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David lässt seine Maschine aufröhren - und startet zu einer seiner geliebten Motorradtouren. Doch diese endet mit einem schweren Unfall. Bewusstlos bleibt er auf der Straße liegen.
In der Berling-Klinik kommt er wieder zu sich. Sein linkes Bein ist so schwer verletzt, dass es möglicherweise amputiert werden muss. Doch David plagt auch das schlechte Gewissen. Er kann sich glasklar an die Minuten vor dem Unfall erinnern und weiß, dass er etwas Fürchterliches getan hat.
In der Klinik lernt er schließlich die junge Mutter Lea kennen. Ihr Baby ist viel zu früh auf die Welt gekommen, denn auch Lea hatte einen schweren Unfall, verursacht von einem rücksichtslosen Motorradfahrer ...
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Seitenzahl: 146
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Schicksal auf zwei Rädern
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Impressum
Schicksal auf zwei Rädern
Seine Liebe zum Motorrad wird David zum Verhängnis
Von Caroline Steffens
David lässt seine Maschine aufröhren – und startet zu einer seiner geliebten Motorradtouren. Doch diese endet mit einem schweren Unfall. Bewusstlos bleibt er auf der Straße liegen.
In der Berling-Klinik kommt er wieder zu sich. Sein linkes Bein ist so schwer verletzt, dass es möglicherweise amputiert werden muss. Doch David plagt auch das schlechte Gewissen. Er kann sich glasklar an die Minuten vor dem Unfall erinnern und weiß, dass er etwas Fürchterliches getan hat.
In der Klinik lernt er schließlich die junge Mutter Lea kennen. Ihr Baby ist viel zu früh auf die Welt gekommen, denn auch Lea hatte einen schweren Unfall, verursacht von einem rücksichtslosen Motorradfahrer ...
Richard Wegner saß über seine Tageszeitung gebeugt und löste das Kreuzworträtsel, das jeden Samstag auf der letzten Seite war, als er im Stockwerk über sich die Wohnungstür klappen hörte. Er hob den Kopf. Nun kamen Schritte die Treppe herunter. Die Wände im Haus waren hellhörig.
»David?«, rief er, legte seinen Kugelschreiber beiseite und nestelte seine Lesebrille von der Nase.
Es kam keine Antwort.
»David?« Er rief etwas lauter und stemmte sich aus dem Stuhl in die Höhe. Er hörte, wie der Schlüssel, den der Junge für seine Wohnung hatte, im Schloss gedreht wurde.
»Papa? Du hast gerufen?«, vernahm er die Stimme seines Sohnes, der eben den Flur betrat. David erschien unter der Wohnzimmertür.
»Hab ich, ja.« Richard betrachtete vorwurfsvoll die Kleidung seines Jungen, die ihm verriet, was er vorhatte. Er hatte es geahnt. »Du willst doch nicht schon wieder aufs Motorrad?«, fragte er missbilligend.
David hob den rechten Arm und ließ seinen Schlüsselbund um den Zeigefinger kreisen. »Doch. Das Wetter ist herrlich, Papa. Perfekt für eine Tour. Das will ich genießen!«
»Das muss doch wirklich nicht sein. Kannst du dir nicht eine andere Freizeitbeschäftigung suchen? Etwas, was nicht so gefährlich ist wie Motorradfahren?« Verstimmt musterte Richard seinen Sohn.
David seufzte. »Die Diskussion hatten wir schon x-Mal. Ich will jetzt los. Hab einen schönen Nachmittag, Papa. Ich bin am frühen Abend zurück, dann sehe ich nochmal bei dir rein.«
»Fahr nicht wieder so schnell«, wies Richard seinen Sohn an, wohlwissend, dass er ohnehin nicht auf ihn hören würde.
»Bis später«, erwiderte David, nickte ihm zu und verließ das Wohnzimmer. Gleich darauf klappte die Wohnungstür zu.
Niedergeschlagen setzte sich Richard wieder auf seinen Stuhl. Er zog seine karierte Strickjacke zurecht, strich sich mit einer Hand über den dichten grauen Haarkranz auf seinem Kopf und setzte seine Lesebrille wieder auf. Es half ja nichts. Aus Kindern wurden Leute, und David war nun einmal inzwischen vierunddreißig Jahre alt. Längst hatte er keine Handhabe mehr, dem Jungen sein waghalsiges Hobby zu verbieten. Er konnte nur hoffen, dass er heil zurückkehrte, wenn er sich auf den Weg machte.
Richard griff nach seinem Kugelschreiber. Gefährt mit acht Buchstaben, las er in seinem Kreuzworträtsel. Der vierte Buchstabe war ein O. Motorrad. Wie ärgerlich. Widerborstig dachte Richard, dass er den Begriff nicht eintragen wollte. Aber dann kam er mit dem Rätsel nicht weiter. Verstimmt kritzelte er die Buchstaben in die Kästchen. Es würde hoffentlich alles gut gehen. Bisher war es das ja immer. Dennoch, die Sorge blieb ihm, ein ums andere Mal, bis der Junge heil wieder hier war.
***
David Wegner trat vor das Zweifamilienhaus, das seinem Vater gehörte. Er bewohnte die Wohnung im oberen Stockwerk, sein Vater, der nicht mehr ganz so gut zu Fuß war, die im Erdgeschoss.
David hielt das Gesicht in die Sonne. Herrlich. Er würde jetzt Richtung München fahren, sich den Fahrtwind um die Nase wehen lassen, beziehungsweise um den Helm, den er im Moment noch unter dem Arm trug. Er würde die Freiheit genießen, das Dahingleiten auf dem Asphalt, das Gefühl und die Überzeugung, die Maschine zu beherrschen.
Er fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. In seiner Motorradkleidung wurde ihm rasch warm. Es wurde Zeit, dass er losfuhr.
Wenige Minuten später glitt er auf seiner Maschine rückwärts aus der Garage. Er wendete und fuhr auf die Straße.
Innerorts hielt er sich noch an die vorgeschriebene Geschwindigkeit, doch sobald er das Ortsschild von Rottach-Egern passiert hatte, gab er Gas.
Die Landschaft links und rechts der Fahrbahn flog an ihm vorbei. Nur aus den Augenwinkeln nahm er wahr, in welcher Pracht sich die Natur an diesem Spätsommertag zeigte.
Zur linken Seite erstreckten sich saftig-grüne Wiesen, auf denen gelbe Sumpfdotterblumen blühten. Rechts der Straße reihte sich Anhöhe an Anhöhe, hier und da mit Sträuchern bewachsen, die ihre Wurzeln in die felsigen Wände gruben. Dazwischen reckten sich schlanke Tannen zum Himmel.
In einer Kurve geriet er ein Stück auf die Gegenfahrbahn. Ein Lkw-Fahrer zeigte seinen Ärger darüber mit der Lichthupe. Es interessierte ihn nicht, es war ja nichts passiert.
Schon näherte er sich Holzkirchen. Er musste langsamer fahren. Vor ihm stauten sich einige Autos, aufgehalten von einem landwirtschaftlichen Fahrzeug. Der Traktor fuhr bedächtig die Straße entlang. Er zog einen Anhänger nach sich, bis oben hin beladen mit Heuballen. Aus den Ballen lösten sich kleinere Mengen an Stroh und fielen herunter.
Die Gegenfahrbahn war frei, doch keiner der Autofahrer vor David setzte zum Überholen an. Unmöglich! Worauf warteten sie alle? Gut, in einiger Entfernung war eine lang gezogene Kurve, doch bis dahin war noch ein weiter Weg. David setzte den Blinker, gab Gas und zog mit einer schwungvollen Bewegung nach links, wobei er sein Gewicht auf eben diese Seite legte. In hohem Tempo fuhr er an sämtlichen Autos vorbei.
Jemand hupte, empört und lang anhaltend. Es interessierte ihn nicht. Wenn er ehrlich war, gefiel es ihm sogar. Ein dunkler Wagen kam ihm entgegen und blinkte mehrfach und heftig auf. David spürte pures Adrenalin, erhöhte noch einmal die Geschwindigkeit und konnte knapp vor dem landwirtschaftlichen Fahrzeug wieder auf die rechte Spur ziehen. Dem entgegenkommenden Auto war er bereits so nahe gekommen, dass er den Fahrer hinter dem Steuer hatte sehen können, der aufgebrachte Worte ausstieß, die er sich nur erschließen konnte.
David brauste die Straße entlang. Immer wieder überholte er, auf breiten Straßen manchmal auch trotz Gegenverkehr, schließlich kam er mit seinem Motorrad gut zwischen den anderen Verkehrsteilnehmern durch.
Endlich lag ein Stück Landstraße völlig frei vor ihm. Nur ein Radfahrer zockelte träge die Fahrbahn entlang, in die gleiche Richtung, in die David fahren wollte.
Wieder gab er Gas. Rasch schloss er zu dem Radfahrer auf. Er ließ den Motor seiner Maschine aufröhren. Er liebte dieses Geräusch, fühlte sich stark und frei dabei. Der Radler verriss den Lenker, als er an ihm vorbeizog. David erschrak und sah in den Rückspiegel. Rad und Fahrer strauchelten, und schon stürzten beide seitlich der Fahrbahn die Schrägung hinunter.
Davids Puls schoss nach oben. Heiße Panik durchlief ihn. Er umklammerte die Griffe des Motorrads und jagte die Straße entlang. Er hatte einen Unfall verursacht. Wie konnte das sein? Er hatte doch nur überholt.
Ihm brach der Schweiß aus. Statt der Straße, die vor ihm lag, sah er die verunglückte Person, von der er nicht einmal hätte sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war, jung oder alt, mit verrenkten Gliedern irgendwo auf dem abschüssigen Gelände liegen.
Sein Motorrad flog förmlich über das asphaltierte Band der Fahrbahn. Wie unter Zwang steuerte er die Maschine.
Im schlimmsten Fall wurde der Verletzte gar nicht gefunden. Von einem Auto aus konnte man nicht über den Abhang hinuntersehen, er kannte die Stelle gut. Das Rad war ebenfalls abgestürzt. Es gab also keinen Hinweis, dass dort ein Unglück passiert war.
Und im noch viel schlimmeren Fall, war der Verletzte nicht nur verletzt, sondern...
David überlief es eiskalt, trotzdem er unter seinem Anzug schweißnass war. Er musste nachsehen und helfen. Doch wenn er nun zurückfuhr, konnte er sein Auftauchen an der Unfallstelle nur mit der Wahrheit erklären. Es war völlig unmöglich, vom Motorrad aus über die Böschung zu sehen. Er konnte nur zugeben, dass er den Absturz beobachtet hatte. Der Rest erklärte sich vermutlich von selbst, schon gar, wenn der Verletzte etwas zum Unfallhergang sagen konnte.
Er näherte sich einer Kreuzung. Dort konnte er umkehren. David beschloss, nicht weiter nachzudenken. Vielleicht war ja alles halb so schlimm. Auf Höhe der Kreuzung angekommen, warf er einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm war alles frei. Gegenverkehr kam auch gerade keiner. Er zog den Lenker herum und merkte sofort, dass er zu heftig gewendet hatte, und zudem in zu hoher Geschwindigkeit. Neues Entsetzen schoss in ihm auf. Die Maschine geriet in Schieflage. Er schaffte es weder, das Tempo zu senken, noch, sie wieder aufzurichten. Das Motorrad kippte endgültig zur Seite.
Er spürte den Aufprall auf der linken Körperseite mit unvorstellbarer Heftigkeit. Mitsamt seinem Motorrad schlitterte er die Straße entlang, zu keiner Handlung mehr fähig. Sein linker Arm, die Schulter, die Hüfte, das Bein, alles schien zu glühen und von dem Asphalt in Fetzen gerissen zu werden. Auch sein Helm schliff über die Fahrbahn. David meinte, Funken sprühen zu sehen.
Unvermittelt wurde es dunkel um ihn.
***
Dr. Stefan Holl saß in seinem Büro in der Berling-Klinik und las den OP-Bericht einer Patientin, die sich aufgrund einer Eileiterschwangerschaft einer Notoperation hatte unterziehen müssen. Den Eingriff hatte Dr. Monika Linden vorgenommen. Die Patientin hatte sich in der siebten Woche befunden, und der Eileiter war bereits stark geschädigt gewesen. Eine Entfernung war unumgänglich gewesen.
Dr. Holls Diensthandy vibrierte. Er sah auf das Display. Er wurde in die Notaufnahme gerufen. Rasch stand er auf und verließ den Raum. Seine Sekretärin, Moni Wolfram, sah von ihrem Computerbildschirm zu ihm.
»Ich muss in die Notaufnahme«, informierte er sie im Vorübereilen.
»Alles klar«, erwiderte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Stefan lief mit schnellen Schritten den Flur entlang, in Richtung Aufzug. Er fuhr hinunter, ins Tiefgeschoss.
Als er die Kabine verließ, kam ihm Dr. Daniel Falk entgegen, der Chefarzt der Chirurgie und sein bester Freund.
»Stefan«, begrüßte Daniel ihn. »Zu dir wollte ich gerade.«
»Ich bin in Eile, Daniel. In der Notaufnahme liegt eine Schwangere, die schwer gestürzt ist. Vermutlich müssen wir das Kind vorzeitig holen«, informierte Stefan den Kollegen.
»Dann komme ich später in dein Büro«, beschloss Daniel.
»Wenn du mich zurück zur Notaufnahme begleitest, kannst du mir gerne die wichtigsten Infos gleich geben«, antwortete Stefan.
»Sicher.« Daniel lief neben ihm her, durch den langen, von LED-Lampen erhellten Flur mit den weiß gekalkten Wänden und dem hellgrauen Kautschuk-Belag auf dem Boden. »Eben ist ein Patient eingeliefert worden, der einen Motorradunfall hatte. Er hat etliche Verletzungen, unter anderem mehrere Brüche im linken Bein und einen Trümmerbruch im Knie. Meiner Einschätzung nach ist das Knie nicht zu erhalten. Ich ziehe eine Amputation in Erwägung. Dazu hätte ich gerne deine Meinung.«
»Ich sehe mir die Röntgenbilder und die Unterlagen nachher an«, versprach Stefan. »Ist der Patient bei Bewusstsein?«
»Mittlerweile wieder, ja. Er hat ein starkes Schmerz- und Beruhigungsmittel bekommen«, sagte Daniel.
»Gut. Ich melde mich, sobald ich Zeit finde.«
Sie waren vor der zweiflügeligen Tür mit der Milchglasscheibe angekommen, über der in großen, leuchtend roten Buchstaben ›Notaufnahme‹ stand.
»Ich danke dir«, sagte Daniel.
Stefan nickte ihm zu, hob grüßend die Hand und drückte auf den roten Knopf rechts neben der Tür. Die beiden gläsernen Flügel öffneten sich, und er betrat Notfallstation.
***
Lea Buchner konnte nicht mehr aufhören, zu weinen. Sie lag auf der Transport-Liege, mit der sie von den Rettungssanitätern in die Berling-Klinik gebracht worden war. Immer wieder ging ein ziehender Schmerz durch ihren Rücken und ihren Unterleib, und auch ihr Kopf tat fürchterlich weh. Übel war ihr auch.
Eine Krankenschwester, die etwa in ihrem Alter sein mochte, kam zu ihr und legte ihr sanft die Hand auf den Arm.
»Hallo, Frau Buchner. Mein Name ist Christina Breidner. Wir bringen Sie jetzt ins Untersuchungszimmer. Der Chefarzt persönlich sieht gleich nach Ihnen.«
Der Chefarzt persönlich? So schlimm war es also?
»Was ist mit meinem Baby?«, schluchzte Lea verzweifelt.
»Das wissen wir gleich.« Schwester Christina streichelte tröstend über Leas Arm.
»Es tut so weh.« Lea schluchzte immer heftiger. »Und mir ist so schlecht.«
»Sie bekommen sofort eine Schale, falls Sie sich übergeben müssen«, sagte die Schwester. Sie trat hinter die Liege und schob sie über den Flur, zu einem der vielen Räume, die seitlich vom Gang abgingen. Sie öffnete die Schiebetür. »So, da sind wir!«
Lea sah eine große Lampe an der Decke und Regale und Hängeschränke, unter denen sich in durchsichtigen Schüben all die Dinge befanden, die ihr in einem Arztzimmer Angst machten. Vornehmlich Spritzen und Kanülen. Aber auch Scheren, Pflaster und Verbände und einen Stapel nierenförmiger Schalen aus Pappe sah sie. Auf einem Schreibtisch stand ein Computer, und neben diesem befand sich ein Ultraschall-Gerät.
Schwester Christina reichte ihr eine der Pappschalen. Lea hatte kaum die Kraft, sie zu halten. Mit zitternder Hand legte sie die Schale auf ihre Beine.
»Hallo, Frau Buchner«, hörte sie eine sympathische männliche Stimme. Ein Arzt trat an ihre Liege. »Mein Name ist Doktor Stefan Holl, ich bin der Chefarzt der Berling-Klinik und Gynäkologe. Erzählen Sie mir bitte kurz, was passiert ist.«
Freundlich sah er sie an. So groß Schock und Entsetzen ob des Erlebten waren, seine Anwesenheit beruhigte sie ein wenig.
»Ich bin mit dem Rad eine Böschung hinuntergestürzt. Danach haben sofort die Schmerzen eingesetzt, im Bauch und im Rücken«, berichtete sie unter Tränen. »Ich konnte nicht mehr aufstehen, und auch mein Kopf tut sehr weh. Eigentlich tut mir alles weh.«
»Sie haben vermutlich eine Gehirnerschütterung. Wir werden Sie genau untersuchen, doch fürs Erste sollten wir nachsehen, wie es Ihrem Baby geht«, sagte Dr. Holl. Er gab Schwester Christina ein Zeichen, die das Ultraschall-Gerät zu ihnen schob, und setzte sich auf einen Hocker neben ihre Liege.
»Machen Sie bitte den Bauch frei«, bat er. Mühsam nestelte Lea ihr T-Shirt hoch. Dabei fiel die Pappschale zu Boden. Die Krankenschwester hob sie auf und gab ihr eine Neue.
»In der wievielten Woche sind Sie?«, fragte Dr. Holl und schaltete das Gerät ein.
»In der sechsundzwanzigsten«, erwiderte Lea und konnte endlich aufhören, zu weinen. Wieder ging ein ziehender Schmerz durch ihren Leib. Sie stöhnte auf. Dr. Holl verzog keine Miene, sondern gab Gel auf den Ultraschall-Kopf.
»Achtung, jetzt wird es gleich kühl«, bereitete er sie auf die Untersuchung vor. »Hier können sie Ihr Baby sehen«, sagte er und wies mit der freien Hand zum Bildschirm des Geräts.
Lea sah graue und weiße Schlieren und in einer ovalen, dunklen Hülle ihr Kind. Es lag auf dem Rücken, die winzigen Beinchen an den Bauch gezogen. Erneut stiegen Lea Tränen in die Augen. Es war so klein, so hilflos. Sie liebte es jetzt schon von ganzem Herzen, wollte es beschützen und alles Leid von ihm fernhalten. Und doch war sie schuld, dass sie beide jetzt hier lagen.
»Ist alles in Ordnung, Herr Doktor?«, wisperte sie. Sie konnte kaum sprechen.
»Soweit ich das beurteilen kann, ja. Dennoch sollten wir einen Kaiserschnitt machen«, sagte Dr. Holl ruhig. Er nahm den Schallkopf von ihrer Bauchdecke und reichte ihr ein paar Papiertücher, damit sie sich von dem Gel säubern konnte.
»Jetzt?« Entgeistert sah sie ihn an.
»Ja.« Dr. Holl lächelte beruhigend. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Kind kommt zwar etwas zu früh zur Welt, doch es ist lebensfähig.«
»Lebensfähig?« Ein Zittern durchlief sie.
»Ja. Außerdem werden Sie beide von uns allen Unterstützung bekommen, die Sie brauchen«, versicherte Dr. Holl.
»Aber warum der Kaiserschnitt? Und warum jetzt?« Sie konnte es nicht fassen und hatte das Gefühl, erneut in einen Abgrund zu stürzen. Es war doch noch viel zu früh.
»Durch den Sturz wurde die Plazenta beeinträchtigt«, sagte Dr. Holl ruhig. »Haben Sie keine Angst. Es wird alles gut.«
Nichts wurde gut, gar nichts. Lea fror und zitterte. Dr. Holl griff nach ihrem Handgelenk und sah auf seine Uhr.
»Christina, Blutdruck bitte«, sagte er kurz darauf. Lea spürte, wie die Schwester ihr die Manschette um den linken Oberarm legte. Sie bedeckte mit dem rechten Arm ihre Augen, hörte ein leises Geräusch und begriff, dass nun auch die zweite Pappschale heruntergefallen war.
Die Manschette füllte sich mit Luft und schloss sich immer fester um ihren Arm.
»Können wir jemanden für Sie anrufen? Ihren Mann vielleicht?«, fragte Dr. Holl.
»Mein Mann ist vor ein paar Monaten verstorben. Herzinfarkt«, flüsterte Lea. Sie sah Lars vor sich und meinte plötzlich, er stünde neben ihrer Trage. Sie hätte so gerne seine Hand genommen. Langsam entwich die Luft aus der Manschette.
»Das tut mir sehr leid, Frau Buchner. Gibt es sonst jemanden, den wir verständigen können?«, fragte Dr. Holl weiter.
»Meine Mutter. Astrid Weigandt.«
Sie hörte das Ratschen des Klettverschlusses, als die Krankenschwester das Blutdruckmessgerät abnahm.
»Achtzig zu sechzig«, sagte sie.
Eine neue Schmerzwelle erfasste Lea. Sie keuchte und ballte die Hände zusammen.
»Wir kümmern uns darum«, versprach Dr. Holl. Er stand auf. »Sie werden jetzt für die Operation vorbereitet. Ich werde Ihr Kleines selbst auf die Welt holen.«
Lea brach erneut in Tränen aus. Angst und Verzweiflung überrollten sie förmlich.
»Es wird alles gut«, versicherte Dr. Holl noch einmal. Wie konnte es das? Der Arzt entschwand ihrem Blickfeld. Schwester Christina beugte sich über sie.
»Sie und Ihr Kind sind bei unserem Chef in allerbesten Händen«, versprach sie.
Lea schluchzte auf. So unendlich verzweifelt hatte sie sich das letzte Mal gefühlt, als sie davon erfahren hatte, dass Lars nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Folgte ihm nun ihr gemeinsames Kind, noch ehe es eine Chance auf sein Leben bekommen hatte?
Sie spürte einen Einstich im Arm. Schwester Christina hatte einen Zugang gelegt. Sie fixierte die Nadel mit Pflastern. Lea sah nicht hin. Noch immer war die Schwester beschäftigt.