzt zittert auch ihre Stimme.

»Sorry, aber da können Sie erst mal nicht rein. In Ihrem Laden liegt ein Toter«, erklärt der Polizist.

Donnerstag, 25. Juli, 9.55 Uhr, Strandstraße, Kampen

Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer lässt Carina Bischoff einfach stehen. Er dreht sich um und steckt den Schlüssel ins Schloss. Die Tür ist tatsächlich abgeschlossen. Vielleicht gab es noch einen anderen Fluchtweg für den Mörder? Angespannt betritt Kreuzer das Juweliergeschäft. Es meldet sich keine Alarmanlage. Das ist nach der verschlossenen Tür schon die zweite Merkwürdigkeit. Welcher Täter sperrt nach einem Mord zwar den Laden hinter sich zu, lässt aber die Alarmanlage ausgeschaltet?

Kreuzer bleibt nah an der Tür stehen und lässt den Blick schweifen. Er will keine Spuren verfälschen und schon gar nicht die Kollegen von der Spusi gegen sich aufbringen. Er wird auch die Leiche nicht berühren, weil ihm sonst der Rechtsmediziner Dr. Bernstein aufs Dach steigt, und das kann äußerst unangenehm werden. Aber er will den kostbaren Moment nutzen, in dem er allein am Tatort ist. Den Moment, in dem man das Blut noch riechen kann, in dem vielleicht noch die Aura des Toten zu spüren ist. Nicht dass Kreuzer an derlei Schwachsinn glauben würde, aber trotzdem kann ein frischer Tatort einem aufmerksamen Menschen Dinge verraten, die sich verbergen, sobald das hektische Treiben einsetzt, das jeder Mordfall unweigerlich nach sich zieht. Die Spurensicherung stellt ihre Kärtchen auf, es werden unzählige Fotos gemacht, der Mediziner nimmt den Toten in Augenschein, und alle möglichen Leute schwirren durcheinander. Dieser Trubel verstellt unweigerlich den Blick aufs Wesentliche.

Aber was ist in diesem speziellen Fall wesentlich? Bastian Kreuzer konzentriert sich und blickt sich gründlich um.

Drei Dinge fallen ihm sofort auf.

Zum einen ist der Tote fast feenhaft schön. Es fällt dem Hauptkommissar schwer, das für sich als Mann so zu formulieren. Bastian selbst ist eher der zupackende Typ. Mitte vierzig, groß, kräftig gebaut, mit beeindruckenden Tränensäcken unter den Augen und einem echten Klammergriff, wenn’s sein muss. Dagegen hat der junge Mann, der mit ausgefranster Kehle da vor ihm am Boden liegt, die Gesichtszüge eines Models, kräftiges Kinn, gerade Nase, sinnlicher Mund. Dazu scheint er mit einer makellosen Haut gesegnet gewesen zu sein. Noch unter der gelben Farbe, die der Tod ihr verpasst hat, lässt sie den goldenen Braunton ahnen, den der Schönling durchs Leben getragen haben dürfte.

Außerdem sieht der Tote glücklich aus. Der Mund, in dem ein Ring mit einem münzgroßen grünen Stein steckt, scheint zu lächeln. Was die Augen dazu sagen oder gesagt haben, ist nicht zu klären, denn die Augäpfel sind komplett nach innen gestochen, vermutlich um Platz für die beiden Ohrringe zu schaffen, die in die Augenhöhlen gedrückt wurden und nun wie klare grüne Pupillen ins Leere starren.

Und das ist eindeutig die zweite Besonderheit, die sich dem Hauptkommissar hier erschließt.

Bastian Kreuzer hat schon viel gesehen, aber eine derart herausgeputzte Leiche noch nie. Da hat sich der Mörder Zeit genommen, er oder sie ist nicht direkt nach der Tat abgehauen, sondern hat sein Opfer gezeichnet. Der Täter hat eine Botschaft hinterlassen, die sie als Ermittler lesen müssen. Aber was bedeutet es, wenn ein unwirklich schöner Mann im Tod mit kostbarem Schmuck verziert wird, der vermutlich eher für Frauen bestimmt ist?

Dass der Typ schwul war oder eine Transgender-Identität hatte und jemand daran Anstoß genommen hat? Dass es eine Beziehung zwischen dem Toten und Juwelen allgemein gegeben hat, die dem Mörder nicht gepasst hat? Oder dass der Schönling wegen genau dieser grünen Steine sein Leben lassen musste? Bastian Kreuzer weiß es nicht, aber er ist entschlossen, das herauszufinden. Und er ist überzeugt davon, dass hier der Schlüssel für das Motiv liegen muss. Denn – und das ist die dritte Besonderheit dieses Falles – hier handelt es sich eindeutig nicht um einen Mord aus Habgier.

Der Laden ist so voll mit Schmuck und Edelsteinen wie ein Promi-Event im Kampener Sommer. Nicht nur die Schaufenster sind üppig dekoriert, auch im Inneren scheinen alle Glasvitrinen unberührt. Die Schlösser sind intakt, auch der Hintereingang ist abgesperrt. Nirgendwo sind Spuren eines gewaltsamen Eindringens zu sehen. Vielleicht war vorher ja noch mehr da, überlegt Kreuzer. Vielleicht gab es Dinge, an die leichter heranzukommen war, die man mitnehmen konnte, ohne eine Vitrine aufzubrechen. Oder nur das Wertvollste aus der Auslage ist verschwunden. Aber eigentlich kann sich der Kommissar beides nicht vorstellen. Er hat keine Ahnung, was das ganze Zeug kostet, aber dass man sich mit einem einzigen Griff ins Schaufenster für ein paar Monate finanziell sanieren könnte, ist auch ihm klar.

Und da kommt die Besitzerin ins Spiel.

Bastian Kreuzer dreht sich um und sieht Carina Bischoff immer noch wie angewurzelt in der offenen Eingangstür des Ladens stehen. Mittlerweile hat sich ein kleiner Pulk von Schaulustigen um sie gesammelt. Zum Glück sind es nicht so viele, denn am Morgen ist in Kampen nicht wirklich was los. Carina Bischoff steht zwischen den Gaffern, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Sie wirkt auf eine fast anrührende Weise desorientiert. Ihre Augen starren ihn an, aber scheinen etwas ganz anderes zu sehen. Leerer Blick, die Arme hängen hilflos zu beiden Seiten ihres Körpers herab. Sehr merkwürdig.

Eigentlich müsste sie längst tätig geworden sein. Ihre Versicherung angerufen oder einen Anwalt kontaktiert haben. Ebenso normal wäre es, wenn sie sich sofort an irgendjemanden wenden würde, dem sie vertraut und der sie in dieser heiklen Situation unterstützen kann. Stattdessen wirkt sie völlig apathisch. Sie hat sich noch nicht einmal gewehrt, als er ihr den Schlüssel zum Laden abgenommen hat. Ist das der Schock? Oder ist es eine Coolness, die nur eine kaltblütige Mörderin aufbringen kann?

Donnerstag, 25. Juli, 10.10 Uhr, Braderuper Weg, Kampen

Als Sven Winterbergs Handy klingelt, hat er gerade beide Hände am Popo seines kleinen Sohnes. Die volle Windel liegt seitlich auf dem Wickeltisch, und Sven bemüht sich, den nackten und fröhlich strampelnden Winzling zu säubern. Anja ist schnell zum Supermarkt gefahren, um die nötigsten Einkäufe fürs Abendessen zu erledigen, bevor Sven ins Kommissariat aufbrechen wird. Es ist mit Bastian abgesprochen, dass er heute erst gegen zwölf Uhr antreten muss.

Aber wer ruft ihn jetzt an? Sven legt das Feuchttuch aus der Hand und fummelt sein Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigt ein Foto seines breit grinsenden Vorgesetzten und Freundes Bastian Kreuzer vor dem Roten Kliff bei Sonnenuntergang.

»Moin, moin«, meldet sich Sven.

»Bist du zu Hause?«

»Allerdings. Mäxchen liegt vor mir auf dem Wickeltisch, und ich stecke mitten in Kinderscheiße, wenn du’s genau wissen willst.«

»Kannst du an Anja übergeben und so schnell wie möglich in die Strandstraße kommen?«

»Du bist hier in Kampen? Was gibt’s denn so Dringendes?«

»Vor mir am Boden liegt ein junger Mann. Er sieht aus wie eine Kreuzung aus Engel und Unterwäschemodel, und man hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«

»Moment mal. Du redest jetzt aber nicht von dem jungen Verkäufer bei Carina Bischoff, oder?«

»Bist du unter die Hellseher gegangen? Oder ist das Gerücht schon in Kampen rum?«, fragt Bastian irritiert.

»Weder noch. Ich war gestern Abend mit Anja bei dem Laden und habe den Burschen live erlebt. Die Frauen fliegen auf ihn, kannst du dir wahrscheinlich vorstellen.«

»Wenn er schon lebend beeindruckend war, solltest du ihn mal jetzt sehen. Ich sage nur Juwelenaugen.«

»Hä? Was habe ich mir denn darunter vorzustellen?«

»Komm her, und sieh’s dir selbst an.«

»Jetzt bin ich echt neugierig. Ist es in einer halben Stunde okay? Bis dahin müsste Anja zurück sein.«

»Herrgott nochmal, geht’s nicht schneller? Keiner weiß, ob unsere geschätzte Staatsanwältin nicht gerade mal wieder bei ihrem Sylter Lover zu Besuch ist. Und wir wollen doch nicht, dass sie vor dir hier eintrudelt«, mosert Bastian.

»Keep cool, ich beeile mich. Apropos – warum hast du Silja nicht mitgenommen?«

»Heute werden die neuen Möbel fürs Kommissariat geliefert, schon vergessen? Irgendjemand muss im Notfall energisch genug sein, um der Lieferfirma alles wieder mitzugeben, falls sie zum dritten Mal die falschen Teile dabeihaben.«

»Stimmt, da war was.« Sven verstummt und betrachtet seinen Sprössling nachdenklich. »Meinst du, du kannst dich ordentlich benehmen?«, flüstert er ihm zu und kitzelt ihn gleichzeitig am Bauch. Fröhliches Glucksen ist die Antwort.

»Mit wem redest du da?«, kommt Bastian Kreuzers irritierte Stimme aus dem Telefon.

»Mit Max. Ich bringe ihn mit. In zehn Minuten bin ich bei dir. Keine Widerrede.«

Bevor Bastian protestieren kann, legt Sven einfach auf. Dann angelt er eine frische Windel aus der Packung, zieht seinem Sohn schnell ein Hemdchen und einen Strampler über und schreibt eine kurze Notiz für Anja.

Den Weg durchs Dorf legt Sven im Laufschritt zurück. Die wenigen Einheimischen, die er trifft, wundern sich. Die vielen Touristen gucken nicht mal hin, sie sind ganz offensichtlich an joggende Väter gewöhnt. Als Sven vor dem Juweliergeschäft ankommt, sieht er bereits den Volvo von Dr. Bernstein um die Ecke biegen. Mit höchstens dreißig Stundenkilometern schleicht er durchs Dorf und lässt sich wie immer durch nichts irritieren. Der Rechtsmediziner parkt direkt vor dem Geschäft, wuchtet seine Tasche aus dem Wagen, bedenkt die Schaulustigen mit einem bösen Blick und nickt Sven kurz zu, ohne den Kinderwagen zu kommentieren. Dann verschwindet seine hagere Gestalt im Inneren des Juwelierladens. Wie immer trägt Dr. Olaf Bernstein eine seiner ausgebeulten Cordhosen und bequeme Schuhe mit Kreppsohlen. Sven widersteht dem Impuls, dem Rechtsmediziner zum Tatort zu folgen, und bleibt einen Moment draußen stehen. Aufmerksam beobachtet er die Szenerie. Noch halten ihn alle Umstehenden für einen weiteren Gaffer und beachten ihn nicht. Problemlos kann Sven die lauthals geäußerten, vor allem aber die verschämt geflüsterten Kommentare belauschen.

»Das musste ja passieren, bei dem Verhalten«, entrüstet sich eine ältere Dame.

»Du hast ihm doch auch hinterhergestarrt«, erinnert sie ihr Gatte grinsend.

»Und dabei war er so charmant«, flüstert eine gutgebaute Blondine mit erstickter Stimme.

»Bei den Provisionen, die er allein durch deinen Großeinkauf eingestrichen haben dürfte, war das auch das mindeste, was man erwarten konnte«, kommentiert ihr erheblich älterer Partner.

»Man munkelt ja, dass er ein Verhältnis mit der Inhaberin gehabt hat«, macht sich eine Dame im hellgelben Joggingdress wichtig.

»So ein Sahneschnittchen hätte ich mir auch nicht entgehen lassen«, antwortet ihre Freundin, die von Kopf bis Fuß Violett trägt.

»Übrigens ist die Inhaberin gerade ums Hauseck verschwunden.«

Sven, der das Gespräch mitangehört hat, umrundet das Gebäude.

Hier lehnt eine sichtlich angeschlagene Mittfünfzigerin an einem funkelnagelneuen Porsche-Cabriolet. Ihre brünetten Haare sind sorgfältig frisiert, aber die Haut ist fahl unter der Bräune. Sie stützt sich auf die Motorhaube und ringt ganz offensichtlich um Fassung.

Als Sven Winterberg sich vorstellt und seinen Dienstausweis zeigt, huscht ihr Blick irritiert über den Kinderwagen. Aber sie sagt nichts.

»Frau Bischoff, nehme ich an«, beginnt Sven vorsichtig. Und als sie matt nickt, fährt er fort: »Gibt es hier irgendwo einen ruhigen Ort, wo wir reden können?«

»In meinem Büro«, erwidert sie. »Aber Ihr Kollege wollte mich nicht in den Laden lassen, und dann stand ich da zwischen den Leuten, alle starrten mich an. Aber hier ist es auch nicht besser.« Ihre Stimme bricht. Sie kämpft mit den Tränen.

»Ist das hier Ihr Hintereingang? Dann müssten wir nicht durch den Tatort«, erkundigt sich Sven.

»Schon, aber es ist abgesperrt, und Ihr Kollege hat meinen Schlüsselbund …«

»Ich regle das. Kann ich den Kinderwagen kurz hierlassen?«

Automatisch greift Carina Bischoff nach dem Griff des Wagens und beginnt ihn zu schaukeln. Sven muss unwillkürlich lächeln, dann läuft er zurück zum Vordereingang. Er nickt dem Uniformierten an der Tür zu und steckt den Kopf in den Laden.

»Endlich«, empfängt ihn Bastian mit ungeduldiger Stimme.

»Reg dich ab. Ich bin schon länger hier und habe gerade mit der Inhaberin gesprochen. Du hast sie ja ziemlich im Regen stehen lassen.«

»Hast du so was schon mal gesehen?« Mit einer einzigen Bewegung umfasst Bastian die Szene. »Das wollte ich erst mal in Ruhe auf mich wirken lassen. Die Frau können wir später immer noch vernehmen.«

»Wäre aber interessant gewesen, ihre spontane Reaktion mitzukriegen«, widerspricht Sven. Dann lässt er den Blick über den Innenraum des Juweliergeschäfts schweifen. Hier hat niemand gewütet. Alles wirkt ordentlich und sorgsam dekoriert. Sogar der Tote sieht aus wie ein Publicity-Gag. Das Blut, das seitlich aus seiner durchtrennten Kehle herausgeflossen ist, bildet zwei fast identische Seen. Der junge Mann liegt vor dem Verkaufstresen des Showrooms am Boden drapiert, so dass sämtliche Downlights direkt auf ihn gerichtet sind. Und auf die Juwelen, die in seinen Augen und im Mund stecken.

Sven stutzt. Er kennt diese Juwelen. Wenn ihn nicht alles täuscht, sind es genau die Stücke, die Anja gestern Abend so gut gefallen haben. Doch bevor er weiter über diesen merkwürdigen Zufall nachdenken kann, redet Bastian weiter.

»Carina Bischoffs spontane Reaktion? Die war ziemlich cool, das kann ich dir verraten.«

»Jetzt nicht mehr. Auf mich wirkt sie eher apathisch. Nicht dass sie uns noch zusammenklappt.«

»Dann übernimmst du sie am besten. Okay?«

»Sehr gern. Gib mir mal ihren Schlüsselbund, damit ich mit ihr von hinten ins Büro kann und wir hier nicht alle Spuren zertrampeln müssen.«

Bastian nestelt die Schlüssel aus seiner Hosentasche und wirft sie Sven zu. »Nimm sie ordentlich in die Mangel, irgendwas stimmt mit der nicht.«

»Dein berühmtes Bauchgefühl, ja?«

Bastian grinst. »Trügt mich selten, das solltest du inzwischen wissen.«

Sven zieht die Augenbrauen hoch und erkundigt sich dann: »War sie es, die den Toten gefunden hat?«

»Nee. Der Anruf kam von einem Badegast, der seinen Hund ausgeführt hat. Das Vieh hat so lange gebellt, bis sein Herrchen sich auf die Zehenspitzen gestellt und über die Auslage in den Laden gelinst hat. Hier drin brannten alle Lichter, und das Opfer war natürlich nicht zu übersehen. Carina Bischoff habe ich direkt vor dem Laden getroffen. Sie kam gleichzeitig mit mir an.«

»Und sie wusste von nichts?«

»Falls doch, hat sie es mir jedenfalls nicht auf die Nase gebunden«, grummelt Bastian.

»Okay, dann weiß ich Bescheid.« Bevor er den Tatort verlässt, wirft Sven noch einen Blick auf den Rechtsmediziner Dr. Bernstein, der wie immer schweigend seine Arbeit versieht. Gerade misst er die Körpertemperatur der Leiche. »Können Sie schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«, erkundigt sich Sven.

»Inzwischen müssten Sie eigentlich wissen, dass ich mich ungern zu vorschnellen Äußerungen hinreißen lasse.« Bernstein straft Sven mit einem missbilligenden Blick. »Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Die Totenstarre ist voll ausgeprägt.«

»Das heißt?«

»Na was wohl? Er liegt schon länger hier. Mindestens seit sechs Stunden.«

»Also ist er vor vier Uhr morgens gestorben«, murmelt Sven, während er den Geschäftsraum verlässt.

»Kann durchaus auch Mitternacht gewesen sein«, ruft ihm Dr. Bernstein hinterher.

Sven nickt. Draußen ist die Schar der Gaffer noch gewachsen.

»Gehen Sie weiter, Herrschaften, hier gibt’s nichts umsonst.«

Niemand lacht.

Hinter dem Haus lehnt Carina Bischoff immer noch an ihrem Auto und schaukelt den Kinderwagen. Der kleine Max verhält sich vorbildlich. Er guckt in der Gegend herum und gibt keinen Ton von sich. Carina Bischoff starrt mit leerem Blick in den Kinderwagen. Kein Lächeln, keine Regung im Gesicht. Sie wirkt wie betäubt.

Sven schwenkt den Schlüsselbund. »Wir können jetzt rein. Sie sollten sich endlich hinsetzen und vielleicht einen Schluck trinken.«

Die Juwelierin nimmt ihm wortlos die Schlüssel aus der Hand und sperrt die Hintertür auf. Sie führt direkt in einen winzigen Raum, von dem zusätzlich eine Toilette abgeteilt ist. Auf einem schmalen Bord stehen eine Kaffeemaschine, ein Laptop und ein wenig Geschirr, vor allem Sektgläser. Unter dem Bord klemmt ein kleiner Kühlschrank, neben dem zwei Klappstühle lehnen, die Carina Bischoff jetzt aufstellt. Nachdem Sven auch den Kinderwagen in den Raum geschoben hat, ist es so voll, dass niemand mehr durch die Verbindungstür in den Verkaufsraum gehen könnte.

Sven setzt sich und schaut die Juwelierin abwartend an.

Carina Bischoff scheint sich in der vertrauten Umgebung ein wenig zu entspannen. Sie nimmt zwei Gläser vom Bord und dreht sich fragend um. »Whisky oder Wasser? Was anderes habe ich nicht. Und für Sekt ist es vermutlich der falsche Anlass.«

»Gern ein Glas Wasser«, antwortet Sven und beobachtet erstaunt, wie sich Carina Bischoff drei Eiswürfel ins Glas wirft und es dann zur guten Hälfte mit Whisky füllt.

»Sorry, aber das brauche ich jetzt«, sagt sie leise. Dann füllt sie das zweite Glas mit Wasser, reicht es Sven, lässt sich auf den Stuhl fallen und trinkt ihren Whisky auf ex.

Sven verkneift sich jeden Kommentar und beginnt stattdessen die Befragung. »Das Opfer war Ihr Angestellter?«

Carina Bischoff nickt. »Adnan Jashari«, seufzt sie. »War nicht unintelligent, und sah aus wie ein junger Gott. Der wollte was aus sich machen, hatte Unternehmergeist, das gefiel mir.«

»Unternehmergeist.« Sven lässt sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Und dann heuert er als Verkäufer in einem Juwelierladen an?«

Carina Bischoff wirft ihm einen knappen Blick zu. »Warum nicht? Man kann in unserem Gewerbe ordentlich was verdienen.«

»Aber wohl kaum als Angestellter.«

Sie zuckt mit den Schultern und greift noch einmal nach der Whiskyflasche. Die Eiswürfel in ihrem Glas sind noch längst nicht geschmolzen, aber diesmal gießt sie sich nur ein Fingerbreit ein und lässt den Whisky im Glas kreisen.

»Jetzt fragen Sie schon«, fordert sie Sven Winterberg ungeduldig auf.

»Verzeihung?«

»Na, ob wir ein Verhältnis hatten. Das ist es doch, was alle Welt annimmt.«

»Und? Hatten Sie eins?«

»Klar.« Carina Bischoff grinst ihn offen an. »Ich war hochbeglückt, als er sich darauf einließ.«

»War das eine Bedingung für die Einstellung?« Sven hofft, dass sie ihm sein Erstaunen über den merkwürdigen Verlauf der Unterhaltung nicht allzu deutlich anmerkt. Aber Carina Bischoff wendet sich ab und blickt konzentriert in ihr Glas, als stünde auf dessen Boden die Wahrheit geschrieben.

»Nein, war es nicht«, antwortet sie leise. »Ich habe Adnan wegen seines Aussehens eingestellt. Er war der Magnet, der die Weiber in meinen Laden zog. Sie hätten sehen sollen, wie die allein bei seinem Anblick aufgeblüht sind. Adnan war wie Botox für ihre Seelen.«

»Ich habe es gesehen«, murmelt Sven. »Ich wohne nämlich in Kampen und gehe viel mit dem Kleinen durchs Dorf.« Er wirft einen Blick in den Kinderwagen. Mäxchen zuckelt heftig an seinem Schnuller und ist ganz offensichtlich am Einschlafen. Sven schickt ein kurzes Dankgebet zum Himmel und fragt dann weiter:

»Können Sie mir etwas über den familiären Hintergrund dieses Herrn … Jashari erzählen?«

»Sie meinen wahrscheinlich, ob er trotz seines arabischen Aussehens Deutscher war? Ja, war er. Ist in Berlin aufgewachsen, wo der Rest seiner Familie immer noch lebt. Oder vielleicht sollte ich besser Sippe sagen – ist alles ein bisschen unübersichtlich.«

»Wie lange arbeitete er schon für Sie?«

»Ich habe Adnan zu Beginn dieser Saison eingestellt. Das war zum ersten April, glaube ich.«

»Und wie haben Sie ihn gefunden?«

»Das wollen Sie nicht wissen.« Carina Bischoff grinst schon wieder.

»Doch, will ich.«

»Bei Tinder. Mit einem falschen Profilbild. Beim ersten Date habe ich ihm dann erklärt, wozu ich ihn brauche.«

»Tinder? Das ist dieses Datingprofil im Internet, bei dem man nur Fotos sieht, die man dann nach rechts oder links wischen kann, je nachdem, ob man jemanden attraktiv findet oder nicht.«

»Sieh an. Sie kennen sich aus.«

»Ich habe letztens meine Tochter beim Tindern erwischt. Sie ist elf.«

»Autsch. Das hat vermutlich Ärger gegeben.«

»Davon können Sie ausgehen.« Sven spürt, wie in ihm allein beim Gedanken an diese Szene die Wut wieder hochsteigt. Er hat binnen weniger Sekunden alle pädagogischen Prinzipien über den Haufen geworfen und Mette im Wiederholungsfall mit den drakonischsten Strafen gedroht. Handyentzug, Absage der Ferienreise mit den Großeltern, komplettes Internetverbot.

Aber immerhin weiß er jetzt Bescheid.

»Hat Herr Jashari auch bei Ihnen gewohnt?«, fragt Sven nun. »Wäre ja eine naheliegende Lösung für das Unterbringungsproblem hier auf der Insel gewesen.«

»Finden Sie?« Carina Bischoff mustert den Kommissar mit einem unergründlichen Blick. Dann erklärt sie mit nüchterner Stimme: »Also so weit, dass ich Adnan Jashari dauerhaft in meine Bude gelassen hätte, waren wir noch lange nicht. Mein Mann hat noch eine kleine Eigentumswohnung in Rantum. Die haben wir Adnan überlassen. Gegen eine angemessene Miete selbstverständlich.«

»Ihr Mann …«, beginnt Sven und weiß für Sekunden nicht, wie er weiterreden soll.

»Mein Mann lebt in Düsseldorf. Wir haben dort unser Stammgeschäft, das er betreut. Er wusste übrigens von meinem Verhältnis, falls Sie das interessiert.«

»Und es hat ihn nicht gestört?«

»Anfangs schon. Er findet ja, dass er immer noch mit jedem Zwanzigjährigen mithalten kann. Ich sehe das ein wenig anders.« Sie lächelt kurz, dann kippt sie den Whisky mit einem Schluck hinunter. »Inzwischen ist mein Mann ebenfalls auswärts tätig.«

»Äh, also, ich verstehe nicht ganz …«, setzt Sven gerade an, dann geht ihm ein Licht auf. »Auswärts tätig, ach so«, fügt er lahm hinzu.

Carina Bischoff mustert ihn mit einem spöttischen Blick und gießt sich einen dritten Whisky ein.

Sven räuspert sich verlegen, dann setzt er noch einmal neu an. »Würden Sie mir sagen, was Sie in der letzten Nacht gemacht haben?«

»Wie ausführlich hätten Sie’s denn gern?«

»Es geht um Ihr Alibi, Frau Bischoff.«

»Sie glauben jetzt aber nicht im Ernst, dass ich diesen Goldjungen umgebracht habe, oder?« Von Minute zu Minute wird sie lockerer. Vielleicht auch leichtsinniger?

»Frau Bischoff, bitte!«

»Also gut.« Sie seufzt. »Ich war allein. Nicht ganz freiwillig. Adnan hat relativ kurzfristig unsere Verabredung für den Abend abgesagt.« Mit einer müden Geste weist sie hinüber zur Verbindungstür zum Verkaufsraum. »War wohl ein Fehler.«

»Wissen Sie, warum er abgesagt hat?«

Carina Bischoff schüttelt den Kopf. »Es gibt Regeln, gerade auch bei Affären. Und die erste Regel lautet: Frag nie nach, sonst könntest du Dinge erfahren, die du ganz bestimmt nicht wissen willst.«

»Schade, wirklich sehr schade. Aber falls Ihnen doch noch das eine oder andere einfällt, das Sie nie wissen wollten, sollten Sie mich auf jeden Fall anrufen.« Sven Winterberg steht auf, reicht Carina Bischoff eine Karte mit seiner Handynummer und wirft einen weiteren Blick in den Kinderwagen. Mäxchen schläft den Schlaf der Gerechten. Auf seinem Gesicht liegt ein Engelslächeln.

»Sie und Ihr Laden scheinen äußerst beruhigend auf meinen kleinen Sohn zu wirken«, murmelt Sven mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. »Vielleicht sollte ich mir wegen seiner Zukunft ernsthafte Sorgen machen.«

Donnerstag, 25. Juli, 11.40 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Der Journalist Fred Hübner bremst scharf vor seiner Eingangstür und springt vom Rad. Wie jeden Morgen hat ihm das ausgiebige Schwimmen in der Nordsee gutgetan. Der durchtrainierte Endfünfziger fühlt sich durchgearbeitet und fit, fast wie nach einer Frischzellenkur. Heute war das Wasser perfekt, die Strömung erträglich und keine einzige Qualle weit und breit in Sicht. Hübner streicht über seine vollen, sehr kurz geschnittenen Haare und stellt fest, dass sie während seiner Rückfahrt bereits getrocknet sind. Umso besser. Dann steht einem ausgiebigen Frühstück nichts mehr im Weg.

Nach dem Schwimmen hat er den kleinen Umweg über Manne Pahl in Kampen gemacht, um dort die besten Croissants der Insel zu kaufen, und das Kaffeepulver in seiner Maschine ist vom Feinsten. Fred Hübner schließt die Tür zu seiner noblen Maisonettewohnung am Wenningstedter Dorfteich auf, stellt die Brötchentüte auf dem Küchentresen ab, wirft die Kaffeemaschine an und öffnet die Tür zu seiner Terrasse. Von hier aus hat er die Fontäne, die tagsüber die Mitte des Teiches ziert, genau im Blick. Fred Hübner weiß genau, wie privilegiert er wohnt, und er hat es sich hart erarbeitet. Noch vor wenigen Jahren hauste er in einer angeschimmelten und ziemlich baufälligen Baracke oben in List und musste sich von seiner Vermieterin drangsalieren lassen. Doch dann verschwanden drei kleine Mädchen von der Insel, und es gelang ihm, zur Aufklärung des Falls beizutragen. Damit konnte er an seine frühen journalistischen Höhenflüge in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anknüpfen, als er noch der republikweit bejubelte Chronist der Insel der Reichen und Schönen war. Inzwischen ist sein Status weniger imageträchtig, dafür aber finanziell solider. Zwar sind die Raten für die schicke Eigentumswohnung noch längst nicht abbezahlt, aber die Zeiten der schlimmsten Engpässe sind vorbei. Ab und an schreibt Fred für einige Inselblätter, außerdem fließen regelmäßig Tantiemen aus den Veröffentlichungen seiner Reportagen. Denn auch in den Jahren nach dem Verschwinden der drei Mädchen konnte er sich bei der Aufklärung des einen oder anderen Verbrechens nützlich