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Im »blauen Zimmer« gibt es keine Regeln, die Leidenschaft kennt keine Grenzen. Seit einem Jahr treffen Tony und Andréesich in einem Hotel in der Nähe von Poitiers. Sie sind verheiratet, aber nicht miteinander. Bald schon verwandelt sich die Affäre in einen Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. »Als sie ihn gefragt hatte (eben hatten sie sich geliebt, in dem Zimmer, das ihnen für ihre heimlichen Treffen im Hôtel des Voyageurs zur Verfügung stand): ›Wenn ich auf einmal frei wäre ... würdest auch du versuchen, frei zu werden?‹, da hatte er diesen Worten kein Gewicht verliehen, hatte sie gar nicht wirklich gehört. Erst später würde er verstehen.«Ein ungemein eindringlicher Roman, der fast schmerzhaft unter die Haut geht.2014 von Mathieu Amalric verfilmt.
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Seitenzahl: 185
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Georges Simenon
Das blaue Zimmer
Roman
Mit einem Nachwort von John Banville
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung
Kampa
»Hab ich dir wehgetan?«
»Nein.«
»Bist du mir böse?«
»Nein.«
Das stimmte. In diesem Augenblick stimmte alles. Denn er erlebte die Szene ganz pur, ohne sich Fragen zu stellen, ohne verstehen zu wollen, ohne zu ahnen, dass er eines Tages würde verstehen müssen. Nicht nur stimmte alles, es war auch alles wirklich: er, das Zimmer, Andrée, die auf dem zerwühlten Bett lag, nackt, mit gespreizten Beinen und dem dunklen Fleck ihres Geschlechts, aus dem ein Rinnsal Sperma sickerte.
War er glücklich? Hätte man ihn gefragt, er hätte ohne zu zögern Ja gesagt.
Er kam gar nicht auf die Idee, Andrée böse zu sein, weil sie ihn in die Lippe gebissen hatte. Es gehörte dazu, wie alles Übrige, und am Waschbecken vor dem Spiegel stehend, nackt wie sie, betupfte er sich den Mund mit einem feuchten Handtuch.
»Wird deine Frau dir Fragen stellen?«
»Das glaube ich nicht.«
»Stellt sie dir manchmal welche?«
Die Worte waren ohne Bedeutung. Sie redeten bloß, wie man es nach dem Liebesakt tut, wenn der Körper noch voller Gefühl und der Kopf ein wenig leer ist.
»Du hast einen schönen Rücken.«
Ein paar scharlachrote Flecke sprenkelten das Handtuch, und auf der Straße holperte ein leerer Lastwagen über das Pflaster. Leute unterhielten sich auf der Terrasse. Hier und da waren einzelne Wörter zu verstehen, die sich nicht zu Sätzen fügten und nichts sagen wollten.
»Liebst du mich, Tony?«
»Ich glaube …«
Er machte Spaß, aber er lächelte nicht, seiner Unterlippe wegen, die er weiter mit dem Handtuch betupfte.
»Bist du dir nicht sicher?«
Er drehte sich um, um sie zu betrachten, und es freute ihn, den Samen, seinen Samen, so intim am Körper seiner Geliebten zu sehen.
Das Zimmer war blau. Ein Wäscheblau, hatte er eines Tages gedacht. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an die kleinen Beutel, gefüllt mit blauem Pulver, das seine Mutter in den Bottich gab, bevor sie die Wäsche zum letzten Mal spülte, um sie dann im leuchtenden Grün der Wiese auszubreiten. Er musste damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein und hatte sich gefragt, durch welches Wunder die blaue Farbe die Wäsche weiß machen konnte.
Später, lange nach dem Tod seiner Mutter, an deren Gesicht er sich nur noch verschwommen erinnerte, hatte er sich auch gefragt, warum arme Leute wie sie, die geflickte Kleider trugen, solchen Wert darauf legten, dass ihre Wäsche weiß war.
Dachte er in diesem Augenblick daran? Er würde es erst später wissen. Das Blau des Zimmers war nicht nur das Wäscheblau, sondern auch das Blau des Himmels an heißen Augustnachmittagen, kurz bevor die untergehende Sonne ihn rosa und dann rot färbte.
Es war August. Der 2. August. Der Nachmittag war fortgeschritten. Gegen fünf Uhr begannen goldfarbene Wolken, luftig wie geschlagene Sahne, über dem Bahnhof aufzusteigen, dessen weiße Fassade im Schatten blieb.
»Könntest du dein ganzes Leben mit mir verbringen?«
Er prägte sich die Worte nicht bewusst ein, nicht bewusster als die Bilder oder Gerüche. Wie sollte er ahnen, dass er diese Szene zehn-, zwanzigmal, wenn nicht öfter, jedes Mal in einer anderen Verfassung, jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel wieder erleben würde?
Monatelang würde er versuchen, sich an die kleinste Einzelheit zu erinnern, nicht immer freiwillig, sondern weil andere ihn dazu nötigten.
Professor Bigot zum Beispiel, der vom Untersuchungsrichter hinzugezogene Psychiater, würde ihn immer wieder fragen und dabei seine Reaktionen genau beobachten:
»Hat sie Sie oft gebissen?«
»Ja, das ist vorgekommen.«
»Wie viele Male?«
»Wir sind insgesamt nur achtmal im Hôtel des Voyageurs gewesen.«
»Achtmal in einem Jahr?«
»In elf Monaten … ja, in elf. Das Ganze hat im September begonnen.«
»Wie oft hat sie Sie gebissen?«
»Vielleicht drei- oder viermal.«
»Während des Aktes?«
»Ich glaube, ja.«
Ja … nein … Heute jedenfalls war es danach geschehen, als er sich von ihr gelöst hatte und neben ihr auf der Seite lag, wobei er sie durch seine halb geschlossenen Lider betrachtete. Das Licht, das sie beide einhüllte, entzückte ihn.
Es war heiß, draußen auf dem Bahnhofsplatz wie drinnen in dem Zimmer, das die Sonne durchflutete, eine lebende, atmende Hitze.
Er hatte die Läden nicht ganz geschlossen, sondern einen vielleicht zwanzig Zentimeter breiten Spalt zwischen ihnen gelassen. Durch das offene Fenster drangen die Geräusche des Städtchens herein, manche verworren wie ein ferner Chor, andere nah und deutlich, die Stimmen der Gäste auf der Terrasse zum Beispiel.
Vorhin, als sie sich leidenschaftlich liebten, erreichten diese Geräusche sie, bildeten ein Ganzes mit ihren Körpern, dem Speichel, dem Schweiß, dem weißen Bauch Andrées und seiner dunkleren Haut, dem rautenförmigen Lichtstrahl, der das Zimmer durchschnitt, dem Blau der Wände, einem zuckenden Reflex auf dem Spiegel und mit den Gerüchen des Hotels, ländlichen Gerüchen – nach Wein und nach dem Schnaps, der unten im Lokal ausgeschenkt wurde, nach dem Ragout, das in der Küche köchelte und nach der leicht muffigen Matratze mit der Rosshaarfüllung.
»Du bist schön, Tony.«
Sie sagte ihm das bei jeder Begegnung, immer in dem Augenblick, wenn sie ausgestreckt dalag, während er im Zimmer hin und her ging und in die Tasche seiner über einen Korbstuhl geworfenen Hose griff, um die Zigaretten herauszuholen.
»Blutet es noch?«
»Es hat fast aufgehört.«
»Was antwortest du ihr, wenn sie dich fragt?«
Er zuckte mit den Schultern. Er verstand nicht, dass sie sich darüber Gedanken machte. Für ihn hatte im Augenblick nichts Bedeutung. Er fühlte sich wohl, im Einklang mit der Welt.
»Ich sage ihr, dass ich mich gestoßen habe. An der Windschutzscheibe zum Beispiel, weil ich zu stark gebremst habe.«
Er steckte sich eine Zigarette an, die einen ganz bestimmten Geschmack hatte. Wenn er diese Szene später rekonstruierte, würde er sich an einen weiteren Geruch erinnern – an den der Züge. Ein Güterzug rangierte hinter den Bahnhofsgebäuden, und die Lokomotive stieß von Zeit zu Zeit kurze Pfiffe aus.
Professor Bigot, rothaarig, klein und mager, mit struppigen Brauen, würde immer wieder fragen:
»Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass sie Sie absichtlich gebissen hat?«
»Warum?«
Später würde sein Anwalt Demarié darauf zurückkommen:
»Ich glaube, man könnte in diesen Bissen ein entlastendes Moment sehen.«
Noch einmal, wie hätte er damals dergleichen denken können, wo er mit nichts anderem beschäftigt war, als zu leben? Dachte er auch nur irgendetwas? Wenn ja, dann gänzlich unbewusst. Er antwortete Andrée, ohne zu überlegen, leise, in einem leichten, heiteren Ton, davon überzeugt, dass die Worte, die er so hinwarf, kein Gewicht hatten und erst recht keine Folgen.
Eines Nachmittags, bei ihrer dritten oder vierten Begegnung, hatte Andrée ihrer Bemerkung, er sei schön, hinzugefügt:
»Du bist so schön, dass ich dich gern vor aller Augen lieben würde, mitten auf dem Bahnhofsplatz.«
Er hatte gelacht, ohne besonders überrascht zu sein. Er hatte nichts dagegen, wenn sie einander in den Armen lagen, einen gewissen Kontakt mit der Außenwelt zu behalten, mit den Geräuschen, den Stimmen, dem Flirren des Lichts, den Schritten auf dem Gehsteig und dem Klirren der Gläser auf den kleinen Tischen der Terrasse.
Einmal war eine Blaskapelle draußen vorbeigezogen, und sie hatten sich den Spaß gemacht, ihre Bewegungen dem Rhythmus der Musik anzupassen. Ein andermal, als sich ein Gewitter entlud, hatte Andrée darauf bestanden, dass er das Fenster und die Läden weit öffnete.
War es nicht ein Spiel? Jedenfalls hatte er nichts Böses darin gesehen. Sie war nackt und lag quer auf dem Bett, in einer gewollt schamlosen Haltung. Sie zeigte sich immer, kaum hatten sie die Tür des Zimmers hinter sich geschlossen, so schamlos wie möglich. Wenn sie sich gerade ausgezogen hatten, kam es vor, dass sie mit unverstellt verlogener Unschuld, die zum Spiel gehörte, murmelte:
»Ich habe Durst. Hast du nicht auch Durst?«
»Nein.«
»Du wirst aber nachher Durst haben. Also ruf nach Françoise und bestell uns etwas zu trinken.«
Françoise, das Zimmermädchen, war etwa dreißig und arbeitete seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr in Cafés und Hotels. Sie wunderte sich über gar nichts mehr.
»Ja, Monsieur Tony?«
Sie nannte ihn Monsieur Tony, denn er war der Bruder ihres Chefs, Vincent Falcone, dessen Name über dem Hoteleingang stand und dessen Stimme man auf der Terrasse hörte.
»Haben Sie sich nie gefragt, ob sie damit vielleicht ein bestimmtes Ziel verfolgte?«
Das, was er gerade erlebte, eine halbe Stunde, nicht einmal, nur einige Minuten in seinem Dasein, würde in Bilder zerlegt, in Töne zersetzt und unter die Lupe genommen werden, nicht nur von den anderen, sondern auch von ihm.
Andrée war groß. Wenn sie im Bett lag, sah man es nicht, aber sie war drei oder vier Zentimeter größer als er. Obwohl sie aus der Gegend stammte, hatte sie das braune, fast schwarze Haar einer Südfranzösin oder Italienerin, das sich von der weißen, glatten Haut im Licht abhob. Ihr Körper war ein wenig schwer, ihre ausgeprägten Rundungen, besonders die Brüste und Schenkel, von straffer Festigkeit.
Mit seinen dreiunddreißig Jahren hatte er viele Frauen gekannt, aber keine hatte ihm solche Lust bereitet wie sie, eine vollkommene, animalische Lust ohne Hintergedanken, der weder Ekel noch Scham noch Überdruss folgten.
Im Gegenteil! Nachdem ihre beiden Körper zwei Stunden lang höchstes Vergnügen erlebt hatten, blieben sie nackt nebeneinander liegen, verlängerten so die sinnliche Vertrautheit, genossen die Harmonie, die sie miteinander und mit ihrer Umgebung verband.
Alles zählte. Alles hatte seinen Platz in dieser vibrierenden Welt. Selbst die Fliege, die sich auf Andrées Bauch niedergelassen hatte und die sie mit einem gesättigten Lächeln beobachtete.
»Stimmt es, dass du dein ganzes Leben mit mir verbringen könntest?«
»Natürlich.«
»Bist du dir so sicher? Hättest du keine Angst?«
»Angst wovor?«
»Kannst du dir vorstellen, wie unsere Tage aussehen würden?«
Auch diese Worte, an jenem Tag so leicht dahingesagt, würden in einigen Monaten drohend wiederkehren.
»Wir würden uns schließlich daran gewöhnen«, murmelte er, ohne nachzudenken.
»Woran?«
»An uns beide.«
Es war pur, unschuldig. Nur der Augenblick zählte. Ein kraftvoller Mann und eine glühende Frau hatten sich soeben aneinander berauscht, und auch wenn Tony mit einem Schmerz daraus hervorgegangen war, es war ein gesunder und köstlicher Schmerz.
»Ach, da kommt der Zug …«
Nicht er hatte das gesagt, sondern sein Bruder, draußen. Trotzdem hatten die Worte Tony aufgescheucht, und er ging unwillkürlich zum Fenster, zu dem heißen Lichtspalt zwischen den Läden.
Konnte man ihn sehen? Es war ihm egal. Vermutlich nicht, denn von draußen musste das Zimmer dunkel wirken, und da sie im ersten Stock waren, wäre nur sein Oberkörper zu erkennen.
»Wenn ich an die vielen Jahre denke, die ich durch deine Schuld verloren habe …«
»Durch meine Schuld?«, wiederholte er heiter.
»Wer ist denn weggegangen? Ich?«
Von ihrem sechsten Lebensjahr an waren sie zusammen zur Schule gegangen. Sie hatten warten müssen, bis sie über dreißig waren und beide verheiratet.
»Antworte mir ernsthaft, Tony. Was, wenn ich frei wäre?«
Hörte er zu? Unsichtbar hinter dem weißen Bahnhofsgebäude hatte der Zug gehalten, und die Reisenden stiegen durch die Tür auf der rechten Seite aus, wo ein Beamter in Uniform die Fahrkarten einsammelte.
»Würdest du dich auch befreien?«
Bevor der Zug weiterfuhr, pfiff die Lokomotive so laut, dass er nichts verstand.
»Was hast du gesagt?«
»Ich frage dich, ob du dann …«
Er hatte den Kopf halb dem blauen Zimmer, dem weißen Bett und Andrées Körper zugewandt, aber etwas, ein Bild am Rand seines Gesichtsfeldes, ließ ihn erneut hinausblicken. Unter den anonymen Gestalten – Männer, Frauen, ein Baby auf dem Arm seiner Mutter, ein kleines Mädchen, das an einer Hand mitgezogen wurde – hatte er ein Gesicht erkannt.
»Dein Mann.«
Von einer Sekunde zur anderen hatte sich Tonys Gesichtsausdruck verändert.
»Nicolas?«
»Ja.«
»Wo ist er? Was tut er?«
»Er geht über den Platz …«
»Kommt er her?«
»Geradewegs.«
»Wie wirkt er?«
»Ich weiß es nicht. Gegen die Sonne kann ich sein Gesicht nicht erkennen.«
»Wohin gehst du?«
Denn er griff nach seinen Kleidungsstücken, seiner Wäsche, seinen Stiefeln.
»Ich darf nicht hier bleiben. Wenn er uns zusammen findet …«
Er sah sie nicht mehr an. Ihr Körper war ihm plötzlich ebenso gleichgültig wie das, was sie sagen oder denken mochte. Von Panik ergriffen, warf er einen letzten Blick durch das Fenster und stürzte aus dem Zimmer.
Wenn Nicolas mit dem Zug nach Triant kam, während seine Frau dort war, dann hatte das einen Grund.
Auf der Treppe mit den ausgetretenen Stufen war es kühler, und Tony stieg, seine Kleidungsstücke über dem Arm, ins nächste Stockwerk hinauf. Dort, am Ende des Flurs stand die Tür zu einem Zimmer einen Spaltbreit offen, wo Françoise, in schwarzem Kleid und weißer Schürze, ein Bett frisch bezog. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß und begann zu lachen.
»Ach, Sie sind’s, Monsieur Tony. Haben Sie sich gestritten?«
»Pst!«
»Was ist los?«
»Ihr Mann …«
»Hat er Sie überrascht?«
»Noch nicht … Er kommt auf das Hotel zu.«
Er zog sich in fieberhafter Eile an, wobei er die Ohren spitzte und darauf wartete, Nicolas’ schleppende Schritte auf der Treppe zu hören.
»Sieh nach, was er macht, und dann komm schnell wieder und sag mir Bescheid.«
Er mochte Françoise gern, ein stämmiges, kräftiges Mädchen mit spöttischen Augen, und sie erwiderte seine Zuneigung.
Die Zimmerdecke war zur Hälfte schräg, die Tapete rosa geblümt, und über dem Nussbaumbett hing ein schwarzes Kruzifix. Im blauen Zimmer hing ebenfalls ein Kruzifix, ein kleineres allerdings, über dem Kamin.
Er hatte keine Krawatte umgebunden und seine Jacke im Wagen gelassen. Die Vorsicht, mit der Andrée und er seit fast einem Jahr vorgingen, erwies sich plötzlich als nützlich. Wenn sie sich im Hôtel des Voyageurs trafen, stellte Tony seinen Lieferwagen in die Rue des Saules, eine alte stille Straße, die parallel zur Rue Gambetta verlief, während Andrée ihren grauen 2CV auf dem Marktplatz parkte, mehr als dreihundert Meter entfernt.
Durch das Mansardenfenster konnte er den Hof des Hotels sehen. Vor den Ställen im Hintergrund pickten Hühner. Jeden dritten Montag im Monat gab es gegenüber vom Güterbahnhof einen Viehmarkt, und viele Bauern aus der Umgebung kamen noch mit ihren Karren nach Triant.
Françoise kam ohne Eile die Treppe wieder herauf.
»Und?«
»Er hat sich auf die Terrasse gesetzt und eine Limonade bestellt.«
»Wie wirkt er?«
Er stellte fast die gleichen Fragen wie Andrée vorhin.
»Ganz normal.«
»Hat er nach seiner Frau gefragt?«
»Nein. Aber von dort, wo er sitzt, hat er beide Ausgänge im Blick.«
»Hat mein Bruder dir nichts gesagt?«
»Sie sollen über den Hof der Autowerkstatt nebenan verschwinden.«
Er kannte den Weg. Wenn er auf dem Hof über die eineinhalb Meter hohe Mauer kletterte, landete er hinter der Garage Chéron, deren Zapfsäulen am Bahnhofsplatz aufgereiht standen, und von da führte eine kleine Gasse, die zwischen einer Apotheke und der Bäckerei Patin endete, zur Rue des Saules.
»Weißt du, was sie tut?«
»Nein.«
»Hast du in dem Zimmer ein Geräusch gehört?«
»Ich habe nicht gelauscht.«
Françoise mochte Andrée nicht besonders, vielleicht, weil sie eine gewisse Zuneigung zu Tony empfand und eifersüchtig war.
»Es ist besser, Sie gehen nicht durch das Erdgeschoss, für den Fall, dass er zur Toilette geht.«
Er sah Nicolas vor sich, seine gelbliche Gesichtsfarbe, das immer traurige oder mürrische Gesicht, wie er auf der Terrasse vor einer Limonade saß, während er hinter seiner Ladentheke hätte stehen müssen. Wahrscheinlich hatte er seine Mutter gerufen, damit sie ihn vertrat, während er nach Triant fuhr. Welchen Grund hatte er ihr für diese ungewöhnliche Fahrt genannt? Was wusste er? Wer hatte ihm etwas gesagt?
»Haben Sie nie daran gedacht, Monsieur Falcone, dass jemand einen anonymen Brief geschrieben haben könnte?«
Die Frage stellte der Untersuchungsrichter Diem, dessen Schüchternheit verwirrend war.
»In Saint-Justin wusste niemand von unserem Verhältnis, und auch in Triant nicht, außer meinem Bruder, meiner Schwägerin und Françoise. Wir waren sehr vorsichtig. Sie kam durch die kleine Tür in der Rue Gambetta und konnte so, ohne durch das Lokal zu müssen, in das Zimmer hinaufgehen.«
»Was Ihren Bruder angeht, sind Sie selbstverständlich sicher?«
Er musste lächeln über diese Frage. Sein Bruder und er waren praktisch eins.
»Bei Ihrer Schwägerin auch?«
Lucia liebte ihn fast so sehr, wie sie Vincent liebte, natürlich auf eine andere Art. Wie die beiden Brüder war sie italienischer Herkunft, und die Familie ging ihr über alles.
»Und das Mädchen?«
Selbst wenn sie in Tony verliebt war, Françoise hätte nie einen anonymen Brief geschrieben.
»Da gibt es noch jemanden …«, sollte Monsieur Diem murmeln, wobei er den Kopf abwandte, während die Sonne in seinem zerzausten Haar spielte.
»Wen?«
»Können Sie sich das nicht denken? Vergegenwärtigen Sie sich, was Sie bei der letzten Vernehmung gesagt haben. Soll der Schreiber es Ihnen noch einmal vorlesen?«
Er wurde rot und schüttelte den Kopf.
»Es ist unmöglich, dass Andrée …«
»Warum?«
Aber das lag noch in weiter Ferne. Im Augenblick ging er hinter Françoise die Treppe hinunter, ängstlich darauf bedacht, dass die Stufen nicht knarrten. Das Hôtel des Voyageurs stammte noch aus der Zeit der Postkutschen. Tony blieb einen Moment vor dem blauen Zimmer stehen, aber er hörte keinen Laut. Musste man daraus schließen, dass Andrée immer noch nackt auf dem Bett lag?
Françoise zog ihn tiefer in den Flur, der hinten eine Biegung machte, und deutete auf ein kleines offenes Fenster auf dem schrägen Dach einer Remise.
»Rechts ist ein Strohhaufen. Da können Sie ruhig hinunterspringen.«
Die Hühner gackerten, als er auf den Hof sprang, und gleich darauf kletterte er über die Mauer und landete in einem Gewirr von alten Autos und Ersatzteilen. Ein Tankwart in weißem Overall vorn an der Zapfsäule betankte einen Wagen und drehte sich nicht um.
Tony schlich zu der kleinen Gasse, in der es nach modrigem Wasser und ein Stück weiter nach warmem Brot roch. Das Fenster zur Backstube im Keller stand offen.
Schließlich kam er in die Rue des Saules und setzte sich ans Steuer seines Lieferwagens, an dem in schwarzen Buchstaben auf gelbem Grund stand:
Antoine Falcone
Traktoren – Landwirtschaftliche Maschinen
Saint-Justin-du-Loup
Noch vor einer Viertelstunde hatte er sich im Einklang mit der ganzen Welt gefühlt. Nicht der Hauch eines Argwohns hatte ihn gestreift. Wie sollte er das Unbehagen beschreiben, das sich jetzt seiner bemächtigt hatte? Es war keine Angst.
»Hat es Sie nicht beunruhigt, ihn aus dem Bahnhof kommen zu sehen?«
Nein … Ja … Ein wenig, wegen Nicolas’ Charakter, wegen seiner Gewohnheiten und seiner Gesundheit, auf die er so bedacht war.
Er fuhr um Triant herum und erreichte, ohne den Bahnhofsplatz überqueren zu müssen, die Straße nach Saint-Justin. Unweit einer Brücke über den Orneau angelte eine ganze Familie, auch ein etwa sechsjähriges Mädchen, das gerade einen Fisch aus dem Wasser gezogen hatte und nicht wusste, wie es ihn vom Haken losmachen sollte. Bestimmt Pariser. Im Sommer waren sie hier überall; auch bei seinem Bruder wohnten welche, und vorhin im blauen Zimmer hatte er den Pariser Akzent auf der Terrasse gehört.
Die Straße führte an Kornfeldern entlang, die vor zwei Wochen gemäht worden waren, an Weinbergen und Wiesen, auf denen die für die Gegend typischen rotbraunen Kühe mit den fast schwarzen Mäulern weideten.
Das drei Kilometer entfernte Saint-Séverin bestand nur aus einer kurzen Straße und ein paar verstreuten Gehöften. Dann sah er rechts den kleinen Bois de Sarelle.
Hier, wenige Meter von der nicht asphaltierten Straße entfernt, hatte im September des vorherigen Jahres alles begonnen.
»Erzählen Sie mir, wie es angefangen hat.«
Zunächst hatten ihm der Gendarmeriewachtmeister von Triant, dann der Leutnant und dann ein Inspektor der Kriminalpolizei in Poitiers alle dieselben Fragen gestellt. Dann war Untersuchungsrichter Diem an der Reihe, dann der magere Psychiater, dann sein Anwalt Maître Demarié und eines Tages schließlich der Vorsitzende des Schwurgerichts.
Im Laufe der Wochen und Monate hörte er immer dieselben Worte, gesprochen von anderen Stimmen, in einer anderen Umgebung, während Frühling, Sommer und Herbst vergingen.
»Wie es angefangen hat? Wir kannten uns schon als Dreijährige, wir wohnten ja in demselben Ort, und wir sind dann zusammen zur Schule und zur ersten heiligen Kommunion gegangen.«
»Ich meine Ihr Liebesverhältnis mit Andrée Despierre … Hatten Sie das schon vorher?«
»Wovor?«
»Bevor sie Ihren Freund heiratete.«
»Nicolas war nicht mein Freund.«
»Nun, sagen wir, Ihren Kameraden oder, wenn Ihnen das lieber ist, Ihren Mitschüler. Sie hieß damals Formier und wohnte mit ihrer Mutter im Schloss.«
Es war kein wirkliches Schloss. Früher einmal hatte an der Stelle, dicht neben der Kirche, eines gestanden, aber davon war nur noch ein Teil der Nebengebäude erhalten. Seit vielleicht anderthalb Jahrhunderten, vermutlich seit der Revolution, sagte man weiterhin Schloss dazu.
»Hatten Sie vor ihrer Heirat …?«
»Nein, Herr Richter.«
»Nicht einmal einen Flirt? Haben Sie sie vorher nie geküsst?«
»Der Gedanke wäre mir gar nicht gekommen.«
»Warum nicht?«
Er hätte fast geantwortet:
»Weil sie zu groß war.«
Und das stimmte. Er hatte bei diesem großen, gleichmütigen Mädchen, das ihn an eine Statue erinnerte, nie an Liebe gedacht.
Außerdem war sie Mademoiselle Formier, die Tochter von Doktor Formier, der während der Deportation ums Leben gekommen war. Genügte diese Erklärung? Er fand keine andere. Sie lebten in verschiedenen Welten, er und sie.
Wenn sie aus der Schule kamen, den Ranzen auf dem Rücken, brauchte sie nur über den Hof zu gehen, um nach Hause zu gelangen, mitten im Ort, während er mit zwei Kameraden den Weg nach La Boisselle nahm, einem aus drei Häusern bestehenden Weiler in der Nähe der Brücke über den Orneau.
»Als Sie vor vier Jahren als Ehemann und Familienvater nach Saint-Justin zurückgekehrt sind und sich Ihr Haus bauen ließen, haben Sie da wieder Kontakt zu ihr aufgenommen?«
»Sie hatte Nicolas geheiratet und führte mit ihm den Lebensmittelladen. Ich habe dort manchmal eingekauft, aber meistens war es meine Frau, die …«
»Erzählen Sie mir jetzt, wie es begonnen hat.«
Genau hier, an der Stelle, wo er jetzt vorbeifuhr, am Rand des Bois de Sarelle. Es war kein Messetag gewesen, auch kein Markttag in Triant. Der große Markt fand montags statt, der kleine freitags. Tony fuhr regelmäßig dorthin, es war eine Gelegenheit, seine Kunden zu treffen.
Nicolas konnte seiner Anfälle wegen, das wusste der Richter, nicht Auto fahren. Es war Andrée, die jeden Donnerstag mit dem 2CV nach Triant fuhr, um dort bei den Groß- und Zwischenhändlern ihre Einkäufe zu erledigen.
Alle vierzehn Tage blieb sie den ganzen Tag in der Stadt und ging dann auch zum Friseur.
»Sie sind ihr doch in den vier Jahren bestimmt oft begegnet?«
»Ja, mehrmals. In Triant begegnet man immer Leuten aus Saint-Justin.«
»Haben Sie sie angesprochen?«
»Ich habe sie gegrüßt.«
»Von Weitem?«
»Von Weitem, aus der Nähe, je nachdem.«
»Sonst gab es keinen Kontakt zwischen Ihnen?«
»Ich habe sie wohl gelegentlich gefragt, wie es ihrem Mann ging oder ihr selbst.«