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Erzieherin Lina ist nach dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben. So fängt sie bei einem Maklerbüro an. Fünf Jahre später ist sie erneut arbeitslos, da der Makler in Rente gegangen ist. Im Internet entdeckt sie eine Anzeige, in der eine Nanny gesucht wird. Kurzerhand bewirbt sie sich und wird sich mit dem gut aussehenden Witwer einig. Wenige Tage später tritt Lina ihre Stelle an, um sich um die beiden Kinder Tilda und Max zu kümmern.
Oft muss Lina an ihre Tochter denken, die nun im Alter von Tilda wäre. Während der kleine Max ihr Zuneigung entgegenbringt, hält seine Schwester sich oft fern. Lina versucht behutsam, Vertrauen aufzubauen. Als sich Tilda mal wieder vor ihr versteckt, betritt Lina zum ersten Mal den Dachboden der Familie. Dort fällt ihr Blick auf eine Staffelei. Darauf ist die Zeichnung eines Babys in einem rosa Strampelanzug. Ihr kommt ein entsetzlicher Verdacht ...
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Seitenzahl: 144
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Fügung des Schicksals
Vorschau
Impressum
Fügung des Schicksals
Wie Lina nach vielen Jahren ihre verschwundene Tochter wiederfand
Von Caroline Steffens
Erzieherin Lina ist nach dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben. So fängt sie bei einem Maklerbüro an. Fünf Jahre später ist sie erneut arbeitslos, da der Makler in Rente gegangen ist. Im Internet entdeckt sie eine Anzeige, in der eine Nanny gesucht wird. Kurzerhand bewirbt sie sich und wird sich mit dem gut aussehenden Witwer einig. Wenige Tage später tritt Lina ihre Stelle an, um sich um die beiden Kinder Tilda und Max zu kümmern.
Oft muss Lina an ihre Tochter denken, die nun im Alter von Tilda wäre. Während der kleine Max ihr Zuneigung entgegenbringt, hält seine Schwester sich oft fern. Lina versucht behutsam, Vertrauen aufzubauen. Als sich Tilda mal wieder vor ihr versteckt, betritt Lina zum ersten Mal den Dachboden der Familie. Dort fällt ihr Blick auf eine Staffelei. Darauf ist die Zeichnung eines Babys in einem rosa Strampelanzug. Ihr kommt ein entsetzlicher Verdacht ...
Lina Seibold schlug die Augen auf. Durch die Spalten der Schlafzimmer-Jalousie drang das Licht der Morgensonne. Eine Weile blieb sie auf dem Rücken liegen. Sie versuchte sich zu erinnern, welcher Tag heute war. Es war Samstag. Sie tastete nach ihrem Handy, das auf dem Nachtschränkchen lag. Es war zehn Uhr am Morgen.
Mühsam setzte sie sich auf und schob die Beine über die Bettkante. Sie hatte erst nicht einschlafen können, später schlecht geträumt und war mehrmals in der Nacht aufgewacht. Nun fühlte sie sich alles andere als ausgeruht.
Lina stand auf, ging ins Bad und vermied den Blick in den Spiegel, so gut sie konnte. Nachdem sie sich die Zähne geputzt und ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Küche. Dazu musste sie über den Flur gehen, wo der Garderobenschrank mit der verspiegelten Tür stand. In einem Moment der Unachtsamkeit nahm sie sich aus den Augenwinkeln im Spiegel wahr. Sie zögerte und wandte sich ihm dann doch zu, um sich zu betrachten. Ihre dunklen, noch ungekämmten Haare fielen in weichen Wellen über ihre Schultern. Auch beim genauen Hinsehen konnte sie noch keine graue Strähne entdecken, trotz ihrer inzwischen fünfundvierzig Jahre.
Das lange Negligé umspielte ihre Waden und verbarg das eine oder andere Pfund, das sie gerne losgeworden wäre. Doch wie sollte das gehen, wenn die Tage leer waren, ohne Inhalt und Aufgabe, und sie zwischen den Mahlzeiten Gummibärchen und Schokolade naschte? Und sich zudem nicht aufraffen konnte, sich mehr zu bewegen als notwendig?
Lina trat näher an den Spiegel und musterte sich, unerwarteter Weise bereit, sich selbst ins Gesicht zu blicken.
Ihre Haut war glatt und fest, nur um die Augen sah sie die ersten winzigen Fältchen. Ihre Mundwinkel tendierten nach unten.
Abrupt wandte sich Lina ab, ging in die Küche und schaltete den Kaffeeautomaten ein. Während es in dem Gerät blubberte und zischte, und das Aroma des Kaffees den Raum füllte, dachte sie, mit dem Rücken an die Arbeitsfläche gelehnt, dass es so nicht weitergehen konnte.
Seit vier Wochen war sie arbeitslos. Gernot Kalupke, der Inhaber des Maklerbüros »Kalupke-Immobilien«, bei dem sie als Sekretärin gearbeitet hatte, war in Rente gegangen und hatte seine Firma aufgelöst.
Eine neue Anstellung hatte Lina nicht in Aussicht. Wobei man der Ehrlichkeit halber sagen musste, dass sich ihre Bemühungen diesbezüglich bisher in Grenzen gehalten hatten. Sie konnte sich einfach nicht aufraffen. Doch je länger sie mittlerweile zu Hause war, umso elender fühlte sie sich. Bilder aus der Vergangenheit stiegen auf, die sie seit jenem verhängnisvollen Tag vor fast fünf Jahren begleiteten. Bilder, die sie ihr restliches Leben nicht mehr loswerden würde. Bilder von Sophie, ihrer Tochter.
Der Arbeitsalltag bei Kalupke hatte sie zumindest ein wenig abgelenkt – aber das war vorbei. Lina presste die Finger gegen die Schläfen.
Der Kaffee war durchgelaufen. Mit zitternder Hand nahm sie die Tasse und setzte sich damit an den Küchentisch. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, sah sie ins Leere. Der wunderbare Sommertag tauchte vor ihren Augen auf und ihr kleines, zartes Baby. Ihr Kind, ihr Glück, ihre Seligkeit. Sie erinnerte sich an die samtweiche Haut der Kleinen und den wundervollen Duft, den das kleine Wesen an sich hatte. In Linas Brust wurde es eng. Sie bekam keine Luft mehr.
Sie stand so hastig auf, dass der Stuhl gefährlich kippelte. Mit schnellen Schritten lief sie zum Briefkasten, um die Tageszeitung herauszuholen. Sie würde jetzt die Stellenangebote durchsehen. Irgendetwas war sicher dabei.
Zehn Minuten später wusste sie – es war nichts dabei. Eine Holz- und Papierverarbeitungsfirma suchte einen Industriemechaniker, bei der Diakonie wurde ein Psychotherapeut gebraucht, ein Frisörsalon suchte eine Stylistin. Für all diese Stellen fehlte ihr die Qualifikation.
Niedergeschlagen schob sie die Zeitung von sich. In dem Augenblick klingelte ihr Handy, das auf dem Fensterbrett direkt neben ihr lag. Auf dem Display lächelte ihr Freundin Maja entgegen.
Lina nahm das Gespräch an. »Hey meine Liebe. Guten Morgen.«
»Hallo, Lina. Von wegen ›Guten Morgen‹.« Maja lachte. »Es ist schon bald Mittag.«
»Ja, das stimmt. Entschuldige.« Lina bemühte sich ebenfalls um ein Lachen. »Ich habe letzte Nacht sehr schlecht geschlafen und bin heute Morgen deswegen nicht aus dem Bett gekommen. Mein Zeitgefühl ist ein bisschen durcheinander.«
»Das kann passieren. Ich wollte dich fragen, ob du heute Abend vorbeikommen willst? Ludwig ist zum stellvertretenden Betriebsleiter befördert worden, und wir wollen ein bisschen feiern. Wir grillen, es gibt Nudelsalat und die Röslers kommen auch.«
Lina fuhr mit der Fingerspitze über eine Maserung in der Holzplatte des Küchentisches. Nach Geselligkeit war ihr gar nicht. Majas Mann Ludwig war eine echte Frohnatur, was sie seit dem entsetzlichen Vorfall vor knapp fünf Jahren sehr anstrengend fand. Röslers, die Nachbarn von Maja und Ludwig, waren zwar sehr nett, aber ihr Lieblingsthema waren die steten Urlaubsreisen, die sie seit dem Eintritt ins Rentenalter mit ihrem Wohnmobil unternahmen. Dazu zeigten sie gerne die unzähligen Bilder, die sie unterwegs mit dem Handy aufgenommen hatten und ließen auch nicht locker, wenn der jeweilige Gesprächspartner total erschöpft war.
»Das ist lieb, Maja. Aber ich glaube, ich bleibe lieber zu Hause«, wandte sie ein.
Maja seufzte. »Wie immer. Ich dachte es mir schon. Du musst raus und unter die Leute, Lina.«
»Ich weiß. Ich will ja auch wieder arbeiten. Eben habe ich die Stellenanzeigen in der Tageszeitung durchgesehen. Es war nichts dabei.«
Maja lachte auf. »In der Tageszeitung? Liebes, wo lebst denn du? Du musst im Internet gucken. Wer gibt denn heute noch ein Stellenangebot in der Presse auf?«
Lina durchlief es unangenehm warm. Auf die Idee war sie nicht gekommen.
»Ein paar waren drin«, verteidigte sie sich. »Es war halt für mich nichts Passendes.«
»Also nächster Versuch: Internet«, wiederholte Maja.
»Ich guck da gleich auch noch«, erwiderte Lina rasch.
Maja lachte erneut. »Sehr schön. Was ist jetzt mit heute Abend?«
»Ich überlege es mir«, antwortete Lina ausweichend.
»Bring doch bitte ein paar von deinen wunderbaren Pizza-Ecken mit«, bat Maja sanft, als hätte sie bereits zugesagt.
»Ich sag dir noch Bescheid, ob ich komme«, entzog sich Lina erneut.
♥♥♥
Lina scrollte die Seite mit den Stellenangeboten herunter. Tatsächlich gab es hier sehr viel mehr Möglichkeiten als in der Tageszeitung. Auf unterschiedlichsten Karriereportalen hatte sie bereits recherchiert. Trotzdem war kaum etwas dabei, was für sie infrage kam.
Ein bekanntes Café in der Innenstadt suchte Servicekräfte zunächst in Teilzeit, langfristig gegebenenfalls in Vollzeit, gerne auch berufsfern. Vielleicht sollte sie sich dort melden.
Eine Schreinerei suchte eine qualifizierte Sekretärin. Ob sie qualifiziert war, hätte sie nicht sagen können. Kalupke hatte ihr ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Aber sie war keine gelernte Sekretärin, sondern hatte auch bei ihm als Quereinsteigerin angefangen. Lina machte sich dennoch einen Vermerk.
Ein alleinerziehender Vater suchte für seine Kinder, fünf und zwei Jahre alt, eine Nanny. Sie las die Anzeige, die nur aus zwei Zeilen bestand, mehrfach. Es stand eine Handynummer dabei, mehr nicht. Keine Informationen über die Hintergründe, die angedachte Arbeitszeit oder gar die Bezahlung.
Lina lauschte in sich hinein. Traute sie sich diese Aufgabe zu? Konnte sie es riskieren, für zwei kleine Kinder da zu sein? Einerseits war es ihr erlernter Beruf, mit Kindern zu arbeiten. Womöglich war diese Anzeige ein Wink des Schicksals, nach vorne zu sehen. Andererseits ... vielleicht riss diese Arbeit Wunden auf, vielleicht überforderte sie sich? Doch wenn sie es nicht versuchte, würde sie es auch nicht erfahren. Und sicher gab es eine Probezeit. Wenn sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte, konnte sie wieder aufhören.
Lina griff nach ihrem Telefon und wählte die angegebene Nummer.
Das Freizeichen ertönte, aber abgehoben wurde nicht. Sie wollte den Gesprächsversuch eben beenden, als doch noch jemand ranging.
»Gerber«, hörte sie einen gestresst klingenden Mann.
»Lina Seibold, guten Tag«, sagte sie. »Ich rufe wegen Ihrer Annonce an. Ich meine, wegen dem Stellenangebot. Sie suchen eine Nanny.«
»Ah ja.« Der Mann sprach gedehnt.
»Oder ist die Stelle schon vergeben?«, fuhr sie fort. Dann sollte es wohl nicht sein.
»Nein. Es waren zwar schon zwei Bewerberinnen hier, aber ich habe mich noch nicht entschieden. Sie können sich gerne auch noch vorstellen. Haben Sie schon einmal mit Kindern gearbeitet?« Er hatte eine angenehme Stimme.
»Ja. Ich bin von Beruf Erzieherin, habe allerdings in den letzten Jahren in einem Maklerbüro gearbeitet«, gab Lina Auskunft.
»Oha. Das ist ein ziemlicher Spagat. Darf ich fragen, warum?«
Sie fühlte sich wie auf dem Prüfstand. Doch es war ja legitim, dass er sich erkundigte.
»Der Berufswechsel hatte private Gründe«, wich sie dennoch aus. Ihr persönliches Schicksal ging Gerber nichts an.
»Verstehe.« Nun sprach er wieder gedehnt. »Und nun wollen Sie quasi in Ihren ursprünglichen Beruf zurück?«
»Nicht unbedingt. Ich war bei ›Kalupke-Immobilien‹ angestellt. Herr Kalupke ist in Rente gegangen und hat seine Firma aufgelöst. Ich suche einfach nur wieder Arbeit. Da ich Erfahrung mit Kindern habe, dachte ich, ich melde mich bei Ihnen.«
»Ja. Nun gut. Wir sollten uns kennenlernen. Geht es morgen Vormittag bei Ihnen? Sagen wir, gegen elf Uhr?«
Morgen war Sonntag. Doch das mochte ihm als alleinerziehendem Vater, der ein Kindermädchen suchte, egal sein.
»Ja, das ist möglich«, erwiderte Lina nur.
»Schön. Ich gebe Ihnen meine Adresse. Haben Sie etwas zu schreiben?«
Lina notierte sich die Anschrift des Mannes.
»Dann bis morgen«, verabschiedete Gerber sich.
»Bis morgen.«
♥♥♥
Lina zog ein hellgelbes Sommerkleid über, bürstete sich die Haare und verließ das Bad. Auf dem Flurschrank stand die Plastikdose mit den Pizza-Ecken. Zwei Stunden, so hatte sie sich vorgenommen, würde sie bleiben. Einen guten Grund zeitig nach Hause zu gehen hatte sie allemal. Schließlich hatte sie morgen Vormittag den Termin mit Herrn Gerber. Zu dem wollte sie ausgeruht und frisch erscheinen.
Sie verließ ihre Wohnung, die im Erdgeschoss des Dreifamilienhauses lag, in dem sie seit der Trennung von ihrem Mann Paul vor vier Jahren wohnte. Bis zum Haus ihrer Freundin Maja war es nicht weit, nur etwa zehn Minuten zu Fuß.
Langsam ging Lina den Bürgersteig entlang. Über ihrem Arm trug sie den Korb mit den Pizza-Ecken. Auf der anderen Straßenseite kam ihr eine Frau entgegen, die einen Kinderwagen schob. Lina bemühte sich, nicht hinzusehen.
Kurz darauf stand sie vor dem gepflegten Einfamilienhaus, in dem Maja und ihr Mann wohnten, und drückte auf die Klingel. Obwohl sie den Garten der Eheleute nicht sehen konnte, da er sich hinter dem Haus befand, hörte sie Stimmen und Gelächter. Offenbar waren noch mehr Gäste gekommen.
Die Tür wurde geöffnet. Maja stand im Flur und strahlte sie an. Ihre schwarzen Haare, zum kinnlangen Bob geschnitten, umrahmten ihr Gesicht, und ihre Wangen waren gerötet.
»Lina, wie schön, dass du hier bist. Komm rein.« Sie umarmte die Freundin stürmisch, kaum, dass sie das Haus betreten hatte. »Stell dir vor, überraschend sind noch zwei Kollegen von Ludwig dazugekommen. Die Stimmung ist super. Magst du ein Glas Sekt?«
»Nur etwas Alkoholfreies, bitte«, erwiderte Lina.
»Aber Schätzchen. Du bist doch wieder zu Fuß gekommen, oder?« Maja hängte sich bei ihr unter. »Und der Abend fängt erst an.«
»Dann nehme ich gerne eine Weinschorle«, lenkte Lina ein.
»Gut. Und dann stoßen wir auf den Abend an. Was macht die Stellensuche? Warst du im Internet?« Maja dirigierte sie durch den Flur und durch das Wohnzimmer, von dem aus man in den Garten kam.
»Ja. Ich habe mich bei einem Herrn Gerber beworben. Er sucht eine Nanny für ... seine Kinder.« Sie wusste nicht einmal, ob er Jungen oder Mädchen hatte, oder beides.
»Du willst eine private Stelle annehmen? Als Nanny?« Jäh blieb Maja stehen und sah ihre Freundin überrascht an.
Die zuckte mit den Schultern. »Warum denn nicht?« Lina spürte einen Anflug von Trotz und Unsicherheit.
Maja hob entschuldigend die Hände. »Ja, gut. Wenn du meinst.«
Dass die Freundin nicht überzeugt war von ihrem Entschluss, das merkte Lina deutlich.
»Ich will es jedenfalls versuchen«, erwiderte sie entschlossen.
Maja strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Komm, ich stelle dich Tobias Schneider und Christian Metzen vor, den Kollegen von Ludwig«, sagte Maja.
♥♥♥
Es war kurz nach 22 Uhr, als Lina beschloss, den Heimweg anzutreten. Der Grillabend war unterhaltsamer und entspannter gewesen, als sie gedacht hatte.
Wie zu erwarten gewesen war, protestierte Maja zunächst und schlug ihr vor, sich zur gegebenen Zeit ein Taxi zu nehmen, falls sie zu später Stunde den einsamen Weg durch die nächtliche Dunkelheit fürchten sollte. Doch der machte Lina keine Angst. Straßenlaternen säumten den Weg, und seit der Sache mit Sophie war sie abgestumpft gegenüber möglichen Gefahren, die ihr drohen konnten.
Maja resignierte schließlich und nahm Lina noch das Versprechen ab, sich sofort nach dem Vorstellungsgespräch zu melden. Lina versprach es der Freundin, verabschiedete sich dann und trat den Heimweg an.
Nach etwa der Hälfte der Strecke hörte sie unter einer Hecke, die dicht am Gehsteig wuchs, ein leises klägliches Maunzen. Lina blieb stehen und lauschte. Wieder maunzte es, hilflos und ängstlich. Sie nahm das Handy aus ihrem Korb, schaltete die Lampenfunktion ein und ging in die Hocke. Im Schein der Taschenlampe sah sie unter den Zweigen ein winziges Kätzchen, honigfarben, mit weißen Streifen. Es mochte erst ein paar Wochen alt sein und sah erbärmlich mager aus. Durch das Fell konnte man die zarten Rippen sehen. Das Tierchen kniff die Augen zusammen und zitterte.
»Hey, Kleines.« Eine Welle von Mitleid und Zärtlichkeit durchflutete Lina. »Wo gehörst du denn hin? Komm mal her, mein Mäuschen«, sagte sie sanft zu dem kleinen Geschöpf und hielt der Katze ihre Hand hin, damit diese an ihr schnuppern konnte.
Das Kätzchen miaute kläglich und zog sich noch weiter zurück.
»Du musst keine Angst haben. Ich will dir helfen.« Sie streckte die Hand aus.
Das Kitten zuckte zurück, stieß mit dem Po gegen einen dicken Ast, und Lina gelang es, die kleine Katze am Nackenfell zu greifen. Vorsichtig zog sie sie unter dem Gebüsch hervor. Das Kätzchen fauchte und streckte die Krallen aus, erwischte Lina jedoch nicht.
»Sch, sch«, machte Lina leise und legte das kleine Tier vorsichtig an ihre Brust.
Doch die junge Katze zitterte nur und wehrte sich nicht länger. Sanft streichelte Lina das Kätzchen.
»Weißt du was, Miezi? Ich nehme dich mit zu mir nach Hause. Bestimmt finde ich etwas, was du fressen magst. Und einen Schlafplatz bekommst du auch. Und am Montag mache ich ein paar Fotos von dir und verteile sie in der Gegend. Vielleicht finden wir dein Zuhause, was meinst du?«
Das Kätzchen sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und war nun ganz still.
Lina spürte die Wärme des kleinen Körpers und die leichten Atemzüge. Eine Welle der Zuneigung durchlief sie.
»Wir sind gleich bei mir daheim«, versicherte sie dem Kätzchen. Die kleine Katze schnaufte, als hätte sie sie verstanden.
♥♥♥
Lina hatte eine dünne Fleece-Decke zusammengefaltet und in einen flachen Karton gelegt. Auf der Decke lag das Kätzchen, während Lina im Internet googelte, was sie dem kleinen Tier zu fressen geben konnte. Es gab etliche Vorschläge, die ihr nicht weiterhalfen, wie zum Beispiel eine Mischung aus Magerquark und Kondensmilch. Beides hatte sie nicht im Haus und Spezialnahrung für Kitten sowieso nicht.
Schließlich entschied sie sich für Magerjoghurt und ein Schälchen Wasser. Übermorgen, sowie die Geschäfte geöffnet hatten, würde sie für die Katze einkaufen. Sie brauchte auch ein Katzenklo, zumindest ein provisorisches. Unvermittelt fiel ihr Roland Heimann ein, der eine Weile in der Wohnung über ihr gewohnt hatte. Er arbeitete im örtlichen Tierheim. Vielleicht konnte er ihr mit einer kleinen Grundausstattung aushelfen, um den Sonntag zu überbrücken. Sie würde gleich morgen im Tierheim anrufen.
Lina sah zu dem Kätzchen, dass sich gerade putzte. Es war so niedlich. Am liebsten hätte sie es behalten.
♥♥♥
Magnus Gerber legte seinem zweijährigen Sohn Max eine neue Windel an. Der Junge lag auf dem Boden auf einer Wickelunterlage, spielte mit einer Tube Creme, und gab dabei zufriedene Brummlaute von sich.
Im Abstand von etwa zwei Metern stand seine Schwester Tilda, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete die Szene. Ihr kleines Gesicht zeigte einen verschlossenen Ausdruck.
»Tildchen, gibst du mir bitte eine neue Strumpfhose für Max aus der Schublade?«, bat Magnus seine Tochter.
Tilda löste die verschränkten Arme, schob die Hände hinter den Rücken und gab keine Antwort.
»Tilda. Bitte, gib mir eine neue Strumpfhose«, wiederholte Magnus.
Er sah auf seine Armbanduhr. Jeden Moment musste diese Frau Seibold kommen.
»Ich mag aber nicht«, erwiderte das kleine Mädchen bockig.
»Tilda.« Magnus warf seinem Kind einen mahnenden Blick zu.