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Lilly Höschens ehemalige Schüler Sibylle und Manfred kehren nach zwanzigjährigem Amerika-Aufenthalt in die Heimat zurück. Manfred eröffnet ein Luxusrestaurant im beschaulichen Fachwerkstädtchen Duderstadt, wo er in seiner exzentrischen Art schon mal meckernde Gäste in den Ziegenstall sperrt. Seine Frau Sibylle ist ein ganz anderes Kaliber. Aber ist sie wirklich eine Auftragsmörderin, die Lillys Großneffen Amadeus ans Leder will? Und welche Rolle spielt die Ex-Oberstaatsanwältin Cesarine Zicke-Sandelholz? Es gibt viel zu tun für das mittlerweile 86-jährige „Fräulein“ aus dem Oberharz. Um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten und herauszufinden, warum einige Gäste des Gourmettempels in aberwitzige Verbrechen verstrickt werden, reist sie mehrfach in die Eichsfelder Provinz. Zudem geht ihr ein Kommissar des LKA derart auf die Nerven, dass Lilly alles tut, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.
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Seitenzahl: 238
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Helmut Exner
Bratkartoffeln mit Champagner
... und ein bisschen Mord
Bratkartoffeln mit Champagner
... und ein bisschen Mord
ISBN 978-3-943403-94-7
ePub Version V2.0 (12-2021)
© 2021 by Helmut Exner
Hintergrund »Vintage Boards« © Photo-Mix | pixabay.com
Blutflecken © Olga Nikonova #316181546 | shutterstock.com
Bratkartoffeln © HandmadePictures #109611116 | shutterstock.com
Champagner © Andrey Armyagov #61725787 | shutterstock.com
Autorenfoto © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat & DTP:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Innentitel
Impressum
Lautenthal
Duderstadt
Lautenthal
Braunlage
Duderstadt
Goslar
Duderstadt / Göttingen
Brooklyn, New York
Duderstadt
Brooklyn, New York
Duderstadt
Göttingen
Duderstadt
Lautenthal
Hannover (Vergangenheit)
Duderstadt
Hannover (Vergangenheit)
Duderstadt
Hannover (Vergangenheit)
Duderstadt
Hannover (Vergangenheit)
Duderstadt
Göttingen
Clausthal-Zellerfeld / Hannover (Vergangenheit)
Duderstadt
Lautenthal
Hannover
Duderstadt
Brooklyn, New York (zwei Tage zuvor)
Hannover und Duderstadt
Duderstadt und Harz
Brooklyn, New York
Goslar
Duderstadt und Göttingen
Brüssel, Duderstadt und Harz
Harz
Brooklyn, New York
Duderstadt
Über den Autor
»Das ist hanebüchener Unsinn!«
»Aber Fräulein Höschen, wenn ich es Ihnen doch sage.«
»Das ist ja der Punkt. Gerade, weil du es mir sagst. Bei jedem Anderen würde ich vielleicht ernsthaft darüber nachdenken, ob etwas dran ist. Aber du beweist mir seit über dreißig Jahren immer aufs Neue, dass du der mit Abstand albernste Mensch bist, den ich kenne.«
Lilly saß in ihrem Garten am Berg mit ihrem ehemaligen Schüler Antek Spielmann zusammen. Sie war lange Zeit Lehrerin am Gymnasium in Clausthal-Zellerfeld gewesen, aber aufgrund ihres Alters von mittlerweile sechsundachtzig Jahren bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten pensioniert. Während ihrer Jahre als Lehrerin hatte sie diverse Direktoren in den Wahnsinn oder in die Frühpensionierung getrieben, sich mit Kollegen angelegt und mehrere Schülergenerationen das Fürchten gelehrt. Dabei konnte sie auch ganz liebenswürdig und herzlich sein, vorausgesetzt, man war ehrlich und freundlich zu ihr. Wer jemals ihren Namen aussprach wie Hös-chen statt Hö-schen, war bei ihr sowieso unten durch. Sie hatte immer als Emanze gegolten, die sich nie an einen Mann gebunden fühlte und darauf bestand, mit Fräulein angeredet zu werden, um ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Ihr Freundeskreis war begrenzt, und ihre Familie bestand nur noch aus ihrem Großneffen Amadeus, den sie seit seinem zwölften Lebensjahr großgezogen hatte. Amadeus wohnte in Goslar und hatte eine reizende Frau und eine kleine Tochter, die auch Lilly hieß.
Antek war ihr Schüler gewesen. Früher immer der Klassenclown, hatte sich bei ihm als Erwachsenem nichts an seinem Hang zur Albernheit geändert. Wenn er jemandem eins auswischen konnte, tat er es. Mal schickte er seinen ehemaligen Chef und späteren Konkurrenten von Krakau aus mit dem Taxi statt zu dem gewünschten Ziel in Polen in die Slowakei, damit dieser ein wichtiges Geschäft nicht tätigen konnte; ein andermal brachte er einem Chinesen, der der deutschen Sprache nicht mächtig war, bei, die Leute mit Ich habe keine Unterwäsche an zu begrüßen. Er warf in einem Kaufhaus auch schon mal ein paar Hundert Bälle von der Empore in die Lebensmittelabteilung oder nahm im Springbrunnen mitten im Ort aufgrund einer verlorenen Wette ein Bad in einem Borat-Badeanzug. Antek war jetzt Mitte vierzig und wohnte abwechselnd in Krakau und in Lautenthal. Mutter und Großmutter hatten hier ein Haus an der Promenade. Er war ungebunden und arbeitete mal in Polen, mal in Deutschland oder sonst wo in der Welt. Lilly redete ihn gern mit schlitzohriger Hallodri an, weil sie immer damit rechnen musste, dass er sie auf die Schippe nahm. Dass sie ihn in Wirklichkeit mochte, versuchte sie geflissentlich zu verbergen.
Normalerweise mied er ihre Gesellschaft, weil er ihrer Autorität und ihrer spitzen Zunge nicht recht gewachsen war, was angesichts seines Selbstbewusstseins etwas heißen wollte. Heute allerdings war er zu ihr gekommen, um sie über eine völlig verrückte Geschichte zu informieren in der Hoffnung, dass sie hier vielleicht Rat wusste. Es ging um zwei Mitschüler: Sibylle und Manfred. Lilly hatte die beiden, ebenso wie Antek, jahrelang unterrichtet. Sie alle hatten ihren anspruchsvollen Englisch-Leistungskurs überstanden. Auch wenn Lilly es nur selten gezeigt hatte, wusste Antek, dass sie diese drei Schüler immer gemocht hatte. Und wenn sie jemanden mochte, dann fühlte sie sich ihm auch über die Schulzeit hinaus verbunden. Zu Antek hatte sie des Öfteren mal Kontakt, weil man sich in einem so kleinen Städtchen wie Lautenthal immer mal über den Weg läuft. Und wenn Antek in Polen oder anderswo in der Welt seiner Arbeit als Maschinenbauingenieur nachging, traf Lilly ab und zu seine Mutter oder die Oma, die ihr über Antek Bericht erstatteten.
Antek hatte seiner alten Lehrerin berichtet, dass Sibylle und Manfred vor über zwanzig Jahren nach Amerika gegangen waren und dort geheiratet hatten.
»Das ist mir bekannt«, hatte Lilly knapp geantwortet.
»Was Sie aber nicht wissen, ist, dass Sibylle vor einiger Zeit damit angefangen hat, Menschen ins Jenseits zu befördern.«
»Erstens glaube ich dir das nicht, und zweitens wäre die Polizei dafür zuständig, wenn dem so wäre.«
»Das ist ja der Punkt. Die Polizei weiß es nicht.«
»Also, bevor wir hier eine Rätselstunde einlegen, erzähl einfach mal, was du weißt. Ich werde mich bemühen, dich nicht über Gebühr zu unterbrechen.«
»Gut. Als die beiden heirateten, waren sie schon eine Ewigkeit zusammen. Ich hatte so meine Befürchtungen, dass ihre beste Zeit bereits hinter ihnen lag. Sie bekamen eine Tochter. Patricia ist heute neunzehn und genauso hübsch wie ihre Mutter. Ich habe die Drei vor etwa zehn Jahren mal in Kalifornien besucht. Es ging ihnen wirtschaftlich einigermaßen gut. Die Beziehung schien mir damals schon etwas angekratzt. Beide waren ja schon immer Exzentriker und haben diese Eigenschaft im Laufe der Jahre kultiviert. Wir haben dann einen lockeren Kontakt gehalten und uns vielleicht dreimal im Jahr E-Mails geschickt. Tja, und vor Kurzem
erhalte ich eine Mail von Sibylle, dass sie jetzt in Deutschland seien. Also habe ich sie besucht.«
»Wo wohnen sie denn?«
»Ganz in der Nähe. In Duderstadt.«
»Und was machen sie da? Womit bestreiten sie ihren Lebensunterhalt?«
»Manfred hatte in Amerika zuerst weiter studiert, hing das Studium aber an den Nagel. Er musste die Familie ernähren, damit Sibylle ihren Bachelor und dann ihren Master in Kriminalistik zu Ende bringen konnte. Manfreds große Leidenschaft war ja schon immer das Kochen gewesen. Er wurde in Amerika zu einem gefragten Küchenchef. Allerdings gelang es ihm nicht, seinen Traum vom eigenen Restaurant zu realisieren. Das hat er jetzt in Duderstadt geschafft. Nichtsdestotrotz kostet es einen Haufen Geld, ein Spitzenrestaurant mit allem Drum und Dran zu eröffnen und die erste Zeit zu überstehen. Sibylle hatte in Amerika einige Zeit für die Polizei gearbeitet, um dann zu einem dubiosen privaten Unternehmen in der Sicherheitsbranche zu wechseln. Anscheinend hat sie da sehr gut verdient. Als ich sie mal fragte, was sie dort gemacht habe, sagte sie in ihrer verblüffend offenen Art, sie hätte unliebsame Zeitgenossen aus dem Weg geräumt. Natürlich habe ich ihr kein Wort geglaubt. In Deutschland hat sie in ihrem Beruf keine Chancen mehr. Für den Polizeidienst ist sie zu alt, und in der privaten Wirtschaft sieht es erst recht düster aus. Als Manfreds Restaurant zunächst nicht so gut anlief – seine Preise sind ja auch gesalzen und so viele Gäste fahren nicht stundenlang in die Provinz, um essen zu gehen –, hat Sibylle offenbar damit angefangen, Aufträge ihrer alten Firma aus den USA in Deutschland zu erledigen.«
»Willst du mir etwa sagen, dass sie Menschen für Geld abmurkst?«
»Genau das.«
»Antek, das ist absurd. Ich habe Sibylle zwar seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und weiß nicht, wie sie sich entwickelt hat, aber das glaube ich nicht.«
»Habe ich zuerst ja auch nicht. Bis ich neulich wieder bei ihr war. Manfred stand in der Küche – offenbar läuft es jetzt richtig gut – und ich war mit Sibylle oben in der Wohnung. Sie klagte mir ihr Leid, dass ihr Computer nicht funktioniere. Ich bot ihr an, ihn mir mal anzusehen, und fragte, ob sie eine Sicherungskopie gemacht hätte. Hatte sie. Vorsichtshalber machte ich noch eine und steckte den Stick in meine Tasche. Ich bekam den PC in kürzester Zeit wieder zum Laufen. Allerdings vergaß ich, Sibylle den Stick mit der Kopie zu geben. In meiner unbändigen Neugier habe ich mir den Inhalt ihrer Festplatte zu Hause angesehen... und war schockiert.«
Das Restaurant lag außerhalb des Städtchens. Es war ohnehin klar, dass man nicht von den Einwohnern und Besuchern des Ortes leben konnte. Als ganz spezieller Gourmet-Tempel brauchte man ein überregionales Publikum, Menschen, die bereit waren, für ein außergewöhnliches kulinarisches Erlebnis auch mal eine längere Fahrtstrecke auf sich zu nehmen. Hier draußen vor den Toren der wunderschönen kleinen Stadt mit großem Fußgängerbereich hatte man keine Parkplatzsorgen und zudem ein herrliches ländliches Ambiente. Das alte Landhaus war komfortabel restauriert und eingerichtet worden. Alles so zu gestalten, wie es Manfred und Sibylle gefiel, hatte ein mittleres Vermögen gekostet. Ihre Reserven waren aufgebraucht. Jetzt musste es laufen. Aber in den ersten Wochen war es eher ruhig. Es dauerte erfahrungsgemäß seine Zeit, bis es sich herumsprach, was die Gäste hier erwartete. Da half auch keine Werbekampagne. Man wollte ja nicht die Masse, sondern ein ganz besonderes Publikum erreichen. Also musste Sibylle, wie immer, dafür sorgen, dass man die erste Zeit unbeschadet überstand. Schließlich konnte man auch nicht die mühsam gewonnenen Mitarbeiter kündigen, die zunächst nur Kosten verursachten. Wenn es richtig lief, waren sie unverzichtbar. Die Durststrecke lag jetzt hinter ihnen. Es gab mehr Reservierungen als Plätze im Lokal. Mittlerweile gab es Wartelisten. Das Konzept war aufgegangen. Man öffnete nur abends, und es gab jeweils nur ein Menü. Es wurden auch nur zwei Weine angeboten, speziell für dieses Restaurant gekeltert, aus dem Fass. Man hatte auch nur zwei Biere im Angebot, die in der Region gebraut wurden. Die wenigen Schnäpse, die offeriert wurden, destillierte Manfred selbst. Das alles hatte seinen Preis. Ein Menü mit Wein und zum Abschluss einem Kaffee und einem Digestif kostete meist um die hundert Euro, manchmal auch wesentlich mehr. Es gab nur sechsunddreißig Plätze im Restaurant. Für geschlossene Gesellschaften hatte man noch einen separaten Raum mit weiteren fünfzig Stühlen.
Manfred ließ es sich nicht nehmen, jeden Abend mehrmals durch das Restaurant zu gehen, um seine Gäste persönlich zu begrüßen, sich nach ihren Wünschen zu erkundigen und etwas über das spezielle Menü zu erörtern. Fast immer kam er glücklich in die Küche zurück, nachdem er huldvoll die Lobeshymnen der Gäste entgegengenommen hatte. Heute war er allerdings etwas verstimmt. An einem Tisch saßen ein dickbäuchiger Neureicher und seine Begleiterin, ein spindeldürres Gewächs, hässlich wie die Nacht. Die Frau, die vielleicht Mitte dreißig war, aber aussah wie seine
abgemagerte Großmutter mit siebzig, wollte das Menü nicht, sondern etwas Veganes.
»Wir sind kein veganes Restaurant, meine Dame. Alles, was ich Ihnen in dieser Hinsicht bieten kann, ist ein Salat.«
»Ja, das reicht mir auch. Aber bitte ohne Dressing oder Öl.«
»Verzeihung, ein Salat ohne Dressing und Öl ist nichts anderes als Ziegenfutter. Lassen Sie mich wenigstens etwas Basilikumschaum an den Salat mischen, der ein paar Tropfen meines selbst hergestellten Walnussöls enthält.«
»Nein, auf gar keinen Fall.«
Der Mann wünschte sein Kobe-Steak nur von einer Seite gegrillt, und zwar exakt eineinhalb Minuten. Die andere Seite sollte roh sein.
Manfred drehte sich bei der Vorstellung der Magen. »Sind Sie sicher, dass Sie die Königsklasse des Rindfleischs roh verzehren möchten? Der Geschmack dieses grandiosen Fleisches kommt erst zur Geltung, wenn es von jeder Seite mindestens drei Minuten auf dem Grill liegt.«
»Ich weiß schon, was ich will.«
Manfred ließ der Dame das Ziegenfutter genau so servieren, wie sie es wünschte. Das edle Steak grillte er eine halbe Minute länger, weil es einfach grauslich aussah. Als er kurz danach durch das Lokal ging und sich erkundigte, ob es den Herrschaften schmeckte, sagte die Frau: »Da ist ja Feldsalat drin. Den mag ich ganz und gar nicht.«
Ihr dicker Begleiter monierte: »Das ist nie und nimmer vom Kobe-Rind.«
Jetzt riss bei Manfred die Hutschnur. Er stand vor der Wahl, die Gäste anzuschreien und sie hinaus zu werfen oder Haltung zu bewahren und sie so zu behandeln, wie sie es verdienten. Er entschied sich für Letzteres.
»Meine Herrschaften, um Gästen wie Ihnen gerecht werden zu können, habe ich einen ganz besonderen Raum eingerichtet mit ganz außergewöhnlichen Speisen. Das geht natürlich aufs Haus. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Etwas skeptisch erhoben sie sich und folgten Manfred über den Hof. Er hatte am Ende des Grundstücks einen Ziegenstall auf einer großen Weide, wo er die Tiere bis zur Schlachtreife aufzog. Er schloss auf und betrat mit den Gästen den Schuppen.
»Hier stinkt es ja«, sagte die Frau, und der Dicke traute seinen Ohren nicht, als eine der Ziegen ihn anmeckerte. Manfred deutete auf die Futterkrippe, die allerlei rohes Gemüse enthielt und sagte zu der Frau: »So, meine Dame, hier dürfen Sie sich nach Herzenslust bedienen.«
Und zu dem Mann sagte er: »Und wenn Sie Appetit auf rohes Fleisch haben, dann beißen Sie doch einfach einer der Ziegen in den Arsch. Ich werde Sie in einer halben Stunde wieder abholen.«
Er verließ den Stall so schnell, dass die beiden verwunderten Gestalten ihm gar nicht folgen konnten. Das Schloss schnappte zu und er verschwand. Als er nach einer halben Stunde zurückkam, bollerte der Mann an die Stalltür. Manfred öffnete und musste dem Kerl ausweichen, der ihm einen Schlag versetzen wollte und brüllte: »Sie werden von unserem Anwalt hören. Das ist Freiheitsberaubung! Ich werde dafür sorgen, dass Sie nie wieder einen Kochlöffel schwingen. Holen Sie gefälligst unsere Mäntel. Wir gehen.«
Manfred antwortete freundlich lächelnd: »Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt. Wenn Sie mal wieder Appetit auf Ziegenfutter und rohes Fleisch haben, wissen Sie ja, wo Sie uns finden. Ihre Garderobe liegt bereits auf der Straße. Einen schönen Abend noch.«
Lilly war neugierig geworden. Sie bestand darauf, dass Antek ihr alles erzählte und sie über den Inhalt von Sibylles Computer informierte.
»Fräulein Höschen, es ist mir ein Rätsel, warum Sibylle, die ja immerhin Kriminalistin ist, überhaupt so heiße Daten auf ihrem Computer hat. Sie hat zwar die bestmöglichen Vorkehrungen getroffen, dass man sie nicht hacken kann. Aber was ist im Netz schon sicher? Ganz abgesehen davon, dass man Computer stehlen kann oder, wie in diesem Fall, den Inhalt kopieren.«
»Was hast du denn nun konkret entdeckt?«
»Es gibt E-Mail-Verkehr mit jemandem, dessen Absender ich nicht identifizieren kann. Ich weiß nur, dass diese Mails über Umwege aus den USA kommen. Es ist alles schön unverfänglich formuliert. Worte, die bei der automatischen Sicherheitsprüfung der Geheimdienste auffallen würden, werden nicht benutzt. Es geht inhaltlich um eine Beratungstätigkeit. In diesem Zusammenhang werden auch Honorare in Höhe von dreißig- bis fünfzigtausend Dollar genannt. Das einzig Auffällige ist, dass dann plötzlich, wie aus dem Zusammenhang gerissen, Namen und Anschriften von Leuten genannt werden. In den letzten drei Jahren wurden die Namen von sieben Personen in den USA und einer in Deutschland genannt. Ich habe diese Namen recherchiert, und jetzt halten Sie sich fest.«
»Ach, ich sitze ganz gut und kippe schon nicht um, Antek.«
»Fünf dieser Leute wurden umgebracht. Vier in Amerika und einer in Deutschland. Und zwar immer einige Zeit, nachdem ihre Namen in den Mails auftauchten. Der Mann in Deutschland wurde zwei Monate nach Sibylles Umzug in die Heimat ermordet.«
»Das ist kurios. Wer war denn dieser Mann in Deutschland?«
»Er hieß Paul Huthoff und wohnte in Bad Lauterberg.«
»Nein!«
»Doch.«
»Das kann nicht wahr sein. Ich kannte diesen Mann.«
»Na, jetzt bin ich platt, Fräulein Höschen.«
»Dazu hast du auch allen Grund. Dieser Mann war an einem Überfall beteiligt, bei dem ich anwesend war. Eine Freundin von mir hat im Keller ihrer Buchhandlung einen alten Schatz gefunden, hinter dem auch ein Geheimbund her war. Wir hatten die ganzen Juwelen und das Gold auf dem Ladentisch ausgebreitet. Und noch ehe der rechtmäßige Eigentümer, nämlich das niedersächsische Schatzregal mit seinen Experten, eintraf, wurden wir von vier Männern in Schwarz überfallen. Die Burschen wurden aber gefasst. Dieser Paul Huthoff war einer von ihnen und hat bei der Polizei ausgepackt. Kurz darauf wurde er umgebracht, damit er in der Hauptverhandlung nicht aussagen konnte, um die Hintermänner in den Knast zu bringen.«
»Fräulein Höschen, ich glaube, jetzt muss ich mich festhalten. Das ist haarsträubend. Ich wusste doch, dass Sie die richtige Ansprechpartnerin sind. Was machen wir denn jetzt?«
»Wir gehen essen.«
»Wieso? Haben Sie Hunger?«
»Ich denke, Sibylles Mann führt ein erstklassiges Restaurant. Also, ruf an, reserviere einen Tisch und sage, dass du mit dem alten Fräulein Höschen kommst, weil sie ihre Schüler gern einmal wiedersehen möchte. Ich muss mir erst mal einen Eindruck verschaffen, was mit den beiden los ist und wie sie jetzt ticken. Wenn du mit geklauten Computerdaten zur Polizei gehst und diese Räuberpistole erzählst, wird man dir wohl kaum die nötige Aufmerksamkeit schenken.«
»Verstehe ich das richtig: Sie wollen auf eigene Faust ermitteln?«
»Natürlich, das mach ich immer so. Und zum Schluss ruft man die Polizei an, die die Leute dann nur noch einsammelt.«
»Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl dabei, Fräulein Höschen. Sie müssen wissen, Sibylle hat sich doch sehr verändert. Sie macht auf mich den Eindruck, als ob sie manchmal nicht ganz dicht wäre. Sie ist irgendwie manisch geworden, geht mit Leichtigkeit über alles hinweg und lacht über Dinge, die andere Leute in Angst und Schrecken versetzen.«
»Du meinst, sie ist etwas plemplem?«
»Genau das trifft es. Sie war ja schon immer exzentrisch, und ihr Mann auch. Manfred sperrt schon mal Gäste, die seine Kochkunst nicht zu schätzen wissen, in den Ziegenstall oder schüttet jemandem, der seinen kostbaren Wein verschmäht, das Glas über dem Kopf aus. Aber Sibylle ist noch mal ein Kaliber für sich.«
»Du machst mich immer neugieriger. Ich kann es kaum erwarten, ins Eichsfeld zu fahren.«
Ein paar Tage später saß Lilly bei ihrer Freundin Gretel Kuhfuß im Wohnzimmer. Gretel war Anfang siebzig und berühmt-berüchtigt für ihre klare, ungeschnörkelte Sprache. Von allzu viel Freundlichkeit hielt sie nichts. Wer sie nicht näher kannte, konnte meinen, sie sei durchweg schlecht gelaunt. So war sie nun mal. Lilly gehörte jedenfalls zu den wenigen Menschen, die diese alte Kratzbürste gern um sich hatten.
Gretel bewohnte ein älteres Haus in Braunlage. Es war wunderschön gelegen mit Blick auf Berge und Wälder. Lilly erzählte natürlich die Sache, die Antek ihr berichtet hatte. Mit düsterem Blick kommentierte diese Lillys Vorhaben: »Hast du in deinem Alter eigentlich nichts Besseres zu tun, als ständig auf Mörderjagd zu gehen? Seit ich dich kenne, bist du unentwegt damit beschäftigt, dich mit irgendwelchem Lumpenpack herumzuschlagen. Die Verbrecher gehen in deinem Haus aus und ein, als ob es das Normalste von der Welt wäre, dass alte Weiber die Arbeit der Polizei machen. Du ziehst das Ganovengesocks magisch an.«
»Dafür kann ich doch nichts. Ich habe Antek nicht gebeten, mir diese Sache zu erzählen.«
»Aber du musst dich natürlich sofort voll reinhängen, als ob du darauf gewartet hättest, dass endlich mal wieder was passiert. Mir reicht noch die Leiche, die zwei Tage vor Weihnachten in deinem Wohnzimmer herumlag. Ich hätte mir fast die Beine gebrochen, weil ich immer über sie drüberhüpfen musste.«
»Ich habe den Kerl nicht erschossen«, verteidigte sich Lilly.
»Nein, das war der Verrückte im Pelzmantel, der seinem Chef den Schniedelwutz abgeschnitten hat, um ihn in einen Brotlaib zu kneten und in den Backofen zu stecken.«
Jetzt musste Lilly laut loslachen. Gretel versuchte zwar, weiterhin die Erboste zu spielen, aber es gelang ihr nicht. Sie fiel in das Gelächter ein.
»Wie auch immer: Ich fahre morgen mit Antek nach Duderstadt, um Sibylle und Manfred zu besuchen und nobel zu essen.«
»Na, hoffentlich bleibt dir der Fraß nicht im Halse stecken. Ich war das letzte Mal vor vielleicht dreißig Jahren in Duderstadt. Da habe ich auch gut gegessen. Im Löwen. Es war das letzte Mal, dass ein Mann mir nachgestellt hat. Und ich dumme Pute habe mich darauf eingelassen.«
»Wer war das denn? Kenne ich ihn?«
»Das glaube ich eher nicht. Er hieß Martin.«
»Hat er auch einen Nachnamen?«
»Hat er, aber ich kann ihn dir nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß zwar, wie er heißt, aber er hat einen von diesen Namen, die man besser furzen als aussprechen kann.«
»Gretel, dann lass uns lieber in den Garten gehen.«
Und wieder verfielen beide in ein haltloses Gelächter.
Sibylle war beim Friseur gewesen. Als sie die Restaurantküche ihres Mannes betrat, der mit den Vorbereitungen für das heutige Menü beschäftigt war, machte er ihr ein Kompliment. Sie sah wirklich fantastisch aus. Das dunkelbraune Haar, nun etwas ausgedünnt, ging ihr bis an die Schultern. Der Pony ließ sie keck erscheinen. Auch die drei Mitarbeiter in der Küche machten ihr Komplimente. In letzter Zeit lief es wieder gut zwischen Manfred und Sibylle. Sicherlich lag es auch daran, dass sie die wirtschaftlichen Sorgen los waren. Sibylle hatte mit ihrem Einsatz in der kriminalistischen Beratung erheblich dazu beigetragen, die Durststrecke zu
überwinden. Das Restaurant konnte sich inzwischen selbst tragen und warf sogar genug Gewinn ab, um davon gut zu leben. Sie nahm ihren Mann beiseite und ging mit ihm in das noch leere Restaurant, um sich an einen Ecktisch zu setzen. In leisem Ton erklärte sie ihm: »Es kam heute wieder ein Auftrag aus den USA.«
»Den solltest du ablehnen. Wir haben das nicht mehr nötig. Außerdem habe ich noch die Nase voll von deinem Unsinn von neulich.«
Der Unsinn von neulich war eine Kurzschlusshandlung Sibylles gewesen. Sie hielt sich zwar weitgehend aus dem Restaurantbetrieb heraus. Das war Manfreds Reich. Aber an einem Vormittag, als Manfred gerade auf Einkaufstour bei irgendwelchen Bauern war, stand plötzlich dieser Typ von der Gewerbeaufsicht vor der Tür. Da sie ihren Mann entlasten wollte, ließ sie ihn herein. Es war ja alles in bester Ordnung. Dachte sie. Aber sie hätte es besser wissen müssen. Der Mensch sah so was von unsympathisch aus. Er inspizierte Küche und Vorratsräume. Es war alles blitzblank. Dann fragte er, wo sich die Tiefkühltruhen befänden.
»Wir sind ein Spitzenrestaurant. Wir verarbeiten keine Tiefkühlkost. Bei uns kommt jeden Tag alles frisch auf den Tisch.«
»So so«, meinte er argwöhnisch. Dann öffnete er die Tür zur Wurstekammer, wo Manfred bei ganz bestimmter Temperatur Eichsfelder Stracke und Kälberblase reifen ließ.
»Das ist alles beschlagnahmt. Da ist ja Schimmel dran.«
»Das ist kein Schimmel, sondern die Flüssigkeit und das Salz, das beim Reifungsprozess nach außen tritt. Das muss so sein.«
»Das müssen Sie schon mir überlassen. Wenn Sie das Zeug nicht herausgeben, kann ich den Laden auch schließen.«
Jetzt setzte es bei Sibylle aus. Es war schon früher so gewesen, dass sie Provokationen, die die rote Linie überschritten, nicht hinnehmen konnte. Aber mit zunehmendem Alter hatte sich dieses Verhalten immer mehr verstärkt und manifestiert. Sie musste sich Luft machen und sagte freundlich lächelnd: »Und ich kann Ihnen gleich mal kräftig in die Eier treten, damit Sie lernen, was Respekt ist.«
Völlig erstaunt, als ob er seinen Ohren nicht traute, sagte er: »Das muss ich mir nicht bieten lassen. Der Laden ist bis auf Weiteres geschlossen.«
Sibylle nahm die kiloschwere Kälberblase, die sie gerade in der Hand hielt, und holte aus. Der Mann fing sich einen kräftigen Schlag im Genick ein und verlor den Halt. Auf Knien liegend schrie er auf und schaute Sibylle verwundert an, so als glaubte er nicht, was gerade geschah. Dann holte sie eine Pistole aus ihrer Handtasche und befahl dem Mann, am Tisch in der Mitte der Küche Platz zu nehmen. Sie donnerte die dicke Wurst auf den Tisch, warf ein Holzbrett, Messer und Gabel dazu und brüllte: »Friss oder stirb.«
Dem Mann trat der Angstschweiß auf die Stirn und Sibylle hielt ihm die Pistole an den Kopf: »Wenn du diese vorzügliche Eichsfelder Kälberblase nicht innerhalb einer Viertelstunde mit Genuss verspeist hast, schieß ich dir die Birne weg.«
Der Mann hatte Schwierigkeiten, in seiner Panik Messer und Gabel zu benutzen. Also nahm er diese kolossal dicke Wurst in die Hände und biss hinein. Nach zehn Minuten hatte er knapp die Hälfte gegessen. Aber es wollte ihm nicht gelingen, noch mehr davon hinunterzuschlingen. Er fraß buchstäblich um sein Leben. Ihm war bewusst, dass diese Verrückte es ernst meinte. Schließlich sagte sie: »So, du hast noch genau drei Minuten.«
Er stammelte etwas Unverständliches mit seinem vollen Mund und kaute wie besessen.
»Noch zwei Minuten.«
»Mmmlllffbrrr.«
»Noch eine Minute.«
»Brrmmhhffggrr.«
Dann richtete sie demonstrativ die Pistole wieder an seinen Kopf und sagte: »Die Zeit ist abgelaufen. Du hattest deine Chance. Und tschüss.«
Dann der Knall.
Das war jetzt zwei Wochen her. Sibylle hatte den Mann, gut in Plastik verpackt, in den Kofferraum seines Wagens verfrachtet. Er war nicht sonderlich schwer. Dann hatte sie die Küche gesäubert. Anschließend war sie mit dem Wagen des Gewerbeaufsichtsfritzen nach Göttingen gefahren, hatte ihn in einer Wohngegend gebührenfrei geparkt, um in die Innenstadt zu schlendern, wo sie sich einen tollen Fetzen in einer Boutique gönnte und einige weitere Einkäufe tätigte. Hochzufrieden mit sich und ihrer Arbeit, aber auch mit der Ausbeute ihrer Shoppingtour, nahm sie sich schließlich ein Taxi, dass sie nachhause fuhr. Manfred hatte sie zunächst erzählt, dass ein Typ von der Gewerbeaufsicht da gewesen wäre, sie ihn aber nicht hereingelassen habe.
Am nächsten Tag kam ein Anruf des Gewerbeaufsichtsamts, ob gestern ein Mitarbeiter da gewesen sei. »Ja«, hatte Sibylle gesagt. »Aber da niemand im Restaurant war, sei er wieder gefahren.«
Erst nach einer Woche wurde man auf das Auto des Mannes aufmerksam und fand die Leiche. Da auf seinem Besuchsprogramm auch Manfreds Restaurant gestanden hatte, kam die Polizei nach zwei Tagen, um sich zu erkundigen. Manfred hatte wahrheitsgemäß gesagt, er sei an besagtem Tag nicht da gewesen. Und Sibylle erläuterte: »Ja, da war ein Herr von der Gewerbeaufsicht. Da ich aber nichts mit dem Restaurant zu tun habe, konnte ich ihn ja nicht hereinlassen. Er wollte zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen.«
Damit ließ man die Sache auf sich beruhen. Allerdings sah Manfred seiner Frau an, dass sie etwas verschwieg. Schließlich erzählte sie ihm die Geschichte. Sein Kommentar: »Meinst du nicht, dass deine Aktion vielleicht ein bisschen übertrieben war?«
»Ein bisschen vielleicht. Aber wenn du den Idioten gesehen hättest, wie der sich aufgeführt hat, hättest du ihm wahrscheinlich ein Beil in den Arsch gehauen.«
* * *
Sibylle und Manfred hatten, seit sie wieder in Deutschland waren, mit verschiedenen Widrigkeiten zu kämpfen. Unter anderem auch mit der eigenen Familie. Sibylles Tante Alma Louise war ein harter Brocken. Ihr gehörte das Landhaus, in dem sie ihr Restaurant betrieben und auch wohnten. Sie war immer eine Art Paradiesvogel in der Familie gewesen. Da sie sich zu Höherem berufen fühlte, jedoch mangels eigener Leistungen nie imstande gewesen war, sich ein Leben in der High Society aufzubauen, hatte sie nach einer geeigneten Partie Ausschau gehalten. Als sie mit dreißig immer noch nicht fündig geworden war, sank ihr Marktwert, und sie wurde zusehends unruhiger. Schließlich nahm sie den Antrag eines dreiundsiebzigjährigen Mannes an. Herr Mohr lebte von seiner Erbschaft. Gearbeitet hatte er nie. Es folgten einige Jahre in Saus und Braus. Man hatte sich ein großzügiges Landhaus am Rande von Duderstadt herrichten lassen. Den Frühling verbrachte man vorzugsweise in Nizza oder Biarritz. Zur Sommerfrische ging es in die Schweiz und überwintern ließ es sich am besten im südlichen Indien oder in Marokko. Leider wurde Herrn Mohr dieser Lebenswandel nach einigen Jahren zu strapaziös, sodass Alma Louise in der Blüte ihrer Jahre mehr und mehr ans Haus gefesselt war. Sie pflegte ihren immer schwächer werdenden Mann hingebungsvoll. In ihrer Selbstlosigkeit hatte sie drei Pflegekräfte angestellt. Während ihres harten, entbehrungsreichen Alltags freundete sie sich mit einem Mann an, der etwas jünger war als sie: Johannes. Diesem gelang es, ihr wenigstens etwas Entspannung zu verschaffen. Um ihr noch mehr zur Seite stehen zu können, zog Johannes kurz darauf in das Landhaus ein.