Sonntag das Rennen - Oliver Peters - E-Book

Sonntag das Rennen E-Book

Oliver Peters

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Beschreibung

Es ist ein Fluch. Die glücklose Fee Hagen Finwe ist seit 1978 an den Wünschen eines Kindes gebunden, das ihm das Leben rettete. Seitdem tüftelt er an einem Rennmotor. Die Quadrologie »Vlamma T3« gibt Einblick, welche Auswirkungen die unglückliche Entwicklung für Mensch und Fabelwesen hat. Der vierte Band führt den Leser durch die letzten Vorbereitungen auf das große Rennen am Sonntag, das das Schicksal der Welt entscheidet. Die Quadrologie Vlamma T3 erzählt die Geschichte der Grauen Fee, deren Märchen beispiellos an der menschlichen Natur scheitert. Teil 1: Jurij Potrenko : Teil 2: Das Hotel Blu : Teil 3: Watanabes Tod : Teil 4: Sonntag das Rennen

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Sonntag das Rennen
Oliver Peters
Einleitung
Schuld
Das Notizbuch
Potrenkos Ende
Das Rennen
Personenregister
Quellen
Weitere Bücher von Oliver Peters

Vlamma T3 IV

Sonntag das Rennen

Oliver Peters

Covergetaltung: Oliver Peters Coverbild: Arthur Rackham: A Midsummer Night’s Dream – 1908 (Public Domain)

Zierstreifen Rücken Softcoverausgabe: Ausschnitt aus: Wolgemut: Tanz der Gerippe - 1493 (Public Domain)

Impressum

© 2022 Oliver Peters

Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin,

www.epubli.de

Hardcover ISBN: 978-3-754969-63-2

Softcover ISBN: 978-3-754969-66-3

E-Book ISBN: 978-3-754969-64-9

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Manuela, Brian und Cati

»Sie werden, Herr Landvermesser, das sehe ich wohl, manche Phantasien aufgeben müssen, ehe Sie ein brauchbarer Schuldiener werden.«

Franz Kafka: Das Schloss (Siebentes Kapitel)

Einleitung

Das vorliegende Buch »Sonntag das Rennen« stellt den vierten Teil der Quadrologie Vlamma T3 dar. Die vorherigen Ausgaben »Jurij Potrenko« (Bd. 1), »Das Hotel Blu« (Bd. 2) und »Watanabes Tod« (Bd. 3) sind die Vorläufer.

Für die Leser, die (noch) nicht die Zeit hatten, so weit voranzukommen, erleichtert eine kurze Übersicht den Zugang zur Erzählung.

Im Jahr 2012 wäre um ein Haar die Welt untergegangen. Wie das passieren konnte und warum Sie und ich so wenig davon wissen, wird dadurch aufgeschlüsselt, dass wir in Vlamma T3 nicht nur einen Zugang zur Welt, wie wir sie kennen, angeboten bekommen. Es wird darüber hinaus die Tür zur Pan Fabula geöffnet. Jenes hintergründig existierende Paralleluniversum der Geisterwesen wie Feen, Kobolde und Elfen, die sich im Regelfall nicht in unserem Alltag zeigen. Wenngleich manches Klopfen der Heizung oder Computerproblem in Vlamma T3 eine Erklärung findet.

Beide Welten treiben schon 600 Jahren auseinander und besonders die Menschen haben gelernt, ohne die andere Seite auszukommen – gleichwohl es noch immer unsichtbare Beziehungen gibt.

Trotzdem dieser Drift Dramatik genug verspricht, geht die Quadrologie von Vlamma T3 darauf nur am Rande ein. Es wird auf das Jahr 2012 ein Schlaglicht gesetzt. Ein Zeitpunkt, an dem es zu einer jähen – von einer Verkettung von Unglücken gekennzeichneten – Überschneidung beider Welten kam. Vor 600 Jahren hätte man dieses Crossover normal gefunden, aber 2012 führte es fast in eine Katastrophe.

Eine der unsichtbaren Verbindungen zwischen den Welten ist, dass Feen nur dann geboren werden, wenn zwei Menschen sich lieben. Und ihre Liebe muss über ein Jahr Bestand haben, damit die Fee zur Lebensfähigkeit heranreift. Verflacht das Gefühl oder, wie in unserem Fall, verstirbt ein Partner, ist auch die Fee verurteilt, ihr Leben abzuschließen. So legte sich 1978 Hagen Finwe zum Sterben in einen Busch, weil Aloys Stegmeyer, der Barbara liebte, auf dem Kriegsschiff Westerholt bei einer Detonation ums Leben kam. Doch der junge Angus Hold rettete die Fee und päppelte sie zu Hause auf.

Was sich wie eine Heldentat liest, führte zu einem Bruch im Selbstverständnis beider Welten. Fortan war Hagen am Leben, obschon er hätte tot sein sollen, was deprimierend genug für eine Fee ist. Durch einen der drei Wünsche des Jungen aber, Rennweltmeister der Formula Alpha zu werden, war er zudem von 1978 an bis 2012 verurteilt, an der Karriere von Angus mitzuwirken, bis er endlich frei sein würde.

Hierfür brauchte es zum Beispiel einen Rennmotor, den Hagen Finwe mit dem skandalösen Wissenschaftler Prof. Dr. Lambert Flammershausen entwickelte. Das Aggregat ist der Kern des Problems, denn der Motor besteht zu einer Hälfte aus naturwissenschaftlichen Elementen, zu einer geheimnisvollen zweiten Hälfte aber aus magischen Kräften der Pan Fabula.

Diese Mischung, ein übler Cocktail genannt, war nur durch den kurzfristigen Einsatz bei einem – aber dem entscheidenden – Rennen der Saison 2012 zu rechtfertigen. Der Motor unterlag der Kontrolle Hagen Finwes, dessen Magie sein enormes Potential bändigte. Was so lange gut ging, bis er seine Zauberkräfte durch Jurij Potrenko verlor und der Motor anfing, ein Eigenleben zu entwickeln.

Flankiert wurde der Verlust der Kontrolle über Vlamma T3 dadurch, dass der Thron der Pan Fabula aus unterschiedlichen Gründen in die Hand eines Menschen geriet. Dies unwahrscheinliche Szenario ist mit den komplizierten Regeln der Inthronisierung zu erklären, in die sich der Mafioso Jurij Potrenko verwickelt hatte. Zumindest ist es wichtig zu wissen, dass ihm die Ehre, König der Pan Fabula zu sein, unfreiwillig zuteilgeworden war.

Er ist ein Mensch, der weder die Regeln noch die Ordnung der Pan Fabula versteht. Die Überforderung Jurij Potrenkos zeigt sich in fast allen Belangen. Sowohl in Angelegenheiten der Pan Fabula sowie in seiner Rolle als Big Boss. Er verfällt nach und nach dem Wahnsinn.

Von großer Bedeutung ist sein Notizbuch, in dem er seine Verbrechen und seine Aufzeichnungen zur Pan Fabula festgehalten hatte. Ersteres Schriftgut ist für die Staatsanwaltschaft, zweiteres für den psychologischen Dienst von Bedeutung. So notwendig die Notizen für Potrenko waren, um sich in der Pan Fabula zu orientieren: Sie stellen das Material dar, welches jedem Richter helfen würde, den Russen wenn nicht für seine Verbrechen, doch aber auf Grund seiner seelischen Disposition aus dem Verkehr zu ziehen.

Der Bankangestellte Markus Pfeifenberger, dem das Bankgeschäft zu langweilig war, hatte das in einem Schließfach aufbewahrte Dokument dem Reporter Mehrbach »ausgeborgt«. Die Sache flog auf. Potrenko setzt alles darauf an, das Notizbuch zurückzubekommen. Mehrbach liegt seit Monaten mit Knochenbrüchen in einem französischen Krankenhaus. Pfeifenberger ist auf der Flucht. So spitzt sich die Situation zu.

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Stück für Stück, durch Rückblenden auf 1978, den stillen, alltäglichen Kämpfen der Menschen, den Reaktionen in der Pan Fabula und die Perspektive der Polizei wird das sich abzeichnende Unglück zusammengesetzt – das mit dem Rennen am Sonntag seinem Höhepunkt zustrebt.

Dashiell Sun

PO box 733

Los Angeles

Schuld

1985

Der Regen fiel schwer an dem Tag, da sich die kleine Gemeinde traf, Angus’ Mutter, der geschätzten Carola Hold, das letzte Geleit zu geben. Es war eine erschrockene Gruppe Menschen, die schwarz gekleidet Eleganz und Würde zu zeigen versuchte. In schlechtsitzenden Anzügen, zu engen, weißen, vom Bierbauch gespannten Hemden, muffigen Kleidern mit gesprengter Naht. Regungslos trotzte sie dem Wetter und folgte dem schmalen Sarg von der Kapelle zum Grab. Die opulente Totenlade glich einem verkitschten Holzschrein in Eiche, das Regenwasser leckte an ihr herab.

Angus und sein Onkel Werner bildeten die Spitze des Zugs. Es folgte eine versprengte Gruppe, zusammengesetzt aus Bekannten vom Roten Löwen, die in den letzten Monaten eine unerklärliche Nähe zu Carola verspürt hatten: Bert, der Wirt, Ernest, John. Und entfernte Familienangehörige der Holds, eher flüchtige Bekannte. Sie kamen teils aus Sensationslust, teils wegen eines diffusen Gefühls von Mitleid.

Auf dem Ast einer der den Friedhof umstehenden Linden saß jung und unförmig Hagen Finwe, schloss mit einer Hand fest den Mantel am Hals, hielt sich mit der anderen am Holz des Baumes. Sein Hut, tief ins Gesicht gezogen, leitete in Rinnsalen Wasser ab. Eine magische Aura schützte vor Regen und die Kleidung vom eintragenden Dreck des Mooses. Dennoch spürte er die aufsteigende Kälte.

Für Wesen der Pan Fabula waren die religiösen Rituale der Menschen so unverständlich wie absurd. Hagen wusste: Pastor Lothar Martens schätzte es, eine größere Gruppe Angehörige und Freunde im Zug zum Grab vereint zu sehen. Bevor er anhob, biblischen Worte über den Leichenacker zu treiben, erinnerte sich der Vertreter Gottes, wie häufig er allein mit einem Sarg gewesen war und sich seine Predigt über den weiten Friedhof ungehört verlor.

Das Grab für Carola Hold war neben der letzten Ruhestätte von Bernhard Graf ausgehoben. Der erste Fall, den Martens vor Jahren zu behandeln hatte; seinerzeit Besitzer eines jener herrlichen, bürgerlichen Wohnhäuser im Norden der Stadt. Eine karge Begleitung für ihn, der ohne Familie gelebt hatte und einsam gestorben war. Einige Mieter seines Hauses waren gekommen. Die erste Beerdigung vergisst du nie, das dachte der Pastor jedes Mal, sah er den Stein von Bernhard Graf. Hagen konnte ihm hinter die Stirn blicken, sah die Zweifel, sah die Angst.

Beerdigungen sind klamme Konstellationen. Hagen sah Martens größte Sorge: am Ende keinen Trost zu spenden. Denn er stellte den Glauben an Gott und die Wiederauferstehung infrage. Hagen zog die Nase hoch. Er meinte, die Haltung Lothar Martens zu verstehen. Die Menschen, sie verwechselten oft die Begegnung mit den Geisterwesen mit ihrem Gott und zirkulieren so über spirituellen Abgründen.

Den Gesichtszügen der Gemeindemitglieder hing ein matter Spott nach. Der Tod brachte den Lebenden eine Erfahrung von endloser Grausamkeit. Was tröstet sie, wenn es die Religion nicht mehr vermag? Was lässt ihren Schrei verstummen? Warum führt nicht jedes Mal die Bestattung vertrauter Menschen in ein Fiasko? Martens wunderte sich, dass sie nicht von ihren Zweifeln aufgebracht aufsprangen, wenn er predigte. Satt von seinen Worthülsen. Ihn anklagten. Den Vertreter Gottes. Nichts, aber auch rein gar nichts änderte es am Resultat, dass der Tod alles zu Ende brachte. Wie stark man auch war, wie schwach man sich gab, welche Fehler man gemacht und Wunder im Leben vollbracht hatte. Was sollte er ihnen sagen?

Hagen schloss die Augen. Er kannte die Selbstzweifel Martens. Diese Verbindung höherer Ziele mit dem Moment einer Entscheidung. Während den Pastor nachts die Angst wachhielt, dass die feine Blase des Respekts vor der Kirche beim Beerdigungsritual zerplatzte, war sich Hagen seiner Schuld gegen die Menschen seit heute gewiss.

Ein Windstoß ging durch die feuchten Blätter, hob Geruch an, ließ ihre Feuchtigkeit auf den Boden stürzen. Hagens Griff am Baum wurde fester. Er war noch jung. Das Wachstum der Flügel einer Fee brauchte Zeit und wurde von guten Taten begünstigt. In seinem Schulterblatt waren nur ledrige, braune Stumpen ohne Entwicklungschancen verwachsen. Bewegliche Flecken, als ob unter der Haut eine Larve aus dem Nest strebt und an dem gummiartigen Überzug zurückgeworfen wird. Mit Blick auf den Zug, der dem Sarg von Carola Hold folgte, war klar, dass er sein Leben lang ohne Flügel bleiben würde. Er fühlte Schuld.

Martens Probleme mochten im Vergleich zu seinen klein sein. Für den Geistlichen wirkte die Aussicht auf Veränderungen am Ablauf von Gottesdiensten, Glaubenslehre oder Beerdigung beunruhigend. Jede Panne – und es gab Pannen genug beim Gang zum Grab – glich dem Knirschen einer Eisfläche, auf der man Schlittschuh fuhr, ohne die Dicke geprüft zu haben. Wie neulich der Junge, der an der offenen Grube der Bekannten zum letzten Gruß eine Rose ins Grab nachgeworfen hatte. Sie wurde von einer Böe erfasst und auf das Erdreich neben der Öffnung getragen. Dieser Schmerz.

Martens erinnerte sich. Der Name war Domrös, Spitzname Dornröschen. Daher die Blume, die sie wie mit letztem Atemzug aus ihrem Grab blies. Wie wenn ihr Tod zur Silvesternacht, 3 Tage vor dem Umzug aus dem zugigen, unbeheizbaren Haus ihrer Kindheit in eine neue Sozialhilfewohnung, nicht akzeptabel gewesen wäre. Es hatte Martens fast den Boden unter den Beinen weggezogen, wie er den Jungen auf dem Aushub krabbeln gesehen hatte. Gefährdet, jederzeit ins Grab zu stürzen. Er hatte die verloren gegangene Blume gesucht und sie dann, um sicherzugehen, wie einen Wurfpfeil in die Begräbnisstätte geschleudert. Mit einem schwachen Pock auf dem Holz des Sarges erreichte sie ihr Ziel. Der Versuch von Dornröschen, den Protest aus dem Grab zu tragen, war zurückgeworfen. Amen.

Hagens Verwicklung in die Beerdigung ging auf tiefere Verwerfungen zurück. Der Zug kam näher und er konnte jetzt Angus erkennen. Der Junge zeigte ein kaltes, starres Gesicht. Der Regen wusch sein Haar, verklebt und zerzaust rahmte es seinen ausdruckslosen Blick. Auf seiner Schulter Werner Buchholzes Hand, der Bruder Carolas; aus Hockenheim angereist, um seiner Schwester in den letzten Wochen beizustehen und nun die Obhut über den Jungen zu übernehmen.

»Angus«, flüsterte Hagen Finwe, wie zu einer Entschuldigung. Der Feenrich schüttelte seinen Kopf und senkte beschämt den Blick.

Ein Seufzen entfuhr der Gruppe, nachdem der Sarg in die Erde rückte. Der Schauer verwischte die Figuren, Linien und Farben, die schwarze Kleidung der Anwesenden sog sich voll und glänzte wie eine künstliche Haut. Schirme und Hüte verdeckten die Gesichter, Tränen verschmolzen mit dem Wetter. Man blieb, bis die Kränze der Angehörigen und Freunde von Helfern arrangiert worden waren. Wollte sehen, wer das Dahinscheiden Carola Holds zur Kenntnis genommen hatte, aber nicht den Weg zum Friedhof gefunden hatte. Da entfaltete sich schon das Band von dem Kranz der Kolleginnen aus der Boutique, in der sie zuletzt gearbeitet hatte. Ruhe in Frieden. Der Standard der Mittelmäßigkeit.

Weitere letzte Grüße wurden dem nicht enden wollenden Regen ausgesetzt. Die Verwandtschaft von Carola aus dem Ostfriesischen, denen der Weg zu lang war, schickte ihren Abschied. Der Sportverein. Zwei Freundinnen.

Man trat den Weg ins Restaurant Zur Linde an. Nahe dem Friedhof, bevorzugter Veranstaltungsort des Leichenschmauses. Diesem bitteren Kaffeetrinken, das den Angehörigen Fassung abverlangte und zugleich Solidarität vermittelte. Veranstaltungen, die der Gastronomie im Volksmund den Namen Zur letzten Träne angetragen hatten.

Der Weg über den Friedhof, durch ein Meer an gleichförmigen, zeitlos aus dem Boden ragenden Grabsteinen – Zeugnisse vergangener Lebensspannen, wie erschreckt sich aus der Erde streckende Hände. Grüße, aus dunkler Liegestatt, bevor auf immer diese eine Existenz aus der Erinnerung verschwinden würde. Der alle Konturen auflösende Regen schwemmte diesen Chor an Hilferufen weg und erstickte ihre Stimmen im Rauschen und Gurgeln.

Der Trupp gebeugter Menschen fand zwischen ihnen seinen Weg. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, manchmal stach einer der Steine hervor. Automatisch orientierte man sich: War der Name bekannt? Wie stand es um die Lebensdaten? Welche Zeit hatten sie gehabt? Stetig am Rechnen kam man auf beunruhigende Weise zu immer neuen Zahlenergebnissen. 39 Jahre, 22 Jahre, 78 Jahre, 14 Jahre. Es gab kein Muster.

Versuche der letzten Selbstdarstellung, mit Leitspruch und den numerischen Eckpfeilern. Versuche, der Existenz Sinn zu verleihen. Verdichtet zu einer hoffnungsvollen Stimme, die Verzweiflung in sich trug: Die wir verloren glauben, sind uns nur vorangegangen. Oder: In dem Herzen zu leben, das wir lieben, ist nicht sterben. Manchmal: Nicht traurig, dass es vorbei, glücklich, dass es gewesen. Nicht zu vergessen: In jedem Ende liegt ein neuer Anfang. Sie sagten in unheimlicher Einigkeit: Wir sind nicht tot. Wir dürfen nicht tot sein. Wir können nicht aufhören zu existieren. Doch waren sie alle gestorben. Genauso wie Carola Hold, die viel zu jung starb und nicht mehr da war. Trotz der von Pastor Martens gepredigten und bezweifelten Aussicht auf eine wie auch immer gearteten Wiederkehr aus dem Reich der Toten. Hagen Finwe sah den ungeordneten Zug zur Gaststätte hinterher. Er würde ihnen nicht ins Lokal folgen können. Geschickt balancierte er auf dem Ast zurück zum Hauptstamm und glitt herunter auf den Boden. Durchs Fenster, dachte er, würde er der Gemeinde beiwohnen.

Angus saß allein an der einer Tafel. Der Leichenbestatter Erdreich hatte ihn mit unverhohlener Abscheu empfangen. Hagen konnte sich das kaum erklären und nahm an, dass der Tod seiner Mutter die festgelegten Abläufe durcheinandergebracht hatte. Solche wie Erdreich spürten das.

Die Sitzordnung brachte den Jungen in die Nähe zweier uralter Ehepaare, die in friesischer Tradition Trauer trugen und den Eindruck erweckten, sie recht bald bei ihrer eigenen Beerdigung brauchen zu müssen.

Angus schwieg und starrte in seinen Kakao, sein Onkel Werner versuchte ein Gespräch mit den Nachbarn. Die Verständigung war schwer. Ihre sie trennenden Jahrhunderte und der tief verankerte plattdeutsche Slang legten Steine in den Weg. Werner hatte die Sprache verlernt. Natürlich spielte auch eine gewisse Harthörigkeit dieser Leute mit hinein. Hagen beobachtete vom Fenster aus das nahezu 80-jährige Gemälde geistiger und körperlicher Unbeweglichkeit, die wie aus Stein gehauen wirkten. Darin lag Stärke und Wille. Gelegentliches verständnisloses Kopfschütteln und ein kurzes unbeholfenes Lächeln der Frauen brachte eine Spur Kleinlichkeit in das Ensemble.

Werner erzählte von seiner Arbeit in einem Rennstall der Formula Gamma. Ein weiteres Hindernis, um in eine rege Interaktion zu treten. Dort die Industrieanlagen moderner Ingenieurskunst, hier ein Hof in der Stille ostfriesischer Marschlandschaft. Hakelige Vertraulichkeit in die Jahreszeiten, fehlender Komfort, ein Lebensrhythmus, der den der Effizienz von Rennmotoren zurückstellt vor dem des Viehs und der Zeitläufe der Natur. Ein Dialog über Traktoren wären eine schmale Brücke gewesen, worauf weder Werner noch die Alten kamen.

Angus blickte unvermittelt zum Fenster. Folgte eine Ahnung und sah die schemenhafte Gestalt mit Hut durch das regenverlaufene Fensterglas. Erkannte ihn nicht. Hatte ihn vergessen, wie es Programm seines geäußerten Wunsches war, alles zum Verschwinden Manfred Holds vor zwei Jahren aus dem Gedächtnis zu sperren. Und doch war sein Blick wissend, aus dem Moment gefallen.

Der Feenrich duckte sich unters Fenster und setzte sich. Über ihn gurgelte die Rinne die Wassermassen ab, neben ihm tropfe Überschuss in eine Blechtonne. Es gab sicherlich Kräfte, überlegte Hagen, die über das Wissen und Vergessen hinausgingen. Seelische Kräfte. Ein Band zwischen Mutter und Sohn. Und Angus Blick hatte verraten, dass er gerade begriff: Dieses Band war für ewig zerschnitten. Zu früh.

Das schlechte Gewissen Hagens gewann Oberhand. Obschon Abschiedsschmerz immer gleich war, ob in der Liebe, im Tod, im Abschied von der Kindheit, gab es in Angus’ Blick eine Besonderheit. Denn er hatte die Liebe, das Vertrauen ins Leben und seine Kindheit in einem verloren. Und Hagen, der Feenrich, der auf der Erde Gutes zu tun hatte, Erfüllungsgehilfe der Wünsche des jungen Angus Hold sein sollte, er hatte diesen Schnitt im Leben herbeiführen müssen. Hagen meinte das zumindest.

Vielleicht würde die Geschichte über ihn milde urteilen. Doch vor einem Jahr sah Hagen Finwe keinen anderen Weg, den störrischen, lernunwilligen Angus Hold durch drastische Maßnahmen in ein Ambiente zu lancieren, die dem geäußerten Wunsch nach einem Aufstieg zum Rennfahrer Rechnung tragen würden. Naheliegend, ihn in die Obhut des Bruders von Carola Hold zu bringen. Werner Buchholz und Angus verstanden sich gut. Er bewunderte seinen Onkel für seinen Beruf und der war manchmal gerne bereit gewesen, den Jungen aufzunehmen. In Phasen, in denen Carola, von der Einsamkeit ihres Lebens depressiv, etwas Zeit für Therapie und Medikamente brauchte. Wenn in ihr der Eindruck genagt hatte, jemand fehlte an ihrer Seite. Werner Buchholz war ein effizienter Mann. Die Frage, was aus dem Vater von Angus geworden war, ergab zwar kein Ergebnis, aber er hielt sich nicht weiter damit auf.

Doch Angus hatte nicht genügend von den Begegnungen mit seinem Onkel profitiert. Der Tod von Carola Hold war eigentlich nicht Hagens Schuld gewesen. Eine Frühuntersuchung hätte den Krebs entdeckt. Doch Hagen hatte die Entscheidung getroffen, den Krankheitsgrad von Carola zu erhöhen, um Werner und Angus länger aufeinander wirken zu lassen. Es war ein Fehler gewesen. Es war ihm entglitten.

Hagen sah zwei Meter von ihm Pastor Martens eine nervöse Zigarette rauchen. Er blinzelte übermüdet in den grauen Himmel, wie wenn er dort Gott suchte.

Der Regen ließ nach. Das Tropfen in die Tonne verlor an Intensität, die Wagen auf der Straße vor dem Restaurant hatten die größten Pfützen bereits trockengefahren. Doch Hagen fror weiter. Er hatte einem Menschen die Chance genommen weiterzuleben. Das war nicht töten, aber es würde reichen, ihm keine Flügel mehr wachsen zu lassen. Nach seiner Rettung aus dem Busch ohnehin ein Geisterwesen ohne Bestimmung, hatte er nun auch noch Schuld auf sich geladen und würde immer Trauer tragen. Er würde diese Beerdigung nie mehr verlassen.

Es roch erdig im Saal, es war nicht besonders warm. Die Alten meinten, es fühlte sich an, wie wenn der Raum von einem Torfofen befeuert werden würde und der Tee diesen Geschmack angenommen hatte. Ein Rotkehlchen plusterte sich in einem nahen Busch.

27 Jahre später

Das Notizbuch

Den Waldboden hält das verschlungene Geflecht des Wurzelwerks der Bäume. Öffnest du an einer Stelle im Wald ein Loch, wirst du nie wissen, welcher von ihnen seine Quellen bis zu deiner Grabungsstelle verlegt hat. Unsichtbar der unterirdische Kampf, die die unentwirrbar miteinander verknoteten Radices in kaum bestimmbaren Zeitenfolgen ausgetragen haben, um wie ein festes Netz zu wirken. Bei den Menschen ist es nicht anders.

Inferior Globuli: Lex Libre spiriti domini scurrae fatuaquam

Kiosk, Donnerstag, 10:00 Uhr, 3 Tage, 5 Stunden vor dem Rennen

Die Holzbude stieg aus dem Grau der Steine. Erich freute sich über die wacklige, verschossene Konstruktion, die so viel Sicherheit in seinem Leben ausstrahlte. Die knarrende Eingangstür, die aufgestoßene Verkaufsluke, der eröffnete Blick auf den vertrauten kleinen Platz an der Kreuzung, seinem Ausschnitt aus dem Universum.

Den Großteil des Morgens hatte er sich dieser Dankbarkeit hingegeben, die lange Nacht reflektiert, die hinter ihm lag, den Abgrund ausgelotet, der sich vor ihm aufgetan hatte. Der Schlafentzug wirkte einer Trance gleich. Und wäre gegen 9:00 Uhr nicht die Nachricht im Radio gekommen, dass Angus Hold aus seinem Koma erwacht war, hätte der alte Jockey vielleicht den ganzen Vormittag in einer wattierten Blase seine Arbeit verrichtet. Hätte früher dichtgemacht und zu viel Kaffee getrunken. Doch die Nachricht elektrisierte ihn und die Stadt.

Bis dahin war der Verkehr wie immer träge dahingeflossen, hatten die Straßenlaternen leicht im sanften Wind gewippt, waren die Menschen in sich gekehrt zur Arbeit geströmt. Darüber ein endlos blauer Himmel, der sich über den Platz, die Straße, die Stadt wie eine Verheißung wölbte, mehr vom Leben erwarten zu können, wenn man nur aufblickte und seine kleinen Probleme des Alltags ins Verhältnis zu ihm brächte.

Die Sonne hatte noch wenig Kraft, feuchte Kühle hing in den Ritzen der Bretter seiner Verkaufsbude, die Hecke schüttelte sich von den Blättern, zwischen denen das Rotkehlchen hüpfte. Das Blattwerk überzog sich bald mit Abgasen. Die morgendliche Frische würde verfliegen, als wenn die aufsteigende Wärme eine Decke vom Bett zöge. Die kurze Nachricht von Angus’ Erwachen aber fuhr durch die vertrauten Details des gewohnten Bilds und belebte die Sinne.

Gegen 10:10 Uhr stachen die Straße hochjagende Rettungswagen und Martinshörner die gewohnte Geräuschblase auf. Man musste sich die Ohren zuhalten. Erich wusste nicht, dass sie auf dem Weg zu Hachibo Watanabe waren, um den verunglückten Ingenieur vielleicht noch zu retten. Unschuldig schaute er den Ambulanzen hinterher, spielte mit dem Schlüssel in der Hose, ging immer wieder den Worten nach, die er mit Agnes ausgetauscht hatte.

Er hatte diesen Morgen darauf verzichtet, zu fegen. Nachdem er die Stehtische herausgerollt hatte, signalisierten seine Knochen und die Hüfte im Speziellen, dass durchwachte Nächte nicht mehr einfach wegzustecken waren. Die an Schmerz erinnernde Müdigkeit stieg in ihm auch jetzt, wo er den Rettungsdiensten hinterherblickte, vom Skelett ausgehend an und griff auf sein Herz. Der Platz würde es verkraften, einen Tag ohne seine Pflege auszukommen. Mit seinem Kaffee setzte er sich ans Verkaufsfenster, fuhr mit den Fingern die Blätter der Zeitungen herab, wirkte nachdenklich.

Immer wieder kreisten seine Gedanken um die zurückliegenden Ereignisse. Die Stunden, nachdem Pelle Agnes und ihn im Büro von Jonny Manske zurückließ. Den Blick ohne Fokus auf den Platz vor dem Kiosk, rieb er seine Handgelenke, wo die Fesseln in seine Haut geschnitten hatten.

Die ersten Kunden waren früh gekommen. Die Presse berichtete noch von Angus’ Koma, doch im Radio überschlugen sich die Meldungen von seinem Erwachen. Die Käufer waren froh, Erich einmal erschöpft zu erleben. So, wie sie es selbst jeden Morgen waren. Manchmal verrechnete er sich mit dem Wechselgeld, das Paket mit einer Zeitschrift war noch nicht aufgeschnitten gewesen und er hatte das gewünschte Exemplar herausgesucht. Sein Rücken strahlte ebenfalls Schmerz aus. Dann herrschte Ruhe, und er war wieder in Gedanken. Der Rettungsdienst fuhr still in die Bereitschaftsgaragen zurück. Erich nickte wissend, nachdem er sie an der Ampel stehen sah. Er presste seinen Mund zusammen, seufzte.

Eine Windböe strich durch sein Verkaufsfenster und fächerte einige Zeitungen auf. Die Luft fühlte sich kühler an, kühler im Vergleich zu den Tagen zuvor. Er runzelte die Stirn, hörte einen Bericht zu Angus bis zum Ende an und zog die Schublade mit seinem Wetten-Block auf. Nachdenklich trommelte er mit den Fingern auf das Holz des Tresens, studierte ihn. Dann schaute er sich im Verkaufsraum um. All das ist vielleicht an sich nicht viel wert. Aber es ist die Garantie, nicht abzustürzen. Und er sollte jetzt endgültig gelernt haben: Es konnte von einer Minute auf die andere alles zu Ende sein. Er schritt in dem kleinen Kabuff herum und berührte das Holz, strich über die Regale, hörte die Bohlen knarren, die er mit seinem Leichtgewicht belastete.

Das Rotkehlchen setzte sich auf den Tresen. Es traute sich das erste Mal so nah an ihn heran. Staunend studierte es das Innere des Verkaufsraums und warf einen Blick zu dem alten Mann hoch. Hüpfte nervös, die Krallen tickten auf dem Holz. Erich musste lächeln.

»Na, mein Freund. Ein Wasser? Kaffee ist wohl zu stark für dich«, raunte er leise, um den Vogel nicht zu erschrecken. »Mach dir keine Sorgen, ich bleibe hier. Dein Nest ist sicher.«

Der Vogel tschiepte und flog wieder fort. Erich lehnte sich aus dem Verkaufsfenster und sah ihm nach, wie er sich zum Himmel aufschwang. Ein kleiner Punkt in einem tiefblauen Meer. Höher war das silberne Kreuz eines Passagierflugzeugs zu sehen, von dem die Sonne reflektierte. Er war glücklich. Blinzelte so in den Himmel, atmete die heiße Luft der Stadt, vom kühlen Wind umhüllt, spürte Dankbarkeit. Das Erwachen von Angus fühlte sich an, als ob sich die Tür zu einer besseren Zeit öffnete, so ging es vielen in der Stadt.

Er wusste, die Nachricht von Angus hätte ihn an einem Tag, an dem er ausgeschlafen gewesen wäre, deutlich nervöser gemacht. Er hätte über ihre Auswirkungen auf die Wettbüros und die Quote spekuliert. Sich erinnert, wie er als Kunde die Büros belagert hatte. Wettfieber, es gab kein besseres Wort dafür. Die Hitze, der erhöhte Puls, die Schwäche des Körpers, wenn die Wette verloren war. Der Rausch. Heute aber blinzelte er müde zum Radio, das die Meldung erneut und erneut verlas. Angus war erwacht. Sie suchten den Kern dieser Metapher auszuloten. Es roch nach Auferstehung.

In der Schublade lag immer noch der Block mit seinen Spieletipps und Kalkulationen zum Rennausgang Sonntag. Die kleine Hintertür zu seinen alten Sünden. Die Wetten, die Reichtum versprachen und das Gefühl von Kontrolle vermittelten. Dieser Glaube, befähigt zu sein, das Geschehen auf der Pferderennbahn oder dem Fußballplatz, auf der Rennstrecke draußen vor der Stadt vorauszusagen. Es hätte ihm gestern fast das Genick gebrochen. Er wollte sofort den Block aus seiner Schublade herauskramen und endgültig wegwerfen, da ging es auf 10:30 Uhr zu. Ein Leichenwagen fuhr in Richtung Autobahn. Die Sonne reflektierte auf den dunklen Scheiben und blitzte Erich kurz an. Er zog seine Hand zurück und schloss die Schublade. Später, dachte er. Ganz bestimmt später. Der alte Aberglaube. Ansonsten war er mit sich im Reinen.

Man hätte sich neben ihn setzen wollen, diesem glücklichen, befreiten Menschen, um mit ihm diesen seltenen Moment innerer Harmonie zu feiern, ihm auf die Schulter klopfen, mit ihm lachen. Aber nur, weil man nicht von der Tragödie wusste, die in diesem Moment auf der Autobahn stattfand. Wo Hachibo Watanabe Abschied vom irdischen Leben genommen hatte. Der Leichenwagen näherte sich gerade zügig über den Parkstreifen der Unfallstelle am Stau vorbei und musste wegen eines ausscherenden Wagens scharf abbremsen. Der leere, schlecht gesicherte Sarg, rutschte leicht aus der Verankerung.

Erich räumte auf. Beim Schieben und Räumen des Kioskinventars auf den Vorplatz schaute er immer wieder in den Himmel, an dem sich seit Kurzem vom Norden her eine geschlossene Wolkenlandschaft auftürmte und sich schmutzig grau gegen den azur gefärbten Himmel abgrenzte. Wattige Formen und Gestalten zeichnete die langsam näherrückende Front, überbordend mächtig wie flockig leicht. Spielerisch, Harmlosigkeit vortäuschend, Kindern vermittelte sie den Eindruck einer Welle aus Zuckerwatte, nicht das heranrollende Unwetter vom Horizont.

Noch aber regierte die Sonne, wenngleich ihre strahlende, sich bis in den letzten Winkel des Himmels erstreckende Kraft zusammengeschoben wurde. Schon zerfloss das leuchtende Blau der zurückliegenden Tage nicht über das gesamte Firmament und konzentrierte sich zu einer metallischen grün-grauen Plattform. Ihre grelle, blendend energetische Wucht, die sie die letzten Tage gegen Menschen, Pflanzen und Gemäuer geworfen hatte, Wasser zog, Farben ausbleichte, Haut verbrannte, Netzhäute blendete, war einem diffusen Glanz gewichen, der sich wie Balsam in die Erde rieb. Der Wind hatte weiter zugenommen, strich immer wieder durch Erichs Hemd, fühlte sich mal heiß, mal kühl an. Er ahnte die Wucht des drohenden Unwetters. Schon mit dem ersten, kalten Kuss des Windes, nachdem er das Haus heute Morgen verlassen hatte, wusste er, dass das Wetter umschlug.

Er fing an, alles, was an seinem Kiosk lose hing, zu sichern. Zurrte die zurückgerollten Stehtische in ihrer Ecke fest, nahm Schilder ab, prüfte die Läden vor der Verkaufsluke, hob die bunten Mülleimer mit Eiswerbung vom Haken und parkte sie im Verkaufsraum. Die Schwüle drückte jede Stunde mehr.

Silvester Keller war gegen 12 zum Kiosk gekommen, um über den Verlauf der gestrigen Nacht zu berichten. Sprach kryptisch von einem unverhofften, anonymen Anruf und signalisierte Erich zu dessen Erleichterung, er würde als Tippgeber nicht ins Verfahren hineingezogen werden. Ein Mann war mit D-Mark-Scheinen in die Schultheiß-Kneipe gekommen und hatte nachgerade die Polizisten gesucht. Wie sich herausgestellt hatte, waren es Blüten. Es wurde jetzt geprüft, ob das Geld aus einem der Schließfächer vom Raub am Montag stammte. Oder ob sich ein Zusammenhang zu Falschgeldverfahren in der Vergangenheit herstellen ließ, in die der Bote verwickelt gewesen sein soll. Erich kannte das Ergebnis. Das vorläufige Ende vom Lied über Pickel und Pelle, das man vor Jahren gesungen hatte.

Er wies das Geld des Polizisten für den Kaffee zurück und bedankte sich damit beim Kommissar für die Hilfe in der letzten Nacht. »Melde dich, wenn was ist«, hatte Keller Erich noch erinnert und verschwand wieder in Richtung Polizeirevier. Der alte Jockey hoffte, dass er das nicht mehr brauchte. Dass Pelle jetzt Ruhe geben würde.

Er beschloss, nicht weiter darüber nachdenken. Pelle hatte ihn so sehr beschäftigt, dass er vergessen hatte, den Kommissar nach den Gnomen zu fragen, die er ihm gestern gemeldet hatte. Sie waren auf freiem Fuß. Er meinte, sie in aller Frühe in Richtung Siedlung abgehen gesehen zu haben. Etwas getrieben, immer noch auf der Suche.

Mit jeder Stunde wich das kurze Hochgefühl seiner Dankbarkeit dem alten, tief in Erich verwurzelten Gram. Erich ärgerte sich immer mehr über seinen Run auf den vermeintlich großen Gewinn. Er bemerkte, er musste sich anstrengen, um die alten Dämonen in ihm zu bezwingen. Sie in ihren Verstecken zu halten.

Eine Selbsthilfegruppe vielleicht? Ein ehrenamtliches Engagement? Er lehnte sich mit einem Kaffee im Plastikbecher gegen die sonnengebleichte Holzwand und überlegte, ob der Bau nicht mal einen Anstrich brauchte. Dann studierte er die Wolkenberge, die schwerelos der Stadt näher rückten, und fand Figuren in den Formationen, bewunderte die pilzförmigen Auftürmungen. Das Licht der Abendsonne würde die Ränder leuchtend orange gegen den goldbraunen Himmel färben. Doch noch war es nicht so weit.

Er pulte an der abblätternden Schutzschicht und pulverisierte den Abrieb zwischen den Fingern. Ein ehrenamtliches Engagement würde bedeuten, weniger Stunden im Kiosk zu verbringen. Die Zeit, die er hier arbeitete, wurde ihm nie lang, aber mehr von der Welt zu sehen mochte seinem Leben noch mal Pfiff geben. Mit Glück reichte ihr Erspartes für eine kleine Reise. Das würde Agnes guttun. Auch wegen der verlorenen 20% Beutebeteiligung, die sie zuletzt mehr grämte, als sie einzuräumen bereit war. Er wollte sie auf andere Gedanken bringen.

Diesen harmlosen Überlegungen hing Erich Konstantin nach und war ahnungslos. Unwissend darüber, wie sein Kiosk zur Drehscheibe der Ereignisse geraten war, die nicht nur sein eigenes Schicksal bestimmten. Es ging um die Stadt. Und noch mehr.

Aber er wusste ja auch sonst nichts von den biographischen Tiefen seiner Kunden, den Schluchten ihrer Gefühle, die Anekdoten, die sich in den Falten ihrer Seelen verbargen. Nichts von der übergroßen Zahl der Geschichten und Geschichtchen, die sich weit über die Stadt streuten und noch weniger von ihrem inneren Zusammenhang, ihrem Überbau, der Menschen untereinander in Verbindung brachte, ohne dass sie es voneinander erfuhren.

Er war voller Unkenntnis über die Entwicklung der letzten Stunden und Tage. Silvester Kellers Ermittlungen zum Bankraub am Montag, die mit seinem Freund Angelo korrespondierten. Von Potrenkos Kampf um seine Rolle als Koboldkönig. Flammershausens Ringen um die Wissenschaft – Vlamma T3s Versuch, immer mehr Schnittstellen zu kapern, um Informationen zu sammeln, Weichen zu stellen, Netzwerke zu beherrschen. Seinen Untaten, deren er sich schuldig gemacht hatte, weil er sich längst nicht mehr nur auf den Lauf zum Weltmeistertitel vorbereitete. Das Rennen Sonntag, über das das Radio berichtete, warf seine Schatten voraus. Das in einem kleinen, schäbigen Block aus Altpapier, der in Erichs offenen Schublade von einem Windzug aufgeblättert war, mit Bleistiftzahlen skizziert lag. Ein enthemmter Rennmotor, dem nach mehr verlangte. Selbst Vlamma kontrollierte nicht alle Vorgänge in diesen Stunden.

Unwissenheit. Allenthalben. So war die Begegnung mit dem nächsten Kunden beispielhaft für Erichs unbedarfte Haltung. Beispielhaft für die tiefe Verästelung von Geschehnissen, die sich ihm gänzlich verschlossen blieben. Es war nicht sein Fehler. Streng genommen erlitt er das Schicksal der meisten Menschen. Man erfasst nicht die detaillierten Zusammenhänge. Nicht, wie der Einzelne in Verantwortung für höhere Dinge steht, wenn er sie auch nicht sieht oder versteht.

Das unsichtbare Verwirrspiel nahm unter der Decke der Motorgeräusche der Straßen, den Geschrei der Kinder in den Schulen, den Rasseln der Einkaufswagen in Supermärkten und betäubenden Martinshörnern der Rettungsfahrzeuge verborgen seinen Lauf. Still fuhr der Leichenwagen mit Watanabes Leiche durch die Szenerie. Die verrutschte Verankerung war beim Herausziehen des Sargs defekt gegangen, so dass er nun unbotmäßig im Wagen schwang und Watanabes Körper schüttelte, als ob er einen Abschiedstanz performte, weil die Musik in ihm noch nicht ausgeklungen war.

Insgesamt ein Drama aus einer Melange von Koboldkönigen, menschgewordenen Feen, sterbenden Renningenieuren und ihrer Fahrer, geparkten Vätern, imaginierten Beratern und einem Rennmotor in einer vor dem Untergang stehenden Welt. So, wie es sich oft trifft, wenn durch ähnlich fragmentierte Zutaten die Erde droht, ausgelöscht zu werden, wovon wir meist nur wenig Kenntnis haben.

Da die Zugkraft dieser Elemente unsichtbar bleibt, war für Erich nicht ersichtlich, an welchen Arm des mäandernden Flusses durch die pulsierende Stadt er gerade stand. Angus war wieder wach, die Nachricht fokussierte ihn immer mehr. Ansonsten rieb er mit seinem Kaffeebecher an seinen Lippen und die stoppeligen Barthaare machten ein kratzendes Geräusch, und seine Straße wurde von der immer mehr verschleiernden Sonne in diffuses Licht getaucht. Daraus trat Orson, der den Bürgersteig aus Richtung des Supermarktes heraufkam.

Wohnung Flammershausen, 10:05 Uhr

3 Tage, 4 Stunden, 55 Minuten v.d.R.

Der Keramikbecher aus der Vintage-Kollektion von Jamie Oliver zersprang nach dem Aufprall auf den Kachelboden in unübersichtlich viele Einzelteile. Das Trümmerfeld verteilte sich vom Aufschlagpunkt, der eine kleine Kerbe in der grünen Kachel schlug, in Sekunden und ohne System über den gesamten Boden.

Träge wippend lagen große Bruchstücke des Bechers nur wenige Zentimeter vom Aufschlagspunkt entfernt. Ihre Gestalt bizarr, doch war sichtbar, welchen Teil des Trinkgefässes sie eingenommen hatten, bevor Flammershausen ihn aus dem Küchenschrank genommen hatte. Der Henkel war erhaltengeblieben und hielt sich an einer großen Scherbe, stand kurz nach dem Einschlag hochgereckt, um wie ein Sterbender zur Seite zu fallen. Kleinere Stücke sprangen mit Wucht in verschiedene Winkel der Küche wie eine Schar Kinder, die zum Versteckspiel ausschwärmen. Listig verborgen hinter dem Eimer fürs Altpapier am Kücheneingang, noch nach Schutz suchend unter das Heizungsrohr, geduckt unterm Tisch, wo das Licht dämmrig war. Dazwischen sandig kleine Spuren der Keramik, die sich nicht zu verbergen die Mühe machten. Einem von Katzen zerspielten Teppich gleich schoben sich die Teile ungleichmäßig über die Kacheln und schienen darin unbesiegbar, verborgen verteilt zu bleiben, um später die Pantoffel Flammershausen zu einem gleichmäßigen Knirschen zu bringen, wohin er auch treten sollte.

Doch der Professor bewegte sich nicht. Er hielt sich an der Arbeitsfläche der Küche fest und schwankte. Auf einem schmalen Regal in der Ecke stand der kleine Schwarzweiß-Fernseher, der rätselhafterweise noch Empfang hatte und das Morgenmagazin der Öffentlich-Rechtlichen ausstrahlte. Ein Brummton des Gerätes verriet sein Alter und die begrenzte Lebensdauer, auf dessen Ende er schon lange hinarbeitete.

Jene Meldung, die dem Medienstar unter der populären Wissenschaft den morgendlichen Kaffee aus der Hand schlug, wischte gerade weg, um Platz für den nächsten Informationsblock zu machen. Die Moderatorin vermittelte die Nachrichten in immer gleicher energetischer Ladung und in tiefliegender Distanz zum Inhalt.

Trotz ihrer Neutralität gegenüber Massensterben oder Geburt von Eisbärenbabys, rang ihr die letzte Nachricht aber ein verräterisches Lächeln ab. Flutete sie mit Menschlichkeit, so, wie es ein Versprecher vermochte. Oder der zu frühe Kamerawechsel, der sie beim Zurechtrücken der Kleidung erwischte. Es war eine Meldung aus der Sportrubrik, aus der Formula Alpha, aus dem Leben von Angus Hold. Jenem Rennpiloten, dessen Karriere seit Jahren bergauf ging, der sich vom kleinen Testpiloten aus Hockenheim hochgearbeitet hatte zum Megastar des Teams Rorick. Der Erste ihrer Stadt, der die Chance hatte, den Weltmeistertitel in der Wagenklasse zu holen, weil die Saison drastisch auf nur das eine Rennen am Sonntag reduziert war. Für das er bereits auf die Pole-Position qualifiziert war, bis ihn das Koma aus den Vorbereitungen gereissen hatte. Für den entscheidenden Lauf, in dem der neue Rennmotor zum Einsatz kommen würde, der die Wissenschaftsmagazine beschäftigte. Der Vlamma T3.

Das medial sorgsam aufgebaute Mitfiebern mit Angus hatte sich verselbständig. Er war zum Erstaunen der Beobachter zu einer Metapher generiert. Eine Denkfigur, die den Menschen Mut gab, daran zu glauben, sie könnten in ihrer schmal ausgestatteten Existenz mehr als das Erwartbare erreichen. Der Traum vom Ausbruch nach oben. Glück des Tüchtigen. Belohnung fürs Ausharren. Der Traum, der die Menschen unterhält.

Angus’ Koma schien ihn zu zerschlagen. Das Gefühl, um mehr gebracht zu sein als um ein Autorennen, grassierte seit Montag in der Stadt. Und vielleicht war es nur die drückende Hitze des Sommers, die sie davon zurückhielt, in Massen auf die Straße zu strömen und gegen das Koma zu demonstrieren.

Die Moderatorin wusste, sie verkündete in jenem Moment mehr als nur einen Krankheitsbericht, während sie von Angus Erwachen berichtete. Sie brachte Hoffnung zurück. Es war eine jener Meldungen, die sie nicht vergessen würde, gebracht zu haben. Ein Medienhighlight. Das brannte sich ein. War Fernsehgeschichte.

Flammershausen verstand das. Ihn erreichte die Meldung in dem Moment, nachdem er seinen Kaffee eingeschenkt hatte und sich lässig für die News dem Fernseher zugewandt hatte.

Scheinbar hatte Tim Danger den Star bereits aus dem Krankenhaus abgeholt. Ein Foto wurde eingeblendet, das Tim im Krankenzimmer zeigte. Er hielt die Hand des Patienten und assoziierte, ihn erweckt zu haben.

Flammershausen hatte im Vergleich zur Vornacht einen deutlich erholsameren Schlaf genossen und viele Eindrücke der letzten Tage schmolzen auf ein erträgliches Maß zusammen. Das Gefühl, auf der Arbeit seine Autorität verloren zu haben, und die psychischen Folgen seiner kurzen Existenz in Gestalt der Kröte ließen sich nicht so leicht abschütteln. Jedes Mal, wenn er mit der Zunge über seine Lippen fuhr, fragte er sich, ob etwas aus dieser Existenzform an ihm haften geblieben war. Dennoch war er deutlich mehr in Balance als tags zuvor. Die Sorgen blieben. Die Sorge um den Rennstart, den Einsatz von Vlamma im Besonderen, die Sorge um sein Rennteam, das durch den Ausfall von Angus neu zu strukturieren war. Die Gedanken zirkulierten frei in seinem Kopf. Unklar, wo sie sich am Ende absetzen würden. Da vernahm er die Meldung um Angus’ Erwachen. Er war elektrisiert. Die Chance, das Rennen doch noch über die Bühne zu bringen, verschlug ihm nachgerade die Sprache. Der Schock, dass die Öffentlichkeit vor ihm von Angus’ Genesung erfuhr, traf ihn ins Mark.

Schon längst nudelten in gewohnter Monotonie die weiteren Meldungen aus dem Fernseher, Flammershausen nahm den Scherbenhaufen in seiner Küche wahr. Es gab dann das unvermeidliche Geräusch von zerriebenen Sand bei seinem ersten kleinen Schritt.