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Morgen läuten die Hochzeitsglocken! Ella kann es kaum erwarten, ihrem Traummann Paul das Jawort zu geben - dem Mann, der sie auf Händen trägt und der kein Problem damit hat, dass Ella keine Kinder bekommen kann. Durch ihn hat sie gelernt, sich mit dem unerfüllten Kinderwunsch zu arrangieren. Ihm ist es gelungen, ihr eine Zukunft zu zweit anzupreisen und sie den Schmerz über die unerfüllte Sehnsucht vergessen zu lassen.
Aber ausgerechnet am Tag vor ihrer Hochzeit kommt eine Nachricht, die ihr ganzes Lebenskonstrukt durcheinanderbringt. Ellas Halbschwester ist gestorben und hinterlässt ein vierjähriges Mädchen. Ihr letzter Wille war es, dass Ella diejenige ist, die sich um ihre kleine Tochter Sabrina kümmern soll. Und für Ella stellt sich die Frage gar nicht: Sie will um jeden Preis dieser ehrenvollen Aufgabe nachkommen. Doch diese Entscheidung droht, ihr Eheglück zu zerstören ...
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Seitenzahl: 143
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Das unerwartete Geschenk
Vorschau
Impressum
Das unerwartete Geschenk
Ella bekommt auf Umwegen die Tochter, nach der sie sich immer gesehnt hat
Von Caroline Steffens
Morgen läuten die Hochzeitsglocken! Ella kann es kaum erwarten, ihrem Traummann Paul das Jawort zu geben – dem Mann, der sie auf Händen trägt und der kein Problem damit hat, dass Ella keine Kinder bekommen kann. Durch ihn hat sie gelernt, sich mit dem unerfüllten Kinderwunsch zu arrangieren. Ihm ist es gelungen, ihr eine Zukunft zu zweit anzupreisen und sie den Schmerz über die unerfüllte Sehnsucht vergessen zu lassen.
Aber ausgerechnet am Tag vor ihrer Hochzeit kommt eine Nachricht, die ihr ganzes Lebenskonstrukt durcheinanderbringt. Ellas Halbschwester ist gestorben und hinterlässt ein vierjähriges Mädchen. Ihr letzter Wille war es, dass Ella diejenige ist, die sich um ihre kleine Tochter Sabrina kümmern soll. Und für Ella stellt sich die Frage gar nicht: Sie will um jeden Preis dieser ehrenvollen Aufgabe nachkommen. Doch diese Entscheidung droht, ihr Eheglück zu zerstören ...
Ella betrachtete sich im Spiegel. Das schlichte champagnerfarbene Brautkleid aus Edel-Satin schmiegte sich um ihre schlanke Figur. Es war bodenlang und ärmellos, dazu trug sie ein Bolero-Jäckchen aus dem gleichen Material, dessen Saum mit winzigen Strasssteinchen bestickt war.
Jule, Ellas beste und engste Freundin seit Kindertagen, lächelte ihr über den Spiegel zu.
»Du siehst fantastisch aus, Ella«, sagte sie.
Ella lächelte zurück, ohne sich umzudrehen.
»Danke!« Sie strich behutsam mit flachen Händen über ihre Taille. Jule trat dicht an sie heran und legte beide Arme um sie.
»Übermorgen drehe ich dir mit dem Lockenstab noch wundervolle Wellen ins Haar«, fuhr sie fort. »Du wirst aussehen wie eine Prinzessin.«
Ella musste lachen.
»Nun übertreib mal nicht«, erwiderte sie.
»Tu ich gar nicht. Es wird dein Tag«, sagte Jule. »Ich freue mich so für dich. Ich wünsche euch beiden alles Glück der Welt.«
»Danke, Julchen.« Ella wandte sich zu ihr um und drückte die Freundin an sich. »Musst du wirklich gleich am Tag nach der Hochzeit zurück nach Hause?«
Sie hätte Jule gerne noch eine Weile in ihrer Nähe gehabt. Seit die Freundin der Liebe wegen ins vierhundert Kilometer entfernte Stuttgart gezogen war, hatten sie nicht mehr allzu häufig die Gelegenheit, sich zu sehen.
»Leider ja. Länger kann ich es Rolf nicht zumuten, auf die Zwillinge aufzupassen. Dreijährige sind ganz schön anstrengend, sag ich dir!«, erwiderte Jule und ließ die Arme sinken, die sie noch immer um Ella gelegt hatte.
Augenblicklich erstarrte Ella, und es war ihr, als fiele ein Schatten auf ihr Glück. Sie bemühte sich um Haltung, nickte verständnisvoll und streifte das Bolero-Jäckchen ab.
»Hilfst du mir?«, bat sie, deutete mit dem Daumen hinter sich und drehte Jule wieder den Rücken zu.
»Sicher.«
Jule zog den Reißverschluss des Kleides auf. Vorsichtig stieg Ella aus dem Kleid. Aus den Augenwinkeln sah sie im Spiegel wieder ihre schlanke Figur mit dem flachen Bauch. Jule nahm ihr das Kleid ab.
»Ich hänge es auf«, ließ sie sie wissen.
»Danke«, erwiderte Ella und blickte nun direkt in den Spiegel. Sie würde nie erfahren, wie ihr Bauch wuchs, weil darin neues Leben entstand.
Durch den Spiegel sah sie, wie Jule ihr Brautkleid sorgsam über den Bügel hängte und das Jäckchen dazu. Anschließend gab sie beide Teile in die blickdichte blaue Kleiderhülle, damit Paul, ihr zukünftiger Ehemann, nicht vor der Zeit wusste, was sie am Hochzeitstag tragen würde.
Ella wandte sich vom Spiegel ab, schlüpfte wieder in Jeans und T-Shirt und verdrängte sämtliche trüben Gedanken. Übermorgen heirateten Paul und sie. Sie liebten sich, und sie war dankbar und glücklich, mit ihm einen Partner gefunden zu haben, der kein Problem damit hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte.
Jule lächelte ihr zu. »Ich gehe jetzt. Ich möchte noch einmal in das Lokal, in dem ihr feiert, wegen der Tischdekoration. Und auch so muss ich noch ein paar Dinge vorbereiten, für euren großen Tag. Schlaft ihr in der Nacht vor der Hochzeit getrennt?«, fragte sie.
Ella nickte.
»Paul schläft bei seiner Mutter und ich hier«, erwiderte sie.
»Gut.« Jule lächelte. »Wir sehen uns dann übermorgen um elf Uhr, für deine Frisur. Ich bin echt aufgeregt.«
Ella lachte.
»Und ich erst. Ich kann es gar nicht glauben. In zwei Tagen bin ich eine verheiratete Frau.«
Ihr Mobiltelefon, das auf der Kommode im Schlafzimmer lag, meldete den Eingang einer WhatsApp-Nachricht. Ella sah, dass sie von Paul war. Jule trat zu ihr und umarmte sie noch einmal.
»Bis übermorgen. Jetzt geh schon ans Handy, ich sehe doch deinen sehnsüchtigen Blick. Ich finde alleine raus.«
Ella schmunzelte verlegen.
»Tschüss, Julchen«, sagte sie und griff nach ihrem Handy.
Paul hatte ein rotes, pulsierendes Herz geschickt.
Ich liebe dich und zähle die Stunden, bis wir auch offiziell für immer zusammengehören, hatte er in einer zweiten Nachricht geschrieben.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Es geht mir genauso, schrieb sie zurück. Ich liebe dich auch!
Auch sie ergänzte ihre Nachricht um ein rotes Herz. Leider pulsierte das von ihr geschickte Herz nicht, da sie es direkt an ihren Text angehängt hatte. Das war schade, doch hier war ihr Finger zu schnell gewesen. Kurz überlegte sie, ob sie ein zweites Herz hinterherschicken sollte und entschloss sich dann, es zu lassen.
In ein paar Stunden kam Paul von seiner Arbeit in der Steuerkanzlei Sandner & Partner, deren Teilhaber er war, nach Hause. Dann hatten sie noch einen letzten Abend als unverheiratetes Paar miteinander, und diesen wollte sie so schön wie möglich gestalten.
Sie wollte Lendchen im Blätterteig zubereiten, dazu einen grünen Salat und selbstgemachte Kroketten. Außerdem wollte sie eine Flasche Wein aus dem Keller holen. Mit Musik und Kerzenlicht würden sie sich von ihrem Junggesellen-Leben verabschieden.
Über ihre Hochzeitsreise mussten sie auch noch reden. Paul wäre gerne in die Dominikanische Republik geflogen. Auch Ella fand die Vorstellung, in die Karibik zu reisen, fantastisch. Nur über das genaue Ziel waren sie sich noch nicht einig. Vielleicht konnten sie heute Abend darüber sprechen.
♥♥♥
Ella stand im Morgenmantel in der Küche und bediente den Kaffee-Vollautomaten. Wasser war bereits im Tank, und Kaffeebohnen hatte sie auch nachgefüllt. Sie drückte die Starttaste und lautstark begann das Gerät zu rumoren. Paul trat hinter sie und küsste sie in den Nacken.
»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte er sie liebevoll und sprach direkt in ihr Ohr, damit sie ihn trotz dem Geräusch des Mahlwerks verstehen konnte. »Hast du gut geschlafen?«
Das Mahlwerk war fertig, und der Brühvorgang begann.
»Guten Morgen, Paul.« Ella schmiegte ihren Rücken an seine Brust und wandte ihm den Kopf zu, für den Guten-Morgen-Kuss. »Ich habe wunderbar geschlafen.«
»Hmm«, machte Paul genießerisch, küsste sie und ließ seine Hände über ihre Hüften gleiten. »Ich übrigens auch, nachdem ich endlich zum Schlafen gekommen bin.«
Ella kicherte, gespielt verlegen. Der Duft des frisch gebrühten Kaffees zog durch die Küche. Vor dem Haus war ein Motorengeräusch zu hören. Beide sahen sie zum Küchenfenster. Eben fuhr der Wagen des Postboten vor. Er hielt vor ihrem Grundstück, der Bote stieg aus und warf einen Stapel Briefe in den Postkasten.
Paul küsste Ella erneut, diesmal auf die Wange.
»Es sind bestimmt jede Menge Glückwunsch-Schreiben gekommen. Ich hole sie. Im Gegensatz zu dir, bin ich ja schon angezogen«, sagte er.
»Aber auch nur, weil du meinst, heute noch einmal in die Kanzlei zu müssen. Am Tag vor unserer Hochzeit«, bemerkte Ella und seufzte.
»Nur für zwei oder drei Stunden«, beschwichtigte Paul sie. »Bereitest du mir auch einen Kaffee zu?«
»Natürlich«, erwiderte sie und stellte eine weitere Tasse unter den Auslauf des Automaten.
Durchs Küchenfenster sah sie, wie Paul zum Briefkasten ging. Seine dunklen Haare, noch feucht vom Duschen, schimmerten in der Morgensonne. Unter seinem hellen Hemd erahnte sie das Spiel seiner Muskeln. Mit regelmäßigen Besuchen im Fitness-Studio sorgte Paul dafür, sich seine sportliche Figur zu erhalten.
Er öffnete den Briefkasten und entnahm die Post. Er überflog die Absender, einen nach dem anderen. Bei einem Brief zögerte er, drehte ihn um, als erwartete er auf der Rückseite etwas Aufschlussreiches zu finden, und legte ihn schließlich wieder als Oberstes auf den Stapel.
Ella brachte die beiden Kaffeetassen zum Tisch und setzte sich. Gleich darauf kam Paul wieder in die Küche. Er nahm ebenfalls Platz und schob ihr die Post zu.
»Wie ich schon dachte, reihenweise Briefe von Verwandten und Bekannten, außerdem ein Schreiben von den Stadtwerken. Wahrscheinlich die jährliche Abrechnung. Und für dich ist noch was Persönliches dabei, von einem Martin Gersecke. Sagt dir das was?«, fragte er.
»Martin Gersecke? Nein.« Verwundert sah Ella Paul an.
Paul grinste. »Vielleicht ein stiller Verehrer, der es nicht erträgt, dass du morgen meine Frau wirst«, bemerkte er.
Ella lachte leise. »Du bist ein Komiker.«
Sie griff nach dem Umschlag. Gersecke wohnte laut Absender in Herzogenaurach, etwa hundertsiebzig Kilometer von ihrer Heimatstadt Aschaffenburg entfernt. Mit dem Stiel ihres Kaffeelöffels öffnete sie das Kuvert. Sie zog einen Briefbogen heraus, in Druckschrift beschrieben.
Liebe Ella, ...
♥♥♥
Paul trank von seinem Kaffee und beobachtete seine zukünftige Frau beim Lesen. Nach wenige Sekunden veränderte sich ihre Miene von entspanntem Interesse zu Bestürzung.
»Was ist los?«, fragte Paul, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Gleich«, murmelte Ella und las weiter.
Paul spürte einen Anflug von Ungeduld. Er mochte es gar nicht, wenn er im Ungewissen gelassen wurde.
»Das ist ja furchtbar«, sagte sie nach einer für sein Empfinden endlosen Weile, ohne die Augen von dem Papier zu nehmen.
»Was ist denn nun?«, fragte er erneut und gab sich keine Mühe, den genervten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Dieser Martin Gersecke ist der Lebensgefährte von Melina. Oder besser: War der Lebensgefährte von Melina.«
»Deiner Halbschwester?«, vergewisserte sich Paul.
Als sie sich kennenlernten, hatte Ella den Namen ab und zu erwähnt.
»Genau ... Sie ist vor gut einer Woche gestorben.«
»Gestorben? Ach du meine Güte!« Paul stellte seine Kaffeetasse ab. Er hoffte sehr, dies bedeutete nicht, dass Ella die Hochzeit verschieben wollte.
»Ja, sie war schwer krank.« Ella sah regelrecht erschüttert aus.
Es lag Paul auf der Zunge, sie darauf hinzuweisen, dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatten – zumindest, soweit ihm bekannt war.
»Ich verstehe nicht, warum er dir deswegen einen Brief schreibt. Er hätte anrufen können«, monierte Paul. Auf dem Küchentisch lag ein Krümel. Er fixierte ihn.
»Weil ...« Sie brach ab und sah wieder auf das Schreiben.
»Ella.« Paul wurde nun wirklich ungeduldig. »Da ist doch noch was. Sprich endlich.«
♥♥♥
Ella schnürte es die Kehle zu, und ihr Herz schlug hart gegen ihre Rippen. Paul hatte recht, da war noch was. Etwas, wovon sie jetzt schon wusste, wie er reagieren würde. Nämlich mit einem klaren Nein. Und doch war es die letzte Bitte ihrer Schwester.
»Melina hinterlässt eine Tochter. Ein kleines Mädchen. Es heißt Sabrina und ist vier Jahre alt. Sie möchte, dass ich ... dass wir das Kind zu uns nehmen.«
Nun war es ausgesprochen. Ihr Puls jagte, und jetzt war sie es, die versuchte, in Pauls Gesicht zu lesen, über das ein Zucken lief.
»Was?«, fragte er, obgleich sie sicher war, dass er sie sehr wohl verstanden hatte.
»Es war ihr letzter Wunsch«, ergänzte Ella.
»Das kann doch wohl nicht sein. Was ist denn mit dem Vater?« Sie hörte die aufsteigende Empörung in Pauls Stimme.
»Gersecke ist nicht der Vater von Sabrina«, klärte sie ihn auf.
»Also ehrlich, Ella. Das braucht uns doch alles gar nicht zu interessieren«, bemühte sich Paul in einer Art Rundumschlag die Situation vom Tisch zu fegen.
»Entschuldige, aber mich interessiert das schon«, protestierte Ella. »Melina war meine Schwester.«
»Deine Halbschwester«, erinnerte er sie. »Die Tochter deines Vaters aus erster Ehe. Meines Wissens hattet ihr seit Jahren keinen Kontakt mehr, oder doch?«, forschte er.
»Nein«, gab Ella zu.
Melina war bei ihrer Mutter groß geworden. Während ihrer Kindheit hatte sie zwei- oder dreimal im Jahr ihren Vater für ein paar Tage besucht. In der Zeit hatten Ella und Melina sich ganz gut verstanden. Streit oder Eifersüchteleien hatte es nicht gegeben. Doch nachdem sie beide erwachsen geworden waren, hatte sich der Kontakt verloren.
»Und nun will sie dir ihre Tochter überlassen?« Ungläubig sah er sie an. »Sag jetzt bitte nicht, du denkst tatsächlich darüber nach.« Eindringlich musterte er sie.
»Natürlich denke ich darüber nach.« Nun war es Ella, die ungehalten wurde. »Was soll denn aus dem Kind werden, wenn ich Nein sage?«
»Wenn wir Nein sagen«, korrigierte er sie.
»Entschuldige. Du hast natürlich recht.« Es widerstrebte ihr, das zuzugeben. »Paul.« Sie beugte sich vor und suchte seinen Blick. »Ich kann keine Kinder bekommen und ich habe mir immer welche gewünscht. Vielleicht soll es so sein. Lass uns die Kleine wenigstens kennenlernen.«
»Du weißt, dass ich nie ein Problem damit hatte, dass du nicht schwanger werden kannst – und zwar, weil ich keine Kinder möchte! Daran wird sich auch nichts ändern. Ella, bitte. Bring jetzt keinen Bruch in unsere Basis. Wir wollen morgen heiraten. Wir haben gestern das Reiseziel für unsere Hochzeitreise ausgesucht. Wir wollen doch in die Dominikanische Republik ! Das wird wunderschön. Wir haben so viel vor, wo ein Kind überhaupt nicht reinpasst.«
»Ich kann und will nicht von vornherein Nein sagen«, erwiderte Ella.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte er ungläubig.
»Was ist denn mit dem Vater des Mädchens?«, fuhr er fort. »Der muss doch irgendwie aufzufinden sein. Er ist in der Pflicht!«
»Ich habe keine Ahnung. Aber wenn Melina ihn ausgeschlossen hat, so wird sie einen Grund dafür haben«, teilte Ella ihm ihre Meinung mit.
»Und dieser Gersecke? Immerhin war er der Lebensgefährte von ihr.« Paul sprach zunehmend aufgebracht.
Ella konnte seine Sicht verstehen. In ziemlich genau vierundzwanzig Stunden würden sie vor dem Traualtar stehen. Und nun brach etwas in ihrer beider Leben ein, was die Zukunft, die sie sich erträumt hatten, komplett auf den Kopf stellen würde.
»Zeig mir mal ... diesen ... Schrieb!«, fuhr er sie an.
Wortlos schob Ella ihm den Brief zu. Pauls Augen glitten über das Papier, seine Kiefer mahlten aufeinander. Ungehalten legte er die Nachricht wieder auf den Tisch.
»Flugbegleiter ist der!«, stieß er hervor. »Hat gerade Urlaub und will dich kennenlernen. Mann! Was denkt der sich eigentlich? Dass du kein Leben hast? Dass du nur darauf gewartet hast, dass er dir seine Stieftochter überlässt, oder wie auch immer die familiären Verhältnisse sind? Der fragt ja gar nicht, ob du die Möglichkeit hast, dich um dieses Mädchen zu kümmern. Und die Bereitschaft.«
Wenn sie ehrlich war, musste sie Paul in allen Punkten recht geben. Fragen, gleich welcher Art, hatte dieser Martin Gersecke nicht in den Raum gestellt.
»Es tut mir leid, Paul. Ich kann deine Empörung verstehen«, machte sie einen Versuch, einzulenken.
»Ella.« Er reichte ihr eine Hand über den Tisch. Sie legte ihre hinein. »Bitte triff keine unüberlegte Entscheidung, und schon gar nicht ohne mich. Ich liebe dich, und der Weg in unsere gemeinsame Zukunft war bis vor einer Stunde sonnenklar.«
Ella nickte.
»Ich werde keine Entscheidung ohne dich treffen«, versicherte sie und fürchtete, noch während sie sprach, nicht die Wahrheit zu sagen. Paul würde niemals einverstanden sein, dass sie die Kleine zu sich nahmen.
Und sie wiederrum wusste, sie würde es sich den Rest ihres Lebens nicht verzeihen, wenn sie Melina diesen letzten Wunsch nicht erfüllte. Und doch hoffte sie, ganz tief in sich, dass sie Pauls Herz erweichen konnte. Vielleicht brauchte er einfach ein wenig Zeit.
»Danke«, erwiderte Paul nur und ließ ihre Hand los. An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er an ihren Worten zweifelte.
»Ich rufe diesen Gersecke an und treffe mich mit ihm«, ließ sie ihn wissen.
»Was?« Neue Empörung spiegelte sich in seiner Miene.
»Ja, natürlich. Oder dachtest du, ich reagiere überhaupt nicht?« Verärgert sah sie ihn an.
»Du kannst ihn anrufen und absagen. Wozu ein Treffen?«
»Weil ich das Kind meiner Schwester kennenlernen will und mehr über das erfahren möchte, was passiert ist«, erwiderte sie ruhig.
Paul sah finster vor sich hin.
»Am besten heute noch«, ergänzte sie.
»Ja, toll. Fantastisch. Am Tag vor unserer Hochzeit«, regte er sich auf.
»Du wolltest doch ohnehin in die Kanzlei«, hielt sie dagegen.
»Ja, ja.« Er stand auf.
In Ellas Bauch drückte es. Nun gingen sie im Streit auseinander, wenige Stunden, bevor der Tag anbrach, der ihr schönster werden sollte.
»Kommst du heute Abend noch einmal nach Hause?«, fragte sie. »Oder fährst du direkt zu deiner Mutter?«
»Lass mich wissen, wie dein Ach-so-wichtiges-Gespräch gelaufen ist. Danach entscheide ich«, sagte er, wandte sich ab und verließ grußlos die Küche.
Ellas Augen brannten. Sie hätte gerne geweint, doch sie konnte nicht. Vor ihr auf dem Tisch lag das Schreiben, das eben ihr Leben ins Wanken gebracht hatte. In der Kopfzeile standen die Adresse von Gersecke und seine Telefonnummer.
Ella griff nach ihrem Handy, das auf der Fensterbank lag und wählte die Nummer.
♥♥♥
Es war kurz vor fünfzehn Uhr am Nachmittag, als Ella durch die Fußgängerzone von Aschaffenburg lief.
Martin Gersecke war, als sie ihn am späten Vormittag angerufen hatte, sofort einverstanden gewesen, sich noch heute mit ihr zu treffen. Am Telefon hatte er sich ruhig, freundlich und sympathisch angehört. Sie hatte seine Stimme angenehm empfunden. Sabrina, so hatte er ihr gesagt, wollte er heute nicht mitbringen, damit sie in Ruhe miteinander reden konnten.