Brief an meine Mutter - Georges Simenon - E-Book

Brief an meine Mutter E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Als Georges Simenon in seine Heimatstadt Lüttich kommt, um seine neunzigjährige Mutter während ihrer letzten Tage zu begleiten, richten sich im Krankenhauszimmer zwei Augen von verwaschenem Grau auf ihn. »Warum bist du gekommen, Georges?« So beginnt ein letztes, regloses Duell zwischen Mutter und Sohn. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen war das Leben der Mutter geprägt von Entbehrungen und Enttäuschungen, von unbedingtem Aufstiegswillen, von Sorgen um ihr Auskommen und ihre Außenwirkung. Das Verhältnis zu ihren zwei Ehemännern war kühl, den Ruhm des Sohnes wusste sie nicht zu würdigen. Nie war er gut genug. Haben sie einander je verstanden, haben sie sich je geliebt? Drei Jahre nach ihrem Tod schrieb Simenon seiner Mutter einen Brief. Es ist sein wohl bedeutendster autobiographischer Text, ein schmales Buch von gewaltiger Wirkung.

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Georges Simenon

Brief an meine Mutter

Aus dem Französischen von Melanie WalzMit einem Nachwort von Arnon Grünberg

Gatsby

Donnerstag, 18. April 1974

Meine liebe Mama,

 

es ist nun etwa dreieinhalb Jahre her, dass Du einundneunzigjährig gestorben bist, und vielleicht lerne ich Dich erst jetzt allmählich kennen. Ich habe meine Kindheit und meine Jugend im selben Haus wie Du verbracht, mit Dir, und als ich Dich verließ, um nach Paris zu gehen, im Alter von etwa neunzehn Jahren, warst Du für mich noch immer eine Fremde.

Übrigens habe ich nie Mama zu Dir gesagt, sondern Mutter, wie ich auch meinen Vater nie Papa nannte. Warum? Wie kam das? Ich weiß es nicht. Seitdem bin ich ab und zu für kurze Zeit nach Lüttich gefahren, aber der längste Aufenthalt war der letzte, bei dem ich eine Woche lang im Hôpital de Bavière, wo ich früher einmal Messdiener war, Tag für Tag Deinen Todeskampf miterlebt habe.

Dieses Wort passt übrigens schlecht zu den letzten Tagen vor Deinem Tod. Du lagst ausgestreckt im Bett, umgeben von Verwandten oder von Leuten, die ich nicht kenne. An manchen Tagen drang ich kaum bis zu Dir vor. Ich habe Dich stundenlang betrachtet. Du hast nicht gelitten. Du hattest keine Angst vor dem Sterben. Du hast auch nicht von früh bis spät den Rosenkranz gebetet, obwohl eine Nonne in Schwarz jeden Tag an derselben Stelle auf demselben Stuhl saß.

Manchmal, sogar oft, hast Du gelächelt. Doch das Wort »Lächeln« hat auf Dich angewendet eine andere als die übliche Bedeutung. Du sahst zu uns, die wir Dich überleben und Dich zu Grabe tragen würden, und manchmal verzog sich Dein Mund zu einem ironischen Gesichtsausdruck.

Es wirkte, als weiltest Du bereits in einer anderen Welt, oder eher in Deiner eigenen Welt, Deiner inneren Welt, die Dir vertraut war.

Denn dieses Lächeln, in das sich auch Melancholie und Resignation mischten, kenne ich seit meiner Kindheit. Du hast das Leben ertragen. Gelebt hast Du es nicht.

Es wirkte, als hättest Du auf den Augenblick gewartet, in dem Du endlich auf Deinem Krankenbett ausgestreckt lägest, bereit für den großen Schlaf.

Dein Arzt war ein Freund von mir aus Kindertagen. Er hat mir versichert, dass Du nach der Operation, die er durchgeführt hat, langsam und schmerzlos entschlafen würdest.

Acht Tage hat es gedauert, mein längster Aufenthalt in Lüttich, nachdem ich mit neunzehn Jahren weggegangen war, und wenn ich das Krankenhaus verließ, konnte ich nicht anders, als die Genüsse meiner Jugend zu kosten, Muscheln mit Pommes frites oder Aal grün zu essen.

Ist es schändlich, gastronomische Eindrücke in die von Deinem Krankenzimmer zu mischen?

Ich glaube nicht. All das gehört zusammen. Alles gehört zusammen, ein Alles, das ich zu entwirren versuche und das Du vielleicht vor mir begriffen hast, als Du mich mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Zärtlichkeit angesehen hast.

Wir haben uns zu Deinen Lebzeiten nie gemocht, das weißt Du. Wir beide haben nur so getan als ob.

Heute glaube ich, dass wir uns beide ein falsches Bild voneinander gemacht haben.

Erlangt man, wenn man weiß, dass man bald gehen muss, eine Klarheit, wie man sie vorher nicht kannte? Ich weiß es noch nicht. Dennoch bin ich mir fast sicher, dass Du die Leute, die Dich besuchen kamen, Neffen, Nichten, Nachbarn, wer auch immer, sehr genau abgeschätzt hast.

Und als ich kam, hast Du auch mich abgeschätzt.

Doch was ich in Deinen Augen und Deiner heiteren Miene suchte, war nicht Dein Bild von mir: Was ich zu erkennen begann, war Dein wahres Bild.

*

Ich war ergriffen, besorgt. Am Vorabend hatte ich den Anruf meines alten Mitschülers Orban erhalten, inzwischen Chefchirurg am Hôpital de Bavière, der Dich operiert hatte. Und ich war so schnell wie möglich über die Schweizer Landstraßen und die deutsche Autobahn und zuletzt einen Abschnitt belgischer Landstraßen gefahren.

Unvermittelt fand ich mich vor der großen glänzenden Eingangstür des Hôpital de Bavière wieder, vor der ich als Kind außer Atem ankam, vor allem im Winter, nachdem ich die verlassenen Straßen durchquert und mich, ängstlich, wie ich war, immer in der Mitte der Straße gehalten hatte.

Das Gebäude mit Deinem Zimmer habe ich sofort gefunden. Und Deine Tür, an die ich geklopft habe. Jemand hat geantwortet:

»Herein.«

Ich erschrak, als ich in Deinem engen Krankenzimmer mindestens vier oder fünf Personen sah und eine schwarz gekleidete Nonne, die wie eine Schildwache Dienst zu tun schien.

Ich drängelte mich zu Deinem Bett durch, um Dich zu küssen, und da sagtest Du ganz selbstverständlich, als wäre es das Natürlichste von der Welt:

»Warum bist du gekommen, Georges?«

Diese Worte haben mir vielleicht später, als ich darüber nachdachte, denn ich konnte sie nicht vergessen, ein wenig von Dir erklärt.

Ich habe Dir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Jemand hat seinen Stuhl frei gemacht und mir gereicht. Ich habe Dich eindringlich angesehen. Ich glaube, dass ich Dich in meinem ganzen Leben nie so angesehen habe.

Ich hatte erwartet, eine Sterbende halb im Koma anzutreffen. Ich fand Deine Augen so vor, wie ich sie bereits zu beschreiben versucht habe und wieder beschreiben muss, denn erst allmählich beginne ich sie zu verstehen.

Warst Du erstaunt, mich zu sehen? Hattest Du gedacht, ich würde nicht zu Deinem Sterben und zu Deiner Beerdigung kommen? Hast Du mich für gleichgültig, gar für feindselig gehalten?

War das in diesen Augen von wässrigem Grau eine wirkliche Überraschung oder ein Schalk? Ich kann nicht anders als denken, dass Du wusstest, ich würde kommen, dass Du auf mich gewartet hast, doch da Du immer allen misstraut hast und mir ganz besonders, hattest Du befürchtet, ich würde nicht kommen.

Die Leute um Dich herum waren nicht so rücksichtsvoll, das Zimmer zu verlassen. Ich musste sie dazu nötigen und ihnen sagen, dass ich einen Augenblick mit meiner Mutter allein sein wolle.

Die Nonne hat sich nicht von der Stelle gerührt. Sie ist auf ihrem Stuhl sitzen geblieben, so reglos, so unzugänglich und zweifellos auch so gleichgültig wie eine Skulptur. Sie hat mich nie begrüßt, wenn ich das Zimmer betrat. Sie hat sich auch nie von mir verabschiedet.

Man hätte meinen können, dass sie über die Schlüssel zur Pforte des Todes, zum Paradies und zur Hölle verfügte und darauf wartete, sie zu benutzen.

Wir haben uns lange angesehen. Auf Deinem Gesicht war keine Traurigkeit. Es gab dort kein Gefühl, das ich definieren könnte, ohne Gefahr zu laufen, mich zu irren.

Ein Sieg? Vielleicht. Du warst das dreizehnte von dreizehn Kindern. Dein Vater war bankrott, als Du geboren wurdest. Du warst fünf, als er starb.

Das waren die Anfänge Deines Lebens. Du bliebst allein mit Deiner Mutter zurück. Deine Geschwister waren zerstreut, manche schon unter der Erde. Ihr hattet eine bescheidene Wohnung, mehr als bescheiden, in einer armseligen Straße von Lüttich, und ich habe nie erfahren, wovon Ihr lebtet, Deine Mutter und Du, bis Du mit neunzehn Verkäuferin in einem Kaufhaus wurdest.

Ich habe ein schlechtes Foto von Dir aus dieser Zeit. Du warst hübsch, hattest noch ein rundliches Kindergesicht, aber Deine Augen kündeten bereits von einem eisernen Willen und von einem Misstrauen der ganzen Welt gegenüber.

Deine Lippen versuchten sich an einem Lächeln, aber es war ein freudloses Lächeln, ohne Jugend und bereits voller Bitterkeit, und Dein Blick war unerbittlich auf das Objektiv des Fotografen gerichtet.

»Warum bist du gekommen, Georges?«

Diese wenigen Worte sind vielleicht die Erklärung für Dein ganzes Leben.

 

Als wir allein waren – bis auf die Anwesenheit der Nonne –, hast Du mir nichts zu sagen gewusst, und ich habe Dir auch nichts zu sagen gewusst. Ich habe Deine abgemagerte Hand ergriffen, die auf dem Bettlaken lag. Sie war ohne Wärme, wie kalt und leblos.

Wärst Du tatsächlich enttäuscht oder traurig gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre? Das frage ich mich bis heute.

Die Leute, die sich bei meiner Ankunft in Deinem Zimmer drängten, kanntest Du, Du wusstest, wenn man so will, von jedem, was er von Dir erwartete. Der eine Geld, die andere eines der beiden Buffets aus Deinem Esszimmer, wieder eine andere Wäsche, und so fort. Denn Du hast Dir nie Illusionen gemacht. Du hast nie jemandem etwas geglaubt. Du hast immer, soweit ich mich erinnern kann, Unehrlichkeit und Eigennutz unterstellt.

Ich war keine sechs Jahre alt und gerade in das Institut Saint-André eingetreten, da glaubtest Du schon, ich sei ein Lügner. Und Du bist immer dabei geblieben. Dein letzter Besuch bei mir war in Épalinges. Ich hatte Dich eingeladen, einige Wochen mit mir zu verbringen, und hatte dabei den Hintergedanken, Dich in einer der ausgezeichneten Seniorenresidenzen der Umgebung unterzubringen, denn Du warst schon sehr betagt und hilfsbedürftig.

Épalinges, das ich seit zwei Jahren zum Verkauf anbiete, aber noch nicht abstoßen konnte, ist ein sehr großes Haus von etwas luxuriöser Anmutung. Es erforderte viel Personal. Du brachtest die meiste Zeit dort im Garten zu, im bebenden Schatten einer Birke.

Was Dich beschäftigte, war nicht, wie Du Deine letzten Jahre verbringen würdest. Als es Dir gelang, Dir einen der Angestellten zu schnappen, hast Du ihn mit zweifelndem Blick gefragt:

»Ist das Anwesen wirklich abbezahlt?«

Diese Sorge beschäftigte Dich bereits, als ich Dich nach La Richardière eingeladen hatte. Das war ein Landsitz mit einem großen Teich voller Enten, einem riesigen Gemüsegarten, einem Wald und ein paar Wiesen. Auch dort hast Du einen guten Teil der Zeit in einem Sessel im Freien verbracht. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich damals erst drei Pferde besaß. Dafür war ein Stallknecht erforderlich. Garten und Landwirtschaft wurden von einem Gärtner betreut. Kurzum, auch damals, 1931, gab es genug Leute um mich herum.

Du sahst zu, wie sie kamen und gingen. Du hast sie beobachtet. Und als Du einmal mit Boule allein warst, hast du ihn gefragt:

»Hat mein Sohn viele Schulden?«

In fünfzig Jahren konnte ich Dich nie davon überzeugen, dass ich arbeite und meinen Lebensunterhalt verdiene.

Dieses Misstrauen richtete sich nicht nur gegen mich. Es war Deine zweite Natur. Die kleine fünfjährige Halbwaise, die mit ihrer Mutter allein lebte, konnte nicht an Wunder glauben.

Aber im Grunde war ich der hauptsächliche Gegenstand dieses Misstrauens.

Aus Liebe? Aus Furcht, ich könne mich in eine schwierige Lage bringen? Weil Du von mir wer weiß was für Schurkereien befürchtetest?

Nur Du, Mutter, könntest das beantworten. Ich muss mich mit Vermutungen begnügen, und die Tage an Deinem Sterbebett haben mir dabei vielleicht geholfen.

 

Ich habe Dich eben Mutter genannt, nicht Mama. Weil ich seit frühester Kindheit gewohnt bin, Dich so zu nennen. Ich habe viele Erinnerungen an meine Kindheit, mehr als die meisten Menschen. So unzuverlässig mein Gedächtnis bei Ereignissen aus letzter Zeit ist, so fotografisch genau ist es bei Dingen aus meinen frühen Lebensjahren.

Ich frage mich, ob Du mich je auf den Schoß genommen hast. Wenigstens hat es keine Erinnerungen hinterlassen, was bedeutet, dass es nicht oft vorgekommen sein kann.

Die Wörter »Vater« und »Mutter«, die zu benutzen ich gelernt habe, stammen wahrscheinlich nicht von Dir, und ich kann Dir dafür nicht böse sein. Mein Vater war weichherzig, aber wie alle Simenons, die ich kennengelernt habe, hat er seine Gefühle nie offen gezeigt.

Es gibt eine Sache, an die ich mich erinnere und die vielleicht bezeichnend ist. Eines Tages hast Du in einem Augenblick der Niedergeschlagenheit zu ihm gesagt:

»Wenn ich bedenke, Désiré, dass du nie ›Ich liebe dich‹ zu mir gesagt hast.«

Und mein Vater hat geantwortet, mit feuchten Augen, da bin ich mir sicher:

»Aber du bist doch da.«

War es das, was Dich verhärtet hat? Hast Du die Zwickmühle zwischen den Brülls, von denen Du kamst, und der Sippschaft der Simenons, in die Du eingeheiratet hast, als einschneidend oder gar als verstörend empfunden?