Das Haus des Architekten - Oliver Peters - E-Book

Das Haus des Architekten E-Book

Oliver Peters

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Beschreibung

Der Priester Alfons Montblanc ist Gast bei seinem Bruder, dem großen Architekten Gerald Montblanc, der in der Wesermarsch lebt. An diesem Abend zieht ein Sturm über die auf. Die beiden Brüder und die Frau des Architekten, Elisa, würden wohl ein weiteres ereignisloses Abendessen erleben, bei dem die Geheimnisse der Montblancs unausgesprochen geblieben wären, wenn es nicht plötzlich an der Tür klingeln würde. Tina Berger, eine neue Nachbarin, ist trotz des Unwetters zu ihnen gestoßen. Sie wohnt in einem der Häuser, die Gerald Montblanc mit seinen rätselhaften Fähigkeiten konstruiert hat. Einer Fähigkeit, von der keiner weiß, woher sie kommt und welche Gefahren sie birgt. Denn er vermag Seelenkarten von Menschen zu zeichnen, die es ermöglichen, Häuserpläne sehr genau den Bedürfnissen seiner Kunden anzupassen. Aber was würde passieren, wenn in eines seiner Häuser neue Menschen einzögen. Zum Beispiel in das eines Mörders?

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Joanna Scott Douglas &

Jan Jedding gewidmet

Das Seminarhaus Scott Douglas in Sandstedt ist der Ort meiner ersten Lesung, vor allem aber der Musik und Ermutigung.

Cover: Coverdesigner von Epubli, Bild von pixabay

Impressum

© 2018 Oliver Peters

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Softcover: ISBN 978-3-746742-86-1 E-Book: ISBN 978-3-746742-87-8

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

*

Am 27.06. 2014 traf ein Tiefdruckgebiet die Region um die Wesermündung. Nach einem schwül-warmen Tag zog am Abend eine blitzintensive Gewitterfront über die Wesermarsch. Sturmböen von bis zu 135 km/h und Niederschlag von 100 Litern pro Quadratmetern hielten für 5 Stunden das Gebiet in Atem. Es kam wahrscheinlich zu 2 Tornadobildungen. Dem Unwetter folgte ein Kälteeinbruch und eine für ähnliche Wetterereignisse ungewöhnlich klare Wetterlage am Morgen.

*

1

Über der Nordsee türmten sich vor kobaltblauem Himmel dunkle Regenwolken und drängten ins von der schwülen Hitze des Tages eingekesselte Marschland der Unterweser. Der Wind blies heiß vom Meer und beugte die ausgetrockneten Pflanzen der Gärten und Weiden. Ein tieffliegender Schwarm Spatzen zog über eine karge Landschaft, die von fernen Baumlinien eingefasst war - drei kaum sichtbare, dünne grau-grüne, nach hinten hin im Dunst sich auflösende Reihen wie aus Papier geschnitten, das sich mit Farben des fernen Dunstes mischte.

Alfons Montblanc stand auf der Terrasse seines Bruders, rauchte und blickte auf die Szenerie. Der Wind nahm zu, bauschte sein volles, schwarzes Haar und zerrte an seinem Priesterkragen. Das metallene Licht blendete ihn und seine fahle Gesichtshaut zeigte Anstrengung. Er kämpfte gegen einen stechenden Schmerz in den müden Augen und schwitzte. Bald würde das Unwetter sie erreichen.

Vorhin hatte er vom Deich aus gedankenverloren auf den Fluss gesehen. Auf der Deichkrone stehend konnte man bis Bremerhaven blicken. Er war noch kurz am Strand gewesen. Das drohende Gewitter hatte sich schon abgezeichnet. Es war selbst am Wasser so schwül gewesen, dass er seine Jacke über dem Arm getragen hatte. Dann war er zur Villa seines Bruders Gerald gefahren, 8 Kilometer - im Rückspiegel waren die Kräne vom anderen Weserufer immer weiter geschrumpft.

Er fragte sich, was seinen Bruder Gerald, den großen Architekten, in diese Gegend gezogen hatte. Der Baukünstler aus den einschlägigen Magazinen, dessen Werke die Fachwelt zugleich in Atem hielt sowie vor Rätsel stellte und der gerade in diesem Moment in der Küche werkelte und kochte.

Alfons sah die Weiden, die sich vom Fluss aus östlich der Strand- und Deichlinie bis 15 Kilometer tief ins Land erstreckten. Ein dem nahen Meer abgetrotztes Stück Erde, ein raues Land, das seinen Ursprung fühlbar machte und in das der Wind ständig das Klima, die Gerüche und Salz der Nordsee trug. Jetzt türmten sich Ambosswolken am Himmel. Noch nie hatte er eine so dunkle Schattierung gesehen, während er noch in der Sonne stand. Blitze zuckten durch Teile der dunklen Wolkenfront.

Der sich zum Westen dehnende Deich nur ein stärker gezeichneter Strich. Auf der anderen Flussseite lag ein Hafen- und Industriegebiet. Silos und Containerbrücken ragten keck über die Deichlinie. Brake. Die Berufskollegen seines Bruders lebten allesamt in den großen Städten Europas, die sie inspirierten. Nur er zog Kraft aus diesem kargen Stück Natur.

War es vielleicht der Fluss? Er vermochte Alfons immerhin zu faszinieren. Gerald sprach manchmal von ihm. Unter dem Einfluss der Gezeiten war sein Anblick stets Veränderungen unterworfen. Und schlängelte doch ruhig bis zum Horizont. An seinem Ufer schlugen bei Flut seit Jahrhunderten die Wellen, durchbrachen bei Hochwasser die Schilflinie oder hinterließen bei Ebbe eine komplizierte Struktur aus Schlick und Wasserwegzeichen. Das fesselte Alfons. Die Motive seines Bruders aber blieben ihm verschlossen.

Gerald, dessen Frau Elisa und er sahen sich alle drei Monate und pflegten - etwas erzwungen - einen Kontakt, der sonst sicher einzuschlafen drohte. Alfons Montblanc musste zugeben, ohne Elisa, die ihm in diesem Moment beim Rauchen auf der Terrasse Gesellschaft leistete, wäre das wahrscheinlich schon längst geschehen. Er überlegte, ob sie nur rauchen durfte, wenn sie Gäste hatte. Es würde zu Gerald passen. Der Hausherr duldete keinen Rauch oder offenes Feuer im Haus.

Während Alfons durch die Mundwinkel den vom Wind schnell verwirbelnden Tabakqualm entließ, studierte Elisa sein Profil. Mit angewinkeltem rechten Arm, den sie mit der linken Hand stützte, hielt sie ihre Zigarette, lehnte an der Wand und wirkte kokett. Alfons hatte in ihren Augen über die Jahre an Attraktivität nichts verloren. Sie kannten sich seit der Uni, das lag über 25 Jahre zurück. Damals mischten sich seine gleichmäßigen Gesichtszüge mit ernsthafter Zurückgezogenheit, was bei vielen der Kommilitoninnen für Aufregung sorgte. Jetzt hatte die Schwere seiner moralischen Gedanken Furchen in sein Gesicht geschnitten.

Im Gegensatz zu seinem Bruder war er rasiert und sein breiter Mund verzog sich häufiger zu einem feinen, vielleicht bitteren Lächeln. Und sicher war auch seine Haut durch die Zigaretten schneller gealtert, während Gerald rotbackig die falsche Gesundheit derer ausstrahlte, die durch Büroarbeit geschützt lebten.

Der größte Unterschied zwischen den Brüdern lag in der katholischen Amtskleidung, die Alfons trug. Elisa rollte nervös ihre Zigarette zwischen den Fingern.

»Ist Rauchen nicht eine Sünde?«, fragte sie spöttisch. Alfons zeigte einen milden Blick. Sein volles Haare lag nun wirr verkrüselt und der Wind zog mit unsichtbarer Hand an seiner Jacke, als ob er sie öffnen wollte.

»Es ist komisch. Höre ich mit den Kippen auf, werde ich starrköpfig. Hart. Ich verliere meine Eleganz. Ich bin sicher, der Herr möchte lieber, dass ich mir meine guten Eigenschaften bewahre, um seinen Aufgaben nachzukommen.«

Elisa lachte. Sie hatte makellose Zähne, deren Weiß sich von der Sonnenstudiobräune ihres Gesichts abhob. Sie war schlank, aber nicht mager. Ca. 50 Jahre alt und trug ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden streng nach hinten gekämmt. Sie wirkte sportlich und häuslich zugleich, wozu die legere, weit fallende Freizeitkleidung beitrug. Man konnte ahnen, dass sie in einem Abendkleid atemberaubend auszusehen vermochte. Sie genoss scheinbar den Wind, was ihr etwas Sinnliches gab.

»Es scheint, Glaubensfragen sind einfacher, als ich dachte. Mit solchen Argumenten kann man sich gewisse Spielräume schaffen.«

»Tja. Wir Menschen haben doch alle diesen Hang zur Doppelmoral, Elisa. Wer glaubt, davon frei zu sein, der versündigt sich durch die Vorstellung, selbst ein Gott zu sein.«

»Oh je, das klingt düster, Alfons. Denkst du denn, ich habe auch eine doppelmoralische Seite?«

Alfons drückte seine Zigarette aus, schaute nach seinem Bruder und trat dann, als er ihn in sicherer Entfernung wusste, einen Schritt an Elisa heran. Mit einem Finger hob er ihr Kinn und küsste sie fast auf den Mund. Elisa ließ ihre Zigarette fallen und wollte nach Alfons greifen, doch er war zurückgetreten und klopfte etwas Asche von seinem schwarzen Pullover.

»Die Frage beantwortet?«

»Warum bist du bloß Priester geworden?«, seufzte sie, drückte mit dem Fuß den Zigarettenstummel am Boden aus, hockte sich hin, hob ihn mit den Fingerspitzen auf und legte ihn in den Aschenbecher. Als hätte sie etwas Schmieriges berührt, rieb sie sich angeekelt die Daumen und Zeigefinger.

»Das habe ich dir doch erklärt.«

»Die Suche nach Gott, Alfons? Wie weit bist du damit gekommen?«

Er steckte die Hände in die Hosentasche und atmete tief ein. Natürlich hatte er ihr nie alles erzählt. Er stieß die Luft geräuschvoll aus.

»Langer Weg. Braucht viel Geduld. Es scheint, man muss in viele Sackgassen gehen, bevor es was wird. Vielleicht erscheint es dir ja, als stünde ich noch am Anfang. Vielleicht hast du sogar recht damit. Im Moment denke ich sogar, dass die ganze Konzeption ein Irrtum ist.«

»Konzeption? Du meinst die von Gott?«

»Vielleicht geht es ja um etwas Mystisches ganz allgemein«, meinte er nachdenklich, als er wieder ins Land blickte. »Dinge, die wir mit unseren Begriffen allein nicht erklären können. Als ob es mehr gäbe als nur diesen Gott. Ich weiß es nicht, Elisa«, sagte er resigniert, schaute zu Boden und schwieg. Er ahnte, dass er mit Andeutungen nicht weiter kam. In ihm drängte es, mehr zu erzählen. Doch er zögerte.

»Du warst immer ein Grübler. Vielleicht machst du es dir auch doppelt schwer. Und bestimmt ist es nicht klug, mit deinen Zweifeln ausgerechnet zu Gerald zu kommen.«

Nein, dachte er. Das wäre wirklich nicht klug gewesen. Aber er war ja auch nicht gekommen, weil er von seinem Bruder Hilfe erwartete. Er blickte wieder auf.

»Obschon er ein tolles Untersuchungsobjekt ist, oder?«, erwiderte Alfons. »Guck mal, all die Jahre habe ich geglaubt zu wissen, woher Geralds Gabe kommt. Aber nicht, ob das, was Gerald mit seinen Häusern treibt, aus theologischer Sicht noch Kunst ist. Oder doch nur ein Trick, ein Spiel mit Kräften der - ja, man kann wohl sagen: Gegenseite. Ein Spiel, das mein Eingreifen erforderlich macht.«

Elisa lachte erneut und schüttelte den Kopf.

»Was heißt das, du weißt, woher es kommt?«

Alfons zuckte mit den Achseln. »Ich bin immerhin mit Gerald aufgewachsen.«

Sie dachte nach und holte tief Luft. Die Wolkenfront hatte sich weiter genähert, verdeckte nun den letzten Rest des Himmels und verbarg die Sonne. Sie spürte in ihrer leichten Kleidung den Temperatursturz.

»Sei ehrlich, Alfons. Du glaubst an den Teufel, oder? Und denkst, Gerald hat einen Pakt mit ihm?«

»Es ist doch so, dass du nicht an Gott glauben kannst, ohne auch an den großen Widersacher. Wenn der Teufel dahintersteckt, müsste ich mich allerdings schon sehr getäuscht haben. Aber wer weiß?«

Elisa holte stirnrunzelnd eine weitere Zigarette aus einer Schachtel und hielt die Packung Alfons auffordernd hin. Er zögerte kurz, dann griff er zu. Er schätzte ihre pragmatische Sichtweise auf das Leben, die seiner so entgegengesetzt war.

»Ich weiß nicht. Gerald hat seine Macken, aber ob er mit dem Teufel im Bunde ist, das glaube ich nicht.«

»Kein Schwefelgeruch manchmal?«

Elisa lachte. »Nein, kein Pferdefuß.«

»Sein Kleiderschrank - eine Forke darin? Vielleicht ein Cape?«

»Hör auf«, kicherte Elisa und blickte Alfons versöhnlich an.

»Und das ist, woran du glaubst? Ernsthaft?«

»Nein. Das sind billige Symbole, ganz sicher. Ich glaube, Böses zeigt sich subtiler. Ist versteckt. Genauso wie das Göttliche. Es ist im Alltäglichen getarnt. Manchmal sind beide eng miteinander verwoben. Es braucht einen genauen Blick. Bist du zu nahe dran, erkennst du es nicht. Der ganze Kirchenkrempel, die Meditation, der Gesang, Klosterleben - alles Methoden, um Abstand zu gewinnen und den Blick freizubekommen für diese Erscheinungen von Gott und Satan. Das macht es so schwer«. Er machte eine kurze Pause und schaute wieder auf die Gewitterfront. »Weißt du, was die Leute über die Stürme hier erzählen?«

»Du sagst es mir bestimmt. Ich kenne nur die Geschichten aus der Zeitung über diesen Landstrich.«

»Sie sagen, dass bei Stürmen, besonders in der Nacht, die Welt von jetzt mit der des Jenseits durchmischt wird. Unheimlich, oder? Da würde man das Gute und Schlechte gut auseinanderhalten können.«

»Sicher. Aber es geht um Gerald. Was siehst du bei ihm?«

»Er ist mein Bruder, Elisa. Allein das verstellt den Blick.«

Sie nickte. Sie dachte daran, dass sie als Einzelkind aufgewachsen war und keine Expertin für Geschwisterrivalität war. Eigentlich hatte sie immer gedacht, ein Bruder hätte sie schützen können. Sie zog an ihrer Zigarette und erinnerte sich, wie die beiden Brüder vor Jahren in ihr Leben getreten waren.

»Ich weiß noch, wie wir uns kennengelernt haben. Auf meiner Geburtstagsparty im vierten Semester. Wir saßen im gleichen Seminar, ich habe Euch mehr oder weniger zufällig eingeladen und dann brachte Gerald mir dieses unglaubliche Geschenk ...«

Sie hielt inne und dachte nach. Alfons wandte sich ab.

»Was ist?«, fragte Elisa besorgt.

»Und wegen des Geschenks seid Ihr Euch doch näher gekommen und zum Paar geworden.«

»Nein«, gab Elisa gereizt zurück. »Ich konnte mich nicht entscheiden, bis du dich dazu durchgerungen hast, Priester zu werden. Und ich wollte nicht auf ein totes Pferd setzten, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich meine«, presste Alfons langsam hervor, »die Einladung war sicher kein Zufall. Und er hat genau gewusst, was du dir wünschst. Das hat die notwendige Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, um dich für sich zu gewinnen. Es war ihm egal, ob ich vielleicht …«

»Ja?«

Alfons winkte ab und löschte seine Zigarette. Elisa wurde ernst. »Du redest von Manipulation. Das sehe ich aber ganz anders, mein Lieber.«

»Es ist die Gabe bei ihm. Er braucht nicht lange, um einen Menschen genau auszutarieren und seine Wünsche zu kennen. Mein Gott, er hat Dinge bei unseren Eltern durchgekriegt, da habe ich mir jahrelang die Zähne dran ausgebissen. Er hat mir einmal erklärt, dass es nicht nur Psychologie sei. Psychologie, meinte er, wäre eine nahezu exakte Wissenschaft im Vergleich zu seiner Veranlagung.«

»Ich weiß nicht, wie er es macht, Alfons. Er ist mir in einigen Dingen ein Rätsel, aber ich liebe ihn trotzdem. Er hat einfach dieses Talent, diesen Dreh, vor allem als Architekt. Du musst doch sehen, was er erschafft! Seine Häuser!«

Ja, die Häuser von Gerald Montblanc, dachte Alfons bedrückt. Was war ihr Geheimnis? Man könnte vielleicht sagen: Ein rätselhafter Mechanismus. Zahlreiche kunstwissenschaftliche Artikel zu seinem Werk versuchten zu erfassen, wie unvergleichlich er dem Charakter des Auftraggebers auf den Leib geschnittene Domizile zu schaffen vermochte. Sie seien so passgenau, dass ein jeder, der die Harmonie zwischen den Bauwerken und ihren Besitzern erkannte, sofort ausrief: Das ist ein Montblanc!

Gerald hatte es in einem Interview einmal so beschrieben: Verwinkelte Seelen brauchen verwinkelte Häuser, großzügige Geister ebensolche Räume, ängstliche Wesen verlangten Schutz durch hohe Mauern, kleine Fenster sowie Panikräume, während Draufgänger schließlich gewagte Formen bevorzugten.

Gerald Montblanc schuf nicht nur statisch durchkalkulierte Unterkünfte und verlieh ihnen eine ästhetische Akzentuierung. Scheinbar bot er den Besitzern einen Spiegel ihrer selbst. Es waren Räume, die ihren verborgenen Träumen, die ihrer Formel vom Leben entsprachen und sich mit ihren Bewohnern zu verbinden schienen.

Erwartungsgemäß musste man für seine Schöpfungen Geld aufbringen, wie für andere Kunstwerke auch. Dafür bekam man zweifelsfrei einen Ort geschenkt, der kein geringeres Prädikat als das der Heimat verdiente. Wer sein Haus vom Architekten Montblanc entwerfen ließ, berichtet vom Gefühl, am Ziel zu sein. Sich verstanden zu fühlen. Es ging die Rede vom Glück!

Wie Diamanten im Dreck lagen die Häuser des Architekten in der Marschlandschaft, hell erleuchtet und vom perlenden Gelächter ihrer Bewohner umspielt, umgeben von der Jahrhunderte alten Landschaft, die sie einkapselte. Leise Feuchtigkeit aufsog, sie in die Gräben tröpfeln ließ. Stück für Stück, Tag für Tag.

»In seiner Studentenbude«, sagte Alfons, »baute er an einer Art Altar, auf dem er verschiedene Personen ›zergliederte‹, wie er das meinte. Und das sah manchmal verdammt nach Voodoo aus.«

»Voodoo?«

»Na ja, komische Rituale halt. Ich bin nicht sicher, ob er das heute immer noch betreibt, um diese unglaubliche Trefferquote bei seinen Kunden zu erreichen. Diese Passgenauigkeit der Häuser, von denen sich keiner trennen mag. Es ist eine Gabe. Aber ist sie von Gott? Ich frage mich das immer wieder!«

»Was lässt dich dran zweifeln?«

»Ich hätte erwartet, dass ein Mensch mit seinen Fähigkeiten eher als ich zum Priester wird. Zu einem Wohltäter. Er könnte seine Magie dafür nutzen, den Menschen Orientierung zu geben. Aber er hat sich für die freie Wirtschaft entschieden. Von Anfang an! Und das, obwohl ich häufig genug zu erkennen glaube, er weiß gar nicht, was er da tut!«

Elisa kicherte. »Das ist doch der schiere Bruderneid, oder?«

Alfons hob ergeben die Schultern.

»Ich sage ja, beim eigenen Bruder ist der Blick verstellt.«

»Was sagt er denn selbst dazu?«

»Ich habe ihn nie gefragt. Er würde es mir sicher nicht sagen.«

»Ihr habt beide die Gabe, Menschen glücklich zu machen. Nur du hast dich für den Weg der Kirche entschieden, er macht es als Kreativer und Selbstständiger.«

»Es ist noch etwas anderes, glaube ich.«

»Er hat sich für einen Weg mit Frauen entschieden, du für einen Weg ohne Frauen?«

Alfons spürte einen Stich im Herz. Er flüsterte: »Du bist unverbesserlich.«

Sie schritt auf Alfons zu und betastete das Brevier seines Jacketts.

»Ich gebe zu, ich war zwischen euch beiden unentschieden und am Ende fiel meine Wahl auf Gerald.«

»Nein, das ist es nicht ...«, wehrte sich Alfons.

»Aber vielleicht nicht so sehr, weil er so viel getan hat«, beharrte Elisa, »sondern auch, weil du, wie soll ich sagen … so wenig tatest. Du hattest ihm, denke ich, bereits den Sieg überlassen. Umso mehr, weil du immer meintest, ein Leben im Zölibat verbringen zu wollen. Was denkst du, wie das auf eine Studentin wirkt?«

Vorsichtig nahm Alfons ihre Hand und führte sie von sich weg. Er seufzte und wirkte plötzlich noch müder als vorher.

»Brüder haben ohnehin ein enges Band, egal wie das Leben spielt. Ich liebe ihn, was er auch anstellt. Aber das heißt nicht, dass ich übersehe, wie er Menschen für sich einnimmt. Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich damals nicht richtig gehandelt und resigniert. Aber sauber ist sein Spiel nicht. «

Elisa löschte ihre Zigarette.

»Ich habe ihn immerhin geheiratet.«

»Oh ja. Und ich habe Euch getraut.«

»Was meinst du also?«

Alfons dachte einer plötzlichen Eingebung folgend, dieser Besuch würde vielleicht anders werden als die der zurückliegenden Jahre.

»Bist du glücklich?«

Elisa blickte Alfons an. Sein zerzaustes Haar gab ihm sein jugendliches Aussehen von damals wieder. Noch bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Terrassentür und Gerald stand im Rahmen, umweht von weißen Vorhängen. Er trug einen grünen Kaschmirpullover und beige Canvas. Missmutig blickte er in den Himmel.

»Wo bleibt Ihr? Das Essen ist fertig.«

Sie gingen ins Haus. Elisa blieb ihre Antwort schuldig. Alfons blickte, bevor er ins Haus ging, noch einmal zurück. Dunkelheit lag schwer über dem Land. Entfernt sah er die Lichter in einigen Häusern, als er die Tür vor dem Unwetter verschloss. Gleich darauf begann der Platzregen.

2

Während sein Bruder und seine Frau sich auf der Terrasse unterhalten hatten, hatte Gerald diverse Gewürze vorbereitet, um ein indisches Massala zuzubereiten. Er folgte einem Rezept von Jamie Oliver. Das Reiben der Ingwerwurzel und des Knoblauchs nahm am meisten Zeit in Anspruch, Koriandersamen hätte er gemahlen kaufen können, bevorzugte aber, sie für ein intensiveres Aroma frisch zu zerstoßen. Auch nahm er mehr Gasam Massala als im Rezept empfohlen und empfand es immer wieder heikel, die Senfkörner im heißen Öl anzubraten, bis sie aus der Pfanne zu springen begannen. Tänzerisch schob er die Körner in die Gewürzmischung und gab, nachdem er alles kräftig verrührt hatte, die Hälfte davon in Naturjoghurt und verrührte die Masse, um die Putensteaks darin 30 Minuten zu marinieren. Den Rest schlug er in die Pfanne, schnitt eine Zwiebel in Scheiben und mischte sie unter die Gewürze. Nach 15 Minuten gab er Wasser, Tomatenmark und geriebene Mandeln dazu, kochte die Sauce sämig und krönte sie mit Sahne, während er die Putensteaks fertig briet. Nachdem er alles mit Reis angerichtet, den Koriander gerupft hatte und in einer extra Schüssel bereitstellte, trocknete er sich die Hände, als ihm die Limetten einfielen, deren Saft er noch schnell auspresste und servierte. Bei allen Verrichtungen schwieg er, hörte keine Musik oder pfiff ein Lied. Er lauschte sich und den Geräuschen und duldete keine Besuche in der Küche.

In ihm wohnten zwei Extreme. Die Intensität des kreativen Schaffens, die von seiner Durchlässigkeit für die inneren Stimmen der Menschen getragen war. Dieser Teil war beunruhigend, chaotisch und für ihn nur schwer beherrschbar. Er glich einem Feuer, das den erdrückenden anderen Teil in ihm zurückdrängte. Die tiefe, dunkle, schwarz-grün oszillierende, alles durchmessende Leere. Aus der er gekommen war. Und in das er wieder eingehen würde. Beim Kochen war er im Gleichgewicht. Seine unruhigen Gedanken standen still. Er war weit genug vom Feuer, um von dessen unruhigen Flammen nicht versengt zu werden, doch nah genug, um nicht in die Leere zu stürzen. Es fiel ihm schwer, diesen Zustand herzustellen, der es ihm ermöglichte, mit Menschen in gutem Kontakt zu sein. Kochen war eine Möglichkeit, ins Gleichgewicht zu kommen. Der gebürstete Stahl der Küche erdete ihn. Wenn er kochte, sprang eine schmale Tür zu seinem Inneren einen Spalt auf. Er war dankbar für Alfons Besuche, um ihn in Übung dazu bleiben zu lassen.

Gerald Montblanc hatte es aus diesen Gründen auch zu einer gewissen Meisterschaft in der Küche geschafft! Alfons meinte, ein Teil seiner geheimnisvollen Gabe floß sicher auch in die Kochkunst und er konnte sich - ansonsten eher zurückhaltend beim Essen - auf ein sinnliches Erlebnis freuen. Gerald wirkte beschäftigt und konzentriert, als er seine Frau und seinen Gast zu Tisch bat. Dieser Kontrast, dachte Alfons. Der Muffel würde es in einer überfüllten Straßenbahn schaffen, dass sich niemand neben ihn setzte. Und doch schuf er immerfort wunderbare Dinge.

Alfons war in Gedanken noch beim Gespräch auf der Terrasse. Was wusste er wirklich über Geralds Arbeit? Über die Aufgaben eines Architekten? Der durchschnittliche Vertreter seines Standes berechnete Häuser auf dem Papier, schuf zweidimensionale Schemata für dreidimensionale Träume, zog Strich für Strich spätere Anweisungen für Baufirmen. Die eigentliche Kunst lag doch darin, zwischen menschlichen Wünschen, ihren noch unformulierten Bedürfnissen, baulichem Zwang und gesetzlichen Vorgaben zu vermitteln.

Gerald aber hielt sich sicher nicht mit den üblichen Aufgaben seines Berufs auf. Er tat unendlich viel mehr und erstaunte die Fachwelt, indem er sich einer Fähigkeit bediente, die sein gut gehütetes Geheimnis blieb. Die Alfons kannte und nicht begriff. Gerald blickte mit ihr tiefer in die Wunschwelt der Menschen als jeder andere. Gerald verflocht die Arbeit eines Architekten mit einer hochabstrakten Technik. Ein Kultus, dessen Vervollkommnung Alfons seit ihrer gemeinsamen Jugendzeit verfolgte. Es war etwas, was mittlerweile tiefstes klerikales Unbehagen bei ihm auslöste.

Sie setzten sich an den großen Tisch und Alfons fragte sich, während er seine Serviette ausschüttelte und Elisa zulächelte, ob Geralds Talente das Einzige waren, was sie trennte; ihn, den unsicheren Kleriker und Gerald, den völlig von sich überzeugten Architekten. Und während Gerald etwas unbeholfen einen Kellner mimte, der seine Gäste bewirtete, rekapitulierte Alfons, was er über die Methoden seines Bruders sagen konnte.

Womit begann es? War es der hohe Preis der Auftraggeber, über das Geheimnis seiner Häuser schweigen zu müssen? Die Kunden bekamen als Antwort auf das Vorgespräch die Konstruktion des Hauses auf Papier und im Modell. Nur eine vorwegnehmende Andeutung auf die Glückseligkeit, aber für die meisten Kunden schon eine unwiderstehliche Verheißung. Gerald nannte die Basis seiner Berechnungen seine Seelenkarten. Immer stimmten die Kunden dem Vorschlag mit einem stummen, ewig dankbaren Kniefall vor dem Architekten zu, der einen Vertrag zwischen ihnen besiegelte. Alfons hatte es gesehen.

Während er die Serviette in seinen Kragen stopfte und kritisch zum Fenster blickte, gegen das der Regen drückte, prüfte er innerlich, ob seine Aversion vielleicht von dieser Unterwerfungsszene ausging. Ob sie sich von der in ihm angelegten christlichen Anwaltschaft ableitete oder gar schlicht menschlicher Neid war, der durch die schlecht besuchten Gottesdienste Nährboden fand. Eine starke Böe ließ die Fenster im Rahmen erzittern.

Erfreut blickte Gerald auf den gedeckten Tisch. Er spürte Stolz auf das Ergebnis. Er konnte sich denken, warum das Kochen als Mittler zwischen seinen Welten half, konnte er doch so einmal einer planerischen Tätigkeit nachgehen, in der er schmecken, riechen und ausprobieren durfte. Es faszinierte ihn, die Zutaten zu kennen und immer neu zu kombinieren, besonders in der indischen Küche. Es galt, mit Naturprodukten und ihren Eigenarten immer wieder Neues zu versuchen, Rezepte abzuwandeln und zwischendurch mal zu kosten. Vor allem vermochte er in der Küche an einem Abend zum Ziel zu kommen und in einem seltsamen Akt der Schaffens und Zerstörens, der Transformation wirksam zu sein.

Er blickte zu Alfons, der ihn abschätzig betrachtete. Es galt zwischen ihnen die alte Abmachung, ihn nicht mit seinem Können zu erfassen. Doch die Skepsis, die ihm zeit ihres Lebens unverhohlene entgegenschlug, war unverkennbar. Würde man Alfons fragen, wie er die Hingabe seines Bruders in der Küche einschätzte, er würde sicher Geralds stille Sehnsucht nach Sinnlichkeit in Abrede stellen. Er würde behaupten, dass er zwar den gelegentlichen Ausbruch aus seiner sterilen Tätigkeit am Zeichentisch oder beim Modellbau genoss, doch im Kern mit ihr verschmolzen war - nicht mit der gelegentlichen Arbeit in der Küche. Das war ihr Zwiespalt. Alfons verstand ihn nicht und wusste doch alles. Alfons verurteilte ihn, aber schien ihn doch als seinen Bruder zu lieben.

Griesgrämig, wie es seine kokette Art war, wenn er Ergebnisse von hoher Qualität präsentierte, bot Gerald die Früchte seiner Arbeit aus der Küche an und Alfons nahm sich dankbar seine Portion vom Fleischteller.

Ja, Gerald war erfolgreich und legendär zugleich. Die Menschen, die einmal ein Haus von Gerald entwickeln ließen, waren wie daran gekettet. Glückselig machende Architektur eines Gebäudes mit feinen Linien und Fäden zum tiefsten Inneren seiner Besitzer. Sklavisch hielten sie an ihren Häusern fest. Und an ihrem Glück. In Alfons Kreisen würde man in solchen Fällen nicht von einer Interessensgruppe von Hausbesitzer sprechen, sondern eher von einer Sekte.

Zur Legendenbildung gehörte auch, dass das eigene Haus des Architekten eine Pilgerstätte geworden war. Man fragte sich, wie der Mann, der so präzise Häuser für die Bedürfnisse der Menschen zu entwerfen vermochte, selbst wohnte. Was gab die Villa von seinem Innersten preis? Alfons erinnerte sich, als sein Bruder vor 12 Jahren seinen Entschluss mitteilte, sich und Elisa ein Haus zu bauen, hatten ihn die gleichen Fragen bewegt. Und bis heute war der Bau voller Chiffren, die selbst er, der Gerald wohl besser kannte als jeder andere auf dieser Welt, nicht entschlüsseln konnte. Dazu gehörte die Lage.

Hinter dem Haus seines Bruders hob das Land zu einer Ebene an: Eine Aufwerfung, die früher den Küstenverlauf beschrieb und jetzt bewaldet war. Die Menschen nannten das Landschaftsmerkmal die Kante. Wie Menschen eben einen Namen für alles fanden. Sie war die Grenze zur Geest. Die Schranke zum höher gelegenen Hinterland. Geralds Haus floss scheinbar die Kante herunter, um einen weiten Blick auf die Marsch freizugeben, die durchbrochen von vereinzelten Baumgruppen und hängenden Stromleitungen, flachen Zäunen und einem Netzwerk von Gräben und Straßen still offenlag wie eine zum Himmel geöffnete Hand.

Vielleicht war es die vielfache Art, sich zuweilen monatelang auf die Bedürfnisse und Eigenarten eines Auftraggebers einlassen zu müssen, dass er sein eigenes Haus wandlungsfähig hielt. Es war am Rande des Waldes gelegen, halb von dunklen Eichen umstanden, mit der Front aber auf das weite Feld gerichtet, durch das wie ein Strich der Kiesweg von der Hauptstraße abzweigte und auf den mit Kieselsteinen gefüllten Parkkreisel vor dem Haus führte. Die Ausläufer dieser Residenz nach hinten ins Gehölz und die Anhöhe hinauf waren unübersichtlich. Es drang außerdem unterirdisch in die Erde, so dass sich ein Großteil des Anwesens den Blicken entzog. Seine Breite war schwer einzuschätzen, da sich Einzelgebäude an den Seiten verliefen, wozu auch ein mächtiger Turm ohne erkennbare Funktion gehörte.

Je nach dem, von welcher Seite man sich näherte, bemerkte man eine eigene Stilform oder Bauepoche, Historisches, Zukünftiges, Experimente und Bewährtes - als habe Montblanc versucht, ein Kaleidoskop der Möglichkeiten der Baukunst im eigenen Haus zu vereinen.

Zuweilen ähnelten die Beschreibungen Fieberträumen. Der Eine hob die Elemente gotischer Kathedralen hervor, der Andere den romanischen Festbau, während ältere Frauengruppen häufig die spätviktorianischen Villenelemente bemerkten, Jugendstil entdeckten oder die Verwendung roter Ziegel, wie sie in Norddeutschland geläufig waren, betonten. Je nach dem, wer welche Erinnerung filterte, entsann sich an Butzenfenster, französische Doppelfenster, Thermopen, bleigefasste Malerei oder Panzerglassteine als die Lichtportale nach außen hin. Man war geneigt, das Überangebot an Stilelementen nach eigenen Bedürfnissen zu sortieren und im Anschluss an den Besuch bei Gerald Montblanc das Gefühl zu entwickeln, einen Prachtbau besucht zu haben, der der eigenen Fantasie entsprungen schien. Er hatte gewiss mit Bedacht so gebaut.

Alfons war vielleicht einer der wenigen Menschen, die in der Hoffnung, sein Leben im Haus Gottes verbringen zu dürfen, wenig empfänglich für die Spielereien seines Bruders war und sich im Gemisch der Stile des Anwesens schlecht zurechtfand. Manchmal überlegte er, ob er gegenüber den Fähigkeiten seines Bruders immun wäre und den Zauber, der die Stilvariationen des Hauses miteinander verband, nicht nachempfinden konnte.

So betrat er regelmäßig die mächtige Eingangshalle des Hauses mit widersprüchlichen Gefühlen, denen erst recht der mächtige Wasserspeicher in Form eines dämonischen Drachenkopfes auf der rechten Seite Gestalt gab. Die Fensterfront über dem Eingangsbereich, die auf der gegenüberliegenden Treppe in die erste Etage den Blick auf die Marsch freigab, war modern einer Rosette gotischer Kathedralen angeglichen, der Wasserspeier schien dagegen uralt, wie aus einer versunkenen Kirche geborgen. Blickte man durch die Fensterfront von der Treppe aus, ragte der Drachenkopf ins Panorama und wirkte, als flöge er über die Landschaft auf der Suche nach Beute. In jedem Zimmer gab es zwei oder drei dieser Figuren in kleineren Ausführungen und unterschiedlichen Formen. Und das Unbehagen aus der Eingangshalle nahm er mit in alle Bereiche des Hauses, das ihm kalt, überdimensioniert und gespenstisch vorkam.

Gerald legte Elisa ein Stück von dem gebratenen Putensteak auf den Teller. Er hatte kleine gebackene Krüstchenstücke aus dem Joghurtmantel in der Pfanne mitgebraten. Der Duft dieser fast schon verkohlten Joghurtfladen war intensiv und besonders bei ihr sehr begehrt. Er erklärte gerne, wie er das Essen zubereitet hatte und Elisa sowie Alfons hörten aufmerksam und freundlich zu, weil sie wussten, wie ernst es Gerald mit diesen Dingen war. Und dass er nicht einfach für jeden kochte. Dann setzte auch er sich, und begann ebenfalls zu essen. Ausnahmsweise, und nur dem Rezept zuliebe, gab es Bier. Alfons bediente sich und sie stießen miteinander an. Das Unwetter hatte gerade erst begonnen und grollte doch bedrohlich über das Land.

Elisa hatte seine Frage nach ihrem Glück nicht beantwortet, dachte Alfons beim Abstellen des Bierglases. Er ahnte, dass sie es nicht konnte. Ihre Worte über ihre Chancen vor 25 Jahren hatten sich in ihm festgebissen. Sie saß ihm gegenüber und lachte erleichtert, dem einsetzenden Platzregen entkommen zu sein. Und Alfons spürte erneut, dass sie vielleicht nicht mehr als nur ein weiteres Stilelement in der Fantasie seines Bruders in diesem Haus war. Eine Gefangene, die ihre Ketten nicht spürte und heiter ihrem Kerkermeister zuprostete.

Geschützt in der schillernden Sphäre von Bauelementen und Stimmungen lebte sie in ihrem nach hinten gelegenen Zimmer. Es war vergleichsweise klein und niedlich eingerichtet. Alles war veredelt und ausgerechnet mit goldfarbener Tapete ausgestattet. Elisa war unglücklich und ihr Mann merkte es nicht, Alfons war fest davon überzeugt.

Er stellte sich vor, wie sie im Sommer am offenen Fenster stehend den Geräuschen des Waldes lauschte, an kälteren Tagen auf der Fensterbank saß und in die entlaubte Natur blickte. Wie ihre grünen Augen etwas von dem Sommer gespeichert hatten, das im Winter in die kahlen Bäume zurückstrahlte.

Ob Gerald damals, als er ihr Haus gebaut hatte, ahnte, wie sehr sie beide um gemeinsame Zeit würden kämpfen müssen? Hatte er eine Seelenkarte von sich selbst oder von Elisa gezeichnet? Der Speiseraum jedenfalls, in dem sie nun saßen, hatte übergroße Ausmaße. Er war von drei Seiten durch bodentiefe Fenster erhellt, deren beige Gardinen und Vorhänge dem Raum zusätzlich Heiterkeit verliehen. Ein Sideboard aus Teakholz an der einzigen gemauerten Seite des Raums und ein dazu passender großzügiger Esstisch, an dem wohl 12 Personen Platz finden konnten, exakt in die Mitte platziert, waren die einzigen Möbel darin.

»Bedient Euch«, rief Gerald Montblanc launig, scheinbar durch Kochwein oder andere Gelegenheiten angeheitert. Sein Kopf war gerötet, die Augen glasig.

Sie lobten den Koch und plauderten nur noch in gewissen Abständen miteinander. Der Regen nahm immer mehr zu, der Wind drückte mit steigender Intensität gegen die verhangenen Fenster. Mittlerweile war es dunkel geworden.

3

Elisa empfand die Sauce eine Spur zu scharf. Sie blickte zu Alfons, der leicht um die Nase schwitzte und freudig kauend aus dem Bierglas trank, so dass sich Schaum an seiner Oberlippe hielt. Er wirkte jetzt wie ein sinnenfroher mittelalterlicher Mönch. Obwohl Gerald sich auf sein Essen konzentrierte, war er in Gedanken scheinbar woanders. Er wirkte fahrig und ungeduldig, bemühte sich aber, ein guter Gastgeber zu sein. Er merkte nichts von den Blicken zwischen Alfons und Elisa, wie seit Jahren nicht, schnaufte manchmal, trank das Bier mit der Skepsis eines Weintrinkers und blickte beständig auf seinen Teller.

Elisa aß nur wenig, ihre Portion wollte nicht kleiner werden. Sie merkte, wie Alfons sein Interesse an ihr verlor und vom zweiten Glas Bier und der Hitze der Speise einen glasigen Blick bekam, ähnlich wie Gerald. Ihre grünen Augen blitzten, sie studierte die beiden Brüder, die sich langsam und satt von ihr entfernten. Gleichwohl sie ein zurückhaltender Mensch war, strahlte sie normalerweise eine aufregende Präsenz aus. Sie trug gerne zu ihrem dunklen Teint helle, weiße Kleidung, und zog Männer wie ein Edelstein in ihren Bann. Das Grün ihrer Pupillen unterstrich sie mit einem Schmuckstück oder kleinem Accessoire in gleicher Farbe. Sich ihrer Wirkung bewusst verzichtete sie normalerweise auf die große Selbstinszenierung und erweckte dadurch noch mehr den Eindruck, geheimnisvoll und unnahbar zu sein.

Doch zu sehen, wie die beiden Brüder, die so ausschlaggebend für ihr Leben waren, sich hemmungslos ihrem Essen hingaben und in Schläfrigkeit zu fallen drohten, ja, wie das Fleisch auf ihren Tellern scheinbar größeren Reiz auf sie ausübte als ihre Gegenwart, war nicht hinnehmbar. Sie spießte ein Stück des Huhns auf ihre Gabel, biss zärtlich davon ab, nahm einen winzigen Schluck Bier und tupfte sich den Mund. Dann sprach sie in das gefräßige Schweigen der Runde:

»Alfons vermutet, du arbeitest mit Teufelswerk, Gerald. Ist das so?«

Beide Männer erstarrten und schauten sie an. Es ist also noch Leben in ihnen, dachte sie.

»Hat er das gesagt?«, fragte Gerald und blickte zwischen seinem Bruder und seiner Frau hin und her. Er säuberte sich den Bart mit der Serviette. Alfons begann schuldbewusst, das Fleisch auf seinem Teller langsam zu zerteilen.

»Du weißt, dass ich so denke, Gerald.«

»Natürlich weiß ich das. Gleichwohl du manchmal nicht genau bestimmst, ob Gott oder der Teufel verantwortlich ist, mich mit meiner Kunst beschenkt zu haben. Hast du dich jetzt also für die dunkle Seite entschieden? Was ist los mit dir, Alfons? Hast du wieder eine Glaubenskrise, dass du zu fundamentalistischen Themen greifst? Oder träumst du von einem kleinen Exorzismus in meinem Haus?«

»Gerald!«, rief Elisa entsetzt. Dass ihre Worte eine so starke Wirkung haben würden, erschreckte sie. »Bitte! Alfons ist immerhin unser Gast.«

»Ja ja«, schnaubte ihr Mann und aß missmutig weiter. Alfons blickte sie an und schüttelte leicht den Kopf. Elisas Nerven waren angespannt.

»Scheint nicht das erste Mal zu sein, dass Ihr Euch über das Thema unterhaltet. Will mich jemand vielleicht aufklären, was dieser Streit soll?«

Gerald legte wütend sein Besteck auf den Tisch und wischte sich erneut mit der Serviette den Mund ab.

»Mein Herr Bruder verfolgt mich seit unserer Jugend mit seinen religiösen Ansichten. Es gibt Themen, die möchte man abschließen und nie wieder davon hören. Weil alles, wirklich alles dazu gesagt ist und wir einen Konsens gefunden haben. Nämlich den, in religiösen Fragen keine Einigung zu finden.«

»Auch eine Art, das Problem aus der Welt zu schaffen«, murmelte Alfons und blickte nach wie vor auf seinen Teller. »Du verbietest das Thema, dann bist du aller moralischer Pflicht enthoben.«

»Rede doch nicht so gesalbt daher. Du hast nicht das Recht, so lange auf einem Thema herumzureiten, bis es den theologischen Glanz bekommt, der dir passt.«

»Es ist, streng genommen, nicht einmal ein theologisches Problem, Gerald. Es ist ein Problem, wie man mit Menschen umgeht.«

»Pah«, rief Gerald und stand auf, um ein weiteres Bier zu holen. Immer noch erregt warf er seine Serviette auf den Tisch und ging zum Sideboard, auf dem noch einige Flaschen standen.

Elisa versuchte, etwas zur Schlichtung beizutragen. Zum Teil, weil sie überrascht von der Heftigkeit des Streits war, zum Teil, weil sie sich schuldig an der Eskalation fühlte.

»Was meinst du damit, es sei kein ›theologisches‹ Problem? Wovon sprecht Ihr eigentlich genau?«

»Wir sprechen von Geralds Hokuspokus, um Menschen Dinge zu verkaufen.«

»Wir reden von meiner Fähigkeit, Menschen von meiner Arbeit zu überzeugen«, warf Gerald ein. »Das ist kein Hokuspokus, das ist eine harte Arbeit, um Produkte zu verkaufen, die sich bewähren müssen. Dagegen hat es die Kirche ja leicht. Sie verkauft nur Modelle, um den Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen. Da ist die Reklamationsdichte naturgemäß nicht hoch.«

»Die Kirche tut mehr für die Menschen, als ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen, Gerald. Wir kümmern uns um genau die, die durch das Raster deiner Geschäftswelt fallen. Meine Kunden kaufen nicht ein, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Es sind Obdachlose, Kranke und solche, die das Berufsleben kaputt gemacht hat.«

»Der Herr hat es sicher so gewollt. Die Einen kümmern sich um die gefallenen Engel, die anderen sind im normalen Business tätig. Aber es steht dir nicht zu, MICH dafür verantwortlich zu machen, dass es deinen Kunden schlecht geht. Ich hatte zumindest noch keinen Auftrag für eine Sozialsiedlung bei mir auf dem Tisch. Ich würde ihn bestimmt zur vollsten Zufriedenheit der Städteplaner abarbeiten.«

»Du bist einfach zu teuer für die Stadt, darum hattest du noch keinen solchen Auftrag«, erwiderte Alfons trocken.

Elisa winkte ab. »Moment, Moment, Freunde. Ihr schweift ab. Es geht hier doch wohl nicht ums Geldverdienen.«

Gerald setzte sich wieder und schenkte sich ein. Alfons hatte aufgehört, sein Essen weiter zu zerteilen und in Portionen zu ordnen. Er schaute zu Elisa auf.

»Ich habe vor meinem Theologiestudium Psychologie studiert. Ich betrachte es auch unter diesem Aspekt.«

»Du hast abgebrochen, mein Lieber. Und ein Psychologiestudium macht aus dir noch keinen Psychiater.«

»Ich nehme gar nicht in Anspruch, Psychiater zu sein, Gerald. Aber ich nehme in Anspruch zu wissen, dass man eine Verantwortung gegenüber Menschen hat, die bei einem Rat suchen. Ich weiß es als abgebrochener Psychologiestudent, ich weiß es als Seelsorger, ich weiß es als Mensch.«

Elisa schüttelte den Kopf. Sie nippte an dem Bier und nach einer Pause murmelte sie: »Es tut mir leid.«

Die Brüder schauten sich vielsagend an. Dann griff Gerald nach Elisas Hand.

»Mach dir keine Vorwürfe. Der Streit ist alt. Wir sind ... so viele Jahre schon uneins.« Er richtete seine nächsten Worte an Alfons. »Auf bestimmte Weise verstehe ich dich ja. Es muss dein Misstrauen wecken, was ich da tue. Und doch glaube ich ganz fest, es ist nichts Blasphemisches, nichts Lästerliches, was ich betreibe. Hokuspokus nennst du das. Na ja. Es ist ein wenig wie Tarot-Karten zu legen, oder? Ein Blick in die Glaskugel. Selbst Christen machen das doch manchmal.«

Alfons legte sein Besteck zur Seite, rückte trotzig vom Tisch ab und schlug sein rechtes Bein über das linke.

»Na gut«, meinte Gerald. »Ich will es dir und meiner geliebten Frau noch einmal erklären. Die höchste Kunst eines Architekten ist nicht, zu einem angemessenen Preis die Vorstellungen seiner Kunden in Stein und Glas umzusetzen. Er muss sie sozusagen in das naturwissenschaftliche Korsett der Wirklichkeit pressen, was seine Kunden ihm schwärmerisch vorgetragen als Auftrag aufgegeben haben. Oft gilt es, einen sensiblen Prozess zu gestalten, in dem es um Kompromisse, enttäuschte Erwartungen oder Erkenntnis geht. Zum Beispiel, nicht reich genug für die Erfüllung aller Wünsche zu sein. Insofern ist der Architekt auch Vermittler und Psychologe, Berater und hin und wieder sogar Sozialarbeiter. Ich meide hier den Begriff Seelsorger, weil ich ja deine Zweifel zerstreuen will.«

Alfons nickte dankend und trank von seinem Bier.

»Aber die guten Architekten, die sind nicht nur Verkünder des Unmöglichen oder Entwickler unbefriedigender kleinerer Lösungen. Sie vermögen Visionen zu vermitteln. Vorstellungen von einem Glück, das die Kunden selbst noch nicht kennen.

Manchmal sind es Details. Das eigene Zimmer, das man nie hatte, die Leseecke, ein Musikraum mit Schallisolierung. Es gilt, die verborgenen Geheimnisse der Auftraggeber zu erkennen und ihre Bedürfnisse geschickt zu verpacken, während ihnen nicht klar war, warum sie sich überhaupt ein Haus bauen wollten.

Und ich hebe mich - ich sage es in aller Bescheidenheit - von den Vertretern meines Faches ab. Meine Rituale, meine architektonischen Horoskope und Seelenbilder der Menschen, die ich in einer Mischung aus astrologischem Kartenlegen, spirituellem Zeichnen, Konsum spezifischer Tinkturen und Beobachtungen der Körperlichkeit der Betroffenen entwickel ...«

»Ha!«, warf Alfons ein.

»... diese Rituale vermögen eine Grenze zu verschieben. Und es gibt nicht viele Gleichgesinnte in meinem Beruf, die diesen Schritt zu gehen vermögen und noch weniger, die dazu bereit wären. Ja, ich vermesse die Seele der Menschen. Ich kann ihren jeweiligen Bauplan extrahieren und in ihm die Nischen und Kammern entdecken, die darauf warten, mit Licht erfüllt zu werden. Ansonsten hätten ihre Seele ein düsteres, trauriges, beschwertes Dasein gefristet. Ich tue es zum Wohle der Menschen, das weißt du genau.«

Elisa applaudierte begeistert und Alfons hob ergeben sein Glas und prostete seinem Bruder zu. Er wollte an dieser Stelle seinem Bruder entgegenkommen, um den Streit zu beenden, und stimmte einen versöhnlichen Ton an.

»Wenn ich glaubte, es wäre nicht so, ich hätte längst unserer Inquisition Bescheid gegeben. Und streng genommen weiß ich ja nicht, was du machst. Ich weiß nur eine Sache, an der ich nicht vorbei komme. Was du auch betreibst, du machst es mit einer sehr hohen Trefferquote. Ist es noch so, dass keines deiner Häuser jemals weiterverkauft worden ist?«

Gerald lehnte sich zurück und strich sich unsichtbare Krümel vom Kaschmir-Pullover. »Das stimmt. Die Bindung an die Häuser ist recht groß. Es gelingt mir, in ihnen etwas entstehen zu lassen, was die Menschen nicht mehr loslassen möchten. Keine Ahnung, ob das Magie ist.«

Elisa schaltete sich ein. »Was würde denn passieren, wenn jemand anderes ein solches Haus, das du entworfen hast, bewohnt? Ich meine, dieser Zauber müsste dann ja gebrochen sein.«

Das war eine Frage, die auch Alfons interessierte. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er seinen Bruder auffordernd an, damit er antwortete. Offenbar aber machte ihn diese Frage verlegen.

Gerald räusperte sich. »Erstens kauft keiner ein Haus, das ihm nichts bedeuten würde. Wünsche, Sehnsüchte, Träume, die lassen sich scheinbar in grobe Kategorien fassen und sind - wie soll ich es anders formulieren - bis zu einem bestimmten Grad übertragbar. Sollte solch ein Haus den Besitzer wechseln, was bestimmt irgendwann passieren wird, dann dienen sie einem neuen Kundenstamm natürlich auch zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse.«

»Ich denke, du wirbst damit, dass die Häuser einmalig zugeschnittene Konstruktionen sind«, warf Alfons ein.

»Sind sie auch. Es würde wahrscheinlich nicht so perfekt funktionieren wie für genau den, dessen Seelenkarte ich entworfen habe.«

»Wenn ich das schon höre. Seelenkarte.«

»Meine Wortschöpfung.«

»Die Seele ist keine Maschine, die einen Konstruktionsplan hat.«

»Warum eigentlich nicht? Alles, wirklich alles, was der Herrgott geschaffen hat, folgt einem Plan. Es gibt ihn, den Konstruktionsplan der Seele. Ich arbeite damit. Sehr erfolgreich, übrigens.«