Tammo - Helmut Exner - E-Book

Tammo E-Book

Helmut Exner

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Beschreibung

Tammo wächst im Oberharz auf. Eigentlich möchte er ein ganz normaler Junge sein. Aber es gibt ein Problem, das ihn daran hindert: seine Intelligenz. Da er mehrfach einen Schuljahrgang überspringt, ist er immer der Jüngste. Und seine brillanten schulischen Leistungen machen ihn auch nicht gerade beliebt. Hinzu kommt, dass seine Mutter ihm verschweigt, wer sein Vater ist. Als Erwachsener wird er zum gefeierten Wissenschaftler. Aber auch das hat einen Haken. Um an seine bahnbrechenden Erkenntnisse zu gelangen, trachtet man ihm nach dem Leben. Hilfe kommt von seiner alten Lehrerin Lilly Höschen.

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Seitenzahl: 184

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Helmut Exner

Tammo

Wunderkind wider Willen

Impressum

ISBN 978-3-96901-095-2

ePub Edition

V1.0 (07/2024)

© 2024 by Helmut Exner

Abbildungsnachweise:

Umschlag © solovyova | #118481392 | depositphotos.com

Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Über den Autor

Mehr von Helmut Exner

Eine kleine Bitte

Kapitel 1

1984

»Kannst du mir mal sagen, warum ein Zwerg wie du mit solch einem großen Penis herumläuft?« Diese Frage hatte Tammo als Neunjähriger gestellt, nachdem er seine Mutter mit dem sehr kurz geratenen Pieter bei einer Beschäftigung überrascht hatte, von der er zwar schön öfters gehört hatte, die jedoch in der praktischen Umsetzung über seine Vorstellungskraft hinausging. Tammo, mit neun Jahren bereits in der sechsten Klasse des Gymnasiums, galt als Wunderkind. Seine hohe Intelligenz wurde früh entdeckt. Er übersprang die erste und die fünfte Klasse und war nun mit Zwölf- bis Dreizehnjährigen zusammen, die an seine Leistungen nicht heranreichten.

Tammo wurde 1975 von Manuela Schuh in Göttingen zur Welt gebracht, als diese gerade zwanzig war. Eigentlich sollte er im Krankenhaus von Clausthal-Zellerfeld entbunden werden. Aber er war eine schwierige Geburt. Und so veranlasste der einzige in diesem Ort praktizierende Gynäkologe, dass Manuela mit Blaulicht und Martinshorn nach Göttingen befördert wurde. Die Sache ging gut aus, und nach zehn Tagen konnten Mutter und Kind die Klinik verlassen.

Als Tammo vier Jahre alt war, fing er an, sich selbst das Lesen beizubringen. Seine Großmutter Änne, die in einem Lebensmittelladen an der Kasse saß, entdeckte seine Fähigkeiten als Erste und unterstützte ihn in seinem Drang zu lernen. Mutter Manuela, die ihn vergötterte, brauchte etwas länger, um zu erkennen, was in ihm steckte. Aber dann setzte sie alles daran, ihn zu fördern. Sie meldete ihn bei der Stadtbücherei an und begleitete ihn öfters, weil die Bibliothekarin ihm bestimmte Bücher, die er lesen wollte, nicht gab. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein Siebenjähriger lesen und verstehen konnte, was für die meisten Erwachsenen jenseits von Gut und Böse war. Mit Vergnügen ließ Manuela sich von ihrem Sohn vorlesen. Nachdem Tammo eingeschult worden war, meldete sich bald die Lehrerin bei Manuela, um ihr zu berichten, dass ihr Sohn in ihrer Klasse nicht gut aufgehoben sei. Nach ein paar Wochen wurde er auf amtsärztlichen Rat und nach Gesprächen mit dem Jugendamt in die zweite Klasse gesteckt und kam gut mit. Auf dem Gymnasium wurde er nach gerade mal vier Monaten in der fünften Klasse einen Jahrgang höher versetzt. Um seine Passion für Musik zu unterstützen, finanzierte Oma Änne auch noch Klavierstunden.

Aber zurück zu dem Zwerg mit dem großen Penis. Pieter war fünf Jahre älter als Manuela. Er war ein begnadeter Koch und leitete die Küche in dem Restaurant, in dem Manuela ihren Dienst als Service-Leiterin vom späten Nachmittag bis gegen Mitternacht versah. Pieter war durchsetzungsstark. Die Witze, die man über ihn machte, blieben dem Personal bald im Hals stecken, als man merkte, was er draufhatte und dass er hinsichtlich Qualität und Arbeitsweise in seinem Reich keine Kompromisse machte. Wenn alles gut lief, lobte er seine Leute und war die Liebenswürdigkeit in Person. Aber er konnte auch zur rasenden Wildsau werden, wenn gepfuscht wurde. Im Umgang mit Manuela war er äußerst charmant. Sie liebte es, ihm das Lob der Gäste auszurichten. Manchmal holte sie ihn auch ins Restaurant, damit sich ein Gast persönlich bei ihm bedanken konnte.

Bevor er Chefkoch in dem Restaurant in Braunlage wurde, war er Souschef in der Küche eines großen Hotels in Berlin gewesen. Als er einmal mit der Qualität eines Spanferkels nicht zufrieden war, hatte er den Lieferanten zusammengestaucht. Dieser hatte jedoch darauf bestanden, dass er das Tier abnimmt. Daraufhin fragte Pieter: »Hast du schon mal ein fliegendes Schwein gesehen?«

»Du spinnst doch. Meine Schweine fliegen jedenfalls nicht.«

»Oh doch. Geh mal raus und warte eine Minute. Dann siehst du ein fliegendes Schwein.«

Er packte das Tier, ging in den Personalaufzug, und von der Dachterrasse aus warf er das tote Tier in die Tiefe. Es verfehlte das Auto des Lieferanten nur um Haaresbreite, während dieser die Fäuste ballte und unflätige Bemerkungen nach oben brüllte. Daraufhin musste Pieter zum Direktor kommen. Dieser hatte gar nicht vorgehabt, ihn zu feuern. Aber dann gerieten die beiden derart in Streit, dass er den Souschef trotz des Protests des Chefkochs entließ. Schließlich hatte alles seine Grenzen. Er hatte Pieter zwar als Rocker-Zwerg tituliert, was ihm im selben Moment leidtat, aber sich als Direktor als aufgeblasenes Arschloch bezeichnen zu lassen, ging einfach zu weit. Aufgrund eines hervorragenden Zeugnisses, das der Chefkoch ihm ausstellte, bekam Pieter dann die Stelle in Braunlage.

Was sich zwischen Manuela und Pieter abspielte, konnte man nicht Liebe nennen. Es war eher eine Liebelei, persönliche Zuneigung mit einer gewissen erotischen Note. Und ausgerechnet, als es zwischen den beiden zur Sache ging, betrat Tammo das Schlafzimmer seiner Mutter. Während Manuela im Bad verschwand, zog Pieter sich mühselig seine Hose an und sagte zu Tammo, der ihn aufmerksam beobachtete: »Wie bist du denn drauf? Ich bin ein ausgewachsener Mann mit einem normalen Penis.«

»Ausgewachsen ist relativ. Deine Füße sind ja auch nicht die eines hoch gewachsenen Mannes.«

»Wie alt bist du?«, fragte Pieter. »Neun Jahre? Du redest wie ein alter Klugscheißer, nicht wie ein Kind.«

»Ich bin sehr wohl ein Kind, das ist mein Job. Wenn ich dir zu klug bin, ist das dein Problem.«

»Und was willst du mal werden, wenn du groß bist?«

»Ich studiere Klugscheißerei und als Nebenfach Zwergenkunde. Und was willst du werden, wenn du groß bist?«

Dann kam Manuela im Bademantel zurück ins Schlafzimmer und fragte Tammo: »Was wolltest du eigentlich von mir mitten in der Nacht?«

»Das habe ich vergessen. Ich geh wieder ins Bett und werde nicht mehr stören. Ihr könnt weitermachen – mit was auch immer.«

Als Tammo das Zimmer verlassen hatte, sahen sich Pieter und Manuela an und fingen hemmungslos an zu lachen.

Kapitel 2

1987/88

Natürlich gab es einige Mitschüler, die auf Tammo neidisch waren und ihren Ärger zum Ausdruck brachten, indem sie versuchten, ihn lächerlich zu machen. Aber durch seine hilfsbereite, lebensfrohe Art war er doch sehr beliebt. Auch seine spitze Zunge gegenüber Lehrern fand bei den anderen Kindern Anerkennung. Er traute sich was. Und manchmal gab er auch den Clown. Als der Musiklehrer sich mal verspätete, setzte Tammo sich ans Klavier und spielte »Ein Jäger aus Kurpfalz«, allerdings mit einem anderen Text:

Ein Jäger aus Kurpfalz,

der leckte seine Frau am Arsch,

da stank er aus dem Hals.

Ein Jäger aus Kurpfalz.

Ausgerechnet in dem Moment hatte der Direktor das Musikzimmer betreten, ein Mensch von absoluter Humorlosigkeit. Als die grölende Klasse plötzlich verstummte, merkte auch Tammo, was los war. Er musste dem Direktor in dessen Zimmer folgen und sich eine Strafpredigt anhören. Seinem Image in der Schülerschaft tat dieser Vorgang allerdings gut. Als der Direktor die Angelegenheit in der Lehrerkonferenz zur Sprache brachte, mussten einige Kollegen unwillkürlich lachen und fingen sich einen scharfen Blick des Schulleiters ein.

Oberstudienrätin Lilly Höschen sagte: »Ach, ist das herrlich. Es gibt doch noch Schüler, denen der Humor an dieser Schule nicht ausgetrieben wurde.«

»Dass Sie sich für keine Albernheit zu schade sind, war mir klar«, konterte der Direktor.

Da Tammo in seinem Drang zu lernen nicht ausgelastet war, belegte er auch noch einen Kurs in der Volkshochschule: Russisch. Die Lehrerin staunte, als er nach kurzer Zeit bereits an ihre eigenen Kenntnisse heranreichte.

Natürlich bestand das Leben für Tammo nicht nur aus Lernen. Als sich bei ihm zwischen dem elften und zwölften Lebensjahr die ersten pubertären Schübe bemerkbar machten, wuselte es in seinem Kopf. Er stellte vieles in Frage, zum Beispiel die Autorität seiner Lehrer und die Weigerung seiner Mutter, ihm Auskunft über seinen Erzeuger zu geben. Sein sonst so rationales Denken setzte aus, wenn er Manuela Vorwürfe machte.

»Willst du mir vielleicht nicht sagen, wer mein Vater ist, weil du es nicht weißt? Wie viele kommen denn in Frage?«

In solchen Momenten hätte Manuela ihm am liebsten eine geknallt, beherrschte sich aber. Stattdessen antwortete sie: »Ich will es dir nicht sagen, weil ich dich schützen will.«

»Ach so, mein Vater ist also ein Mafiaboss, der nicht wissen darf, dass es mich gibt. Und wenn er es erfährt, kommt er, um mich zu holen, damit ich für ihn arbeite.«

Eines Tages bekam Manuela einen Anruf von Herrn Wedeking, Tammos neuem Klassenlehrer. Er bat um ein persönliches Gespräch. Heiner Wedeking war ein junger gutaussehender Mann, der Tammo in Deutsch und Geschichte unterrichtete. Dieser große dunkelhaarige Mann war Manuela auf Anhieb sympathisch. Er eröffnete ihr, dass er ein längeres Gespräch mit ihrem Sohn geführt hatte, das ihn nachdenklich machte.

»Mich macht Tammo auch nachdenklich, besonders, seit es in seinem Kopf pubertätsbedingt spukt. Er ist jetzt fast dreizehn und hat keine Hemmungen, mir alles Mögliche an den Kopf zu werfen.« Herr Wedeking fuhr fort: »Da ich die Schüler noch nicht so gut kenne, versuche ich, mit jedem Einzelnen ins Gespräch zu kommen, um zu ergründen, wo der Schuh drückt, beziehungsweise, ob es Probleme gibt, über die sie mit mir reden wollen. Das ist zwar nicht unbedingt die Aufgabe eines Lehrers, aber so bin ich nun mal.«

»Das finde ich sehr sympathisch«, sagte Manuela.

»Niemand hat mit mir so ausführlich gesprochen wie Tammo. Er erzählte, dass seine Mutter Service-Leiterin in einem Restaurant ist und sein Vater nichts von seiner Existenz wissen dürfe. Der sei nämlich ein sizilianischer Mafioso. Ich sagte noch: ›Aha, Sizilien. Deshalb hast du wohl auch so dunkles, lockiges Haar.‹ Er bejahte und erzählte weiter, dass Sie sich mit ihm im Harz unter falschem Namen verstecken. Das hörte sich sehr unglaubwürdig für mich an. Aber er redete immer weiter. So habe er zum Beispiel in Erfahrung gebracht, dass seine italienische Großmutter einem Mordanschlag durch rivalisierende Mafiabanden im Ruhrgebiet zum Opfer gefallen sei. Und sein Großvater habe das Geschäft mit illegalen asiatischen Prostituierten im Griff. Sein Vater selbst sei im Kinderhandel aktiv. Tammo hat das so überzeugend herübergebracht, dass ich geneigt war, ihm zu glauben. Unter Tränen bat er mich, niemandem davon zu erzählen, weil er fürchte, dass seine Mafia-Familie ihn kidnappen könnte, um ihn in das Geschäft einzuführen. Heulend sagte er, dass er sich kein Leben als Verbrecher vorstellen könne. Nun frage ich Sie, Frau Schuh, was soll ich davon halten?«

Manuela fing an zu lachen. »Lieber Herr Wedeking, nehmen Sie die Geschichte einfach als Ausflug in die Welt der Fantasie. Allerdings wundere ich mich, dass Tammos schauspielerisches Talent so gewachsen ist, dass Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, ihm zu glauben. Er ist wütend auf mich, weil ich ihm bis jetzt nicht gesagt habe, wer sein Vater ist. Mir hat er auch schon über seine Mafiafamilie berichtet.«

»Also, ich bin erleichtert, dass da offenbar nichts dran ist.«

»Geben Sie Tammo doch einfach eine Sonderaufgabe, damit er nicht so hoffnungslos unterfordert ist.«

»Da habe ich eine Idee.«

Als sich Manuela verabschiedete und dem Mann in die Augen schaute, überkam sie ein prickelndes Gefühl. Auch Heiner Wedeking fühlte sich beschwingt nach dieser Begegnung.

Kapitel 3

Ein paar Tage später hatte Herr Wedeking einige Sonderaufgaben zu vergeben: Referate über die Zeit von der Weimarer Republik bis zur Gründung der Bundesrepublik. Das Besondere war, dass dabei die Harzregion durchleuchtet werden sollte. Das Interesse der Schüler war nicht sehr groß. Schließlich meldete sich Tammo für das Thema ›Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Harz während der NS-Zeit‹.

»Na, da bin ich mal gespannt, was du herausfindest«, sagte der Lehrer.

»Lassen Sie sich überraschen«, war Tammos kecke Antwort.

In der nächsten Stunde verteilte Fräulein Lilly Höschen, damals eine Frau in den Fünfzigern, großzügig Hausaufgaben. Die Schüler sollten bis zur nächsten Stunde einen Brief verfassen, in dem sie sich selbst vorstellten und ihre Heimat einem Brieffreund in Südafrika beschrieben.

Lucy, ein fast sechzehnjähriges Mädchen, nicht gerade eine Leuchte in schulischer Hinsicht, dafür aber äußerst attraktiv und begehrt, sprach Tammo an: »Kannst du mir heute Nachmittag vielleicht bei diesem scheiß Brief helfen?«

»Klar. Soll ich zu dir kommen?«

Sie verabredeten sich. Tammo erschien pünktlich in dem großkotzigen Neubau der Familie Trutsch. Womit die ihr Geld verdienten, wusste niemand so recht. Es war aber unübersehbar, dass es reichlich davon gab. Lucy, die allein im Haus war, führte Tammo in ihr Zimmer, das nicht nur groß, sondern auch vom Feinsten eingerichtet war. Diverse Klamotten lagen auf dem Fußboden, was Lucy nicht störte. Offenbar gab es einen dienstbaren Geist, der alles aufräumen würde. Lucy holte zwei Gläser Cola und sie setzten sich an den Schreibtisch. Tammo, der Lucys Brief bereits fertig im Kopf gespeichert hatte, diktierte.

Lucy war zutiefst beeindruckt, was sie da geschrieben hatte. »Meinst du, dass das Hös-chen mir abnimmt, dass ich das verfasst habe? Soll ich nicht lieber ein paar Fehler einbauen?«

»Nicht nötig, du hast beim Schreiben bereits vier Fehler gemacht. Außerdem habe ich für dich einen Grammatikfehler eingebaut.«

»Tammo, du bist genial.« Dabei kraulte sie ihm im Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Diese Zärtlichkeit und dabei der Duft, den das Mädchen verströmte, machten etwas mit dem Jungen. Dann sagte Lucy auch noch: »Nach dieser Anstrengung haben wir uns etwas Entspannung verdient.«

Sie ging in das ihrem Zimmer angeschlossene Bad und ließ Wasser in die große runde Wanne ein. Zwei Stunden später verließ ein beflügelter Tammo das Haus. Später fragte er sich, ob Lucy das, was in der Badewanne und danach passiert war, getan hatte, weil es ihr gefallen hatte, oder ob das eine Art von Bezahlung war. Egal, er war nun mal in dem Alter, wo man erste erotische Erfahrungen sammeln musste. Warum sollte er sich darüber den Kopf zerbrechen?

Am nächsten Tag musste Lucy ihren Brief in der Englischstunde vorlesen. Fräulein Höschen sah das Mädchen forschend an, dann blickte sie zu Tammo.

»Lucy, wem soll ich jetzt eine Eins für diese Hausarbeit geben? Dir oder Tammo?«

»Beiden«, war ihre Antwort. Die Klasse kicherte.

»Gut, so machen wir es. Ich finde es ganz prima, wenn Schüler sich untereinander helfen. Ich hoffe nur, dass die nächste Klassenarbeit auch gut ausfällt, wenn dir niemand direkt helfen kann.«

Nachmittags begann Tammo, an seinem Referat zu arbeiten. In der Stadtbücherei gab es nichts Brauchbares zu dem Thema. Auch die Universitätsbibliothek hatte nicht viel zu bieten. Aber eine Mitarbeiterin gab ihm den Rat, in die Bibliothek des Oberbergamts zu gehen, weil dort beispielsweise alle alten Zeitungen jahrgangsweise archiviert waren. Die Bibliothekarin dort war eine ältere Dame, klein und pummelig, dafür aber mit einer lauten Stimme. Tammo war der einzige Besucher in dem großen Raum. Fräulein Meier, so hieß die Bibliothekarin, hörte sich sein Ansinnen an und explodierte geradezu vor Ideen, in welchen Quellen er nachforschen könne. Unter anderem zeigte sie ihm in einem Nebenraum die gebundenen Jahrgänge der regionalen Zeitungen aus der betreffenden Zeitspanne. Fräulein Meier wies ihm einen Tisch zu, wo er arbeiten konnte, nicht ohne ihn zu ermahnen, dass er äußerst sorgsam mit den alten Dokumenten umzugehen habe.

»Das alles ist unersetzlich«, sagte sie.

»Selbstverständlich, Fräulein Meier. Ich werde diese wertvollen Schriften hüten wie meinen Augapfel.«

Die Frau war amüsiert und lachte. Ihre Lache war noch lauter als ihre Stimme beim Sprechen und durchdrang den großen Raum.

Nach einer Stunde kam sie zu Tammo, der hochkonzentriert in die alten Zeitungen vertieft war.

»Ich dachte schon, du bist eingeschlafen«, sagte sie.

»Ganz im Gegenteil. Das ist hochinteressant.«

»Leider muss ich dich jetzt rausschmeißen. Ich habe Feierabend und muss abschließen. Komm einfach morgen wieder.«

Manuelas Dienst in dem Restaurant fing heute später an, weil sie etwas Dringendes zu erledigen hatte.

Tammo fragte sie, ob er mitkommen könne: »Ich würde gern mal wieder dem Zwerg beim Kochen zusehen.«

»Erstens sollst du nicht immer Zwerg sagen, und zweitens wird es spät. Vor ein Uhr kommst du dann nicht ins Bett, und morgen ist Schule.«

»Dann schlafe ich eben in der Schule. Es geht den Lehrern sowieso auf die Nerven, wenn ich mich ständig beteilige.«

Wenn Tammo etwas wollte, setzte er es auch durch. Schließlich gab Manuela nach und Tammo stand eine Stunde später in der Küche, vom Chefkoch persönlich in eine weiße Küchenuniform gesteckt, und folgte Pieters Anweisungen. Dieser war heute in Hochstimmung. Sein Souschef hatte alles im Griff, sodass Pieter sich die Zeit nehmen konnte, Tammo zu zeigen, wie man verschiedene Lebensmittel in Wunderwerke der Gourmet-Kunst verwandelte.

Da erschien Manuela und sagte: »Da sind zwei Herren, die etwas wünschen, was nicht auf der Karte steht.«

»Lass mich raten«, sagte Pieter. »Die wollen nackten Arsch mit Schneegestöber.«

»Nein, sie wünschen Chateaubriand extra dick und zart mit Beilagen.«

»Das sollen sie haben, wenn sie eine Stunde warten können. Schneller kann man ein Chateaubriand nicht zubereiten.«

Pieter ging in den Kühlraum und schnitt das Fleisch, parierte es, stellte den Grill auf 900 Grad und erklärte: »Wenn die Temperatur erreicht ist, wird das Fleisch von jeder Seite exakt neunzig Sekunden gegrillt. Dann kommt es in eine mit Butter bestrichene Pfanne bei 100 Grad für vierzig Minuten in den Backofen, damit es sich entfalten kann. In der Zwischenzeit bereiten wir die Sauce Bernaise bestehend aus Weißweinessig, Grauburgunder, geklärter Butter, Estragon, Kerbel, glatter Petersilie, Schalotte und Eigelb. Die Kräuter wirst du jetzt sehr fein schneiden, wie ich es dir neulich gezeigt habe. Und zum Schluss füge ich einen Hauch Cognac dazu. Die Konsistenz darf nicht zu dünn, aber auch nicht zu dickflüssig sein. Alle Zutaten außer Butter und Eigelb werden erhitzt, aber nicht gekocht. Dann nimmst du einen Schneebesen und fügst Butter und das geschlagene Eigelb löffelweise dazu. Als Beilage gibt es Herzoginkartoffeln, kleine grüne Böhnchen und Currylinsen.

Pieter hatte sich fast eine Stunde ausschließlich mit diesem Gericht beschäftigt, und Tammo hatte staunend zugesehen und geholfen, diese erstklassige Sauce Bernaise zuzubereiten. Als alles wunderbar auf den Tellern angerichtet war, machte Pieter ein zufriedenes Gesicht. Da kam wieder Manuela in die Küche und sagte: »Die Herren fragen, wann das Chateaubriand fertig ist.«

»Wenn die Gäste es so eilig haben, sollen sie zur Pommesbude gehen. Die Königin des Rindfleischs zuzubereiten, dauert seine Zeit.«

Und Tammo fügte hinzu: »Der Meisterkoch hat ein Kunstwerk geschaffen, und ich durfte ihm dabei helfen.«

Zum Glück war heute nicht viel los, sodass Pieter die Zeit hatte, alles mit größter Präzision zu bewältigen. Nach zwanzig Minuten wurde den beiden Gästen noch ein grandioses Dessert serviert, das Heide, eine erstklassige Konditorin, zubereitet hatte.

Und wieder kam Manuela in die Küche und sagte: »Pieter, du sollst zu den beiden Herren mit dem Chateaubriand kommen.«

»Wenn die jetzt noch was zu mäkeln haben, werde ich zur rasenden Wildsau.«

Tammo gab seinen Senf dazu: »Ich suche schon mal die passende Bratpfanne, um sie denen auf den Kopf zu hauen.«

Nach ein paar Minuten kam Pieter freudestrahlend in die Küche zurück.

»Was ist?«, fragte Tammo, »hast du einen Clown verspeist oder warum grinst du so?«

»Die beiden haben unser Chateaubriand in den Himmel gelobt. Der eine sagte doch tatsächlich, dass er noch nie eine so wunderbare Bernaise gegessen hat. Und soll ich dir was sagen?«

»Nun mach es nicht so spannend.«

»Den einen Typen kenne ich. Er ist ein Restaurant-Tester. Und zwar einer von den ganz großen. Der entscheidet über Sterne.«

»Wird ja auch Zeit, dass du endlich einen Stern kriegst.«

Kapitel 4

Am nächsten Tag saß Tammo wieder in der Bibliothek des Oberbergamts. Fräulein Meier strahlte übers ganze Gesicht.

»Ich habe dir noch ein paar spezielle Unterlagen herausgesucht, die wahrscheinlich seit Jahrzehnten kein Mensch mehr gesehen hat.«

Er bedankte sich und machte sich an die Arbeit. In den mit Schreibmaschine getippten Unterlagen, die Fräulein Meier ihm gegeben hatte, fiel ihm ein Name auf, den er gestern auch in der Tageszeitung schon mal gelesen hatte: Trutsch. Dieser Wilhelm Trutsch war ein hohes Tier bei der NSDAP gewesen. An sich nichts Besonderes für die Zeit, um die es hier ging. Interessant war, dass dieser Kerl hier ein großes Haus mit Inventar zum Preis von 1.600 Reichsmark erworben hatte, und zwar von einem Juden namens Rosen. Von einem jüdischen Hotelier hatte er zudem ein Luxushotel in Bad Harzburg erworben zum Preis von 6.200 Reichsmark. Jetzt machte es klick bei Tammo. Trutsch – so hieß doch Lucy, mit der er sich in der Badewanne verlustiert hatte. So häufig war der Name ja nicht. Der Name des Hoteliers in Bad Harzburg war Giordano. Das hörte sich nicht gerade jüdisch an, eher italienisch. Aber da musste er dranbleiben. Er fraß sich durch die Unterlagen durch und machte Notizen. Die Zeit verflog, und irgendwann stand Fräulein Meier vor ihm und sagte – nein eigentlich sang sie mehr mit ihrer lauten Stimme: »Fei–er–aaa–bend!«

»Oh, ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist«, sagte Tammo, während er auf die Uhr schaute. »Das ist so hoch interessant, was man hier alles findet. Sagen Sie, Fräulein Meier, Sie wissen doch immer alles ...«

Sie unterbrach ihn: »Fast alles.«

»Äh, wo bekommt man Auskunft, wem welches Haus gehört, wer ein Haus gekauft oder verkauft hat?«

»Im Grundbuchamt. Das befindet sich im Amtsgericht.«

»Kann man da so einfach Einsicht nehmen?«

»Im Prinzip ja. Aber ob die Kindern Einsicht gewähren, ist eher unwahrscheinlich.«

»Gut, dann lass ich mir etwas einfallen. Und wie kriege ich raus, ob es lebende Nachkommen von Menschen gibt, die im Krieg umgekommen oder verschollen sind?«