Watanabes Tod - Oliver Peters - E-Book

Watanabes Tod E-Book

Oliver Peters

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Beschreibung

Es ist ein Fluch. Die glücklose Fee Hagen Finwe ist seit 1978 an den Wünschen eines Kindes gebunden, das ihm das Leben rettete. Seitdem tüftelt er an einem Rennmotor. Die Quadrologie »Vlamma T3« gibt Einblick, welche Auswirkungen die unglückliche Entwicklung für Mensch und Fabelwesen hat. Wie zum Beispiel für Hachibo Watanabe, der die Zeichen richtig deutet und dessen Schicksal deswegen besiegelt scheint. Die Quadrologie Vlamma T3 erzählt die Geschichte der Grauen Fee, deren Märchen beispiellos an der menschlichen Natur scheitert. Teil 1: Jurij Potrenko : Teil 2: Das Hotel Blu : Teil 3: Watanabes Tod : Teil 4: Sonntag das Rennen

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Vlamma T3 III
Watanabes Tod
Oliver Peters
Einleitung
Die Siedlung
Angus, der Rennfahrer
Zwischen den Zeiten
Zeichen
Watanabe
Watanabes Tod
Personenregister
Quellen
Weitere Bücher von Oliver Peters

Vlamma T3 III

Watanabes Tod

Oliver Peters

Covergetaltung: Oliver Peters Coverbild: Arthur Rackham: A Midsummer Night’s Dream – 1908 (Public Domain)

Zierstreifen Rücken Softcoverausgabe: Ausschnitt aus: Wolgemut: Tanz der Gerippe - 1493 (Public Domain) k

Impressum

© 2022 Oliver Peters

Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin,

www.epubli.de

Hardcover: 978-3-754943-11-3

Softcover: 978-3-754943-12-0

E-Book ISBN: 978-3-754943-13-7

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Manuela, Brian und Cati

»Sie werden, Herr Landvermesser, das sehe ich wohl, manche Phantasien aufgeben müssen, ehe Sie ein brauchbarer Schuldiener werden.«

Franz Kafka: Das Schloss (Siebentes Kapitel)

Einleitung

Das vorliegende Buch »Watanabes Tod« stellt den dritten Teil der Quadrologie Vlamma T3 dar. Die vorherigen Ausgaben »Jurij Potrenko« (Bd. 1) und »Das Hotel Blu« (Bd. 2) führen in die Geschichte ein.

Für die Leser, die (noch) nicht die Zeit hatten, so weit voranzukommen, erleichtert eine kurze Übersicht den Zugang zur Erzählung.

Im Jahr 2012 wäre um ein Haar die Welt untergegangen. Wie das passieren konnte und warum Sie und ich so wenig davon wissen, wird dadurch aufgeschlüsselt, dass wir in Vlamma T3 nicht nur einen Zugang zur Welt, wie wir sie kennen, angeboten bekommen. Es wird darüber hinaus die Tür zur Pan Fabula geöffnet. Jenes hintergründig existierende Paralleluniversum der Geisterwesen wie Feen, Kobolde und Elfen, die sich im Regelfall nicht in unserem Alltag zeigen. Wenngleich manches Klopfen der Heizung oder Computerproblem in Vlamma T3 eine Erklärung findet.

Beide Welten treiben schon 600 Jahren auseinander und besonders die Menschen haben gelernt, ohne die andere Seite auszukommen – gleichwohl es noch immer unsichtbare Beziehungen gibt.

Trotzdem dieser Drift Dramatik genug verspricht, geht die Quadrologie von Vlamma T3 darauf nur am Rande ein. Es wird auf das Jahr 2012 ein Schlaglicht gesetzt. Ein Zeitpunkt, an dem es zu einer jähen – von einer Verkettung von Unglücken gekennzeichneten – Überschneidung beider Welten kam. Vor 600 Jahren hätte man dieses Crossover normal gefunden, aber 2012 führte es fast in eine Katastrophe.

Eine der unsichtbaren Verbindungen zwischen den Welten ist, dass Feen nur dann geboren werden, wenn zwei Menschen sich lieben. Und ihre Liebe muss über ein Jahr Bestand haben, damit die Fee zur Lebensfähigkeit heranreift. Verflacht das Gefühl oder, wie in unserem Fall, verstirbt ein Partner, ist auch die Fee verurteilt, ihr Leben abzuschließen. So legte sich 1978 Hagen Finwe zum Sterben in einen Busch, weil Aloys Stegmeyer, der Barbara liebte, auf dem Kriegsschiff Westerholt bei einer Detonation ums Leben kam. Doch der junge Angus Hold rettete die Fee und päppelte sie zu Hause auf.

Was sich wie eine Heldentat liest, führte zu einem Bruch im Selbstverständnis beider Welten. Fortan war Hagen am Leben, obschon er hätte tot sein sollen, was deprimierend genug für eine Fee ist. Durch einen der drei Wünsche des Jungen aber, Rennweltmeister der Formula Alpha zu werden, war er zudem von 1978 an bis 2012 verurteilt, an der Karriere von Angus mitzuwirken, bis er endlich frei sein würde.

Hierfür brauchte es zum Beispiel einen Rennmotor, den Hagen Finwe mit dem skandalösen Wissenschaftler Prof. Dr. Lambert Flammershausen entwickelte. Das Aggregat ist der Kern des Problems, denn der Motor besteht zu einer Hälfte aus naturwissenschaftlichen Elementen, zu einer geheimnisvollen zweiten Hälfte aber aus magischen Kräften der Pan Fabula.

Diese Mischung, ein übler Cocktail genannt, war nur durch den kurzfristigen Einsatz bei einem – aber dem entscheidenden – Rennen der Saison 2012 zu rechtfertigen. Der Motor unterlag der Kontrolle Hagen Finwes, dessen Magie sein enormes Potential bändigte. Was so lange gut ging, bis er seine Zauberkräfte durch Jurij Potrenko verlor und der Motor anfing, ein Eigenleben zu entwickeln.

Flankiert wurde der Verlust der Kontrolle über Vlamma T3 dadurch, dass der Thron der Pan Fabula aus unterschiedlichen Gründen in die Hand eines Menschen geriet. Dies unwahrscheinliche Szenario ist mit den komplizierten Regeln der Inthronisierung zu erklären, in die sich der Mafioso Jurij Potrenko verwickelt hatte. Zumindest ist es wichtig zu wissen, dass ihm die Ehre, König der Pan Fabula zu sein, unfreiwillig zuteilgeworden war.

Er ist ein Mensch, der weder die Regeln noch die Ordnung der Pan Fabula versteht. Die Überforderung Jurij Potrenkos zeigt sich in fast allen Belangen. Sowohl in Angelegenheiten der Pan Fabula sowie in seiner Rolle als Big Boss. Er verfällt nach und nach dem Wahnsinn.

Von großer Bedeutung ist sein Notizbuch, in dem er seine Verbrechen und seine Aufzeichnungen zur Pan Fabula festgehalten hatte. Ersteres Schriftgut ist für die Staatsanwaltschaft, zweiteres für den psychologischen Dienst von Bedeutung. So notwendig die Notizen für Potrenko waren, um sich in der Pan Fabula zu orientieren: Sie stellen das Material dar, welches jedem Richter helfen würde, den Russen wenn nicht für seine Verbrechen, doch aber auf Grund seiner seelischen Disposition aus dem Verkehr zu ziehen.

Der Bankangestellte Markus Pfeifenberger, dem das Bankgeschäft zu langweilig war, hatte das in einem Schließfach aufbewahrte Dokument dem Reporter Mehrbach »ausgeborgt«. Die Sache flog auf. Potrenko setzt alles darauf an, das Notizbuch zurückzubekommen. Mehrbach liegt seit Monaten mit Knochenbrüchen in einem französischen Krankenhaus. Pfeifenberger ist auf der Flucht. So spitzt sich die Situation zu.

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Stück für Stück, durch Rückblenden auf 1978, den stillen, alltäglichen Kämpfen der Menschen, den Reaktionen in der Pan Fabula und die Perspektive der Polizei wird das sich abzeichnende Unglück zusammengesetzt – das mit Hachibo Watanabes Schicksal um eine weitere Facette erweitert wird.

Dashiell Sun

PO box 733

Los Angeles

Die Siedlung

1978

Angus schwang in der Hitze der Sonne auf der Schaukel. Der immerwährende Wind trug Blütenduft und Geruch des nahen Meeres mit sich und machte in seinen Ohren ein Sausen. Seine Pendelbewegung trieb ein klägliches Quietschen vernachlässigt geölter Metallgelenke über den leeren Spielplatz. Als ob ein altersschwacher und zurückgelassen abgetriebener Satellit noch in den vorprogrammierten Abständen ein unsinniges, krächzendes Funksignal von seiner vergessenen Umlaufbahn sendete.

Das durchdringende Geräusch, das Angus ohne Last ertrug, hatte zuvor die wenigen Mütter mit ihren Kindern, die üblicherweise das Areal vor den sozialen Wohnblocks der Kleinstadt bevölkerten, flüchten lassen. Scheinbar unfähig, ein in sich versunkenes Kind mit gleichmäßigen, tiefgründig empfundenen Bewegungsabläufen anzusprechen. Weil der Gedanke an dessen freie Entfaltung ideologisch schwerer wog im Vergleich zum Wunsch nach persönlicher Ruhe. Und genauso unfähig, das nervtötend grelle Kreischen des Metalls mit ein paar Tropfen Öl zu mindern. So hatten die Frauen den Rückzug beschlossen, um im Schutz der nahen Wohnungen gemeinsam auf die Rückkehr der bei VW Emden arbeitenden Männer zu warten.

Man hatte sich geschickt beim geschlossenen Weggang den Anstrich einer Kommune verliehen, deren unübersehbare Empfindlichkeit gegenüber dem quälenden, reibenden Laut einen Hauch Naturalismus erahnen ließ. Es war 1978.

Angus war allein und strahlte für Außenstehende ein friedliches Bild aus. Wie Kinder so sind, machte ihm zunächst der unbarmherzig aufrechterhaltene, den Platz ausfüllende Lärm sogar Freude. Es gefiel ihm, lauter zu tönen als es ihm mit eigener körperlicher Kraft möglich gewesen wäre. Bis ihm unerwartet doch langweilig wurde. Und Langeweile ist kein günstiger Begleiter des Kindes. Er sprang von der Schaukel, um nach neuer Beschäftigung zu suchen.

Mit den bereitgestellten Spielgeräten würde er keine Zerstreuung finden, so viel wusste er. Er hatte alles schon ausprobiert. Am dunkelblauen Himmel über ihn türmten sich hoch Cumulonimbuswolken, übergroßer Zuckerwatte gleich. Eine Böe fuhr durch das blonde, lange Haar, warf es auf und brachte die angrenzenden Bepflanzungen zum Rauschen.

Angus lauschte. Er war unfähig zu begreifen, wie das Millionenheer aneinander reibender Blätter sich gemeinsam zu diesem kraftvollen Sound verschmolz, der sonst dem Meer vorbehalten war. Er trat an die Büsche und widmete ihrem Geheimnis seine Aufmerksamkeit; griff nach ein paar Zweigen, zerrte und zog an ihnen, um nur einen Abglanz des vom Wind geschaffenen Phänomens aus eigener Kraft zu erzeugen. Außer einem feinen Rascheln erreichte er nichts.

Auch der Versuch, zwei Blätter, konzentriert ans Ohr gehalten, mit den Fingern erst sorgfältig, dann mit Gewalt zu zerdrücken, blieb ohne Ergebnis. Der nächste Windstoß wiederholte machtvoll und weitgreifend, was sich ihm selbst versagte und Zorn stieg in Angus auf. Jener Zorn, der Menschen leicht ergreift, wenn sie ihre begrenzten Fähigkeiten im Vergleich zur Natur fühlen.

Mit einem Stock haute er auf den Busch ein, zerfetzte die widerständigen Blätter, knüppelte die Äste nieder, die sonst elastisch jedem Wetter trotzten. Ihr helles Innenleben trat fleischig und feucht an Bruchstellen hervor. Das Knallen der Schläge verwechselte er mit dem Atem des Windes, hoffte, er würde zumindest kurz das Instrument zum Klingen bringen, wenn er es auch dabei zu zerstören drohte.

Nach einigen wuchtigen Hieben – er roch schon das intensive Fluidum aufgespaltener Blätter und frisch gebrochenen Holzes – war ein feines Wimmern zu hören. Angus unterbrach seine Untersuchungen. Erst dachte er, der Busch vermochte, klagend um Einhalt zu betteln. Verunsichert blieb er mit ausgeholtem Stock stehen, wischte sich schnell mit der freien Hand einige Holz- und Blätterreste aus dem verschwitzten Gesicht. Dann senkte er den Knüppel, stütze sich auf ihn wie ein misstrauischer Bauer und lauschte weiter. Es war ihm unangenehm, womöglich dem Gewächs Schmerzen zugeführt zu haben und die Folgen seiner Tat vorgehalten zu bekommen. Auf der anderen Seite gefiel es ihm, diese Macht zu besitzen. Bis er sich erinnerte, dass Pflanzen nicht weinten. Zumindest sagte man das im Kindergarten.

Trotzdem – um nicht für die möglicherweise doch erfahrbare Empfindsamkeit seines Gegenübers in Verantwortung gezogen zu werden, studierte er den Busch genauer. Unsicher, ob er nicht doch heulte – wie eine Katze, die man geschlagen hatte. Oder ein Hund, den man kniff. Oder wie er selbst, wenn Vater mit ihm fertig war.

Er drückte das Blattwerk, schaute, fragte sich, ob die Flüssigkeiten aus dem abgeknickten Geäst nicht so etwas wie Blut sein könnten, das triefende Chlorophyll nicht Tränen. Einem Impuls folgend war er versessen, den Schaden wieder zu richten. Er bog alles so, wie es vorher hätte gewesen sein können, schloss die Brüche, wischte das Feuchte weg, versuchte, die zerschmetterten Blätter wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Das Wimmern hielt an.

Er schätzte den Zerstörungsgrad seines Eingriffs ab, drückte sich weiter durch das dichte Netz von verwachsenem Holz, wand immer mehr Kraft auf. Er hatte nur am äußeren Bewuchs gewirkt, stellte er fest. Der Kern war unversehrt. Und er drang immer tiefer in den Busch, um sein Inneres freizulegen, ihn zu enträtseln.

Gerade dort, wo der Hauptstamm wuchs, zeigte sich ein Hohlraum im Blätterwerk. Alles, was er bis dahin weggedrückt und durchstoßen hatte, war wie eine Wand blasenähnlich gewuchert, damit der Raum um den Stamm herum geschützt blieb. Wie eine kleine Lichtung war auf diese Weise eine Fläche frei gehalten, bedeckt von verwelktem Laub, das zu einem Bett zusammengeschoben war. Darauf, vor Wind, Sonne und Blicken geschützt, lag ein kleines Wesen. Ein Männlein, zerschunden und krank, mit offenen Wunden und geschwächt, gleichwohl es offenbar auf Vorrat ein paar Beeren und wassergefüllte Nussschalen um sich gereiht hatte. Ein gespitzter Stock stand am Stamm angelehnt, womöglich zu Verteidigungszwecken, doch ansonsten sah Angus keine Gefahr, die von dem Wesen ausging.

Ganz in Grau war es angezogen. In Kleidung, für Puppen genäht. Angus erinnerte sich an eine Geschichte, in der ein Reisender als Zwerg bei Riesen lebte und später Riese unter Zwergen war. In der Welt der Kinder, die brutal und unbarmherzig sein kann, ist immer Platz für das Unvorstellbare. So akzeptierte Angus schnell, ein verwundetes, wundersames Geschöpf gefunden zu haben, wovon so viele der ihm erzählten Märchen handelten. So zerbrechlich, wie es dort lag, war er selbst – ein Kind – tagtäglich der Welt der Erwachsenen ausgeliefert und oft schon verletzt worden. Er nahm seinen Fund mit kindlichem Ungeschick auf, um es besser als die zu machen, in deren Obhut er sich befand.

Drei Tage hatte Angus ihn vor den Eltern verborgen. Gegen Abend saß er in der Küche. Seine Mutter, Carola Hold, hatte ihm mit der Hand durchs Haar gestrichen und es zerwühlt, wie es der Wind sonst tat. Es war eine beiläufige Bewegung gewesen, die manchmal aus ihr herauskam, wenn sie sich unvermittelt an ihr Kind erinnerte und es zu spüren wünschte. Wie für die Gewissheit, dass es unverändert da war. Solch plötzliche Zuwendungen nahm Angus hin, ohne ihnen allzu große Bedeutung zuzumessen. Dann hatte sie sich abgewandt, um zu kochen.

Angus saß am Tisch. An seiner Zungenspitze klebte ein angesaugter Strohhalm, der das Resultat einer überraschenden Entdeckung war. Das Röhrchen backte an einem robusten Plastikbeutelchen mit Orangeade fest. Mit seiner Hilfe durchstieß man die Haut des Tütchens und saugte es leer. Der dabei entstehende Unterdruck zog die Plastikwände zusammen und verklebte sie zu einer Platte, die bei Kindern im Verdacht stand, Restmengen der Orangeade in winzigen Kanälen versickern zu lassen. Durch intensives Stochern mit dem festen Strohhalm versuchte Angus, diese verborgenen Adern aufzuspüren, um dem Beutel den letzten Rest des süßen Saftes zu entziehen. Dabei geschah es, dass er den Tropfen beobachtete, den er an der Spitze des Halms hielt, sofern der Trinkhalm von der anderen Seite festgesaugt an der Zunge kleben blieb. Er blätterte im Verlauf dieses Experiments zum Verhalten von Flüssigkeiten unter Druck nebenbei in einem Bestellkatalog. Seine Mutter wandte sich nach kurzem Blick aus dem Fenster vom Kochen um. »Papa ist gleich zurück«, flüsterte sie mit verrauchter Stimme.

Angus gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Die abendliche Rückkehr Manfred Holds von der Arbeit war nicht ungefährlich. Man bereitete sich darauf vor. So auch Angus’ Mutter, die in ihren Gedanken zu ihrem Mann den schweigsamen Sohn häufig übersah. Sie schwelgte immer wieder in Erinnerungen an einen Gatten, den sie einst liebte und dessen Liebe sie auch jetzt noch nachspürte. Manfreds Witz und Charme, der sich verkapselt hatte in einem alkoholgetränkten, stierenden Blick in weite Ferne. Dort verhakte er sich mit irgendetwas, das ihn, wenn es wieder losließ, schmerzhaft im Hier und Jetzt aufschlagen ließ.

Den Schmerz gab er an die Familie weiter. Carola meinte, wenn sie hinter das Geheimnis dieses Blicks käme, würde die alte Liebe, die alte Hoffnung wieder Einzug in ihr Leben halten. Das hielt sie aufrecht, trotz der blauen Flecken.

Davon wusste Angus nichts. In seiner Welt drehte es sich nur darum, den Sturm der Gefühle des mit sich ringenden Ehepaars zu überleben.

»Gehst du jetzt auf dein Zimmer?«, zischte Carola nervös. Er nahm Gefahr wahr, stimmte zu und schloss den Bestellkatalog. Man begab sich in Stellung. Angus musste nicht nur sich selbst in Sicherheit bringen. Er hatte einen Patienten, den es ebenso zu schützen galt.

Der Junge hatte sich mit unbedarfter Leichtigkeit des hilfsbedürftigen Wesens voller Hingabe angenommen, ohne Fragen zu stellen und fest entschlossen. Er verschmolz nahezu mit dessen schmalem, doch fantasiereichem Universum. Ganz unwichtig, was es war oder woher es kam – Rätsel, die Angus’ hauptsächlich von Träumen bestimmte Welt ignorierte. Und doch durchbrach recht bald ein rüder Stachel pragmatischer Notwendigkeiten seine Unbekümmertheit.

Manfred Hold schlug die Eingangstür zu und es fädelten sich die üblichen Rituale ein, von denen Angus nur das Eine wusste – er sollte in Deckung bleiben. Nicht Interesse auf sich lenken. Im stumpfen Blick des Vaters nur ein Schatten im Augenwinkel sein.

Er wandte sich darum seinem Patienten zu, nachdem er unten in der Küche das Ploppen des Kronenkorkens und Mutters Stuhl auf dem Boden quietschen gehört hatte. Sie hatte sich zu ihm gesetzt und er hörte noch ihre immer wieder gestellte, suchenden Frage: »Wie war dein Tag?«, mit der sie sich beide in ihr persönliches, allabendliches Drama abseilten.

Angus hatte, wie gesagt, andere Sorgen. Denn sein Gast hatte seit seiner Ankunft vor drei Tagen nichts getrunken und drohte zu vertrocknen.

Aus zahlreichen Filmen hatte er gelernt, der schlimmste Feind des in Not geratenen Mannes war der Durst. Wasser stand höher in der Skala der Überlebensregeln als Nahrung, Schlaf oder Schutz vor Kälte. Flüssigkeit zu beschaffen war für Angus nicht das Problem. Sie dem geschwächten Wesen zuzuführen, diesen winzig kleinen Mund zu benetzen, das war etwas anderes.

Er hatte die Überreste im Busch genau studiert. Nussschalen und zu Behältern gerollte Blätter, die Tau auffingen. Dadurch stand dem Männchen nach Verlangen, Wasser zur Verfügung. Doch rätselhafterweise war es geschwächt. Es vermochte sich nicht groß aus der liegenden Position aufzurichten, geschweige denn nach den von Angus gesammelten Auffangmöglichkeiten für Wasser – Vaters Kronenkorken oder Großmutters Fingerhut – zu greifen. Das feine, von Schmerz und leidender Trauer gezeichnete Gesicht des Wesens zeigte bei Angus’ Versuchen, Wasser anzureichen, ein mildes, resigniertes Lächeln. Wenn es seinen kleinen Kopf sanft schüttelte, drohte es aufzugeben, abzuwinken, sank ohne erkennbaren Grund, aber voll tiefer Einsicht ins scheinbar Unabwendbare in sich ein, dämmerte weg und ließ den Jungen ratlos zurück.

Angus vermochte mit seinem naiven Verstand von der Welt keine Technik zu entwickeln, Flüssigkeit auf diesen kleinen, leidenden Mund zu bekommen, ohne den grauen Winzling zu ertränken. Bis ihm heute in der Küche die Vielseitigkeit des Halms beim Trinken der Orangeade aufgefallen war.

Den Tropfen an dem Strohhalm hatte er vor den Vorbereitungen auf Vaters Rückkehr, Mutters furchtsamer Ansprache und ihrem Griff nach ihm, die Treppe ’rauf in sein Zimmer gerettet. Er zog vorsichtig den Koffer unterm Bett hervor, in dem das Männlein achtsam ausgepolstert vegetierte. Kniend führte er das Ende des angesaugten Strohhalms mit der anklebenden Orangeade herab – einem Vogel gleich, der Nahrung aus der Schnabelspitze dem Nachwuchs ins Nest reichte.

Das Gesicht seines Gastes hätte die Fläche von Vaters kleiner Fingerkuppe gefüllt und der Tropfen war ungefähr halb so groß. Die geheimnisvollen Kräfte, die den Saft am Halm hielten und dessen gefestigte, runde Form definierten, waren stark. Die Flüssigkeit schwebte wie eine Sonne über dem kleinen Wesen, waberte, spiegelte das Zimmer in verrückter Verzerrung und bot sich wie eine erntereife Frucht zum Verzehr an.

Der Winzling öffnete die Augen und sah in den überdimensionalen Tropfen über seinem Kopf und lachte fassungslos, so wie es seine geschwächte Konstitution zuließ. Er hob etwas seinen Rumpf an, berührte mit den Lippen die Oberfläche der Orangeade, die sich nur kurz einbeulte, aber erfrischende Süße abgab. Belebend. Kraftspendend. Immer wieder stieß das Männchen den Tropfen an, dass Angus schon vermutete, der Trinkversuch raubte seine letzten Reserven, bis er schließlich in einem Anfall jäher bahnbrechender Wildheit von der Kugel »abbiss« und sie etwas minimierte. Dann noch einmal. Und wieder, die Flüssigkeit verlor Volumen, so wie das Männlein Energie gewann und lachend zum Spender hochwinkte.

Beim letzten Biss war der Tropfen so verkleinert, dass Angus den Halt verlierenden Rest aufsaugte, damit es nicht doch ins Bettchen seines Patienten fiel. Ersatzbettwäsche war knapp. Die Orangeade brachte Leben in den schmalen Körper des siechen Winzlings zurück, er gewann an Farbe und Lebendigkeit, atmete tiefer durch und zeigte zum ersten Mal nicht von Schmerz durchwirkte Freude im Gesicht. Angus hatte es geschafft. Er jubelte stumm, um seinen Vater nicht zu locken.

Das Reihenhaus, in dem Familie Hold wohnte, war Teil einer eng bebauten Siedlung mit gedrängten, zweietagigen Wohnungen. Angus Zimmer im ersten Stock diente als Spiel-, Schlaf- und Arbeitszimmer, komprimierte untrennbar alle Seiten seines Lebens. Das war modern. Manfred und Carola erinnerten sich, mit vielen Geschwistern in einem Zimmer untergebracht gewesen zu sein, in einem Bett, manchmal mit den Eltern.

Jetzt lag die Küche im Erdgeschoss. Damals, mit den vielen Kindern in einem Raum, wäre dort wohl das Wohnzimmer eingerichtet gewesen. Der moderne Bau machte daraus eine Kombüse zur Essensvorbereitung und zum Abwasch, gerade so groß, um sich zu drehen, aber zu winzig, um umzufallen. Der kleine Tisch an der Wand war nicht mehr als eine Abstellfläche für abgetrocknete Teller oder eine Blume. Zwei Menschen fanden daran Platz, um in Griffnähe zum Kühlschrank zu frühstücken; die Familie war zu dritt.

Wenn Angus, Manfred und Carola Hold gemeinsam aßen, wählten sie den Essraum mit seinem geschirrgefüllten Sideboard aus Buchefurnier. Eine Arbeit aus den 50-er Jahren, das Holz hell, in den Türen Vierecke aus Nussbaum schachbrettartig eingelegt. Essräume verliehen dem kleinen Mann etwas Großbürgerliches, wenn die Räume auch verwinkelt, bescheiden und verschachtelt ausfielen. Ein denkbarer Grund für Carola, das Zimmer mit niedrigen Porzellanfiguren zu schmücken, Rosen und Spitzendeckchen. Zierrat, das zerbrechlich und unsicher platziert wirkte. Manfred hatte stets Sorge, mit einer Falte des groben Arbeitsanzugs, den Schwung vom Fließband im Leib, mit unachtsamen Bewegungen eine der Figuren umzuwerfen und zu zerbrechen. Die stumme Würde des Raumes zu ruinieren. Er zog es vor, in der von Carola behüteten, schmalen Küche zu essen, die grausamerweise einem Sozialraum bei VW glich.

Carola hatte ihren Stuhl an das Tischchen gerückt und saß bei ihm. Während Angus im Kindergarten war, hatte sie Bratwurst vom Metzger geholt und Kartoffelsalat zubereitet. Manfred hatte die vom Fließband schmutzigen Hände gewaschen und sich wortlos hingesetzt. Er trug seinen Blaumann, den er unter der Woche nicht gegen Freizeitkleidung tauschte, hatte eine Strickjacke übergezogen, auf der sich das genähte VW-Zeichen wie ein Sheriff-Stern platzierte. Sein öliges Haar lag eng an, einzig der Scheitel war etwas verrutscht.

Das Bier hatte Carola ihm zum Essen gestellt, er hatte den Kronenkorken mit einem Öffner vom Schlüsselbund abgehebelt. Sie trank Tee, umklammerte mit beiden Händen die große Tasse, wie sie es einmal in einem französischen Film gesehen hatte. Manfred trank aus der Flasche und schnaufte, dann murrte er »Appetit« und begann mit dem Abendbrot, wobei er scheel nach links linste, als ob es dort etwas zu lesen gab.

Der Wasserhahn tropfte. Tagsüber stellte Carola NDR II ein, doch Manfred verlangte nach Ruhe. Durch das geöffnete Fenster hörten sie Vögel und vereinzelte Autos, manchmal rauschten die Bäume von einem sanften Windstoß, einige Nachbarn bereiteten ein Grillfest vor, es roch nach Rauch.

»Wie war denn jetzt dein Tag?«, versuchte sie erneut, ein Gespräch anzufangen. Sie lugte über ihre große Tasse, die sie sich vors Gesicht hielt. Das war Teil der Geste, die sie dem Film entnommen hatte.

»Wie war mein Tag! Wie war mein Tag!«, schnaufte Manfred aufgebracht. »Wie immer, Carola. Den ganzen Tag werde ich was gefragt, muss reden und den Leuten zuhören, ganz egal, was die für einen Scheiß erzählen.« Er stieß es mit vollem Mund hervor, so dass sie den Kartoffelsalat zwischen seinen Zähnen sah.

Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Nicht so laut, der Junge kann dich hören.«

Manfred knallte das Besteck auf den Tisch. Mit einer Ausholbewegung befreite er sich von der liebevollen Berührung, stand auf und schob sich zum Spülbecken.

»Der Junge«, brachte er verächtlich vor. »Es macht nichts, wenn er das hört. Er hört, dass die Welt schwierig ist. Dass man wenig Hilfe zu erwarten hat. Du verhätschelst ihn übrigens.«

Er griff kauend an den Wasserhahn und versuchte, mit Kraft die Leitung fester zuzudrehen. Nach Carolas Erfahrung war er dabei, sich wieder zu beruhigen. Ob sie die langsam abklingenden Emotionen ihres Mannes nutzen konnte, ihn erneut zu berühren, war dagegen unsicher. Eine schmerzhaft erlernte Vorsicht gemahnte sie, sich zurückzuhalten.

»Er ist ein guter Junge«, sagte sie stattdessen. »Du darfst ihm nicht vorwerfen, dass er ein Träumer ist. Kinder sind nun mal so.«

Manfreds Griff an den Wasserhähnen verstärkte sich. Ein tiefes Quietschen war aus dem Innern der Apparatur zu hören, doch das Wasser fiel weiter in die Spüle.

»Als ich ein Kind war, da war kein Platz zum Träumen.« Er flüsterte es in das Becken. Seine Worte flossen wie Abwaschwasser ab.

Carola erkannte, etwas war heute Abend anders mit ihm. Sie maß sonst den Grad seiner Wut an der Wucht der Stimme ab. Manfred folgte der kalkulierbaren Logik, innere Aufregung in Lautstärke umzusetzen, insofern war er ein leicht auszurechnender Mann. Doch geflüstert hatte er seine Wut noch nie. Seine Augen waren wie im Wahn geöffnet, starrten fiebrig weiter in den Abfluss. Er bebte.

»Was ist passiert?«

Er schwieg. Die halbe Wurst auf seinem Teller erkaltete, eine Fliege setzte sich auf den Kartoffelsalat. Dann löste sich Manfred von der Spüle.

»Da muss ich ’mal was machen. Wahrscheinlich eine Dichtung«, nuschelte er und setzte sich wieder an den Tisch. Man hörte von der Wiese her Kinder lachen, auf dem Balkon sammelten sich die Partygäste, das Grillfest war im Gange. In einiger Entfernung flog ein Hubschrauber. Es war eine Ruhe, durchwirkt von fernem Treiben, in der eine Blume lautlos ihre Blätter auf den Tisch verlieren konnte, um langsam zu verdorren.

»Willst du wirklich nicht erzählen?«

»Lass’ mich«, stieß er mit leiser Stimme aus und schaufelte wieder Kartoffelsalat in sich hinein. Er zog Luft durch die Nase.

»Bitte, sprech’ doch zu mir«, flehte Carola nun und zögerte erneut, dem Impuls zu folgen, nach ihm zu fassen.

»Leck’ mich!«, schrie er unvermittelt und riss beim Aufspringen den Stuhl um. Die Küche war so eng, dass er nur zur Hälfte kippte und verkantet stehenblieb. »Weibergewäsch«, rief er hinterher, griff nach seinem Schlüsselbund und knallte die Haustür beim ’Rausgehen. Carola verharrte still am Tisch und konnte den Blick zur halb aufgegessenen Mahlzeit nicht abwenden, auf das die Fliege erneut gelandet war. Ein Wassertropfen schlug auf das Metall der Spüle und setzte einen Punkt hinter das Abendessen.

Angus beobachtete von seinem Fenster Manfred Hold auf dem Weg in die Stadt, nachdem er die Haustür hatte zufallen hören. Es war das vorletzte Mal in diesem Leben, dass er ihn sah. Den Rücken gebuckelt, die Schultern hochgezogen, die Fäuste in den Hosentaschen, ein leicht federnder Schritt. Er sah ihn die Gehwege zwischen den Blocks langschreiten, die sich zur Stichstraße wanden, von der aus die Autostraße vom Wohngebiet wegführte.

Bald verlor er ihn aus den Augen. Manfred erreichte die Parkplätze, stapfte an den Garagen neben der gelben Telefonzelle vorbei, in der – wie so häufig – das geplünderte Telefonbuch zerlumpt in der Halterung hing, und sich Kippen auf dem Betonboden sammelten. Er passierte die kleinen Einfamilienhäuser mit ihren Gärten, den Spielplatz, der der Siedlung vorgelagert und an einer Seite mit einem hohen Zaun gegen die vielbefahrene Straße gesichert war. Dann fädelte er sich ins dichter werdende Netz der Wege in Richtung der Innenstadt ein und ließ die schrumpfende Siedlung hinter sich, um – nicht zufällig – in der ersten Straße direkt zur City auf den Roten Löwen zu stoßen.

Es war die nahe gelegene Kneipe mit Billardtisch. Er trat ein und sah die vertraute Korona an Stammgästen aufgereiht am Tresen sitzen, vor sich jeweils ein gezapftes Bier, vereinzelt ergänzt durch ein Schnapsglas. Durchs Fenster an der linken Seite des Tresens fiel abendliches Licht ein, das den Rauch der Zigaretten illuminierte.

Manfred bewegte sich auf die Theke zu und verwirbelte die Schwaden, die in der Luft hingen. Sein Platz in der Reihe war zwischen Gerd und Ernst. Den einen nannten sie John, den anderen Ernest, weil sie sich englischen Namen gaben, um der Tristesse des ostfriesischen Alltags einen dramaturgischen Akzent zu verleihen. Manfred aber riefen sie Manni, was normalerweise die Zunge des Ruhrpotts war.

Den Pott kannten sie zu Genüge. Es war die Zeit, in der die Westfalen kamen, um an der Nordsee ihren Urlaub zu verbringen. Die Männer dieser Sommergäste besuchten manchmal den Roten Löwen, weil sich Kumpels von einer Zeche wiedergetroffen hatten und das feierten. Einigen Männern wurde die plötzliche Familiennähe zu viel, andere waren Flüchtlinge vor dem Wetter. Sie fanden dann Platz im Gästeraum, die Theke war von den krummen Rücken der Stammgäste abgeschirmt.

Bernd war der Wirt, ein korpulenter Enddreißiger, dessen Hauptbeschäftigung das Zapfen und Abwaschen war. Er erledigte diese Tätigkeit mit dem Ausdruck erstaunten Leidens, vor allem, wenn er Zeuge der Thekengespräche wurde. Er ließ sie unkommentiert, zog nur manchmal in ausgewiesen harten Fällen der Gesellschaftsanalyse seiner Gäste die Augenbrauen hoch. Manfred war einmal recht früh vor den anderen gekommen, da fand er Bernd hinter dem Tresen lesend. Gedichte. Er rechnete sich aus, welcher Abstand zwischen ihm und seinem Arbeitsplatz lag.

»Moin Manni«, rief Bernd und füllte Biergläser. »Macht Platz da, John, Ernest, bitte!«

Sie rückten zusammen, ein leichtes Murren durchzog die Reihe. Manfred knallte seine Zigaretten auf den Tisch und bestellte routiniert ein Pils.

»Was ist los?«, fragte Ernest, ein hagerer kleiner Mann mit ledriger Haut, den das Gift seiner Süchte ausgemergelt hatte. Seinen Mund umspielte ein beständiges Lächeln und in allem, was er hörte, filterte er die immer gleiche Geschichte heraus. Es war die Legende vom kleinen Mann, den das Leben nach und nach die Wünsche und Hoffnungen zerschlägt. Sein lautes Gelächter war verbittert.

»Ärger mit der Alten«, erwiderte Manfred reserviert. Ernest lachte sein Lachen.

»Ja ja, erst liebt man sie, dann werden sie unzufrieden. Dann sind sie zum Weglaufen.«

»Hör’ zu, Ernest. Hörst du zu? Hört alle auf, mich vollzuquatschen. Es war ein Scheißtag und ich will meine Ruhe.«

»Ist ja gut, Manni, ist ja gut. Wen interessiert’s auch? Sei froh, dass du lebst. Das ist alles, was ich sage.«

Manfred bekam sein Bier und leerte es in einem Zug, nachdem er zuvor Ernest fragend angeblickt hatte. Es war nicht sein Erstes heute. Sie hatten Automaten am Fließband und manchmal kippte er bei VW ein paar Dosen über den Tag. So wie heute, was ihm ein Gespräch mit dem neuen Vorarbeiter eingebracht hatte. Angeblich wegen ein paar Pannen am Band. Der Bierkonsum kam zur Sprache. Seine Leistungen sollten nicht geringer werden, trotz des Biers, so lautete die Botschaft. Wie ein kleiner Junge war er sich vorgekommen. Meine Leistungen sollten nicht geringer werden! Der neue Mann war ein knabenhafter Schnösel. Hatte ganz sicher nie am Band gestanden. Manfred kämpfte den restlichen Tag mit seiner Wut. Dieser ständigen, schwelenden Wut.

Er atmete durch, winkte Bernd, damit er nachlegte, zündete sich stirnrunzelnd eine Zigarette an und stieß druckvoll den Rauch aus.

»Ernest, sei kein Arschloch. Was soll das heißen, ich soll froh sein, dass ich noch lebe? Soll mich das jetzt trösten? Hast du vielleicht angefangen, Psychologie zu studieren und denkst, mit so einem Scheißspruch kannst du den Therapeuten heraushängen lassen?«

»Ruhig, Manni«, sagte Bernd und stellte ihm sein Bier hin. Er notierte keinen Strich auf den Deckel, es ging aufs Haus. Er hob kurz den Kugelschreiber an, damit Manfred das begriff. Der zuckte mit den Schultern, zog an der Zigarette. Nach einer kleinen Pause brachte er »Sorry, Ernest« heraus, der nickend und mit geschürzten Lippen annahm.

John, links neben Manfred, leerte sein Glas und stieß auf. »Pass’ auf, Manni. Was Ernest meint ist, dass wir nich’ mehr komplett sind. Wenn du deinen Blick ans Ende der Theke richten möchtest, wirst du die bedauerliche Lücke erkennen, die Jack hinterlassen hat.«

Manfred verstand nicht. »Sein Platz ist frei, sein Bier steht aber da. Was redest du also?«

»Bernd war so freundlich, zum Gedenken an unseren Bruder im Geiste das letzte Glas für Jack an seinen Platz zu stellen. Aber wir können gewiss sein, dass er nicht mehr zurückkommen wird. Heute Mittag hat er das Zeitliche gesegnet. Er reparierte wohl gerade sein Auto, soviel weiß ich. Er lag darunter und nur die Beine ragten hervor, als es ihn traf. Kowalskis Hund fing an, eines der Beine anzuknabbern, ohne dass es eine Reaktion von Jack gab, da wurde man aufmerksam. Er soll so drei Stunden gelegen haben.«

»Jack«, brachte Manfred erschrocken aus und zog wieder an der Zigarette. »Wie hieß er noch richtig?«

»Otto. Otto Janssen«, half Ernest, ohne aufzublicken. »So ist das. Eines Tages ist dein Platz leer und die Leute merken es vielleicht gar nicht.«

»Bleib fair, ja«, erwiderte John schnell. »Was hatten wir mit Jack zu schaffen?« Manfred und Ernest schwiegen. John wusste scheinbar nicht, dass Otto mitunter Lieferant pikanter Pornohefte aus Hamburg war. Es schien der falsche Zeitpunkt, diesen Aspekt aus seinem Leben zu vertiefen.

Manfred war geschockt und starrte vor sich hin. Bernd stellte einen Korn zum Bier, der ebenfalls aufs Haus gehen sollte.

»Ich frag’ euch, Männer, was ist mit uns?«, sinnierte John.

Ernest hob feierlich das Glas. »Eines wird nicht passieren – einer verschwindet und keiner merkt’s.«

Manfred hob ebenfalls sein Glas und sie ließen die Tulpen klirren, wie es die drei Musketiere mit ihren Schwertern getan hätten. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne im Fenster neben der Theke erfasste die Gläser und gab dem Moment etwas Sakrales.

»Auf uns«, murrten sie gemeinsam und Manfred erkannte unvermittelt, dass er eine Heimat hatte.

Nachts kam er zurück. Seine Familie war zu Bett gegangen. Er wankte, versuchte aber, Lärm zu vermeiden. Er versicherte sich, dass Carola schlief. Sie war beim Licht der Nachttischlampe mit einem Buch eingenickt. Dann öffnete er einen Spalt die Tür zum Kinderzimmer. Im Lichtkegel vom Flur sah er im Dunkel des Zimmers seinen Sohn unruhig schlafen. Warum?, fragte sich Manfred. Mit welchem Recht fieberte der Balg nachts im Bett? Hatte er nicht im Gegensatz zu ihm eine sorglose Kindheit? Eine warme Wohnung? Kein Krieg bedrohte ihn! Ein großzügiges Zimmer mit allem Spielzeug, das in der Stadt zu kaufen war! Einen Vater, der regelmäßig Geld nach Hause brachte?

Manfreds Wut schlug wieder an. Da lag das Kind, das er selbst gerne gewesen wäre, und kränkelte. Er griff an seine Gürtelschnalle und fummelte gedankenverloren daran herum, da erwachte Angus. Er blinzelte in den Schein der Flurlampe, gegen den sich die leicht gebeugte und schwankende Silhouette Manfreds abzeichnete.

»Vater?«, flüsterte er ungewiss.

»Halt’s Maul!«, knurrte der und schlug die Tür zu. Carola erschrak, ihr Buch fiel zu Boden.

An jenem Abend kehrte Manfred Hold in den Roten Löwen zurück, rückte einmal mehr in die Phalanx an der Theke, bestellte mit einer Handbewegung Bier und griff nach seinen Zigaretten – als er plötzlich verschwand. Er verschwand, nachhaltig und umfassend. Er verschwand von dem Hocker vor der Theke, aus der Erinnerung der Männer, aus den Lohnbüchern von VW, aus der Geschichte. War kurz eingetaucht in einen Mantel aus Sternen dem Klirren eines Windspiels, dann war sein Platz an der Theke und in den Köpfen der Männer frei. Die sich dicht zusammendrängenden Kameraden fragten sich unmittelbar nach seinem Verschwinden, warum sie so eng aufeinander gehockt hatten, wenn doch ein Stuhl leer war. Bernd hatte das Bier fertig gezapft und wollte es mit Schwung auf Manfreds Platz stellen, hatte ihn aber bereits aus seinem Gedächtnis verloren. Ratlos stand er mit dem Bier vor der Lücke und überlegte, wohin die Bestellung gehen sollte, doch schnell fand sich ein bereitwilliger Abnehmer. Das Rätsel vom Roten Löwen. Manfred Hold hatte sich an diesem Abend mit den falschen Mächten dieser Welt angelegt. In der Musikbox lief »Ein ehrenwerte Haus« von Udo Jürgens.

34 Jahre später

Angus, der Rennfahrer

Allgemein wird darüber spekuliert, wie der Mensch zurückkehrende Alpträume wirksam bekämpfen kann. Neben Versuchen der Kirche, Dämonen zu vertreiben, und einer Kräuterliste von Heilern, zählt die Hinwendung zur sich offenbarenden Gefahr im Traum als geeignetes Mittel. Es gilt zu ergründen, was die Quelle des Alpdrucks ist, oder man vernichte sie im Traum. Niemand aber hat erforscht, was mit den Seelen ist, die von ihrem Alptraum eines Nachts aufgefressen werden.

Inferior Globuli: Lex Libre spiriti domini scurrae fatuaquam

Backup: Montag, 16.04.2012, 8 Uhr

6 Tage, 7 Stunden v.d.R.

Der Tag versprach, erneut sonnig zu werden. Die Mitarbeiter der Nachtschicht des technischen Instituts von Prof. Dr. Lambert Flammershausen verließen um 8 Uhr müde das Gebäude und strömten auf den Parkplatz. Sie trugen leichte Kleidung, zumeist weiße, kurzärmelige Business-Hemden, Jeans oder Leinenhosen. Das warme Wetter hielt schon seit Tagen an. Schwüler Wind blies ihnen Staub ins Gesicht, sie blinzelten, wenn sie aufblickten.

Angus rauchte am Portalparkplatz der Werkstätten im Auto seine letzte Zigarette. Einige Mitarbeiter des Instituts trotteten an seinem Wagen vorbei, gebeugt, müde von der Nachtschicht, gedankenverloren, den Blick aufs Telefon. Sie entdeckten ihn nicht. Er blieb in seinem klimatisierten Wagen sitzen, schloss die Augen, schaute auf die Uhr und rauchte weiter. Er blies den Qualm aus, aschte ab; dreiviertel des Stängels war übrig.

Er wartete. Beobachtete den Parkplatz, der nach dem Weggang der Mitarbeiter in ein lebloses Terrain zurückfiel. Ein Anblick, der ihm heute Morgen vertraut erschien. Nicht nur, weil er das Institut schon häufiger besucht hatte. Es rührte von woanders her, ohne, dass er Worte dafür hatte. Er rauchte und bemerkte es unvermittelt. Er wurde von einem Gefühl umgeben und es hielt ihn im Wagen. Wie am Ende einer langen Reise und man kommt nach Hause. Atmet den vermissten Duft der Kindheit ein, der einem gefehlt, ja, den man immer wieder auf seinen Fahrten gesucht hatte.

Angus war ein über 40-jähriger, athletischer Mann ohne überflüssige Kilo, mit schwarzen, buschigen Haaren, braungebrannter, gegerbter Haut, rasiert. Er trug ein legeres Freizeithemd und trotz der Temperaturen eine Lederjacke. Sein Blick vermittelte stets den Eindruck, er lache über die Situation, in der er sich gerade befand. Sei es im Interview oder in einer Steilkurve, die er mit 250 km/h durchfuhr.

Seine dunkelbraunen Augen suchten den Parkplatz weiter ab. Er war nicht der Mann, der sich von Gefühlen beeindrucken ließ. Er schob es auf das Warten, diesem Nichtstun, dass fremde Gedanken in ihm aufstiegen. Er zog erneut an der Zigarette und kratze sich lässig am Kopf, runzelte die Stirn. Die Erklärung reichte nicht. Ihm war unklar, warum sich diese Eindrücke hier einstellten.

Angus war nicht mehr der kleine Junge, der vor 34 Jahren einsam auf dem Spielplatz schaukelte. Hinter ihm lag eine lange Rennfahrer-Karriere, zu der nur noch der Weltmeistertitel fehlte. Es war einer seiner drei Wünsche, die er gegenüber der Grauen Fee ausgesprochen hatte. Neben dem, seinen Vater aus dieser Welt mit allen Erinnerungen an ihn verschwinden zu lassen. Ein Siegel des Vergessens lag auf jenen Tagen. Und während Angus im Wagen saß, rauchte, nachdachte, zeigte dieses Siegel Brüche.

Er folgte mit den Augen dem Flug einer Libelle, die den Hinterleib wie beschwert gesenkt trug und blieb dann bei den tippsigen Sprüngen eines Rotkehlchens hängen, das scheinbar zwischen den gepflasterten Steinen im Schmutz Nahrung auflas.

Dann nahm er wieder das Institut unter Beobachtung. Er suchte die Fenster von Flammershausens Büro, das in etwa der Mitte der Front eingerichtet war wie eine Zentrale. Eine optische Täuschung, rechnete man mit ein, dass hinten weitere Etagen tief einen Abhang herunterliefen. An den Fenstern bewegte sich nichts. Die stillen, dunklen Öffnungen vermittelten den langweiligen Frieden der Forschungsarbeit, für den Angus, wie gegenüber allem Bürokratischen, nur spöttelnde Verachtung übrig hatte. Ein leichtes Ziehen hinter der Stirn verriet aufkommende Kopfschmerzen.

Dem technikbegeisterten Rennpiloten blieb durch die Ödnis des Parkplatzes das Drama verborgen, das sich hinter der leblosen Fassade des Instituts abspielte. Sein Erinnerungsriegel funktionierte nach wie vor zuverlässig genug, dass Angus, selbst wenn er Zeuge des Dramas gewesen wäre, nichts davon verstanden hätte. Seit Freitag Nacht war die, von ihm vor 34 Jahren errettete, Graue Fee Hagen Finwe, von dem überragenden Professor Flammershausen in einer listigen Falle aus Magie und Spucke gefangen. Wie ein Schutzschirm legte sich die Konstruktion des Wissenschaftlers im Hinterzimmer seines Büros um Hagen Finwe und blockierte dessen magische Kräfte. Jene Kräfte, die den Siegellack gossen. Die ungewollt die Erinnerungsriegel in Angus lösten. Die Magie, die den Rennmotor Vlamma T3 im Keller des Instituts zusammenhielt – und zugleich begrenzten.

Vorboten einer sich neu etablierenden Macht trieben unbemerkt über den Platz.

Vor Angus’ Augen schwappte so ein vergessenes Fragment aus dem Speicher. Eine Szene wie aus einem Traum. Sein Blick aus dem Fenster seines Kinderzimmers. Es dämmerte, der Weg führte in die Stadt und war von Wohnblöcken gesäumt. Eine graue Gestalt, hager, drehte sich auf ihrem Weg aus dem Viertel um, spähte nach Angus, wie er am Fenster stand und winkte.

Er schreckte auf. War er eingeschlafen? Ein lang vergessener Traum, sagte er sich.

Und fixierte erneut das Institut; den scheinbar in seiner Architektur auf einen Nutzbau ohne Raffinesse reduzierten, ausgehöhlten Betonquader, dessen Vorplatz aus dem Material des Gebäudes bestand. Die Morgensonne lud den Parkplatz mit Wärme auf. Der helle Beton reflektierte ein photogenes Streulicht und ließ alles über seinen Wert erstrahlen. Der feine, sandige Wind von Osten strich durch die Anlage und beugte ein paar Bäumchen, die hilflos inmitten dieser Steinlandschaft ihr Leben fristeten.

Die strenge Ordnung der Beete zwischen den Betonkonstruktionen mit Tausendschön, Vergissmeinnicht, Bartnelken und Fette Henne wirkte unnatürlich. Verpackungen von Schokoladenriegeln oder verwehte Tankquittungen, Dosen von Limonaden und Bier waren darin verfangen. An den Stämmchen und kleinen Zweigen der Heckenkirschen sammelte sich ebenfalls Müll. Umrandet von Abfällen wirkten die Pfanzen schmutzig und deplatziert. Seine Augen blieben an den Ästchen hängen, die sich hektisch im Wind regten. All die Rennstrecken, das Institut oder Windkanäle, an denen er wirkte, sie hatten dieses abweisende, geschlossene Klima, in dem nur die Maschinen, ihre Abfallprodukte, sowie die havarierten Rümpfe Platz fanden.

Er war an der Hälfte der Zigarette angelangt und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Verdammt gefährlich, mit der Kippe einzunicken, überlegte er. Dabei hatte er den Eindruck, gar nicht geschlafen zu haben.

Es wirkte paradox auf Angus, dass ihm an diesem Morgen auffiel, wie wenig freundlich diese Orte waren und wie er sich an sie gewöhnt hatte. Er sah Vertrautes darin. Er war einer jener Menschen, die sich flüssig in den schattigen Nischen des Rennzirkus’ bewegten und gerne am Wagen arbeiteten. Der Wagen, immer der Wagen. Das Setup schneller machen, die Fehler einkreisen, seine verlorenen Sekunden finden. Warum fiel ihm das in diesem Moment ein, überlegte er? Jetzt, in aller Stille. Der anhaltende Wind fegte Erinnerungen auf.

Er blieb weiter im Auto sitzen. Die Blase, zusammengesetzt aus Feenkräften und kindlicher Fantasie, hatte Risse. Sie entstehen, wenn die Hülle den Kontakt zu ihrer Quelle verlor. Die Ritzen eröffnen den Blick auf eine Welt jenseits der Träume. Und sie bändigten nicht mehr die Kraft der Kreaturen, die sie geschaffen hatten – eine Folge der Gefangenschaft Hagen Finwes.

Aber Angus überlegte, womöglich war es der Parkplatz. Er erinnerte ihn an den Block, in dem er von seiner Mutter großgezogen worden war. Ebenfalls eine grasdurchwirkte Steinwüste, in der er herumgestromert war. Plattenbausiedlung, ein wenig Rasen zwischen den Gehwegen, Büsche, alles ähnlich wie hier. Fraglos und unbeholfen eingepasste Natur, die der gewaltigen Wucht der Hässlichkeit des Instituts nichts entgegenzusetzen hatte.

Beim Gedanken an Büsche zog er am letzten Rest der Zigarette und rieb sich nervös die Stirn, fuhr das Fenster herunter, um Wind auf seine Gesichtshaut zu lassen. Wie viele Kilometer war er schon mit Höchstgeschwindigkeit gefahren, wie viel Fahrtwind hatte seine Karosserie umgeleitet. War ihm um den Helm geströmt, hatte er verwirbelt? Doch in diesem feinen Wind, der über den kargen Parkplatz kroch, die hilflosen Pflänzchen wogte, etwas Stanniolpapier trieb, in ihm war für Angus unvermittelt die gesamte Erinnerung einer Kindheit aufgehoben. Er fuhr die Seitenscheibe wieder schützend hoch. Hatte lange nicht mehr Gedanken an sein Zuhause verschwendet. Streng genommen, überlegte er, so gut wie gar nicht.

Die Glut seiner Zigarette erreichte jetzt den Filter. Er warf den Stummel in den Aschenbecher und klappte ihn zu. Dass er heute anfing, zu träumen. So kurz vor der wichtigen Rennfahrt. Sonntag würde der neue Motor eingesetzt. Im ersten und einzigen Lauf. Wahnsinn. Ja, Flammershausen war wahnsinnig. Er öffnete die Tür, stieg aus und begab sich auf den Weg. Der Wind zog an seinem Hemd und hob sein volles Haar an, das Rotkehlchen flatterte erschrocken weg.

Im Fahrstuhl bemerkte Angus, dass er seine Gedanken aus dem Fond des Wagens nicht loszuwerden vermochte. Tim Danger war zu ihm gestoßen, sein Cockpitpartner im Team. Alles wirkte seltsam fern. Er erinnerte sich wieder an die Wohnung seiner Mutter. Wie sah es dort jetzt aus, wo er aufgewachsen war? Er griff, ohne Bedürfnis zu rauchen, nach seiner Zigarettenschachtel. Er hatte sie im Wagen vergessen. »Ping« klang der Fahrstuhl und hielt an. Sie waren am Ziel. Tim sprach zu ihm, ohne, dass er zuhörte.

Der Korridor, der sich ihnen eröffnete, war einer jener Räume im Institut, die durch großzügig verglaste Auslassungen im Mauerwerk Sonnenlicht einließen und dadurch nahezu ohne künstliche Beleuchtung auskamen. Angus sah, wie Tim mit einer Halskette mit Kreuz spielte. Christliche Symbole? Was war los mit Tim? Verlor er die Nerven?

Seine Gedanken schweiften ab zu den vielen Kollegen, die bis zum Krüppel verstümmelt waren. Die alte Garde. Die Rennfahrer hatten doch ein seltsames Ethos. Jede Narbe, jedes Stück verkohlte Haut veredelte ihren Körper wie Zeichen höherer Vollendung in ihrem Beruf. Male, die von großer Nähe zu den glühenden Motoren berichteten. Spuren maximalen Kontakts. Diese Männer hatten die Grenze überschritten, waren aus dem genau austarierten Verhältnis von Mensch und Maschine kurz ausgeschert und hatten doch überlebt. Ihre Narben erzählten von Mut und Forschungsdrang. Die jungen Piloten von heute waren dagegen makellose Weltmeister, taugliche Werbeträger, Designstudien des Menschen. Milchbubis.

Leute wie er und Tim waren vom alten Schlag. Sie wurden vom brutalen, außer Kontrolle geratenen Schub der Boliden gelähmt in den Sitz gepresst. Sie verschoben sachte die Linie zwischen sich und den Maschinen, um siegreich zu sein. Und eines Tages verfehlen sie vielleicht den Punkt, der noch nicht tödlich war. Das Ende. Und selbst dann, im Tod, würden sie Helden sein. Wie war es dazu gekommen, dass er Rennfahrer werden wollte? Er versuchte sich, zu erinnern. Der Gedanke löste ein Schwindelgefühl aus. Er studierte seine Haut. Er war über die Jahre unversehrt geblieben. Womöglich, überlegte er, sollte er sein Glück nicht weiter herausfordern?

»Alles klar, Angus?«, fragte Tim besorgt, nachdem sie den Konferenzraum betreten hatten. Danger hatte gesehen, wie sich sein Partner immer wieder die Schläfen rieb. Der wackelte mit seinem Kopf, versuchte, etwas abzuschütteln.

»Alles okay. Nette Begleitung, oder?« Er zwinkerte den beiden attraktiven Mitarbeiterinnen des Hauses zu, die sie vom Eingang abgeholt hatten.

Tim lächelte blöd.

»Prof. Flammershausen wird gleich mit Ihnen in Kontakt treten. Wenn Sie noch Wünsche haben, können Sie sie gerne äußern«, sagte eine der zwei Assistentinnen kühl und beide entfernten sich aus der Konferenzsuite, um möglichen Wunschäußerungen nicht zu viel Raum zu geben. Tim schaute ihnen, sich verrenkend, nach und wäre dabei fast vom Stuhl gefallen. Die Tür schloss sich und er setzte sich seufzend in eine normale Position. Er wirkte auf einen Schlag gelangweilt. Er hätte noch Wünsche gehabt und fummelte wieder an seinem Kreuz.

»Dr. Flammershausen«, seufzte er. »Let the show begin.«

Es gab ein leises, elektrisches Geräusch. Der Monitor wärmte sich auf. Angus, der sich an das merkwürdige Kopfgefühl gewöhnt hatte, begriff, dass sie dem technischen Leiter ihres Rennteams auch wieder nicht persönlich begegnen würden.

Die Augen, das Fenster zur Seele. Es war die bevorzugte Eigenart Flammershausens, den Blick in seine Augen nur durch Kameras zuzulassen. Pixel und Körnchen ermöglichten eine hoch aufgelöste Sicht, die seine Pupille in Fragmente zerfallen ließen. Den inneren Zusammenhang des medienaffinen Wissenschaftlers setzte so jeder für sich selbst zusammen, was den Mythos ausmachte, den sein Name mitschwingen ließ.

»Angus. Tim. Danke für euer Kommen. Der Motor ist fast fertig. Wir haben lange gebraucht, aber wie mir Watanabe mitgeteilt hat, sind die wichtigsten Prüfungen des Labors abgeschlossen. Das Aggregat wird bald initialisiert. In knapp einer Woche ist das Rennen der Saison. Normalerweise würden wir den Motor auf einer Rennbahn testen, aber wir sind unter Zeitdruck. Wir werden den Motor sofort einsetzen.«

Rennbahn, dachte Angus. Wer sagt heute noch Rennbahn?

»Das ist doch Wahnsinn«, unterbrach Tim den Wissenschaftler. »Ohne Test gleich auf die Strecke? Wer hat sich das denn ausgedacht? Normalerweise werden die ersten 10 Rennen gebraucht, um überhaupt in der Führungsrunde anzukommen. Und dieses Jahr haben wir nur das eine Rennen.«

Es war eine besondere Rennsaison. Die Formula Alpha reformierte sich. Um trotzdem den Zuschauern etwas zu bieten, wurden nicht die üblichen 20 Rennen in der Saison angesetzt. Es gab die eine Austragung, Auftakt und Höhepunkt des Rennjahres zugleich. Der Sieger würde Weltmeister werden. Kein Raum für Experimente.

»Tim, hier ist Vertrauen gefragt. Ich sage euch: Es ist ein außergewöhnlicher Motor, wirklich: ein außergewöhnliches Aggregat. Ich erwarte nicht weniger als die Weltmeisterschaft mit ihm zu gewinnen, obwohl wir sofort mit ihm starten. Wir haben alle Möglichkeiten durchgespielt, kennen kaum Schwachstellen. Ich bin sicher, wir schaffen das.«

Die beiden Fahrer schauten sich erstaunt an. Angus’ Kopfschmerz war mittlerweile so ausgeprägt, dass er nicht richtig verstand. Doch er hörte Tim nachfragen.

»Im ersten Rennen?«

»Im einzigen Rennen. Ganz genau, Tim. Der Motor hat das Potential. Ich bin sicher, die Konkurrenz hat nichts zu bieten, was vergleichbar ist. Der einzige Faktor, der diesem Ziel entgegenzuwirken vermag, ist allein der Mensch.«

Eine kurze Denkpause, dann hakte Tim Danger nach:

»Also wir?«

»Genau. Streng genommen Angus, denn wir haben nur einen Motor, Tim.«

In Angus’ Kopf dröhnte ein Wasserfall, die Erinnerung spülte Bruchstücke aus der zurückliegenden Saison hoch. Ein ungetesteter Motor war das Letzte, was ihnen in diesem Jahr helfen würde. Er hatte noch damit gerechnet, den Vorjahresmotor einzusetzen, dessen Macken sie kannten. Für das eine Rennen wäre es gegangen. Doch die Gerüchte stimmten. Der Professor hatte etwas Neues erschaffen. Er protestierte nicht. Im Moment drückte ihn sein Kopfschmerz. Er hätte gerne gefragt, welche Vorbereitungen der Wissenschaftler für das Rennen getroffen hatte. Doch er wahrte die Haltung. Bemerkenswert, überlegte er, dass sein sportliches Schicksal ausgerechnet von Flammershausen abhing. Er hoffte, der pfiffige Watanabe würde für die Strategie zuständig sein.

»Das müsst ihr für den Lauf nächsten Sonntag wissen«, sagte der Wissenschaftler und Chefingenieur des Teams Rorick, dessen Stimme seltsam verzerrt aus dem kleinen Monitor plärrte. Dann vermittelte er beiden das erste Mal die Details über den erstaunlichen Motor.

Nachdem Flammershausen 85 Minuten später seine Unterrichtung beendet und sich abgeschaltet hatte, atmeten Angus und Tim tief durch. Einerseits war es Erleichterung, die verwirrende Präsenz des Professors nicht mehr zu ertragen, andererseits eine Reaktion auf den enormen Wissensstrom, den aufzunehmen sie verpflichtet waren. Stimmte nur die Hälfte dessen, was ihnen im Vortrag mitgeteilt worden war, besser gesagt: Wäre es umsetzbar – dann hätten die Piloten das Privileg, den Motor der nächsten Jahrzehnte zu fahren. Den Vlamma T3. Doch Versprechungen waren das Eine, die Realität auf der Rennstrecke das Andere. Beide schätzten, eine Menge Arbeit würde vor ihnen liegen, um den Motor in so kurzer Zeit optimal an die Rennbedingungen anzupassen, weswegen ihr Enthusiasmus nicht in den Himmel wuchs.

Die Frauen strömten in den Raum zurück und Tim wurde aufmerksam. Sie baten die beiden Rennfahrer, ihnen in die Kathedrale