Chronik fremder Zeit - Oliver Peters - E-Book

Chronik fremder Zeit E-Book

Oliver Peters

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Beschreibung

Eine fantastische Erzählung. Im Mikrokosmos des unübersichtlichen Gebäudes entwickeln sich die unterschiedlichen Schicksale. Maria will ihrem vorzeichneten Weg als Wäscherin entgehen und durchforstet nachts das uralte Gemäuer - bis sie eines nachts sogar auf den König trifft. Eine Begegnung, die bis hin zu einem absurden Krieg führt. Lassen Sie sich von dem Debütroman von Oliver Peters in eine Welt voller Überraschungen und Wendungen führen.

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Der Kreis öffnet sich
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Der Kreis schließt sich

Chronik fremder Zeit

Roman

Oliver Peters

Idee: André Bödecker und Oliver Peters

Lektorat und Beratung: Manuela Peters & Stefanie Sennhenn

Coverfoto: Pixabay, mit Dank an Stax

Umschlagentwurf: Oliver Peters

1. Auflage 2010

2. Auflage 2011

3. Auflage 2018

www.oliver-peters.de

Impressum

© 2018 Oliver Peters

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

Softcover ISBN: 978-3-746778-61-7

E-Book ISBN 978-3-746778-59-4

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Nicole

Unsere Verabredung mit dem Leben findet im gegenwärtigen Augenblick statt.

Und der Treffpunkt ist genau da, wo wir uns gerade befinden.

Buddha

Der Kreis öffnet sich

Gefangen im Strom nordwärts führender Luft trug flatterndes Tuch großzügig gespannt den Stuhl. Er schwebte von Süden her, an sich selbst aufgehangen, steuerlos und doch mit Ziel. Wäre es nicht Winter gewesen, ein ungewöhnlich milder zwar, aber eben jene Zeit, in der die Vögel in den Süden gezogen waren, dann hätten sie das seltsame Gefährt begleitet. Frech hätten sie sich draufgesetzt, wären ein Stück mitgeflogen, hätten sich ausgeruht in luftiger Höhe, mit dem Schnabel nach den Dingen gepickt, die dort auf dem Stuhl noch waren.

Es war kein gewöhnlicher Stuhl, wie er in Küchen und Esssälen stand. Er war verkleidet und durchdrungen von Drähten und Röhren, die aus einer Halterung gerissen, roh verformt herabhingen und unsichtbar hinter - den Stuhl auskleidenden, angerissenen und angesengten - Stoffen verliefen. Es mochte einst gemütlich gewesen sein, auf ihm zu sitzen. Die Polsterungen durch die Stoffe waren großzügig, einiges mochte durch Federn verstärkt dem Sitz weichen Halt geben, sodass stundenlanges Verharren darin denkbar war. Und doch, im kalten Luftstrom, umschlungen von den ins Leere reichenden Zuleitungen und offenbar aus sicherem Milieu gerissen, sah er dort am Himmel einsam und verlassen aus, dass es einen rühren konnte.

Das mochte auch mit dem Leichnam zu tun haben, der, am Stuhl festgeschnallt wie ein alter Mann auf seiner Verandaschaukel, still die sanften Bewegungen durch den Luftstrom auffing und seltsam ruhig und hoffnungsfroh nach vorne zu blicken schien. Auch er war eingehüllt in verschiedene Tücher, denen ein Overall zugrunde war. Sein Kopf war gestützt von einem wärmenden und Stöße abwehrenden Kragen und bedeckt von einer Lederhaube. Alles sah sehr behütet aus, wäre der Leichnam darunter nicht ausgedörrt und nahezu mumifiziert. Verwelkt hing alles nutzlos herab. Der Tod war, soviel kann man sagen, nicht durch Kälte, nicht durch Stöße, Verletzungen an Bränden oder spitzen Gegenständen eingetreten. In dieser Hinsicht war der Leichnam völlig unversehrt und in guter Verfassung. Aber ein Mangel an Nahrung und Wasser hatte die erste Welle des Verdorrens über ihn kommen lassen, der dann der ewig am Stuhl und Körper zerrende Wind, die in diesem Luftstrom vorherrschende Temperatur und seine Luftdruckbedingungen als zweite Welle gefolgt war.

Es hatte den Stuhl von weit hergeführt. Sein Benutzer war vor Wochen bereits an den Folgen des Wasser- und Nahrungsmangels zugrunde gegangen. Man glaubte, er könnte das Ziel schon sehen. Aus unglaublicher Entfernung ragte es schon empor, und bevor er das letzte Mal einschlief, hatte er es tatsächlich noch wahrgenommen. Hoffend. Betend, es bald zu erreichen. Weil er so hungrig gewesen war. Und durstig. Weil er gefroren und Heimweh verspürt hatte. Er sah die steil aufragende Festung am Horizont, die hoch gebaut so weit sichtbar war. Er wusste, der Strom, in dem er so mühsam mit seinem Stuhl ritt, würde ihn zu ihr zurückführen. Denn der endete an der Mauer der Festung.

In jener Nacht schlug er mit seinem Gefährt auf. Sein vom Kragen gehaltener Kopf mochte den Eindruck erwecken, er nähme bewusst Kurs auf die Festung. Sein leicht gehobener, weil an einer Öse verhakter rechter Arm wirkte, als zeigte er auf sein Ziel. Doch er war führungslos, als er in die Aufbauten der Vogelstation krachte und die Brieftauben darin in hellen Aufruhr brachte. Wie ein Gespenst hing er in dem zertrümmerten Holz der Verschläge, und als der Postmeister ihn fand, da dämmerte der Morgen. Der Arm zeigte keinen Kurs mehr, sondern auf den hustenden alten Mann, der den Lärm in der Nacht nicht gehört hatte.

Sommer

1

Maria saß in der Waschküche, saß inmitten des immerwährenden Geschehens mit einer engelsgleichen Geduld. Sie gab so vielen der Menschen dort Rätsel auf und machte zugleich Mut. Saß dort in all ihrer Schönheit, geschützt durch Elias’ Clan und doch ungeschützt in muffiger Luft. Sie war von einer inneren Ausgeglichenheit, die bis in die letzte Nische des Kellergewölbes strahlte und sie aufzuhellen vermochte. Ihre Anwesenheit dort unten ließ manchmal das Schlappern und Schloddern der Wäschestücke in den Schächten leiser und gedämpfter erscheinen. Die Luft war reichhaltiger, die Berge von Wäsche kleiner. Die Tage kürzer und das Licht heller. Und obwohl Maria eine Grauhälsin war, schien sie wie keine andere weder am Körper noch am Herzen durch die freudlosen Bedingungen dort unten irritiert. Die seifige Lauge schien alles Fremdartige und Kranke von ihr abzuhalten. Kein Gift hatte sie bislang entstellt. Es war etwas, was die Grauhälse mit Reinheit in Verbindung brachten.

Sie sortierte geduldig gerade ein paar rote Röcke von Parlamentsdienern. Sie waren besudelt von den Alkoholexzessen der Adligen und bedurften dringender Reinigung. Maria wusste - im Gegensatz zu den meisten ihrer Mitbewohner - viel über das Leben in der Festung. Doch sie hätte niemals mit ihrem Wissen über jene andere Welt geprahlt. Es wäre auch gefährlich gewesen. Aber sie wusste zu schätzen, dort unten im Keller ihrem einfachen Handwerk nachgehen zu können. Weit weg von der in Intrigen versinkenden Geschäftigkeit am Hofe. Diesem kräfteraubenden Monster.

Sie hatte ein berichtenswertes Geheimnis, das ihr die Kraft gab, mit Gleichmut ihren Aufgaben nachzugehen. Solche wie sie sind selten.

Die meisten konnten der ewigen Dunkelheit, der kargen Lebensweise, der Hitze und dem Dreck, der auf ihr Leben herabfiel, nicht lange widerstehen. Man starb jung. Grauhälse haderten auf irgendeine Weise mit diesem Leben. Maria war da eine Ausnahme und man bewunderte sie dafür. Wenn sie fest am Trog stand und die Lauge rührte, den schweren Holzstab niederdrückte, um den Reinheitsgrad der Wäsche zu beurteilen, so war bei der Kraftaufwendung in ihrem Gesicht weniger als bei den meisten Leid und Entbehrung zu sehen.

Sie war Galionsfigur und Rätsel zugleich. Man behandelte sie wie eine Heilige. Es hätte die wenigen aber doch sehr strengen moralischen Grundfesten der Clans erschüttert, wenn bekannt geworden wäre, was Maria tat: Maria war eine Nachtgängerin.

Und während Maria in der Waschküche saß, dachte sie an die kommende Nacht. Sie würde wieder mit dem Dunkel verschmelzen und einmal mehr auf unbekannten Wegen aus dem Keller fliehen. Unbemerkt, ungesehen, mysteriös. Sie würde dem Ruf ihres Herzens folgen. Voller Sehnsucht war sie. Ersehnte sich nichts mehr, als dass es endlich Nacht würde.

2

Die enorme Höhe der Festung setzte den Bau unterschiedlichsten klimatischen Schichten aus, sodass sie einem mehrzelligen Wesen glich. Sie vereinte verschiedene Atmosphären in sich und verband diese in einem gegenseitigen Wechselspiel. Und manchmal schien es, als ob der faule Geruch, der durch wenige Öffnungen im Fundament nach draußen drang, der Auswurf der Festung war. Als ob es verbrauchter Atem sei. Als ob sie zu oberst den dort vorherrschenden reinen, gesunden und reichhaltigen, von kalten, aber würzigen Lüften und Wirbeln umhüllten Äther einsog - in ihrem Inneren aber diesen wunderbaren goldenen Odem transformierte und in ein immer muffigeres gehaltloses Gas verwandelte, je weiter er in die Tiefe des Schlosses eindrang.

Niemand vermochte genau zu sagen, welches Alter die Festung hatte. Die Waschküche gehörte aber zu dem ältesten Teil des Baus. Damals, als sie aus den ersten aufgeworfenen Massen an Erde und Stein langsam zu entstehen begann, hatten die Arbeiter nach dem Sonnenuntergang nicht mehr den beschwerlichen Weg hinunter in ihre Hütten gewagt. Damals, als der künstliche Hügel, der das Fundament der Festung wurde, schon vom Landesinneren aus zu sehen gewesen war. Es war der Weg zu lang, es war in der Dunkelheit zu gefährlich gewesen, es waren die Männer von der schweren Arbeit geschwächt. Hätte sie beim Abstieg ein Regenschauer überrascht, wäre er durch glitschigen Matsch und unbefestigte Wege versperrt gewesen. Der Versuch, die Familie in solchen Nächten zu erreichen, hatte oftmals ein tödliches Ende genommen.

Maria war Nachkomme dieser Menschen, die zu jener Zeit ihre Kraft aufgebracht hatten, das unglaubliche Werk für den König zu vollenden. Ihre Vorfahren hatten mit vielen der anderen begonnen, die Nächte auf dem Erdhügel zu verbringen und angenehm zu gestalten. Gegen den Regen hatte man Unterstand in kleineren Höhlen gefunden. Sie waren auch Schutz gegen den ewigen Wind gewesen, der auf jener niedrigen Höhe warm war und als Luftstrom aus dem Landesinneren über die Ebenen zog. Er war voller Gerüche aus der Ferne. Dahinein hatten sie sich sehnsüchtig in jenen Nächten an den Feuern geträumt. Doch auf Dauer hatte niemand dem immerwährenden Zerren an den Kleidern widerstehen können. Die Krankheiten, die der Wind gebracht hatte, waren so zahlreich gewesen wie die hergewehten Ahnungen von fernen Ländern.

Bald hatten sie die Unterstände und Höhlen ausgebaut. Die Frauen waren mit den Kindern gefolgt und man verblieb in den Provisorien, über die sich später die Festung erhoben hatte. Das Bauwerk hatte die Unterstände, Höhlen und Unterbauten unter sich eingekapselt und in den blasengleichen Auslassungen lebten die Menschen weiter.

Die Waschküche war jener tief in das Fundament eingelassene Bereich, der labyrinthartig aus einem Geflecht von verborgenen Hallen, Gängen, Höhlen und Nischen bestand. Die Festung, ein unermesslich hoch aufragender Turm, war in ihrem Fundament von Orten wie dem der Waschküche gleichsam durchlöchert. In seiner Basis porös, war doch der mächtige Bau von ihr getragen und konnte ohne sie nicht existieren.

Der Raum war gefüllt mit riesigen, schweren Seifenbottichen. Sie dampften heiß und erfüllten die üble Luft mit dem Geruch, den man auf der Welt so schnell nicht wieder findet - einer Mischung aus Lauge, Dreck und Fäkalien. Ein Geruch von Verbrauchtem. Ein Geruch von dem Schweiß derer, die Tag und Nacht damit beschäftigt waren, zu waschen; das heißt, in den großen, grob aus Holz gefertigten Behältern die Wäsche zu rühren, um sie gereinigt wieder zu bergen. Zu den Ausdünstungen kam der giftige Windzug vom Innern der Festung, der unten angelangt seinen tiefsten Wert erreicht hatte. Der war dann so schwer belastet, dass er nur noch danach strebte, das Innere blähend zu verlassen. Die Halle war geeignet, diese Dämpfe und Gerüche, vor allem die schädigenden, zu sammeln, schnell verdunsten zu lassen und abzuführen.

Neben den allgegenwärtigen Gerüchen, die sich immerwährend in die Wände und in die Bewohner gefressen hatten, erfüllte die Kellergewölbe ein alles dominierendes, stetiges Geräusch. Es war wie ein Summen. Ein beständiger, gleich bleibender Ton. Sanft, aber beharrlich. Unwiderstehlich und doch weit entfernt. Er schien allgegenwärtig zu sein. Er war zu hören in der Halle, in den Gängen, in der Peripherie des Kellerbereiches und sogar in den kleinen Kammern, in denen die Familien nach der Arbeit ihre Lager fanden.

Es war das Geräusch, das entstand, wenn die Wäsche der Festungsbewohner durch tausende von Kanälen von oben herab ihren langen Weg in die Keller suchte. Einem Venensystem gleich war die gesamte Festung von diesen Wäschekanälen durchzogen. Auf diesem Weg wurde alles verschmutzte Textil besorgt - angemessen und ohne sie vor den Augen der Festungsbewohner durch die Flure schieben zu müssen. Diese Wäscheschächte hatten in jedem Zimmer des Hofes ihren Anfang und waren zuoberst mit einer leicht zu öffnenden Klappe nahezu schalldicht versiegelt. Die seltsame Akustik dessen, das das Rohrsystem transportierte, sollte nicht seinen gespenstischen Widerhall in den Wohnräumlichkeiten finden. Horchte man aber trotzdem, zeichnete sich das bizarr verechote Geschehen im Gangsystem dadurch aus, dass metallisch nahes und fernes Rutschen, Surren und Knöpfeklappern dreidimensional eine ewige Melodie erklingen ließ. Sie hatte einen Grundton, der durch die unterschiedliche Schwere der Stoffe, die Anzahl der verschickten Wäschestücke und manchmal auch durch die leisen Stimmen aus dem Keller auf das Traurigste ergänzt und variiert wurde. Die meisten, die so gehorcht hatten, sprachen von einem klagenden Ton. Einem sehnsuchtsvollen Raunen und Rascheln, welches melancholisch stimmte wie der Herbst. Man hielt die Zeit, um die Wäscheklappe zu öffnen, deswegen recht kurz. Und das, was dennoch durchdrang, wurde geschickt überhört.

Unten in den Kellern gab es solche schützenden Klappen nicht. Der aus ihrer Mitte auffahrende stöhnende Ton erfasste die Menschen dort in seiner ganzen Traurigkeit ungefiltert. Unten im Keller kam alles an, was ansonsten in der Festung an Unrat übrig war.

Grauhälse rief man sie. Sie waren stumpf gegenüber den Menschen, deren Wäsche sie tagtäglich wuschen. Taub gegenüber dem Hof, dem Parlament, den Themen oder den Krisen des Tages. Grauhälse war einst der Name der lehmverschmierten Arbeiter gewesen, deren Bezeichnung sich immer noch hielt. Ein Name, der auch deswegen noch immer passte, weil die, die dort unten lebten, so gut wie nie die Sonne sahen. Das die gräuliche Hautfarbe der Menschen begünstigende Klima färbte genauso das Haar wie ihre Seele.

Ungetrübt ließen die Grauhälse das Geschehen am Hofe an sich vorbeiziehen. Ihr Alltag war hart, sodass sie keine Zeit gefunden hätten, diesen Dingen gebührend Aufmerksamkeit zu schenken. Man wusste von oben nicht viel. Als sei es eine abgeschiedene Welt, deren Dramen für sie keine Bedeutung hatten. Nicht einmal der jeweilige König war immer bekannt.

Grauhälse lebten entbehrungsreich in Düsternis, aber nicht ganz ohne Lohn. Seit jeher war es Brauch gewesen, die Reste aus der Palastküche nach unten zu schaffen. Anfangs über den Nahrungsschacht - ein ewig gemein riechender Schlund, dem damals nur einmal die Woche Besserung widerfuhr, wenn Seifenwasser durch den Kanal in den Keller gespült worden war. Ein unerfreulicher Vorgang. Einerseits, weil das Essen seifiger geschmeckt haben soll, andererseits, weil die üblen, da zumeist verfaulten Reste aus dem Gang zu Tage befördert worden waren. Und wenn der Koch sich verkalkuliert und zu viel Wasser den Schacht herunter gespült hatte, war es zu kleineren Überschwemmungen gekommen. Die exakt den Schächten zugeordneten Körbchen mit der gewaschenen Wäsche waren dann auf kleinen Seen geschwommen. Das Wasser bis zum Knöchel hoch, hatte man sich seinen Weg zu ihnen erkämpft. Die Rekonstruktion, welche Wäsche aus welchem Teil des Schlosses gekommen war, war heikel. Vielleicht waren es diese Unfälle gewesen, vielleicht die Routine ihrer Arbeit: Grauhälse schienen mit dem Tuche der Festungsbewohner verwachsen. Man sagte, sie konnten in ihm lesen.

Immer noch speiste sie die Palastküche mit dem Übriggebliebenen. Es war eine unberechenbare Versorgung, die mal reichhaltig, mal knapp ausfiel. Aber man bekam Qualität. Und in den letzten Jahrzehnten hatte man - der vielen Kranken wegen - den Nahrungsschacht versiegelt. Nun stand das Essen zur Abholung in speziellen Räumen bereit. Und manchmal wurden unter den Resten auch vollständige Früchte, Braten und Kuchen gefunden. Vielleicht waren es spezielle Geschenke vom Koch, vielleicht aber auch nur Überbleibsel aus einem Gelage.

3

»Maria«? Die Stimme hallte weit durch die Katakomben der Waschhallen und vermochte den nicht geringen Lärm der anderen Wäscherinnen zu übertönen.

»Maria!«, hallte es nochmals. Die Wäscherinnen schauten sich belustigt an und wussten, was nun folgen würde. Die Gerufene richtete sich auf und schaute mild lächelnd die Frauen, die sie umgaben, an. Kichernd steckten sie ihre Köpfe zusammen und beugten sich über ihre Arbeit. Marias Gestalt überragte sie, als sie, halb ironisch, die liebende Tochter mimend, zurückrief:

»Ja, Vater!« Ihre Stimme trug nicht weniger weit als die ihres Vaters, war indes aber klarer und reiner. Der Hall, der ewige Hall in den Hallen. Eine Geräuschkulisse, bestehend aus den gurgelnden Wassern in den Zubern, den Gesprächen der Wäscherinnen und dem Zurren der Kleidung in den Schächten. Alles war aufs Eigentümlichste verstärkt und überlappt. Sie vermochte nicht so wie ihr Vater zu brüllen, aber sie fand eine Intonation, die einem Gesang gleichkam.

»Maria, wo bist du?« Der harte Klang der Männerstimme zerschnitt die traumhafte Sphäre, die Marias Stimme hinterlassen hatte. Ungeduldig war sie, nahezu gequält. Noch bevor seine Tochter Atem geholt hatte, um eine Antwort zu geben, erschien aus den ungenutzten hinteren Hallen ein älterer Mann. Er war klein von Wuchs und hager, aber von geschäftiger Eile getrieben.

Seine Kleidung hob sich von der einfachen Kluft der Arbeiter ab. Das war nur bei solchen Grauhälsen denkbar, denen ihr Alter geholfen hatte, sie in den ehrbaren Stand der Weisen zu heben. Davon gab es nicht viele. Elias hatte diesen Stand mit einer starken Konstitution erreicht, die er im Laufe seines Lebens in den verseiften Zubern seiner Arbeitsstätte sich auflösen gesehen hatte. Wie alles, was er aus seiner Jugend mitgebracht hatte. Und dennoch, Elias, der immer mehr gearbeitet, immer mehr gehoben und immer mehr Körbe sortiert hatte als andere, war durch seine verbliebene Kraft noch immer in der Lage gewesen, sich mit mehr zu beschäftigen als mit Waschen.

Es war ihm vergönnt gewesen, lesen zu lernen, und er sammelte Schriften. Natürlich sammelte er wahllos und nur das, was ihm zufällig aus den Wäscheschächten zugespielt worden war. Aber es reichte, selbst ein wenig zu schreiben und einen Verstand auszubilden.

Was er über seine Arbeiten hinaus aber noch gut verstand, das war die Schönheit seiner Tochter und ihren Effekt auf die Welt zu begreifen. Sie machte ihn stolz. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass Maria und ihre Anmut all das auf die Welt gebracht hatte, nach dem er sich im Innern stets gesehnt hatte. Maria war mehr für ihn als nur seine Tochter. Sie war ein Kleinod für ihn, bedroht von den Begehrlichkeiten der Männer. Ein Schatz, der stets in Gefahr war. So, wie dieser Schatz eigener lebendiger Ästhetik in ihm, der von Geburt an schon gestohlen war. Sie war Teil von ihm. Er beanspruchte sie. Und Maria war liebevoll genug, sich nicht verletzend diesem Zugriff zu entziehen. Zumindest nicht sichtbar. Denn dadurch, dass sie Nachtgängerin war, dadurch erschlich sie sich die Freiheit, die ihr der Vater so sehr beschnitt.

»Maria!«, rief Elias, und fand sie bei der Arbeit. »Maria, du weißt offenbar nicht, wie spät es schon ist. Die Nacht ist schon angebrochen und du bist immer noch am Waschen. Lass das hier liegen und komm, wir warten schon auf dich. War es anstrengend heute? Hat man dich angesprochen? Wenn ja, wie ist sein Name? Ach, du lächelst nur. Manchmal denke ich, du sagst mir nicht die ganze Wahrheit. Du weißt, du bist hier einem Reh gleich, das im Wald unter Jägern einsam dahintrabt. Du lächelst aber nur. Komm! Wir wollen essen.«

4

Und so gingen sie in den fensterlosen Abschnitt, ihre Heimat war. Ein Winkel, groß genug, Elias’ Familie aufzunehmen; der trocken lag, die Wärme des Feuers zu halten vermochte und den Rauch durch einen geschickt durchdachten Fang ableitete. Fenster waren in der Unterwelt des Kellers ein Luxus, den es nur an wenigen Stellen gab. Und nur zum Preis der unerbittlichen, unaufhaltsamen Einwirkung der Natur. Es waren unverglaste Öffnungen. Sie waren zumeist nur dienlich, die von den Höhen herabgesunkene, verbrauchte und alles Übel der Festung kumulierende Luft abzulassen. Das ist ein Prozess, dem im Wege zu stehen nicht geraten ist. Außerdem fror man dort, wo der Blick nach draußen möglich war, obwohl der Wind vom Land kommend warm war. Aber Grauhälse waren perfekt eingestellt auf die sich nie ändernden klimatischen Bedingungen der Waschküche und somit gegenüber jeder Wetterschwankung empfindlich. Die Sonne brannte ihrer blassen Haut gleich Flecken auf, Blütenpollen verstopften Nase und Lungen, der Wind presste an den Atemwegen, dass die Luft wegblieb. Vom beginnenden Frühling vor der Festung bekamen sie nichts mit.

Man mied die Nähe solcher Öffnungen, wenn möglich mied man auch den Weg vor die Festung. Er lag allen offen, doch keiner nutzte ihn. Allein um den Fuß der Festung zu erreichen, durch das Labyrinth der Gänge, durch das mächtige Fundament, die bewachten Torbögen außen verlaufenden Serpentinen, musste man fast zwei Stunden herabsteigen. Die meisten, die in den Gewölben der Festung arbeiteten, vermochten diesen Weg gar nicht zu gehen. Es fehlte den Lungen die Luft, diese Strapaze zu überstehen.

Obwohl man hier von den Kellern der Festung berichtet, waren diese noch sehr hoch gelegen. Die Öffnungen lagen vielleicht 300 Meter über den Eingangstoren. Kein einfacher Weg führte nach unten, was der Verteidigung geschuldet ist. Alles, was den Weg von außen nach innen ermöglichte, war unangenehm, beschwerlich und eng geführt ausgelegt. Es fiel auch deswegen den Grauhälsen nicht ein, die Höhlen ihrer Unterkunft zu verlassen.

Maria aß an diesem Abend vergnügt und ohne Worte. Sie hörte dem Stimmengewirr der Familie zu. Elias versuchte, die Kinder mit Lebensweisheiten aufzuladen. Die wiederum versuchten, Elias zu beweisen, dass er nichts zu sagen hätte. Ein ewiges Spiel. Wenn die Frechheiten der Kleinen zu groß wurden, mischte sich die Mutter ein. Das empfand Elias als Schmach und sogleich fing er Streit mit allen an. All dies in einem Ton humorvollen Bemühens um den anderen. Selbst der schärfste Streit gab dem anderen stets das Gefühl, respektiert zu werden.

Diese Kraft mochte die Quelle der Ausstrahlung Marias sein, so sagte man im Clan. Eine Fähigkeit Elias’, die sich auf seine Familie übertrug. Seine Gabe, so wenig verletzend zu sprechen. Elias hatte viel Unterstützung bei den Clans, seines ausgleichenden Redens wegen. Er hatte eine zarte Art, mit Menschen umzugehen. Einzig seine Eifersucht um das Wohl seiner Tochter war anerkanntermaßen Anlass für Schärfe in seinem Ton.

Man ging früh zu Bett und das Feuer brannte herunter. Das Stöhnen aus den Röhren war in diesem Teil der Höhlen weniger stark zu hören. Es schien wie ein Wind in der Ferne. Wenn man lauschte, war es, als fingerte es nach ihnen. Und als ob seine Kraft sich am Stein brach.

Maria horchte dem Wäscheschacht. Dieser Ton aus dem Innern der Festung zog sie an wie nichts Zweites auf dieser Welt. Ja, ihr Gleichmut, ihre Gelassenheit, ihre innere Ruhe, das waren nicht ihre einzigen Eigenschaften. Es kamen noch Leidenschaft und Ehrgeiz hinzu. Kräfte, die sie dem stöhnenden, ächzenden Röhrensystem entgegengehen ließ, um es zu erforschen. Der Wäscheschacht schien nach ihr gerufen zu haben, nachts mit unsichtbaren Tentakeln nach ihr zu greifen, um sie in sich hineinzuzerren. Irgendwann hatte sie nicht mehr widerstehen können. Sie hatte das ergründen müssen, was sie hören und fühlen konnte; das, was sie nachts zu sich rief. Und seit einem Jahr folgte sie diesem Ruf.

Die größte Kunst war es von Beginn an, unbemerkt aus der eigenen Höhle hinaus zu schleichen. Denn Elias wachte über sie. Es wäre ihm kaum leicht zu vermitteln gewesen, wohin sie in der Nacht wollte. Einfach war es für Maria nicht, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um sich aus der Höhle zu stehlen. Bald aber hatte sie herausgefunden, dass Elias von ein Uhr nachts bis fünf Uhr morgens am tiefsten schlief und dann die Flucht am einfachsten war. Sie folgte dabei einer inneren Uhr, die nur ungefähr den Stand der Nacht einschätzte. Doch hatte sie bisher bei der Bestimmung des Zeitpunkts zum Verlassen des Lagers Glück gehabt. Und genauso glücklich war sie bei der Festlegung des Moments der Rückkehr gewesen.

Die Röhren, in die sie zu kriechen gedachte, die waren gut zu besteigen und nicht besonders eng. Anfangs, wenn ihr ein Wäschesack entgegengekommen war, dann hat dieser sie durchaus zu ergreifen und mit in den Keller zurückzureißen vermocht. Das war zweimal geschehen, sodass ihr nächtlicher Ausflug im Bassin der Frischwäsche geendet hatte. Wie durch ein Wunder ohne Zeugen. Aber solche Rückschläge waren seltener geworden. Sie hatte in der letzten Zeit ein System erarbeitet, mit dem sie sich vortrefflich im Röhrensystem zurechtfand. Mittlerweile waren ihr Zugänge, Verwinkelungen und Bahnen bekannt, die wohl seit der Erbauung der Festung in Vergessenheit geraten waren. Sie hatte unwissend Dinge wiedergefunden, die seit Jahrzehnten verschollen waren. Sie hatte Räume in der Festung erreicht, von denen die meisten Bewohner nichts wussten. War Maria anfangs in den Schacht gestiegen, um das Labyrinth zu erforschen und den Tönen nachzuspüren, zeichnete sich bald ein neues, umtriebiges Motiv ab: sich verschiedene Zugänge zu Räumlichkeiten zu verschaffen und sie von ihrem Schacht aus einzusehen und zu belauschen.

Das Klappensiegel des Wäscheschachts zu jedem Raum der Festung war ein Rätsel der Erbauer. Es ermöglichte, vom Röhrensystem aus Einblick in die Räumlichkeiten dahinter zu nehmen. Unentdeckt lauschend zu verharren, ohne die Bewohner aufmerksam werden zu lassen. Ein wunder Punkt im Schutzgeflecht der Festung, ein blinder Fleck, mit dem Maria verschmolzen war. Sie wurde nicht bemerkt. Sie war wie ein Schatten – unbemerkt, ignoriert, ungesehen.

Ihre nächtlichen Spaziergänge waren zu Erkundungsfahrten in eine andere Welt geworden. In eine Welt, von deren Existenz Maria als Kind schon gewusst hatte, aber nur durch die zahlreichen Vorträge ihres Vaters, dessen Meinung zu den Dingen sie nicht immer teilte. Und durch die wenigen, von Elias ausgewählten Papiere, die sie zum Lesen hatte.

Im Dunkel der Rohre hatte sie vielfach die Möglichkeiten genutzt, die Menschen zu beobachten. Auf diese Weise hatte sie vieles gelernt, was ihr in den Kellern verborgen geblieben gewesen wäre. Es war eine Welt mit vielen Gesichtern. Sie lernte Intrigen, Parteilichkeiten und tagespolitische Verstrickungen kennen, doch auch menschliche Seiten, die ihr Elias bisher vorenthalten hatte. Tief hatte sie schon aus dem Kelch menschlicher Stärken und Unzulänglichkeiten getrunken. Aber sie genoss jeden Schluck und war berauscht von dem Trank. Es war ein Theater, sie war die Zuschauerin.

5

Für diese Nacht nahm sich Maria ein neues Stück des Rohrsystems vor. Da war diese Strecke, die etwas geheimnisvoll abzuzweigen und weiter nach oben zu führen schien. Es war immer viel Organisation notwendig. Aber diesmal dachte sie das erste Mal darüber nach, etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen. Der Weg konnte beschwerlich und lang werden, aber das schreckte sie nicht. Sie hatte gelernt, dass das Theater des Lebens umso seltsamer und eindrucksvoller wurde, je höher sie stieg. Man kann sagen: Desto fremder wurden die Menschen ihr. Und das weckte ihre Neugierde.

Sie hatte Effizienz in ihren Bewegungen erlangt. Die half ihr, die Strapazen beim Klettern gering zu halten. Außerdem nutzte sie Dinge, die ihr anfangs ein Hindernis waren, als Hilfsmittel. So war die Wäsche, die ihr in der Nacht noch zahlreich in den Schächten entgegengekommen war, nicht mehr weiter ein Ärgernis. Sie zog nun - geschickt in der Kunst, Wäsche zu lesen - Schlüsse aus ihr. Entnahm ihr Informationen darüber, wo sie sich befand. Welcher Typ von Mensch wo wohnte und in ihrer Nähe war. Es half ihr, die komplizierte Karte der Festung in ihrem Kopf zu vervollständigen. Sie hatte mit der Zeit ihre Bauweise und Bewohnungsart in ihrem Kopf zusammengesetzt. Als sei es ein Puzzle.

Danach musste dort, wo sie in jener Nacht hinkriechen wollte, jemand wohnen, der weit oben an der Spitze stand. Das versprach Spaß. Vielleicht würde sie alsbald mal des Königs Gemächer kennenlernen. Ihn vielleicht von ihrem unsichtbaren Posten aus sehen können. Das war gefährlich, aber durchaus reizvoll. So ging das Spiel. Je höher der Einsatz, desto reicher der Gewinn.

Sie erreichte, mit etwas Proviant ausgerüstet, die Mündung. Einen kleinen, stillgelegten Schacht, möglicherweise ein Fehlbau. Er lag in einem abgelegenen Teil des Kellers und bot unbemerkten Einstieg. Von dort begann sie ihren Aufstieg.

Effizienz ist nicht gleichzusetzen mit Eleganz. Eleganz ist vielleicht dem Steiger draußen am Felsen vorbehalten, wenn er sich durch den mächtigen Stein seinen Weg sucht; Zentimeter um Zentimeter tastend nach Rillen, Vorsprüngen und Halt. Effizienz dagegen birgt selten wirklich Schönheit. Die metallenen Röhren machen das Tasten nach Halt sinnlos. Sie waren glatt, sie boten keine Widerstände, waren keine zerklüftete Landschaft, keine überraschende Struktur. Es gab jedoch die eine oder andere Delle, es gab Winkel und mitunter eine Ecke. Sie waren für den Abritt der Wäsche ungünstig gebaut, Maria aber hatte eine kurze Stütze, um zu verschnaufen. Sie musste sich mit Muskelkraft hochstemmen und dabei geräuschlos sein. Ihr nahes Stöhnen, das wäre in dem System trotz seines eigenen, seines inneren Geräuschs, wie ein Fremdkörper aufgefallen und hätte die Bewohner aufgeschreckt.

Sie verließ sich auf die Kraft und die Fähigkeit ihrer Haut, am Metall ein wenig zu verbacken. Dabei war zu starkes Schwitzen hinderlich. Auch langes Klettern war problematisch, denn die Haut verlor mit der Zeit ihre Fähigkeit zum Haften. Maria vermochte ihr einfaches Kleid aus grauem Stoff so zu knoten, dass am Rücken und den Beinen viel Haut für ihren Aufstieg zur Verfügung stand. Auch den Bauch machte sie schamhaft ein wenig frei. Jedoch nicht zuviel, denn peinlich war ihr die Entblößung ihres von Elias so leidenschaftlich bewachten Körpers schon.

Sie hatte Staub mitgebracht, der bei stärkerer Transpiration half. Eine Flasche mit Wasser, gut gepolstert, hing an ihr herab. So bewegte sie sich behände die ersten Meter in den Schacht hinauf. Einen Vorteil konnte sie sich zunutze machen: Je höher sie sich emporarbeitete, desto enger wurde das Röhrensystem. Am Anfang musste sie viele kleine Kompromisse eingehen. Sich strecken, gegendrücken, einen Spagat versuchen. Sie musste purzeln und langsam einen Weg - mitunter kopfüber - suchen. Es sah aus, als würde sie die gleichen Figuren machen wie beim haltlosen Sturz durch das System. Nur unendlich langsamer und in entgegengesetzter Richtung.

Nach einer Stunde hatte sie die untersten Ebenen des Hofes erreicht. Dienerschaft, Köche, Friseure und allerlei anderes Volk lebten dort. Ein jeder ein Meister seines Berufs. Durch die Klappen und undichten Türchen zum Röhrensystem war Maria allabendlich Zeuge von Streitigkeiten und Wettkämpfen der vielen eitlen Helfer der Festung gewesen. Immer brannte Feuer und waren Mahlzeiten aufgetischt worden. Mahlzeiten, die Maria am Anfang ihrer Touren vor Neid erblassen ließen. Doch sah sie auch allabendlich die Kehrseite dieser Gelage. Wenn die Menschen aufgebläht und faul, manche ihrer Kost schon überdrüssig, da lagen. Geschlagen im Wettkampf oder als Sieger aus ihm hervor gegangen, es machte keinen Unterschied. Die Freude war dann einem dumpfen Sinn gewichen. Der Koch klagte über seine Kunst, die in dieses Abbild der Hinfälligkeit mündete.

Die, die sich dort tummelten, hatten alle ihre Anstellungen in der Festung weiter oben. Unten fanden sie sich ein, um zu leben. Und es schien Maria ein Leben ewigen Streits und der Verbrüderung, der Konkurrenz und der Allianz. Und die Musik gefiel ihr. Grauhälse hatten eine fürchterlich monotone Musik.

Eine Stunde später war ihre Kletterei bereits von vielen Pausen unterbrochen. Sie musste sie nehmen, wie die Lage der Röhren es anbot. Sie erreichte die Ebene, die in ihrer eigenen Systematik die dritte war, vom Keller aus gerechnet.

Die Ebenen waren zwar nicht sehr streng voneinander getrennt. Sie liefen eher fließend ineinander, hatten aber dann einen festen Kern in ihrer Mitte. Wenn Maria gemeint hatte, tief im Fels zu sitzen, ohne Klappen und Türchen, dann war sie im Übergang.

Die dritte Ebene bestand aus einer düsteren Gruppe von Menschen. Es war eine Art höhere Dienerschaft, die sich in Fragen der Verwaltung nützlich zu machen versuchte. Verwaltung war für eine Grauhälsin wie Maria ein ganz fremdes Wort. Natürlich gab es auch so etwas wie Organisation in den Kellergewölben. Doch richtete sie sich immer nach den momentanen Bedürfnissen und Besonderheiten. Das, was Maria aber auf jener dritten Ebene hatte belauschen und beobachten können, das hatte den Eindruck einer verkehrten Welt erweckt. Dort lebten zumeist gut genährte und dennoch knochentrockene Wesen, denen allen eine Portion Langeweile aus den Poren tropfte. Menschen wurden in ihren Gesprächen zu Waren, Gegenständen und Tabellenposten. Weisheit wurde aus zweifelhaften Büchern hässlicher Sprache gewonnen. Einer Sprache, die schmerzte.

Das Kratzen ihrer Federn füllte die Räume, in denen sie in Reih und Glied auf Bänken saßen und studierten. Oft hieß es, man habe Protokolle verfasst. Dann verschwanden die Papiere. Ins Archiv, wie es geheimnisvoll hieß.

Es war eine traurige Welt. Gänzlich ohne lebendigen Rausch. Wenngleich einige von ihnen sich manchmal nach unten stahlen, wie Maria beobachtet hatte.

Sie hatte einige Zeit darauf verwandt, diese Dinge zu begreifen, hatte ihren faden Gesprächen gelauscht, hatte ihren auf Wiederholungen fußenden Lebenswandel gesehen, hatte vergeblich Lust und Freude bei ihnen nachgespürt. Sie hielt diese Menschen für öde und vernachlässigenswert. Ja, vernachlässigenswert, das war Maria zu ihnen eingefallen. Maria, ausgerechnet Maria, die den Eindruck erwecken konnte, für jeden Menschen auf dieser Welt ein offenes Ohr, ein Lächeln, ja sogar offene Arme zu haben, Maria fand in diesen Menschen ihre Meister. Es fehlte ihnen in ihrem Leben das Stück Menschlichkeit, das es brauchte, um sie zu illuminieren. Mehr noch. Es schien, als ob diese Menschen befähigt waren, das Licht des Lebens zum Erlöschen zu bringen.

6

Ihr Weg führte schnell an der dritten Ebene vorbei hoch zur vierten. Sie war wohl drei Stunden unterwegs und wurde allmählich langsamer. Der Schacht verengte sich weiter. Die Luft wurde dünner, doch auch deutlich weniger giftig. Die Atmung fiel leichter, das Wasser hatte sie mittlerweile zur Hälfte getrunken.

Manchmal fragte sie sich, wozu sie all diese Wege auf sich nahm. War es einzig ihre Neugierde, die sie nach oben zwang? Die Strecke war elend lang. Was hatte sie davon? Wie häufig würde sie diese lange Passage hochklettern, um dann an einer kleinen Tür vielleicht eine halbe Stunde beobachten und horchen zu können? Sie wusste es nicht. Es war offensichtlich eine Entscheidung des Herzens. Im prallen Leben der zweiten Ebene hatte sie viel gelernt, das sie als Grauhälsin sonst nie gesehen hätte. In der Ebene darüber hatte sie viel gesehen, das sie abstieß. Es blieb immer das eine Gefühl: Eine Fremde zu sein, die zuschaute.

Was würde ihr noch begegnen? Dort, ganz oben auf der fünften Ebene? Bisher hatte sie mit jeder Nacht, die sie weiter und weiter nach oben geklettert war, etwas Neues in Erfahrung gebracht. Sie hatte stets etwas mitgenommen, von dem sie noch tagelang in der Waschküche gedanklich zehrte. Nein, es gab keinen Zweifel. Die Wege, die sie gegangen war, das waren Wege, um Erkenntnisse zu gewinnen. Aber die Erkenntnis, die war erkauft mit nächtelangen Strapazen. Mit jedem Meter, den sie in jeder Nacht weiter vorwärts kroch, drohte das Gleichgewicht zwischen Einsatz und Gewinn zu kippen. Doch sie kletterte weiter.

Die vierte Ebene hatte sie schon deswegen seltener als alle anderen aufgesucht, weil es fünf Stunden brauchte, sie zu erreichen. Das waren Aufstiege, die nur nach einem wenig kraftraubenden Tag beim Waschen möglich waren. Das war nur gegangen, wenn der nächste Morgen etwas mehr Zeit für Schlaf versprach als normale Tage. Diese Tage waren rar. Es gab ihrer vielleicht zehn im Jahr. Geburtstag, Erntefeiertag im Herbst, Feiertag des Königs.

Die vierte Ebene war die breiteste, meist verzweigte und verwinkelte. Sie bot aber, hatte man sie nach einem enorm steilen Rohrstück erreicht, etwas Erholung. Viele Rohre waren hier flacher gelegt, alles war enger. Maria trank ein weiteres Viertel ihrer Flasche leer.

Es war der Bereich, in dem der Adel lebte. Ja, dort waren die seltsamsten Figuren anzutreffen. Perücke war das Hauptkennzeichen. Bunte Stoffe, wallende Kleider, funkelnde Blazer. Allerdings auch eine seltsame Gehetztheit, als ob die Zeit auf dieser Ebene etwas flotter ablief. Hier wurde Maria Zeuge atemberaubender Feste und kleiner Techtelmechtel, von Drohungen, von Verbrüderungen, geplanten Morden und anderen menschlichen Abgründen. Sie hatte bislang noch keinen Weg dorthin bereut. Doch diesmal sollte sich ihr Ausflug mehr denn je lohnen.

Es war spät in der Nacht. Das Leben auf dieser Ebene schien nie zu ruhen. Es tobte ein Fest, es tobte der Adel. Es war sehr wahrscheinlich, dachte Maria, dass sie wieder um einige Beispiele hässlicher Züge des menschlichen Lebens reicher nach Hause gehen könnte, würde sie weiter das Treiben beobachten. Sie erwog, den weiteren Aufstieg zu verschieben. Man konnte die damit verknüpften Fragen auf einen anderen Tag verschieben und spannend halten. Sie wusste schon, dass es sie weiter drängte. Drängte, eine weitere Tür aufzustoßen.

Da hörte sie zu ihrem Schrecken von oben, ganz entfernt, aber für diese Tageszeit nicht untypisch, das Klappen einer Wäscheklappe. Leise surrend und begleitet vom Geräusch schabender Knöpfe auf dem Metall der Röhre rutschte etwas von ganz oben. Es gab ein klapperndes, ein ungemein lautes Geräusch von sich. Und es hätte alles sein können. Ein Sack, der sie mit in die Tiefe riss. Ein Mensch, der wie sie in der Nacht umherging. Ein Tier, das sie loswerden wollten. Sie ging sofort in Stellung. Beide Beine an die Wände gedrückt bot sie sich dem Gegenstand als eine Brücke an. Zu hoffen war nur, dass der Abstand zwischen ihr und dem Boden der Röhre groß genug war. Das wäre ein trauriges Ende dieser Nacht: gerade angekommen, mit nach unten gerissen zu werden. Sie fragte sich, wie es war, so weit und so tief zu rutschen. Das hatte sie noch nicht ausprobiert. Wie lange würde sie fallen? Zehn Minuten? Oder nur fünf?

Fieberhaft fing sie an, ihr kunstvoll um ihren Körper gewundenes Kleid neu zu ordnen, begann zu schwitzen und zu keuchen. Gut, dass die Aristokraten selber so viel Lärm machten. Da lauschte keiner, da wurde nicht dem Wind nachgespürt. Andernfalls hätte sie sich verraten.

Gerade war sie mit ihrem Kleid fertig und horchte auf das sich nähernde Wäschestück, da klappte plötzlich neben ihr ein Türchen auf und ein reichlich betrunkener Mann starrte in das Röhrensystem. Der Alkohol zwang ihn zu einem ewigen Lächeln. Zumindest für diese Nacht. Er mochte die Klappe vielleicht geöffnet haben, um sich zu übergeben. Nun erblickte er zu seinem Erstaunen Maria, die sich zu einer abenteuerlichen Figur in der Röhre verkeilt hatte.

7

In den Waschkellern herrschte die Ruhe der Nacht. Schnarchen, das Stöhnen der Menschen, das Stöhnen der Festung. Ab und an rutschte ein Wäschestück in einen Zuber. Das geschäftige Treiben an jenem Ort begann in aller Frühe und endete spät. Kaum, dass jemand in den wenigen Stunden der Nacht seine Höhle verließ. Die Nacht war heilig, sie zu stören eine große Belastung für die Gemeinschaft aller Clans. Es war genau ausgemacht, wer des Nachts wusch und Wache hielt.

Es mochte daran liegen, dass man wie eingesperrt war und große Teile natürlichen Lebens wie Licht, den Wind oder reinigenden Regen entbehrte. Der Verzicht war freiwillig, aber der Leben spendenden Kraft der Natur mangelte es trotzdem. Fehlt der Existenz ein Stück ihrer Grundlage, so wird sie brüchig, angreifbar, hinfällig. Und so kränkelten auch die Grauhälse vor sich hin, hustend und blass, ausgemergelt. Mit entzündeten Augen und mit roten Händen, beides vom nicht abreißen wollenden Kontakt mit der Seifenlauge. Und auch die Nerven lagen blank. Nur ein ganz abgezirkeltes, auf Rituale und gegenseitigen Respekt fußendes System vermochte es, ihnen ihr Leben erträglich zu machen. Abweichungen, Störungen oder Behinderungen in der Durchführung ihrer strengen Lebensregeln hätten ungeahnte Folgen. Sie konnten von einer subtilen Form mitunter tödlicher Aggression bis hin zu Spielarten der Depression reichen. Schon als Kind lernten sie da unten diese Lektion und konnte am eigenen Leibe die Abhängigkeit des Seelenfriedens von der Ordnung der Dinge nachvollziehen.

So hörte man neben den üblichen menschlichen Geräuschen und den dem Bau der Höhlen geschuldeten Klängen nur vereinzelt ein Tropfen. Das echote im Röhrensystem und trieb durch die Festungskeller. Ansonsten ruhte das Geschäft der meisten. Und ruhte die Gemeinschaft. Ruhten die Gedanken. Lagen sie im Schatten der Festung. War den Träumen Raum gegeben. Und viele träumten in ihre Lumpen gehüllt von dem, was hier unten so sehr fehlte: Der Sonne, die ihre Haut wärmen und heilen könnte: Dem Wind, der über ihre Wunden strich, sie kühlte und schloss. Von den Gerüchen da draußen, vom Heu oder von den Tieren, der Luft am Meer. Sie träumten es sich herbei, obschon alle diese Dinge in ihrer Reichweite waren.

In dieser Nacht kam es zu einem Eklat. Denn jäh wurden alle aus ihren Träumen gerissen und schreckten auf. Ein Schrei ging durch die Höhlen, energisch, panisch, fragend. Elias’ vom Alter leicht brüchige Stimme hatte ihn ausgestoßen. Er ließ keinen mehr schlafen und zog schon die ersten ärgerlichen Stimmen nach sich. Ein Schrei, der verzweifelt war. Es war der Schrei nach Maria:

»Maria! Wo bist du? Welcher Hund hat dich entführt? Maria!«

Er rannte durch die Werkstätten und Wohnbereiche, einen langen schwarzen Mantel mit viel zu großer Kapuze übergeworfen. Er sah aus wie ein apokalyptischer Reiter. Und er benahm sich auch so. Ohne Achtung vor den Gerätschaften und der Privatsphäre der Nachbarn rannte er umher, von unbekannter Kraft getrieben und unerhört laut.

Es dauerte aber eine Weile, bis sich die ersten jungen Männer der Nachtwache zusammenrauften und seinen Marsch beendeten. Der Schock, die Ungewissheit, der Respekt. Alles Gründe, die sie zögern ließen. Doch eines war sicher: Ihre Welt war groß, aber Elias hätte seine verschwundene Tochter schon längst finden müssen. Sie hatte sich offenbar nicht, wie es sein Verdacht war, mit einem Jüngling verkrochen. Lag nicht im Bett mit einem Fremden.

Sein Blick war ratlos, sein Schritt rastlos. Bis ihn die Männer stellten und ihn festhielten, vergingen Minuten. Bis Elias sich an den Armen und Beinen gesichert, langsam beruhigte, verging eine weitere halbe Stunde. Dann saß er stumpf vor sich hin sinnend in der Mitte der Waschwerkstatt und hielt Zwiesprache mit dem Heiler, der ihm Tropfen und Blätter gab.

»Was machst du, Elias?«, flüsterte dieser keuchend vor Anstrengung, minimale Dosierungen mischend, um einen Extrakt für den aufgebrachten Alten zurechtzumachen.

»Was machst du, all diese Menschen hier zu wecken? Bist du bei Trost?«

»Was soll ich machen?«, schluchzte Elias kraftlos. »Ich wache auf und schaue nach meinen Kindern und eines fehlt. Maria, mein Liebling. Sie ist so jung, sie weiß nichts von dieser Welt.«

Der Heiler lächelte. »Elias, mir scheint, Maria weiß genug von dieser Welt. Sie ist fort, sagst du? Ich sage, sie wird wiederkommen. Dann kannst du sie fragen, wo sie war und was sie erlebt hat. Es wird nichts Schlimmes sein.«

Elias flüsterte: »Lass sie wieder kommen, vielleicht ist sie nicht mehr die Gleiche. Sie wird nicht umsonst die Nacht gewählt haben, um sich davonzuschleichen. Sie wird einen Mann besuchen, der sie schamlos ausnützt.«

»Oder sie ist spazieren. Oder hinauf zur Festung, um sich mal umzuschauen. Ich war in ihrem Alter genauso. Man ist neugierig.«

»Neugierig worauf? Ich habe ihr alles erzählt, was ich weiß. Es gibt nur wenig, was sie als Frau zu erleben hat. Mein Gott, ich werde sie verlieren.«

Der Heiler flößte ihm den trostreichen Trank ein und Elias beruhigte sich zunehmend.

»Wir bleiben wach und erwarten sie«, versprach er. »Es gibt nichts, was wir nicht richten könnten.«

8

»Wen haben wir denn da? Hicks«, lallte der Mann. Seine Lippen waren schmal, sein Mund breit, die Nase ebenfalls dünn und lang. Die Haare waren halbkurz, aber verstrubbelt. Die Augen gläsern vom Alkohol, aber neugierig. Es war eine gefährliche Mischung, die Maria zur Vorsicht mahnte.

Von oben kommend surrte es immer lauter. Entweder, dachte Maria, würde sie gleich weggerissen werden und der Vertreter des Adels würde die kurze Episode ihrer Begegnung als eine unsichere Halluzination abtun müssen. Oder sie müsste sich bald eine Entgegnung einfallen lassen. Sie hatte oft überlegt, was sie tun sollte, wenn sie auf diese Weise erwischt würde. Der einfachste Weg würde sein, sich einfach schnell nach unten fallen zu lassen. Wegrutschen und der Begegnung ausweichen. Wenn es nicht gehen sollte, eine Ausrede finden. Am besten Dienste vorgaukeln, die man zugunsten eines Vorgesetzten verrichtete. Jetzt wäre ein Abrutschen zu schade, nach all den Mühen der Nacht. Aber eine Ausrede wollte ihr nicht einfallen.

Plötzlich bog, absurd sich schlängelnd, flach und reich verziert, eine grüne Strumpfhose um die Ecke. Sie rutschte unter Maria hindurch. Trotzdem sie Rede und Antwort stehen musste, berührte sie das kleine Kleidungsstück, das Kenntnis gab über einen jungen Mann, der sie in der Nacht in die Wäsche gab. Es gab Aufschluss über das reiche Leben seines Besitzers - und seine Einsamkeit. Maria musste tief einatmen. Wahrlich, sie vermochte in Kleidung zu lesen.

Sie hatte soeben die Chance verpasst, etwas in die Hände zu bekommen und damit dem offenbar stark verlangsamten Mann an der Klappe eine Rechtfertigung ihrer Klettertour zu geben. Doch in dieser Nacht hatte Maria Glück. Denn unmittelbar nach der Strumpfhose rutschte ihr ein Jäckchen - blauer Samt, mit Goldfäden bestickt, nachlässigerweise noch mit Orden behangen, geschneidert für einen 20-jährigen Mann - entgegen. Sie ergriff es mit einer schnellen Bewegung.

»Könnt Ihr mir sagen, wessen Rock dies ist? Ich soll ihn zustellen.«

Das etwas blöde Grinsen des Aristokraten verbreiterte sich. Er hob die Augen und wackelte ein wenig mit dem Kopf. Eine Bewegung, die etwas von spielerischer Würde hatte, aber auch den gefühlten wackligen Boden unter den Füßen des Berauschten verriet. Noch einmal hicksend, bevor er Worte fand, musste er auch schon eine Hand zur Hilfe nehmen, um sich an der Luke zu sichern. Mit halb geschlossenen Augen lallte er:

»Mein Gott, des Königs Rock. Und schon gewaschen und persönlich zugestellt. Nein, wie schnell. Hicks. Ich hätte scha..., schaw..., schwören können, er hat ihn noch in dieser Nacht getragen. Wozu die Eile? Es pressiert ihm doch sonst nichts. Hicks.«

Maria erschauerte. Sollte sie tatsächlich auf ihren Gängen in die Festung die Spur zu des Königs Gemächern gefunden haben? Wie wahrscheinlich konnte das sein? Wie wahrscheinlich war es, dort hinzugelangen? Waren die Wege versperrt? Oder bewacht? Hunderte von Fragen, die sich in ihrem Kopf bildeten. Wie das Jackett doch klein wirkte. Ähnlich zierlich wie die Strumpfhose. Ähnlich traurig sein Schicksal, so reich verziert und behangen. Sie las von einem schwachen Menschen, der ängstlich behütet hinter Uniformen geduckt die Orden als Panzer zu nutzen schien. Sie las in der Wäsche des Königs. Er musste sich ihrer gerade entledigt haben, die Festtagsuniform ausgezogen und weggegeben.

Ihr Mut hatte sie bis hier hingebracht. Sie wollte sehen, ob sie den Mann an der Luke nicht benutzen konnte. So, wie sie die Wäsche als Orientierung nutzte. Einfach frech Antwort geben. Sich fallen lassen, das konnte sie immer noch.

»Hört, Sie sprechen nicht Recht über den König. Es pressiert ihn nie? Wer will das wohl beantworten können, der nicht selber König ist? Er ist ein starker und mächtiger Mann, dem seine Würde über alles geht, nicht wahr?«

Der Mann an der schottähnlichen Öffnung lachte, dass es ihn schüttelte. Den Kopf im Nacken, dann vornübergebeugt, die Augen füllten sich mit Tränen. Nach Luft und Fassung ringend, lehnte er sich auf die Unterkante der Luke und zog die Nase hoch.

»Würde? Ja ha, Ihr scherzt. Oder ist das ein Spiel? Ist das ein Spiel hier? Hicks. Hört, ich habe viele über des Königs Auftreten reden hören, aber mit Würde … Würde hat dies noch keiner verwechselt. Einige sagen, er sei vielleicht blind, wenn er so tapsend und - hicks - um sich blickend umhergeht. Andere sagen, er hat in die Hose geschissen.« Wieder schüttelte ihn ein Lachanfall. Maria war von ihrer Position abgerückt. Sie war an die Luke gerutscht, jederzeit zum Rücksturz in die Kellergewölbe bereit.

»Ihr seid ohne Achtung«, sagte sie mit gespieltem Vorwurf. Wieder endete der Anfall des Mannes mit dem Hochziehen der Nase. Das Geräusch klang in dem Rohrsystem nach wie das Zischeln einer Schlange. »Ja, das bin ich wohl. Nennt mich Alexander. Ich bin ohne Achtung. Mag davon kommen, dass ich zu lange hier meiner Beschäftigung nachgehe. Aber mich tröstet, ich bin nicht der einzige ohne Achtung. Achtung, die verdient man sich ja wohl, nicht wahr? Die kann man nicht voraussetzen. Respekt kann man voraussetzen. Er ist nun einmal König. Aber was für einer? Ein Kind, meine Liebe. Hicks. Ein Kind. Ein Kind im Leib eines Mannes, der zu schwer an der Krone trägt. Der weist nichts auf, was Achtung verdient. Eine Nullnummer. Hicks.«

»Ich meine, ein König muss Entscheidungen treffen, die von großer Tragweite sind.«

Alexander schien ärgerlich zu werden. »Aber meine Liebe!«, rief er verstimmt. »Welche Entscheidungen trifft er denn? Er könnte nicht einmal einen Ball organisieren. Er ist die Marionette von Wade, seinem engsten Diener. Und Wade berät ihn geschickt. Wade zieht hier die Fäden. Wade genießt sein Vertrauen. Wade WADE WADE. Der Herr König kommt doch nicht einmal auf die Idee, seine Entscheidungen darauf hin zu prüfen, ob sie umgesetzt werden. Hicks. Entschuldigung. Aber der wahre König heißt Wade, Stanislas ist eine Strohpuppe. Und noch was ...« Mit gestrecktem Zeigefinger fuchtelte er kurz in der Luft herum, um ihn - als würde er einen Faden ins Nadelöhr bringen - vorsichtig und konzentriert an die Lippen zu bringen. »Psst. Solche Worte sind, trotzdem jeder das Geheimnis kennt, nicht ungefährlich auszusprechen. Also schweigt still, meine ... hicks ... Liebe. Wenn Ihr dem König sein Gewand bringt, so werdet Ihr in ihm die traurige Gestalt eines Jungen sehen, den man nicht aus seinem Zauberwald entlässt. Nein, das tun sie nicht. Hicks.«

Maria hätte gerne weiter gefragt, doch Alexander sackte nach und nach in sich zusammen und rutschte auf der anderen Seite der Klappe mit dem Rücken die Wand herab, um sitzend Schlaf zu finden. Er würde sich vielleicht morgen gar nicht erinnern, Maria begegnet zu sein. Und wenn, dann würde er es seinem Rausch zuschreiben. Vorsichtig schloss Maria die Klappe und kroch schnell weiter vorwärts. Sie wollte von dieser unheilvollen Stelle wegkommen.

9

Gleich um die Ecke hob das Rohrsystem dramatisch an. Es würde viel Kraft und Zeit kosten, den letzten Weg nach oben zu gehen. Sie hielt inne, um zu überlegen.

Maria kannte, aus einem behüteten Haus kommend, Ängste kaum. Gleichwohl kannte sie Menschen, denen dieses Glück nicht zuteilgeworden war. Schwestern, deren Väter oder Männer von einem unbändigen Zorn getrieben wurden. Wut, die zuweilen auf diese Frauen niederregnete und eine karge Landschaft voller Misstrauen, überwölkt vom Gefühl der Bedrohung, in ihnen hinterlassen hatte. Diese Frauen waren von dem Schlag, sich stets im Schatten der Ereignisse aufhalten zu wollen. Als ob, träten sie ins Licht und man würde auf sie aufmerksam, der erlebte Zorn wieder auf sie zurückfalle. Und das, so sagte sich Maria stets, ließ Schlüsse auf die Willkür der Ausbrüche der Männer zu. Die nicht haltmachten vor dem Kind und vor der Frau und ungewiss, wie ein Gewitter auftraten. Wie ein Wetterwechsel, so ertrugen die Frauen solche Taten und meinten, es handle sich um ein natürliches Phänomen. Sie merkten nicht, dass ihre Schwäche die Stärke ihrer Gegner war.

Sie dachte in jenem Moment an die vielen Frauen, die geschlagen durchs Leben gingen und immer noch - sie verstand es nicht - immer noch ihren Peinigern die Hand reichten. Sie hatten kein Glück in sich, sie hatten eine alles überwältigende Angst. Und Maria hatte gesehen, wie sie ihre Angst an die eigenen Kinder weitergaben, sodass es sich ausbreiten konnte wie ein schlimmer Husten. Als ob ihr feiger Weg im Nachhinein gerechtfertigt wäre, wenn die Kinder in gleicher Furcht lebten wie die Mütter.

Furcht, so wie Maria es bei den Frauen gesehen hatte, Furcht ließ sie nicht zurückweichen. Gleichwohl das Loch nicht einladend wirkte. Gleichwohl die Geräusche aus dem Inneren dumpf und undefinierbar waren. Gleichwohl dort oben eine Hitze herrschte, die den Schweiß aus allen Poren trieb. Es lud nicht ein, weiter zu gehen. Sie nutzte den mitgebrachten Staub, um den fließenden Schweiß zu binden. Mochte es überhaupt auszuhalten sein? Wäre ein Sturz von ganz dort oben immer noch kein Problem? Würde es ihr zustehen, ganz nach oben zu gehen, auf des Königs Ebene? Sprach nicht alles, was ihr beigebracht wurde, gegen den Frevel, einen Bereich zu betreten, der nur den Wenigsten in diesem Lande zu betreten zustand?

Die Zeit verstrich an jener Gabelung inmitten der Festung und Maria schien zu keinem Schluss zu kommen. Sie horchte mit geschlossenen Augen in sich hinein und versuchte die Gründe für ihr Zögern zu erkennen. Und je tiefer sie in sich drang, desto mehr offenbarte sich ein seltsamer Gedanke. Er hatte sie zunächst nur gestreift, dann aber merkte sie, dass er sie nicht mehr losließ. Weil er sich irgendwo verbissen hatte. Es war der Gedanke daran, was wäre, wenn sie schlussendlich das Röhrensystem ausgekundschaftet hatte. Wenn alle Wege gegangen waren, die Klappen und Türchen bekannt, die Gewohnheiten der Bewohner erforscht? Wäre nicht das Abenteuer zu Ende, wenn sie das letzte Stück ginge?

Ja. Das wäre es zweifellos und Maria wäre möglicherweise um die Spannung beraubt, die ihr nächtelang ruhelosen Schlaf brachte. Wenn sie nun nach oben ging, dachte sie, dann schien es ihr, stürbe etwas in ihrem Leben. Es war ein Gefühl. Dieses dunkle Loch, es strahlte eine Leere aus, die sich in ihrem Leben breitmachen könnte.

Fünfzehn Minuten saß sie da und brütete stumpf vor sich hin. Ganz von sich und dem Gespräch mit Alexander befangen, ohne unmittelbare Gefahr, aus ihren Gedanken gerissen zu werden. Das war einer der Vorzüge dort drin. Bei aller Beklemmung und Enge, es war ein wenig einsam, wenn nicht gerade Wäsche kam. Ganz im Gegensatz zu dem geschäftigen Treiben unten im Keller, wo man selten genug allein war, stets die Gesellschaft anderer auszuhalten gezwungen war. Und dazu das Klingen des Geschnatters aller Stimmen in den Ohren. Dort, in den Röhren, den textilen Abflüssen der Festung, dort vermochte einen das lang gezogene Stöhnen einzufangen und zu tragen.

Diese Versenkung, zu der Maria in den Kellern, in ihrer Heimat, so selten Gelegenheit hatte, drohte, in einen Schlaf zu münden. Oh, das wäre ein Drama geworden. Geweckt von den allmorgendlichen Kleiderwellen - Nachtanzüge, Nachthemden, Schlafmützen, dem feinen Tuch für Bälle und andere rauschende Feste. Dazu noch den diversen skurrilen Kleidungsstücken, die der erotischen Phantasie des Adels dienlich waren (zuletzt ein Affenkostüm, das Spuren von Versengung trug), von ihnen mitgerissen direkt in den Waschtrog der Gemeinschaft. Die Grauhälse, wahrscheinlich von Elias bereits alarmiert, würden schon den Morgen mit der Suche nach Maria verbracht haben. Damit wäre dann das allerletzte Geheimnis verloren gegangen.

Gut, dachte sich Maria und gab sich einen Ruck: Solange sie allein durch dieses System kroch, solange sie noch durch Fensterchen und Türchen, Klappen und Vorhänge etwas zu erspähen hatte, solange würde es wohl auch nicht langweilig werden. Aber wenn dort unten nur ein Mensch wüsste, was sie hier tat, wäre wohl endgültig Schluss mit ihrer Suche. Und so entschloss sich Maria, das Risiko der Entzauberung ihrer Nächte einzugehen. Sie wollte das letzte Stück gehen, wenngleich die Zeit weit fortgeschritten war.

10

Endlich erreichte sie die nächste Ebene. Der Weg dorthin war enger, aber kürzer. Die Kraft, die Maria auf der Strecke bisher gelassen hatte, machte das letzte Stück anstrengend. Sie mobilisierte ihre letzten Reserven. Und so lag sie zunächst kurz flach auf dem Bauch, Arme und Beine in der engen Röhre nach hinten und nach vorne ausgestreckt, bis ihr Atem ruhiger ging. Wohin, so dachte sie sich, wohin bin ich vorgedrungen? Welchen Gipfel habe ich erreicht? War das, was sie nun erblicken würde, das alles Wert gewesen? Ihr Atem ging gehetzt, verzweifelt und gepresst. So kannte man sie nicht, in ihrer Heimat dort unten. Die Heimat, die so seltsam fern schien, obschon sie direkt durch die Röhre, in der sie lag, mit ihr verbunden war. Dann, als sie ihren ruhigen Atem wieder gefunden hatte, blickte sie auf.

Sie lag in einem Endstück des Rohrsystems. In einer Verengung, die durch eine Platte versperrt und abgegrenzt war. Zu ihrer linken eine Wäscheklappe, verschämt und unbedeutend, aber wohl die letzte ihrer Art bis hierhin und - je nach Perspektive - die erste. Die Königsklappe gewissermaßen. Die Luft hier oben war stickig und warm. Die Winde in der Festung verhielten sich offenbar nicht überall gleich. Die Töne dort klangen dumpf und kurz, ohne den Widerhall aus allen Ecken. Dünn, wie ein Rinnsal, schien Maria der kleine Bereich einer Quelle gleich, aus der der mächtige Strom entspringt.

In die Platte, die den weiteren Verlauf der Röhren beendete, war ein weiteres Türchen eingelassen. Von allen Türen, Klappen und Luken, die ihr bislang über den Weg gekommen waren, war diese einzigartig, denn kein Griff oder Hebel war an ihr, sie zu öffnen. Aber ein Rad, womit sie entriegelt werden konnte.

Sie war erleichtert. Ihr schien gewiss zu sein, ein Geheimnis in die Keller der Festung mitnehmen zu können. Zwei Türen, zwei Chancen. Sie war sich sicher, dass die Tür mit dem geheimnisvollen Rad Einblick in die weitere Streckenführung geben würde, während die erste Einblick in die Gemächer des Königs gab. Sie war entschlossen zu sichten, was hinter der Wäscheklappe verborgen war. Es war der Höhepunkt dieser Nacht. Aller Nächte zuvor. Und sie horchte noch kurz in sich hinein, um das Gefühl zu bestimmen, das sie in diesem Moment empfand. Sie spürte aber zu ihrer Verwunderung nichts. Sie war eiskalt. Oder gefasst, man konnte es sehen, wie man wollte. Ihre Entschlossenheit und der Zufall hatten sie hier hergebracht. Sie wollte weiter darauf vertrauen. Sie nahm sich die Klappe vor, stieß sie einen Spalt auf und sah - den König.

11

Elias zählte die Tropfen, die aus einer lecken Leitung in einen der Steintröge fielen und mit einem leicht verechoten »Plong« leise das ewig gegenwärtige Rauschen im Keller durchbrach. Er zählte immer ungefähr bis 100, weil er nicht weiter zählen konnte. Aber er konnte zählen, wie häufig er schon bis 100 gezählt hatte, woraus sich noch einmal ein Ergebnis errechnen ließ. Als Maria die Luke zum Königszimmer aufstieß, war er das neunte Mal dabei, 100 Tropfen zu zählen. Genau genommen war er bei 58, als die Tropfen zu tropfen endeten. Elias schreckte auf. Die plötzliche Stille war lauter als jeder Schrei. Es war, als ob es plötzlich abkühlte und die Luft in Bewegung geriet. Der Heiler erwachte neben Elias.

»Etwas ist im Gange!«, flüsterte Elias, doch der Heiler konnte es selber spüren. Er fasste Elias an die Schulter. »Maria wird wiederkommen«, raunte er. »Nimm das nicht so wichtig.«

Elias fragte sich, ob der Heiler Witze machte. Dachte, etwas kommt in Bewegung, etwas geschieht. Hatte Angst um seine Tochter. Fühlte, dass es mehr war, das ihn sorgen musste.

12

Durch die Ritze, die Maria aufgerissen hatte, zog ein kalter Luftzug von hinten aus dem Dunkel der Röhren an ihren Rücken vorbei und verschaffte sich zischend Zugang zu den Gemächern des Königs. Ein dunkler Schatten glitt modrig und kalt an ihr vorüber. Wie ein Geist, der nach Jahren der Gefangenschaft der Flasche entweicht.

Der König saß erschöpft auf einem kargen Holzstuhl und schien den Windzug aus den Tiefen des Schlosses wie eine Erleichterung bringende Kühle zu empfinden. Sein blondes, gelocktes Haar wirbelte an der Stirn leicht auf und ein wenig lustvoll stöhnend legte er seinen Kopf in den Nacken, den eine knochige, alte Hand massierte. Es war die Hand eines alten, ergrauten Mannes. Würdevoll und mit dem Ausdruck einer selbst im Nichtstun aufblitzenden Korrektheit stand er hinter dem König und nahm eine leichte Massage vor. Er tat dies ohne Anteilnahme, gleichwohl diese Schultern das ganze Reich trugen. Er war gekonnt und routiniert. Seine Hände waren trotz des Alters kräftig und ruhig. Der König genoss die Erleichterung, die der Alte ihm verschaffte. Bemerkt hatten beide die geöffnete Luke nicht. Nur der Alte begegnete dem plötzlichen Luftzug mit einer leicht erhobenen Augenbraue, als ob er Kenntnis nahm und sich später kümmern wollte.

Die Szene war seltsam. Der König trug etwas wie eine Uniform, ohne, dass Maria sie einordnen konnte. Er trug sie leger, offen, ohne Stolz. Es fehlte sein Jäckchen, fiel Maria auf. Es war wohl das, welches ihr auf dem Weg nach oben begegnet war. Das sie schon gelesen hatte. Und tatsächlich fand sie einen Mann vor, der einsam und gebeugt wirkte. Der trotz seiner Montur, die er so wenig würdevoll trug, einen geschlagenen Eindruck machte. Sie konnte nicht glauben, dass es der König sein sollte. Doch hinter den beiden hing eine Krone am Haken, die jeden Zweifel ausräumte. Der junge Mann wirkte unglaublich unbedeutend und klein. Der Alte hinter ihm in seinem violetten Dienerkostüm repräsentierte mehr als der König selbst.

»Ach Wade!«, stöhnte der König. Die kühle Brise brachte ihm kurz neue Kraft. Er hob an, flüsternd und mit langen Denkpausen, Gedanken zu formulieren, die Wade, sein Diener, ruhig erhörte, ohne seine Massage zu unterbrechen:

»Wade, mein treuer Freund, wie lange muss ich die Mühen dieses Amtes noch ertragen? Ich glaube, ich bin dazu nicht berufen, König zu sein. All die Jahre im Kleinkrieg der Entscheidungen. Dieses Doppelleben von höchstem Amt und tiefster Qual, zwischen Verantwortung für ein Volk und zermürbender Einsamkeit in der Nacht. Ach, mein Freund, du bist der Einzige, dem ich trauen darf und der mich zu verstehen scheint. Wie viele Nächte bin ich wach. Aufgerüttelt von den bösen Geistern, die mich an meine Schuld erinnern, um derentwillen ich König geworden bin. Schuld, Wade, das Einzige, was ich fühle. Keinen Erfolg, keine Genugtuung, kein Stolz auf dieses Land. Es bleibt nur die Frage, was Vladimir, mein Bruder, an meiner statt getan hätte. Dieser lebensfrohe Bursche, dieser Ausbund an Energie.