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Welcher Schüler hat nicht schon mal Mordgedanken dem einen oder anderen Lehrer gegenüber entwickelt? Lehrer, die einen vor der Klasse lächerlich machen, Angst einjagen, demütigen, den Abschluss versauen und dabei sogar noch Befriedigung empfinden. Zwei Männer mit solchen Erfahrungen lernen sich zufällig kennen, erzählen über ihre Schulzeit und beschließen, ihre Rachegelüste in die Tat umzusetzen. Auf ihrer Liste stehen zehn Kandidaten.
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Seitenzahl: 158
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Helmut Exner / Jens Heye
Zehn kleine Lehrerlein
ISBN 978-3-947167-34-0
ePub Edition
V1.0 (02/2019)
© 2019 by Helmut Exner / Jens Heye
Abbildungsnachweise:
Karikaturen (Umschlag) © subari40
fiverr.com/subari40
Porträt Jens Heye © Florian Funck Fotografie
blende64-funck.de
Porträt Helmut Exner © Ania Schulz
as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Druck:
TZ-Verlag & Print GmbH, Roßbach
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
E-Mail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Pius
Inhalt
TITELSEITE
IMPRESSUM
KAPITEL 1: LUTHER TRIFFT LUTHER
KAPITEL 2: JANS GESCHICHTE
KAPITEL 3: HENNINGS GESCHICHTE
KAPITEL 4: BUNTENBOCK, DIE ERSTE
KAPITEL 5: ZEHN KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 6: NEUN KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 7: BUNTENBOCK, DIE ZWEITE
KAPITEL 8: ACHT KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 9: SIEBEN KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 10: LILLY
KAPITEL 11: BUNTENBOCK, DIE DRITTE
KAPITEL 12: SECHS KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 13: FÜNF KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 14: BUNTENBOCK, DIE VIERTE
KAPITEL 15: VIER KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 16: DREI KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 17: BUNTENBOCK, DIE FÜNFTE
KAPITEL 18: WIEDER LILLY
KAPITEL 19: ZWEI KLEINE LEHRERLEIN...
KAPITEL 20: EIN KLEINES LEHRERLEIN...
KAPITEL 21: BUNTENBOCK, DIE SECHSTE (TEIL1)
KAPITEL 22: DER DETEKTIV
KAPITEL 23: FREYBIER
KAPITEL 24: AMADEUS
KAPITEL 25: BUNTENBOCK, DIE SECHSTE (TEIL 2)
KAPITEL 26: DER RUNDE TISCH
KAPITEL 27: DER GROßE KNALL
KAPITEL 28: DIE RUHE NACH DEM KNALL
EIN PAAR WORTE ZUM SCHLUSS
DIE AUTOREN
MEHR KRIMINELLES AUS DEM HARZ
»Wer bist du denn? Luther für Arme?«
»Ich bin Doktor Martinus Luther aus Wittenberg«, bekam er zur Antwort.
»Luther war wohlgenährt, zumindest seit seiner Wittenberger Zeit. Du siehst eher aus wie ein abgemagerter Bettelmönch.«
Die beiden Männer begegneten sich auf einer Faschingsparty in Clausthal-Zellerfeld. Sowohl der eine als auch der andere waren als Martin Luther verkleidet. Offenbar hatten sie ihre Kostüme sogar im selben Laden erstanden. Nur die Konfektionsgröße war unterschiedlich. Der Ältere hatte wahrscheinlich zwanzig Kilo mehr zu tragen. Man kam ins Gespräch, fand heraus, dass beide in diesem Doppelstädtchen aufgewachsen und dann weggezogen waren. Jan war fünfunddreißig, Henning neunundvierzig. Beide waren zurzeit solo und hier auch allein aufgekreuzt. In dem großen verdunkelten Raum schallte laute Diskomusik aus den Lautsprechern, während eine Lichtorgel die Beats effektvoll umsetzte. Die ungleichen Männer hatten gehofft, bei dieser Veranstaltung vielleicht auf alte Bekannte zu stoßen. Dies war aber nicht der Fall, was der Laune der beiden nicht unbedingt zuträglich war. Vermutlich hatten die meisten Kumpels von einst ihrer Heimat längst Ade gesagt, so wie dies bei ihnen ja auch der Fall gewesen war. Das war normal hier. Sehr viele berufliche Perspektiven gab es nicht im Oberharz. Ebenso typisch war der chronische Männerüberschuss, was man auch bei der heutigen Veranstaltung wieder feststellen konnte. An die achtzig Prozent der ca. fünftausend Studenten der TU waren Männer. Irgendwie hatten sich beide mehr erhofft von dieser Faschingsparty. Als sie feststellten, dass es interessanter war, sich zu unterhalten, dies aber wegen der Beschallung schwer möglich war, entschlossen sie sich, woanders hinzugehen.
Im Steakhaus, das nur ein paar Gehminuten entfernt lag, kamen sie sich zwar zunächst etwas blöd vor in ihrer Luther-Kluft. Aber außer dem einen oder anderen Lächeln gab es keine Reaktionen. Die Speisen waren gut, der Wein auch. Das Lokal war etwa zur Hälfte besetzt, die Atmosphäre angenehm. Wenn man an den Ort zurückkommt, wo man aufgewachsen ist, spielen im Grunde nur Kindheit und Jugend eine Rolle, weil dies die Zeitspanne ist, an die es tief greifende Erinnerungen gibt. Sie fingen an, aus eben diesen prägenden Jahren zu erzählen.
»Und was hast du so in deiner Jugend getrieben im beschaulichen Oberharz?«, fragte Henning.
»Ich erinnere mich vor allem an die herrlichen Sommer hier, obwohl immer gesagt wird, es gäbe hier kaum einen richtigen Sommer. Floß bauen und über die Teiche paddeln, schwimmen, Bude im Wald bauen ...«
»Genau daran erinnere ich mich auch am liebsten«, unterbrach ihn Henning. »Und im Herbst dann Pilze sammeln. Im Winter große Skiwanderungen durch den Wald. Ich glaube, ich bin geradezu im Wald aufgewachsen. Heute schreien die Leute, man soll doch mehr für die Jugend anbieten. Ich war froh, dass mir keine solchen organisierten Freizeitaktivitäten angeboten wurden. Es gab nichts Schöneres, als nach der Schule abzuhauen und zu tun, was mir Spaß machte. Und da gab es eine ganze Menge.«
»Tja, Schule ist das nächste Thema. Meine Erinnerungen daran sind eher gespalten. Wenn ich an so manche Lehrer denke. Die könnte ich heute noch umbringen.«
»Du auch?«
Beide fingen an zu lachen.
Jan hatte eigentlich eine wunderbare Kindheit. Sein Vater wurde früh Professor und brachte somit einen gewissen Wohlstand in die Familie. Seine Mutter – die in ihrer Jugend mehrere Jahre Hauswirtschaft in einem bayerischen Töchterpensionat lernte – kochte fantastisch. Und Jan aß gern. So gern, dass er im Prinzip hätte dick und kugelrund sein müssen. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Jan war eine sprichwörtliche Bohnenstange, wenn auch etwas kurz geraten. Im Kindergarten war er immer der Kleinste.
Als er schließlich eingeschult wurde, sah er immer noch aus wie ein Kindergartenkind. Und weckte Mutterinstinkte bei seiner ersten Klassenlehrerin, Frau Senner. So durfte Jan, den es selten auf dem Stuhl hielt, dem Unterricht gerne auch auf dem Fußboden rekelnd folgen. Genau zwei Schuljahre wurde er von Frau Senner verhätschelt und verwöhnt, brachte aber als kleiner charmanter Schüler auch immer seine Leistung.
Leider fand die schöne Zeit dann in Gestalt des neuen Klassenlehrers, Herrn Buddelthal, ihr Ende. Ein humorloser, alter, sadistischer Kauz. Jan durfte plötzlich nicht mehr während des Unterrichts auf dem Boden verweilen und sollte jedes Mal den Finger heben, bevor er sich zu Wort meldete.
Als Buddelthal Jan eines Tages dabei erwischte, die Erdkunde-Hausaufgaben erst in der großen Pause vor dem Unterricht zu machen, zerriss er kurzerhand das gesamte Hausaufgabenheft, schmiss es in den Papierkorb und grinste ihn hämisch an.
»Typisch Professorensohn. Faul und nichtsnutzig!«
»Wären Sie etwas fleißiger gewesen, hätte es wohl auch zu mehr als einem kleinen Dorfschullehrer gereicht«, entgegnete Jan.
»Du kannst froh sein, wenn du später mal genug Groschen in deinen Hut bekommst, wenn du auf der Straße hockst«, ließ Buddelthal ihn wissen.
Dies war der Moment, der eine Veränderung in Jan erzeugte. Bislang war alles schön, bunt, herzlich und warm – nun zerstörte Buddelthal sein Bild von der Welt. Jan nahm ein frisches Schulheft, beschriftete es mit ‚Feinde‘ und zeichnete darunter ein Kreuz. Die Umrisse mit einem Bleistift, danach malte er es mit dem schwarzen Filzstift aus seinem Federmäppchen aus. Auf die erste Seite schrieb er: Nr. 1: Herr Buddelthal.
Dieses Heft sollte Jan seine gesamte Schul- und Ausbildungszeit begleiten.
Trotz Buddelthal schaffte es Jan letztendlich, das Gymnasium zu besuchen. Natürlich gab es für ihn keine entsprechende Empfehlung, er absolvierte den Aufnahmetest jedoch mit Bravour. Eigentlich hätte Jan nun eine beschauliche Schulzeit genießen können. Wären da nicht die Mädchen gewesen. Anstatt dem Unterricht zu folgen, schrieb er Gedichte auf Zettelchen an Katja, Anja oder Sara. So faltete er in einer langweiligen Physikstunde gerade künstlerisch einen mit seinem ‚Cool Water‘ benetzten Gedichtszettel, als Lehrer Schluwetz ihn dabei erwischte und das Resultat Jans zweifelhafter Dichtkunst öffentlich vor der Klasse rezitierte:
»Oh Anja, du niedliches Häschen,
würd’ so gerne küssen dein Näschen,
würd’ gern mit dir gehn,
Du auch mit mir? Wir wollen mal sehn.«
Wie erwartet brach in der Klasse ein ohrenbetäubendes Gelächter los. Hatte Anja schon die Gesichtsfarbe einer Tomate, so steigerte Jan dies noch um einige Nuancen. Zu einer Beziehung kam es in der Folge nicht. Jan aber holte sein ‚gewisses‘ Schulheft heraus und schrieb in geschwungenen Lettern auf Seite zwei: Nr. 2: Herr Schluwetz.
Von nun an verlegte Jan seine Aktivitäten zur Familienplanung in die Freizeit. Unfallchirurg wollte er werden. Während eines Schulpraktikums im Clausthaler Krankenhaus durfte er im OP zuschauen. Er war völlig fasziniert von der Arbeit des Chefarztes Dr. Haferkorn. Dies – und nur dies war fortan sein Lebensziel.
Sein Abitur machte Jan mit recht geringem Einsatz. Es hätte sogar eine ‚2 vor dem Komma‘ stehen können, wäre es nicht zu einem Zwischenfall während seiner mündlichen Abiturprüfung im Fach Gemeinschaftskunde gekommen. Prüfungsfrage: »Jan, haben wir in Deutschland eine Demokratie, eine Oligarchie oder welches andere System?«
Jan war erleichtert. So eine leichte Frage hatte er nicht erwartet. »Eine Oligarchie«, sprudelte es aus ihm heraus. »Die zwar offiziell vorhandene Demokratie wird durch den Fraktionszwang unterwandert. Der gewählte Abgeordnete stimmt nicht dafür, was er seinem Wähler versprochen hat, oder gar, was seiner eigenen Meinung entspricht, sondern dafür, was die Parteispitze vorgibt.« Mehrere Beispiele nennend, schloss er seinen Exkurs mit den Worten: »Erst wenn der Fraktionszwang als verfassungswidriges Merkmal aus dem Bundestag verbannt wird, leben wir in Deutschland in einer echten Demokratie.«
Lehrer Katzinger vergab für diese »völlig an der Realität vorbeigehenden« mündlichen Ausführungen 4 Punkte.
»Sie sollten vielleicht in die DDR übersiedeln, mitsamt Ihrem kommunistischen Gedankengut«, ätzte Katzinger, seines Zeichens braves Mitglied einer großen christlichen Partei.
Damit verschaffte er Jan nicht nur ein unschönes Abiturzeugnis, sondern sich selbst einen Eintrag in einem gewissen Schulheft auf Seite drei: 3. Herr Katzinger.
Jan unterstrich den Namen mehrmals, kringelte ihn ein und versah ihn mit drei Ausrufungszeichen – hatte Katzinger ihm doch den sofortigen Antritt des Medizinstudiums versaut.
Erstmals keimte in Jan der Gedanke auf, seine heimlichen Fantasien in die Tat umzusetzen und die auserwählten Opfer um die Ecke zu bringen. Er verwarf diese vorerst und entschied sich für eine Lehre zum KFZ-Mechaniker, um die nun unausweichlich gewordenen Wartesemester für sein Medizinstudium zu überbrücken. KFZ-Mechaniker deshalb, weil er in seiner Freizeit gerne an Autos und Mopeds bastelte und sich erhoffte, dass die mechanischen Kenntnisse und die Fingerfertigkeit nützlich für sein späteres Unfallchirurgenleben sein würden.
Als Lehrbetrieb wurde der im Ort befindliche Renault- Händler gewählt. Jans Vater fuhr seit Jahren diese Marke und machte mit dem Besitzer des Autohauses den Ausbildungsplatz bei einigen Bierchen und einem Kaufvertrag für den neuen Familienkombi klar.
Bereits am ersten Tag seiner Ausbildung spürte Jan den Argwohn des Meisters: »Du schmächtiger Akademikersohn weißt doch gar nicht, wie man einen Schraubenschlüssel hält, geh lieber Bücher lesen«, ließ ihn Herr Hirschhorn wissen.
Sein Geselle Fritjof Punz ließ dann Taten folgen.
»Jan, komm mal her«, rief er. »Kannst du mal in der Schale nachgucken? Da ist mir gerade die Ölablass-Schraube hinein gefallen, da hinten sind Handschuhe!«
Jan begab sich mit Handschuhen bewaffnet unter das auf der Bühne befindliche Auto, suchte in der Wanne nach der Schraube, die wie zufällig erst dann von oben herabfiel. Gefolgt von einigen Litern tiefschwarzem Öl. Fritjof schüttete sich aus vor Lachen, Jan sah aus wie ein lebender Schokobrunnen.
»Du widerlicher Mistkräpel«, schrie Jan voller Wut.
»Nun bist du jedenfalls ordentlich getauft, du Uni-Futzi!«, entgegnete Fritjof und bog sich vor Lachen.
Mehrere Flaschen Duschgel später war Jan weitestgehend vom Motoröl befreit. Sein altes Schulheft bereicherte er um den Eintrag: 4. Fritjof Punz.
Bereits im zweiten Lehrjahr kam der ersehnte Bescheid: Medizinstudienplatz in Göttingen. Jan brach die Lehre ab und begann das Studium, welches er ohne Zwischenfälle und Neueinträge in sein Schulheft abschloss.
Voller Stolz trat er in Folge eine Stelle als Assistenzarzt in Bad Soden am Taunus an. Als Unterkunft diente ihm vorerst ein kleines Zimmer im Schwesternheim der Klinik. Der dortige Chefarzt entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen. Im Gegensatz zur ruhigen, wenn auch bestimmten Art seines Vorbilds Dr. Haferkorn, war Professor Wiedenzahl ein Choleriker mit einem durchweg schlechten Charakter. Nicht selten flogen während der Operationen verschiedene Instrumente durch den OP-Saal, begleitet von Schimpftiraden, getragen von der unangenehm schrillen Stimme des Tyrannen.
Kurz bevor Jan zur Facharztprüfung antreten durfte, hatte er das zweifelhafte Vergnügen, Professor Wiedenzahl wieder einmal bei einer ‚künstlichen Hüfte‘ assistieren zu dürfen. Beim Abtrennen des verbrauchten Hüftkopfes mit der Knochensäge rutschte Wiedenzahl ab und verletzte ein größeres Blutgefäß.
»Selbst ein dressierter Affe assistiert besser als Sie! Sehen Sie sich doch mal an, was passiert ist«, schrie der Professor – obwohl Jan nun gar keine Schuld daran traf. Das Malheur war schnell behoben und niemand sprach danach noch von diesem Vorfall. Jan hingegen ging dieses Ereignis an die Nieren. Er war vom Verhalten des Professors schwer getroffen. Das würde er ihm nicht verzeihen. Am Abend nach der OP ging er in sein Zimmer, kramte ein gewisses Schulheft hervor und schrieb: 5. Prof. Wiedenzahl.
Knapp ein halbes Jahr später durfte Jan sich dann ‚Facharzt für Unfallchirurgie‘ nennen und trat eine Oberarztstelle im Krankenhaus Goslar an.
Was seine frühen Kindheitserinnerungen anbelangte, so waren diese äußerst positiv. Mit zunehmendem Alter hingegen gelangte Henning zu der Ansicht, die Arschkarte des Lebens gezogen zu haben. Als uneheliches Einzelkind wurde er überwiegend von der Oma großgezogen, da seine Mutter arbeiten musste. Ihr kleines Einkommen als Verkäuferin, dazu die Rente der Großmutter und die Alimente seines Erzeugers reichten für einen bescheidenen Lebensstil. Als kleines Kind hatte er nichts zu entbehren. Außerdem wurde Henning nach Strich und Faden verwöhnt, verhätschelt und liebkost, als sei er das einzige Kind auf der Welt. Die Nachbarskinder hatten da eine erheblich schwerere Last zu tragen. Damals wurden viele von ihnen zu Hause verprügelt oder angeschrien. In dem kleinen Bad Grund, das sich durch den Niedergang des Erzbergbaus vom Industriestandort mehr und mehr zu einem Kurort entwickelt hatte, war die Welt in vielerlei Hinsicht noch in Ordnung. Als Kind konnte man ohne große Gefahr in dem kleinen Bergstädtchen herumlaufen. Die bewaldete Umgebung lud zu allerlei Abenteuern ein.
Hennings Grundschulzeit war auch ganz akzeptabel. Er kannte sämtliche Kinder in dem kleinen Ort. Die Lehrerinnen waren lieb und nett und sahen ihm seine Streiche gern nach, da er den Unterricht durch seine Leistungen bereicherte und schwächeren Mitschülern half. Nicht so der Leiter der Schule. Für jede Kleinigkeit wurde er von diesem Typen angeschnauzt. Sogar zu lautes Gelächter auf dem Schulhof hatte eine Maßregelung zur Folge. Als der Rektor einmal eine Vertretungsstunde in der Klasse gab, fühlte dieser sich wieder durch ihn gestört. Er packte ihn im Genick, zerrte ihn hinaus und hielt ihm auf dem Flur eine Standpauke. Eigentlich war es mehr ein Übergriff, bestehend aus physischer und psychischer Gewalt. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, obwohl ihm diese Sache bis heute nachhing und er noch gelegentlich davon träumte. Er erinnerte sich nur an einen Satz: »Die Schule hat zwar keinen Stock mehr, aber ich kann dir auch so auf eine Weise wehtun, dass du endlich zur Besinnung kommst.« Alles andere, was er gesagt hatte, war aus seinem Gedächtnis verschwunden. Er wusste nur noch, dass ihm die Tränen übers Gesicht liefen, was wahrscheinlich vom Rektor so gewollt war. Und auch an die Schmerzen konnte er sich erinnern. Tagelang hatten ihm seine Handgelenke wehgetan, weil der Arsch diese während seines Vortrags fest im Griff hatte. Als er den Schock einige Tage später halbwegs überwunden hatte, beschloss er, diesen Typen eines Tages zu töten. Er schrieb den Namen seines Peinigers in sein inneres Notizbuch: Herr Purlitz.
Nach vier Jahren musste die Entscheidung getroffen werden, wie es schulisch weitergehen sollte. Er hatte gute Noten, und die Klassenlehrerin befürwortete einen Wechsel aufs Gymnasium. Einige von Hennings Freunden hatten sich für Seesen als neue Schulstadt entschieden. Als er seiner Mutter erklärte, er würde auch nach Seesen fahren, war sie strikt anderer Meinung. Ganz entgegen ihrer sonstigen Praxis, alles in Ruhe zu klären und auf die Wünsche des Sohnes einzugehen, meldete sie ihn auf dem Gymnasium in Clausthal-Zellerfeld an. Dort lief es zunächst auch gut für ihn. Mit einer Ausnahme: Der Sportlehrer war ein Sadist. Er schien sich daran aufzugeilen, Schüler, die keine besonderen Leistungen vollbrachten oder aufgrund ihrer körperlichen Ausstattung als unsportlich galten, zu erniedrigen. Henning gehörte zwar nicht zu den kleinen Dicken, die sich nicht wehren konnten. Aber er fand es abgrundtief gemein, dass die zwei, drei schwächsten Mitschüler vor jeder Sportstunde Angst hatten. Nach einem Jahr übernahm ein anderer Lehrer den Sportunterricht, aber dann stand er wieder vor ihnen mit seiner Trillerpfeife und dem hämischen Grinsen: Herr Knackstädt, von den Schülern hinter seinem Rücken Knacki genannt. Es hatte sich nichts geändert. Er suchte sich seine Opfer heraus, die er zur Schnecke machen konnte. Nach ein paar Wochen war Seilklettern dran. Natürlich kamen die Dicken kaum einen Meter hoch. Es folgte eine Kanonade von Beleidigungen. Wer es bis oben geschafft hatte, kam auf die eine Seite, wer es fast geschafft hatte, auf die andere. Hierzu gehörte auch Henning. Drei Schüler, deren Leistung in Knackis Augen unter aller Kanone war, mussten in die Mitte gehen, sich hinhocken, hüpfen und Häschen in der Grube singen. Kinder sind grausam, sagt man. Aber in diesem Fall lachte kaum jemand. Es war einfach demütigend. Schließlich trat Henning vor und sagte zu seinem Lehrer: »Sie sind ein mieses Arschloch!«
Plötzlich herrschte absolute Stille. Es war eine unwirkliche Situation. Als Knacki begriffen hatte, was da gerade passiert war, brüllte er los, ging auf Henning zu, packte ihn am Hemd und schleuderte ihn herum. Das Turnhemd zerriss und Henning flog auf den Boden. Knacki brüllte weiter, Henning hörte es gar nicht mehr. Er rannte in den Umkleideraum, zog sich an und ging ins Schulgebäude. Die Pause hatte gerade angefangen und er traf auf Fräulein Höschen, seine Klassenlehrerin. Verwundert, wie aufgebracht Henning war, sprach sie ihn an: »Henning, was ist los?«
Da brach er in Tränen aus. Sie ging mit ihm in einen leeren Klassenraum und er erzählte ihr alles. Die nächsten Tage waren geprägt von Lilly Höschens Aktionismus. Sie hasste Ungerechtigkeit, Selbstherrlichkeit und Unfähigkeit. Und genau das warf sie Knacki vor. Als sie ihn zur Rede stellte und er abwiegelte, drohte sie ihm Ohrfeigen an. Sie war damals eine Frau von Mitte fünfzig und galt als Emanze. Kaum jemand wagte es, sich mit ihr anzulegen. Auch der Direktor, ein permanent überforderter Mann, der kurz vor der Pensionierung stand, ging ihr möglichst aus dem Weg. Nun stand sie aber in seinem Zimmer und forderte ihn auf, etwas zu unternehmen. Offenbar hatte er sie falsch verstanden und meinte, dass er den Schüler verweisen könne, der es gewagt hatte, seinen Lehrer derart zu beleidigen.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Dieser Schüler hat mit seinen dreizehn Jahren mehr Eier in der Hose, als Sie je haben werden. Wenn hier jemand verwiesen wird, dann der Lehrer, der seine Schüler demütigt. Was Henning getan hat, war ein Akt von Nothilfe.«
Es dauerte etwa zwei Wochen, bis wieder Ruhe einkehrte. Lilly Höschen hatte alles rebellisch gemacht: das Kollegium, die Elternschaft, die Schulaufsicht und nicht zuletzt die Schüler. Das Ergebnis war, dass Knacki in dieser Klasse nicht mehr unterrichten durfte und sich zum Ende des Schuljahres versetzen ließ. Den Schulleiter kostete diese Aktion nach seinem Empfinden mindestens ein weiteres Jahr seiner Lebenserwartung.
Henning wurde von Knacki künftig wie Luft behandelt. Nur ganz am Ende des Schuljahres, kurz bevor er in die Ferien und dann auf eine andere Schule ging, trafen die beiden sich zufällig auf dem Flur. Knacki blieb kurz stehen und sagte: »Du bist der mieseste kleine Pisser, der mir je begegnet ist.«
Ganz spontan antwortete Henning: »Und Sie sind der Nächste auf meiner Liste. Irgendwann töte ich Sie.«