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Am Walpurgistag 1990 verschwinden Miriam und Georg Besserdich spurlos. Sie wollten eine Moorwanderung im Harz unternehmen, um allein zu sein und über ihre Probleme zu reden. Amadeus, der zwölfjährige Sohn des Ehepaars, wird von seiner schrulligen Großtante Lilly aufgezogen. Zwanzig Jahre später werden Lilly und Amadeus mit mehreren merkwürdigen Verbrechen konfrontiert. Unter anderem findet Lilly in ihrem Garten eine ermordete Frau. Was geschah wirklich vor zwanzig Jahren? Könnte es sein, dass der totgeglaubte Georg Besserdich seine Finger im Spiel hat? Wieder ist Walpurgis, und wieder geschieht etwas Schreckliches. Amadeus und seine skurrile Großtante Lilly haben nur Zeit bis Mitternacht. Dann muss der Fall gelöst sein, oder ein weiterer Mensch stirbt. Der romantische Harz mit seinen Hexensagen, mit Orten und Landschaften, mal idyllisch, mal wild oder spröde, bildet die Kulisse für diesen mysteriösen Kriminalfall. Ohne einen gewissen Humor würde man es nicht aushalten.
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Seitenzahl: 266
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Helmut Exner
Walpurgismord
Ein leicht schräger Krimi aus dem idyllischen Harz
Walpurgismord
ISBN 978-3-943403-05-3
ePub Version V7.0 (04-2022)
© 2022 by Helmut Exner
und dessen Lizenzgeber. Alle Rechte vorbehalten.
Autorenfoto: © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat & DTP: Sascha Exner
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Innentitel
Impressum
Clausthal-Zellerfeld, 2. Juli 2010
Hochharz, 30. April 1990 (Walpurgis)
Lautenthal, 1. Mai 1990
Lautenthal, 2. Juli 2010
Lautenthal, 8. Juli 2010
Lautenthal, 12. Juli 2010
Goslar, 13. Juli 2010
Goslar, 17. Juli 2010
Clausthal-Zellerfeld, 28. Juli 2010
Bayern 1962
Lautenthal, 30. Juli 2010
Bayern 1962
Lautenthal, 5. August 2010
Lautenthal, 7. August 2010
Lautenthal, 8. August 2010
Clausthal-Zellerfeld, 11. August 2010
Bayern 1964
Lautenthal, 11. August 2010
Lautenthal, 15. August 2010
Goslar, 19. August 2010
Zwischen Brocken und Torfhaus, 21. August 2010
Lautenthal, 22. August 2010
Goslar, 23. August 2010
Clausthal-Zellerfeld, 24. August 2010
Clausthal-Zellerfeld, 27. August 2010
Goslar, 30. August 2010
Goslar, 3. September 2010
Goslar, 6. September 2010
Lautenthal, 6. September 2010
Goslar, 7. September 2010
Goslar, 8. September 2010
Thompson, Kanada, 8. September 2010
Goslar, 8. September 2010
Goslar, 9. September 2010
Lautenthal, 9. September 2010
Goslar, 10. September 2010
Goslar, 11. September 2010
Goslar, 12. September 2010
Lautenthal, 13. September 2010
Goslar, 14. September 2010
Goslar, 15. September 2010
Lautenthal, 31. Dezember 2010
Goslar, 31. Dezember 2010
Lautenthal, 31. Dezember 2010
Goslar, 1. Januar 2011
Goslar, 2. Januar 2011
Goslar, 15. Januar 2011
Clausthal-Zellerfeld, 29. April 2011
Goslar und Lautenthal, 29. April 2011
Goslar, 29. April 2011
Lautenthal, 30. April 2011 (Walpurgis)
Goslar, 30. April 2011 (Walpurgis)
Lautenthal, 30. April 2011 (Walpurgis)
Goslar, 1. Mai 2011
Lautenthal, 15. Mai 2011
Auf ein (Nach-)Wort
Über den Autor
»Nehmt euch bloß in Acht vor der Alten! Wenn die ihr Maul aufmacht, kommt Gift und Galle raus. Ihren letzten Chef soll sie zuerst in den Wahnsinn und dann in den Tod getrieben haben. Bevor er morgens zur Schule ging, musste er schon Beruhigungsmittel nehmen. Nicht etwa, dass er Probleme mit Schülern oder Eltern gehabt hätte. Nein, es war die pure Angst vor diesem Weib.« — »Und was war mit ihrem vorletzten Chef? Der lebt doch noch?« — »Ja, aber auch nur, weil er rechtzeitig die Kurve gekriegt und in Frühpension gegangen ist. Ihrem Arzt soll sie mal gesagt haben, wenn man so einen Schmerbauch hat, sollte man sich nicht als Ernährungsberater aufspielen. Und beim Schlachter hat sie vom Stapel gelassen, dass der Fleischsalat aussieht wie schon mal gegessen.« — »Das ist ja noch gar nichts gegen das, was sie seinerzeit dem Pastor gesagt haben soll.« — »Was denn?« — Nun mischte sich ein Mann in seinem Oberharzer Jargon ein: »Ich geh ja net in dar Körch. Nur an Heilich Amd. Aber als der Paster mal über de Moral von de jungn Leut gepredicht hat, hat se ne beim Rausgehn gesaacht, dass de Popen sich lieber um ihrn eichnen Pimmel kümmern solln, dann hättn se genuch zu tun.«
Das kleine Grüppchen von Leuten, die dieses Gespräch auf der Straße führten, konnte sich vor Lachen kaum halten. Aber so war es immer, wenn es um Lilly Höschen ging. Es kursierten unendlich viele Geschichten über sie. Niemand wusste mehr so recht, was Fantasie und was Wirklichkeit war. Das ist Lilly Höschen, wie sie leibt und lebt. Eine kleine, zarte Frau, ehemals Oberstudienrätin für Deutsch und Englisch in Clausthal-Zellerfeld. Inzwischen war sie achtzig Jahre alt und natürlich längst pensioniert. Sie wohnte in Lautenthal. In ihrem Haus am Berg thronte sie geradezu über dem kleinen Städtchen. Im Umgang mit ihren Mitmenschen galt sie durchaus als freundlich, ja liebenswürdig und hilfsbereit. Aber wehe, wenn sie sich veranlasst sah, einen ihrer Giftpfeile abzuschießen. Da konnte ihr niemand ausweichen oder gar Kontra bieten. Das schlimmste Vergehen war, ihren Namen wie Hös-chen auszusprechen und nicht wie Hö-schen mit kurzem ö und sch. Wer das tat, hatte eine Feindin fürs Leben.
Aber das Gerede der Leute interessierte Lilly nicht sonderlich. Und heute schon gar nicht, denn sie hatte es eilig. Der Sohn einer angesehenen Frau musste heute vor dem Amtsgericht Clausthal-Zellerfeld erscheinen, weil er angeblich geklaut hatte. Eine peinliche Sache. Und sie, Lilly, hatte davon erst heute Morgen erfahren. Wie der Zufall es wollte, war ausgerechnet sie es, die dem jungen Mann ein Alibi geben konnte. Und zu allem Überfluss war ihr Großneffe Amadeus auch noch der Verteidiger in diesem Fall. Dieser Bengel, warum konnte er ihr nicht etwas mehr über seine Arbeit erzählen? Dann hätte sie alles im Vorfeld aufklären können und es wäre gar nicht erst zu dieser peinlichen Verhandlung gekommen.
Mit ihren achtzig Jahren war Lilly noch gut beieinander. Sie stieg in ihren alten BMW und machte sich auf den Weg nach Clausthal-Zellerfeld. Diese beiden Städtchen mit zusammen fünfzehntausend Einwohnern waren 1924 zu einer Stadt zusammengeschlossen worden. Jahrhundertelang waren beide Orte selbstständig gewesen. Und bis in die Gegenwart hinein gab es nicht wenige Menschen, die in dem jeweils anderen Ort nicht tot überm Zaun hängen wollten, geschweige denn, dort wohnen würden. Die Talsenke ist bis heute die Grenze zwischen beiden Orten, und es ist von entscheidender Bedeutung, ob man ein paar Meter weiter hüben oder drüben wohnt. Es sollen schon Ehen daran gescheitert sein, weil man sich nicht einigen konnte, ob man die gemeinsame Wohnung in Clausthal oder in Zellerfeld haben sollte. Lilly war das egal. Sie wohnte in Lautenthal. Das Amtsgericht befand sich in Zellerfeld, direkt gegenüber der Kirche, die viele Clausthaler in ihrem ganzen Leben nie betraten. Es gab natürlich keinen Parkplatz am Gericht. Also stellte Lilly ihren Wagen am Minigolfplatz ab und ging dann eilig über die Straße, ihren glimmenden Zigarillo im Mund. Jeder kannte sie in der Stadt, in der sie fast vierzig Jahre lang unterrichtet und hin und wieder für Aufsehen gesorgt hatte. Die kleine, dünne, fast unscheinbar wirkende Frau mit ihrer mal weißen und mal blonden Lockenfrisur galt als Autorität. Wer ihr begegnete und nicht mehr rechtzeitig die Straßenseite wechseln konnte, grüßte sie freundlich und ging eiligen Schrittes weiter. Bloß nicht auf ein Gespräch einlassen. Denn oft endete solch eine belanglose Plauderei mit einer Maßregelung oder einem Tadel. Und wer sich gar erdreistete, ihr offen zu widersprechen, konnte durchaus mit einer handfesten Beleidigung rechnen. Aber heute hatte Lilly dafür keine Zeit. Schnellen Schrittes betrat sie den Flur des Amtsgerichts. Der Hausmeister, der ihr über den Weg lief, schaute ganz entgeistert und sagte: »Hier ist Rauchen verboten«, woraufhin sie ihm ihren Zigarillo in die Hand drückte und sich nach dem Saal erkundigte, in dem die Verhandlung stattfand. Ganz verdattert ging der Hausmeister mit dem Zigarillo nach draußen.
Als Lilly die Tür des Gerichtssaals öffnete und eintrat, redete der Richter gerade. Mit Mühe brachte er seinen Satz zu Ende und tat so, als sähe er seine alte Lehrerin gar nicht. Wahrscheinlich ist die Alte nur neugierig und will ihrem Großneffen Amadeus bei der Arbeit zusehen, hoffte er. Aber da hatte er sich geirrt.
Mit ihrer durchdringenden Stimme sagte sie: »Ich habe eine Aussage in diesem Fall zu machen.«
Am besten so tun, als würde ich sie gar nicht kennen, dachte Richter Ulrich Geist. »Sind Sie als Zeugin geladen?«, fragte er.
»Ulrich Geist, du weißt ganz genau, dass ich nicht als Zeugin geladen bin. Das ist ja gerade der Fehler. Ich habe eine Aussage zu machen, um dieses Gericht vor einem Fehlurteil zu bewahren.«
»Ich verstehe nicht. Wer sind Sie denn überhaupt?«, stammelte der Richter, wohlwissend, wie unglaubwürdig seine Frage war.
»Du weißt ganz genau, wer ich bin«, sagte Lilly.
Der Richter tat erstaunt und fragte wie ein schlechter Schauspieler: »Frau Höschen?«
»Fräulein, wenn ich bitten darf. Ich habe immer noch nicht geheiratet.«
Die bis jetzt gelangweilten Zuschauer fingen an, sich zu amüsieren, während Amadeus, der auf der linken Seite mit seinem Mandanten saß, sich die Hände vors Gesicht hielt. Am liebsten wäre er im Boden versunken und betete, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge.
»Oh, entschuldigung, Fräulein Höschen. Aber ich habe Sie so lange nicht gesehen, dass ...«, stotterte der Richter und Lilly erwiderte: »Nein, du ziehst es ja vor, jedes Mal die Straßenseite zu wechseln, wenn wir uns begegnen!«
Jetzt fingen die Zuschauer an zu lachen, während sich Amadeus die Haare raufte.
»Nun, Fräulein Höschen, setzen Sie sich doch bitte einfach auf den Zeugenstuhl. Er ist gerade frei geworden.«
Lilly nahm Platz und der Richter sagte: »Zu Ihren Personalien ...«
Lilly unterbrach ihn: »Lilly Höschen, achtzig Jahre alt, pensionierte Oberstudienrätin, ledig, wohnhaft in Lautenthal, nicht verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten. Reicht das?«
»Perfekt. Nun muss ich Sie belehren, dass Sie vor Gericht die Wahrheit sagen müssen. Andernfalls würden Sie sich strafbar machen. Am besten, Sie erzählen uns einfach, was Sie zu uns führt und was Sie zur Wahrheitsfindung beitragen können.«
»Nun«, setzte Lilly an, »soweit ich von der Mutter des Angeklagten erfahren habe, wird ihm vorgeworfen, am 30. April zwischen 12.30 Uhr und 13.00 Uhr einen Diebstahl begangen zu haben. Das kann aber nicht sein, es sei denn, dass es diesen Herrn in doppelter Ausführung gibt.«
»Kommen Sie doch einfach zur Sache«, meldete sich nun Staatsanwalt Hans Gutbrodt zu Wort, ein Mann von Ende fünfzig mit kurz geschnittenem, grauem Haar und einem markanten Leberfleck auf der Wange.
»Ich bin bei der Sache. Und je weniger Sie mich unterbrechen, desto schneller werden Sie erfahren, wie unsinnig Ihre Anklage ist. Also, am Morgen des 30. April – ich weiß das so genau, weil das der Walpurgistag war, stand ich mit heftigen Schmerzen in der Schulter auf. Das einzige, was mir in einer solchen Situation hilft, ist eine Behandlung durch meine großartige Physiotherapeutin. Da besagte Dame kurzfristig kaum Termine hat, entschloss ich mich, mich einfach ins Auto zu setzen und hinzufahren. Sie würde mich leidendes Geschöpf bestimmt irgendwie dazwischenschieben, dachte ich. Also fuhr ich nach Clausthal zu Frau Anja Gutbrodt.«
Jetzt fiel dem Staatsanwalt die Kinnlade herunter. Besagte Physiotherapeutin war seine Ehefrau.
Lilly Höschen fuhr unbeirrt fort: »Ich parkte meinen Wagen an der Clausthaler Kirche. Da schlug es gerade halb eins. Zur Rollstraße, wo sich die Praxis befindet, sind es ja nur ein paar Schritte. Ich betrat also die Praxis, und niemand war da. Na ja, dachte ich, es wird schon gleich jemand kommen. Aber es kam niemand. Frau Gutbrodt hatte ihre Angestellten wohl zu Mittag geschickt. Aber dann hörte ich Geräusche, die immer lauter wurden.«
»Was für Geräusche?«, wollte der Staatsanwalt wissen.
»Wenn Sie mich nicht ständig unterbrechen, werden Sie es gleich erfahren. Es handelte sich um Liebesgesäusel, vorsichtig ausgedrückt. Na sowas, dachte ich, amüsiert sich Frau Gutbrodt vielleicht mit einem Mann und hat vergessen, die Tür abzuschließen? Jedenfalls erkannte ich die Stimme meiner Masseurin. Und auch die Stimme des Mannes kam mir bekannt vor. Ich konnte sie aber in dem Moment nicht recht unterbringen. Jedenfalls nahmen die Geräusche an Heftigkeit zu und ich überlegte, ob ich die Praxis nicht lieber verlassen sollte. Aber dann spürte ich wieder meine Schulterschmerzen.«
»Und wem gehörte diese Stimme denn nun?«, wollte der Richter wissen.
»Dem Angeklagten, Herrn Maximilian Schmecke.«
Der Richter sah den Staatsanwalt an. Dieser allerdings starrte nur zu Lilly Höschen, während sie weiter berichtete: »Irgendwann wurde mir die Sache dann aber zu heftig. Ich dachte schon bei mir: Meine Güte, dass Frau Gutbrodt auch diese Art von Massagen macht ...«
Jetzt sprang der Staatsanwalt auf und brüllte: »Was hat der Kerl mit meiner Frau gemacht?«
Lilly, völlig entgeistert, dass sich der Staatsanwalt als der Ehemann von Frau Gutbrodt entpuppte, verlor für eine Sekunde die Übersicht, fing sich aber sofort wieder und sagte ganz langsam, um diesen Moment voll auszukosten: »Er hat ihr die Fotze geleckt.«
Jetzt rastete der Staatsanwalt aus, während der Richter seine alte Lehrerin mit offenem Mund anstarrte, der Angeklagte sein Gesicht in den Händen vergrub und Amadeus diesen mit weit aufgerissenen Augen ansah, ihn gegen die Schulter knuffte und flüsterte: »Du Blödmann, warum hast du das nicht gesagt?«
Staatsanwalt Gutbrodt brüllte auf Lilly ein: »Was denken Sie eigentlich, wie Sie hier reden können? Das ist ja unglaublich!«
»Unglaublich ist das Verhalten Ihrer Frau«, konterte Lilly, »und Ihr Verhalten als Staatsanwalt lässt auch zu wünschen übrig. Machen Sie gefälligst Ihre Hausaufgaben und hören Sie auf, ehrbare Zeugen anzuschreien! Setzen!«
Gutbrodt setzte sich ruckartig hin und der Richter hob beschwichtigend die Arme, während die Zuschauer teils amüsiert lachten oder sich entsetzt anschauten.
»Jetzt wollen wir uns alle erstmal wieder beruhigen«, sagte der Richter. »Herr Staatsanwalt, ich werde zu entscheiden haben, ob ich Sie wegen Befangenheit aus dieser Verhandlung ausschließe. Ich möchte, dass Fräulein Höschen ihre Aussage in Ruhe zu Ende bringt, und dann sehe ich weiter. Also bitte, Fräulein Höschen, fahren Sie fort. Allerdings frage ich mich, wie Sie darauf kommen, dass der Angeklagte die Dame, äh, Sie wissen schon, was er angeblich mit ihr gemacht haben soll. Sie haben doch niemanden gesehen.«
»Das ist ganz einfach«, fuhr Lilly fort, »Frau Gutbrodt hat ihn laut und deutlich aufgefordert, es zu tun. Und den Geräuschen nach zu urteilen, hat er es dann auch getan. Und zwar heftig. Soll ich die Geräusche, die Frau Gutbrodt währenddessen von sich gegeben hat, etwa nachmachen?«
»Um Gottes willen, nein, Fräulein Hös-chen, äh, Höschen.«
Jetzt war es passiert: Er hatte Hös-chen gesagt. Das würde Konsequenzen haben, so wie damals vor mehr als zwanzig Jahren in der Schule. Lillys Gesicht nahm jetzt diesen erbarmungslosen Zug an, der ihm als Schüler eine Gänsehaut über den Rücken hatte laufen lassen: »Ulrich Geist, du bist ein ganz liederlicher Bengel!«
»Ich bitte um Entschuldigung, Fräulein Höschen. Bitte fahren Sie mit Ihrer Aussage fort, beziehungsweise kommen Sie zum Ende.«
»Nun, ich verließ dann die Massagepraxis. Meine Schulterschmerzen hatte ich vergessen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte der Buick des Angeklagten. Da fiel mir ein, wen ich in der Praxis gehört hatte: Maximilian Schmecke. Außerdem gibt es weit und breit kein anderes Angeberauto dieser Art. Der Angeklagte kann also nicht in Zellerfeld einen Diebstahl begangen und sich zur selben Zeit mit besagter Masseurin in Clausthal verlustiert haben. Das war‘s. Und Dir, Maximilian Schmecke, möchte ich noch mit auf den Weg geben, dass man Türen auch abschließen kann. Außerdem ist es dumm, ein Verbrechen auf sich zu nehmen, nur um jemanden vor der Bloßstellung zu schützen. Vielleicht hättest du mal an Deine Mutter denken sollen. Es ist alles andere als angenehm für sie, dass ihr Sohn vor Gericht steht.« Dann wandte sie sich wieder dem Richter zu, erhob sich und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich denke, ich habe meiner Bürgerpflicht Genüge getan und mache mich jetzt auf den Weg. Ich kann schließlich nicht meine ganze Zeit mit solchen Dummheiten vertrödeln.«
»Das wirst du mir büßen, du alte Hexe!«, sagte der Staatsanwalt in Gedanken zu sich selbst. Der Wunsch, Lilly zu erwürgen, war allerdings nicht so groß wie sein Verlangen, nach Hause zu kommen und seine Frau zur Rechenschaft zu ziehen. Er war in diesem kleinen Städtchen erledigt. In jedem Zimmer dieses Gerichts würde man sich totlachen über das, was hier passiert war. Wahrscheinlich würde diese Geschichte in ganz Deutschland in jedem Gericht die Runde machen. Und nicht nur das: Es brauchte nur irgendein Heimatpostillenschreiber Wind davon bekommen und er wäre in der ganzen Gegend erledigt. Die Leute würden tuscheln oder gar mit dem Finger auf ihn zeigen, wenn er sich irgendwo blicken ließ.
Richter Ulrich Geist blickte so verdutzt aus der Wäsche, dass es ihm die Sprache verschlug. Erst als Lilly den Saal verlassen hatte, sagte er ganz leise mit entrücktem Gesichtsausdruck: »Die Zeugin bleibt unvereidigt. Sie sind entlassen, Fräulein Hös-chen.«
»Und was willst du jetzt mit mir machen? Mich umbringen?«, fragte Miriam ihren Mann, während sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm setzte. Sie war mit Georg in den Harz gefahren und in das abgeschiedene Hochmoor gegangen, um Zeit und Ruhe zu haben, sich mal richtig auszusprechen. Aus der Aussprache, die eigentlich zu einer Versöhnung hätte führen sollen, wurde schnell ein Verhör. Mit Schrecken stellte Miriam fest, dass ihr Mann mehr wusste, als sie in ihren kühnsten Träumen befürchtet hatte. Folglich konnte sie ihm auch gleich die ganze Wahrheit beichten. Danach würde ihr wohler sein.
»Umbringen? Ja, das wäre eine Lösung«, sagte Georg.
Zur selben Zeit sah der Mann, der ihnen auf der Spur war, Georgs Auto, das auf dem Waldparkplatz stand. Er wusste von Miriam, was sie heute vorhatte. Die große Aussprache mit Georg. Er hatte ihr dringend davon abgeraten. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte ...
Er parkte seinen Wagen neben dem von Georg. Sonst waren weit und breit keine Autos zu sehen. Das Wetter hier im Hochharz lud an diesem Walpurgistag wohl nur Hartgesottene zum Spaziergang im Moor ein. Er betrachtete sein Gesicht kurz im Rückspiegel, strich mit dem Finger über seinen Leberfleck auf der linken Wange, griff seinen Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Er würde die beiden schon finden. Wenn hier die große Aussprache stattfinden sollte, die natürlich auch in einer Abrechnung enden konnte, dann musste er dabei sein. Er ging zügig durch den hohen, dunklen Fichtenbestand, der von Nebelschwaden durchzogen war. Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald und das Hochmoor lag vor ihm.
Am nächsten Tag telefonierte Amadeus Besserdich, der zwölfjährige Sohn von Georg und Miriam, mit seiner Großtante Lilly. Die Besserdichs hatten eine Wohnung in Hannover und Lilly wohnte in Lautenthal im Harz.
»Und deine Eltern sind jetzt seit mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden?«, fragte Lilly besorgt. »Ich denke, wir müssen die Polizei verständigen. Amadeus, du bleibst in der Wohnung; ich setze mich ins Auto und komme nach Hannover. Und vorher rufe ich noch die Polizei an.«
Lilly, die einzige nahe Verwandte, war eine Schwester von Miriams verstorbener Mutter. Sie war sechzig Jahre alt, Oberstudienrätin für Deutsch und Englisch in Clausthal-Zellerfeld und als solche berüchtigt für ihre Besserwisserei und Durchsetzungskraft. Man könnte es auch Dickschädeligkeit nennen, mit der sie mindestens ein Dutzend Kollegen und zwei Direktoren in die Frühpension und ganze Schülergenerationen in den Wahnsinn getrieben hatte. Lilly Höschen bestand darauf, dass man sie mit Fräulein anredete und ihren Namen wie Hö-schen aussprach, mit kurzem ö. Hinter ihrem Rücken sagten natürlich alle Hös-chen. Wer dumm genug war, sich dabei von ihr erwischen zu lassen, war erledigt.
Als Lilly in Hannover eintraf, beratschlagte sie sich kurz mit Amadeus, packte ein paar Sachen für den Jungen, legte einen Zettel auf den Esstisch und machte sich mit ihm auf den Rückweg nach Lautenthal. Die Polizei hatte die Vermisstenmeldung nicht sonderlich ernst genommen. Zwei erwachsene Menschen, die mal einen Tag nicht nach Hause kommen – das sei so ungewöhnlich nicht. Als am Tag darauf noch immer kein Lebenszeichen zu vernehmen war, setzte Lilly Himmel und Hölle in Bewegung. Die Polizei kam zu ihr ins Haus und ihr Direktor, den sie am Maifeiertag anrief, gab ihr Sonderurlaub, damit sie sich um alles kümmern konnte. Aufgrund von Amadeus’ Hinweis, dass seine Eltern wohl eine Moorwanderung machen wollten, suchte man das entsprechende Gebiet ab. Ergebnis: Nichts! Kein Hinweis, dass sie dort gewesen waren. Niemand hatte sie oder ihren Wagen gesehen. Nicht der kleinste Gegenstand, der auf ihre Anwesenheit hinwies, wurde gefunden. Kein Zeichen eines Verbrechens. Absolut nichts. Sie waren einfach weg.
Bei dem zwölfjährigen Amadeus machte sich in den Wochen und Monaten danach eine große Traurigkeit breit, die dann in Wut umschlug. Auf wundersame Weise gelang es Lilly jedoch, den Jungen in den Alltag zurückzuführen. Er wohnte bei ihr in Lautenthal und kam mit der neuen Schule in Clausthal-Zellerfeld, dasselbe Gymnasium, auf dem Lilly unterrichtete, gut zurecht. Lilly war großmütig hinsichtlich seiner Wünsche und Bedürfnisse. Sie ermutigte ihn zur Selbstständigkeit und setzte die Grenzen des Erlaubten recht hoch an. Allerdings durften diese nie überschritten werden. Das Verhältnis zwischen dem Heranwachsenden und der alten Tante war freundschaftlich und liebevoll. Erst später, etwa zwei Jahre vor dem Abitur, musste Lilly einigen Druck anwenden, damit er in seinem pubertären Übereifer nicht alles hinwarf.
In dem kleinen Städtchen Lautenthal wurde Amadeus schnell heimisch. Den Ort mit seinen gut zweitausend Einwohnern kannte er nach kurzer Zeit in- und auswendig. Die Zahl der Kinder in seinem Alter war überschaubar, und er hatte schnell ein paar Freunde, mit denen er etwas unternehmen konnte. Clausthal-Zellerfeld, wo er zur Schule ging, war größer, hatte aber auch nicht annähernd das zu bieten, was er aus Hannover gewohnt war. Aber das fehlte ihm auch nicht. Es ging ja allen so. Man fand schon Aktivitäten, die einem Spaß machten. Das Wichtigste war, dass er schnell Freunde fand.
Am Abend nach der Gerichtsverhandlung kam Amadeus mit seinem Freund Klaus Weniger zu Lilly. Klaus wohnte in Hannover. Man hatte sich für das Wochenende verabredet. Da Amadeus aufgrund der Platzverhältnisse und des chaotischen Zustands seiner Wohnung keine Übernachtungsgäste empfangen konnte, wollte man das Wochenende bei Lilly verbringen. Sie mochte Klaus und in ihrem Haus gab es viel Platz. Sie hatte zwei Zimmer hergerichtet und eingekauft, um mit den beiden Jungen, wie sie sie nannte, im Garten zu grillen.
Amadeus war zu einem lebensfrohen jungen Mann herangewachsen. Die Erziehung durch seine Großtante Lilly hatte ihm nicht geschadet. Außerdem sah er gut aus und hatte nach zahlreichen Freundinnen nun eine feste Beziehung zu einer jungen Dame namens Marie. Er und seine Großtante liebten sich innig. Die kleinen Frotzeleien, die sie austauschten, waren das Salz in der Suppe ihrer Beziehung.
Amadeus und Klaus hatten sich vor einigen Jahren in Hannover kennengelernt. Beide waren aufgrund einer Bewerbung zu einem Assessment Center bei einer großen Versicherung geladen worden. Amadeus saß im Foyer des Konferenzzentrums in einer aus übergroß-protzigen Sesseln bestehenden Gruppe mit einem runden Tisch in der Mitte. Dann gesellte sich Klaus dazu. Beide nickten sich nur zu, sprachen aber kein Wort. Ein paar Minuten später tauchte ein weiterer junger Mann auf, der ein freundliches Grüezi von sich gab, was den beiden Wartenden ein Lächeln ins Gesicht trieb. Aha, Bewerber aus der Schweiz sind auch vertreten, dachte Amadeus. Auf dem Tisch stand eine große Jugendstilschale, gefüllt mit allerlei Süßigkeiten. Irgendwann griff der Schweizer zu. Das heißt, er kam gar nicht zum Zugreifen. Als seine Hand über der Schale war, zerbrach sie in zwei Teile, einfach so, und die Süßigkeiten kullerten über den Tisch. Der zugreifende Kollege aus der Schweiz hielt in seiner Bewegung inne und schaute ganz entgeistert auf das Malheur. In bestem Schwyzerdütsch sagte er dann: »Ich habe das Klump gar nicht berührt.«
Zuerst fing Amadeus an zu lachen. Dann tat Klaus es ihm nach. Irgendwann begannen bei Amadeus die Tränen zu laufen. Er konnte kaum atmen. Und Klaus lachte so laut und schallend, dass die anderen Leute in dem Foyer herschauten. Als die Sekretärin kam, die die Teilnehmer abholen wollte, schaute diese zunächst auf die beiden lachenden Männer, dann auf den Tisch. Und der Schweizer sagte: »Ich habe die Schale gar nicht berührt«, so als würde irgendjemand ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.
Nun rutschte Klaus von seinem Sessel auf den Boden, und Amadeus hatte Angst zu ersticken. Als dann der Schweizer sehr ernst zu der Sekretärin sagte: »Ich glaube, wir sollten die Ambulanz rufen«, war es ganz vorbei. Amadeus und Klaus schnappten sich ihre Aktenkoffer und verließen vor Lachen gekrümmt das Gebäude. Sie haben es nie wieder betreten. Klaus fand eine Stelle in einer anderen Firma und Amadeus machte sich mit Unterstützung seiner Großtante selbstständig mit einer Kanzlei in Clausthal. Das unbeherrschte Lachen hatte sie zusammengebracht. Sie waren inzwischen beste Freunde.
Am Abend saßen Lilly, Klaus und Amadeus im Garten. Ihr Haus in Hanglage bot einen Bilderbuchblick ins Tal. Am tiefsten Punkt des Talkessels durchfließt die Innerste, ein kleines Flüschen, den Ort. Und an drei Seiten türmen sich die bewaldeten Berge. So als ob der liebe Gott nicht gewusst hatte, wohin damit, waren die Berge dicht nebeneinander platziert und bildeten einen Kessel, in dem sich das kleine Städtchen mühselig etwas Raum geschaffen hatte. Wenn man in der Dämmerung auf die Berge schaute, konnte man direkt Angst bekommen, dass die dunklen hohen Wälder den ganzen Ort verschlingen.
»Mein Gott, was ist das hier für eine Aussicht«, sagte Klaus und Lilly erklärte: »Da rechts ist der Bielstein, dort ist der Teufelsberg, und da hinten der Bromberg. Und wir sitzen etwa auf halber Höhe des Schulbergs. Ja, hier kann man sich richtig erholen von den Unbilden des Alltags. Man sollte gar nicht glauben, mit was für verrückten Leuten man sich herumschlagen muss. Zum Beispiel mit dumm glotzenden Richtern und Staatsanwälten, die meinen, sie bräuchten sich nur eine Robe anzuziehen und dann können sie tun, was sie wollen.« Nun musste Amadeus seinem Freund berichten, was heute geschehen war und Klaus kam aus dem Lachen nicht heraus.
»Staatsanwalt Gutbrodt hat heute das kürzeste Plädoyer seines Lebens gehalten. Da er die Sache zu Ende bringen wollte, bat er den Richter, ihn nicht wegen Befangenheit auszuschließen und sagte dann nur: ›Ich beantrage Freispruch für den Angeklagten.‹ Und ich konnte nur noch sagen, dass ich mich dem Antrag des Staatsanwalts anschließe. Mein Mandant hat dann sofort nach der Verhandlung Frau Gutbrodt angerufen und berichtet, was passiert ist. Als ihr Mann dann nach Hause kam, um mit ihr abzurechnen, war sie nicht mehr da.«
»Wie kann man nur so feige sein? Und ich soll mir jetzt wohl eine neue Masseurin suchen?«, sagte Lilly.
»Das, was ihr Mann heute durchgemacht hat, ist natürlich auch hart. Irgendwie tut er mir leid«, meinte Amadeus.
»Was ist er denn so für ein Typ?«, wollte Klaus wissen.
»Er ist nicht gerade beliebt in seiner Umgebung. Ziemlich introvertiert, unfreundlich. Na ja. Zu mir ist er seltsamerweise sehr liebenswürdig. Er hat sogar schon ein paar Mal ein Gespräch mit mir angefangen, das ins Private ging. Was ich so mache, wofür ich mich interessiere, wie gut die Kanzlei läuft und so weiter. Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht ist das eine Art Vaterkomplex.«
»Mir ist er eher wie ein Idiot vorgekommen«, sagte Lilly und Klaus fing wieder an zu lachen.
Lilly nahm den Telefonhörer ab: »Höschen.«
»Guten Tag, Fräulein Höschen. Hier ist Hans Gutbrodt. Sie werden sich vielleicht an mich erinnern ...«
»Oh, mehr als mir lieb ist. Was kann ich für Sie tun, Herr Gutbrodt?«
»Ich möchte mich mit Ihnen treffen. Es gibt da etwas zwischen uns zu besprechen, was man nur unter vier Augen tun kann. Und ich möchte Sie auch bitten, Ihrem Neffen nichts zu sagen.«
»Meinem Großneffen.«
»Ja, wie auch immer. Vielleicht können wir uns an einem neutralen Ort treffen, also weder bei mir noch bei Ihnen.«
»Ehrlich gesagt, machen Sie mich neugierig, Herr Gutbrodt. Ich hoffe nur, dass Sie nichts Schlimmes mit mir im Schilde führen.«
Eine Stunde später saß Lilly in ihrem Wagen und fuhr nach Wildemann. Sie war mit Hans Gutbrodt am unteren Spiegeltaler Teich verabredet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sie dort umbringen würde, sah sie nicht als sehr groß an, denn im Sommer, noch dazu bei gutem Wetter, trieben sich dort etliche Feriengäste herum. Wahrscheinlich wollte er wirklich nur einen Ort meiden, an dem man sie kannte. Sicherheitshalber hatte Lilly zu Hause einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem stand: Treffe mich am 8. Juli, 16.00 Uhr mit Hans Gutbrodt am unteren Spiegeltaler Teich. Wenn tatsächlich etwas passieren sollte, würde man ihm also auf die Spur kommen. Als sie ihren Wagen auf dem Waldparkplatz abstellte, sah sie Gutbrodt schon dort stehen. Sie stieg aus und begrüßte ihn mit den Worten: »Na, da bin ich aber mal gespannt, was Sie mir Geheimnisvolles zu erzählen haben.«
»Hallo, Fräulein Höschen. Lassen Sie uns ein Stück gehen. Dahinten im Wald können wir uns auf die Bank setzen. Da sind wir ungestört. Mir liegt schon so lange etwas auf dem Herzen, was ich Ihnen sagen muss.«
»Aber wir haben uns doch erst vor einer Woche zum ersten Mal gesehen. Wenn Sie beichten wollen, sollten Sie einen Pfarrer aufsuchen. Und wenn Sie etwas auf dem Kerbholz haben, gehen Sie am besten zur Polizei. Sollten Sie mich umbringen wollen, so muss ich Ihnen gleich sagen, dass Sie keine Freude daran haben würden. Ich bin ja nicht blöd. Natürlich habe ich jemanden informiert, dass ich mich hier mit Ihnen treffe.«
»Warum sollte ich Sie umbringen wollen? Zugegeben, im Gerichtssaal hätte ich Sie am liebsten erwürgt. Aber darum geht es nicht. Letztendlich konnten Sie ja nichts dafür, was meine Frau angestellt hat. Außerdem sind das im Vergleich zu dem, was ich Ihnen sagen muss, Kinkerlitzchen.«
»Wie geht es Ihrer Frau?«
»Woher soll ich das wissen? Sie ist seit dem Tag der Verhandlung spurlos verschwunden. Aber darum geht es auch nicht.«
»Vielleicht hören Sie mal auf, mir zu erzählen, worum es nicht geht, und lassen die Katze endlich aus dem Sack.«
»Es geht um Ihren Großneffen Amadeus.«
Lilly hatte nicht immer in Lautenthal gelebt. Ihre ersten zehn Lebensjahre hatte sie in der hannoverschen Gegend verbracht. Ihr Vater war im Zweiten Weltkrieg verschollen, und ihre Mutter zog mit ihr und ihrer Schwester, die zwei Jahre älter war, nach Lautenthal. Hier wohnte ein Bruder der Mutter, der früh verwitwet war und nie wieder geheiratet hatte. Außerdem war er kinderlos. Seine Unerfahrenheit mit Kindern führte dazu, dass er die beiden Mädchen seiner Schwester wie Erwachsene behandelte. Kurz nach dem Krieg starb Lillys Mutter und die Schwester ging nach Hannover, wo sie bald darauf heiratete. Lilly lebte ein paar Jahre allein mit ihrem Onkel, machte Abitur und studierte dann in Hamburg. Nach einer unglücklichen Liebe zog es sie zu ihrem Onkel zurück. Sie bekam eine Stelle am Gymnasium in Clausthal und kümmerte sich um ihren Onkel bis zu dessen Tod. Dieser war ein wohlhabender Geschäftsmann gewesen, der in den sechziger Jahren alle Anteile an seinen Unternehmungen in Hannover und anderswo verkauft hatte, um seinen Ruhestand in dem von ihm so geliebten Städtchen Lautenthal zu genießen. Natürlich hatte er Lilly alles vererbt, sein großzügig ausgestattetes Haus und sein Geld. Lilly hatte in all den Jahren in Lautenthal nie wieder eine ernsthafte Beziehung zu einem Mann unterhalten, was sicherlich auch daran lag, dass sie im Laufe der Zeit immer dominanter wurde. Jedenfalls musste dies nach außen hin so wirken. Um nichts in der Welt wäre sie jemals Kompromisse eingegangen oder hätte sich gar untergeordnet. Sicherlich fehlte ihr manchmal eine enge Beziehung. Aber über dieses Stadium war sie mittlerweile hinaus. Sie hatte ihren Großneffen und ein paar Freunde, die mit ihr Pferde gestohlen hätten. Mehr brauchte sie nicht. Trotzdem achtete sie penibel auf ihr Äußeres. Sie ging einmal pro Woche zum Friseur und geizte nicht mit neuen Kleidern. Mit ihrer kleinen, schlanken Figur, ihrem gepflegten blondierten Haar und ihrer guten Körperhaltung konnte sie durchaus beeindrucken. Wenn Lilly einen Raum betrat, schauten alle auf. Sie war immer der Mittelpunkt, ob sie wollte oder nicht. Manch einer wartete schon darauf, dass sie die eine oder andere bissige Bemerkung anbringen würde.
Die Sonne, die durch Lillys Schlafzimmerfenster lugte, hatte sie schon früh aufgeweckt. Sie zog sich ihren Bademantel über und trat auf den Balkon. Von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick über den Talkessel und die baumbestandenen Berge dahinter. Es war erst sechs Uhr, und das kleine Bergstädtchen Lautenthal war noch ziemlich verschlafen. Die roten Dächer unter ihr, die noch unbelebten steilen Straßen, das war immer wieder zum Ergötzen. Sie ließ ihren Blick zum Grün des Teufelsbergs schweifen, dann links daneben zum Bromberg. Mein Gott, dachte Lilly, für diese Aussicht lohnt es sich, aufzustehen. Dann ging sie ins Bad, zog sich an, kochte sich einen Kaffee, aß ein Knäckebrot und ging zur Hintertür in den Garten hinaus, der sich ziemlich steil am Berg hinaufwand. Ganz oben, wo der Garten durch einen Jägerzaun begrenzt wurde, fing der Wald an. Ein Stück darunter hatte Lilly eine Bank platziert, um bei schönem Wetter von hier aus die Aussicht genießen zu können. Nanu, dachte sie, wer sitzt denn da auf meiner Bank? Eine Frau. Wie kommt die denn in meinen Garten? Langsam erklomm sie die vielen Stufen bis zu ihrer Bank und sagte etwas außer Atem: »Guten Morgen. Was machen Sie denn hier?«
Die Frau gab keine Antwort, sondern starrte nur teilnahmslos ins Tal.