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Kennen Sie die Geschichte vom hässlichen Entlein? Nicht dass Amy hässlich wäre, aber ihr Leben verläuft nicht in den besten Bahnen, sie steht eher auf der Verliererseite. Als Außenseiterin hat sie kaum Freunde, von ihrer Mutter fühlt sie sich ungeliebt und unverstanden. Doch mit der Reise zu ihrem Vater, den sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gesehen hat, soll sich alles ändern. Dort lernt sie auch den Sänger Charlie kennen, diesen verrückten, blauäugigen Typen, der ihr den Kopf verdreht. Sie verliebt sich mit ihren 16 Jahren zum ersten Mal. Vorallem die Liebe zur Musik verbindet sie. Es ist, als wäre das Glück nun endlich auch einmal bei ihr angekommen. Doch die junge Liebe wird auf die Probe gestellt und die Ferien sind nicht endlos. Wird sie Charlie vergessen können? Wird ihr Leben zurück in Erfurt endlich leichter werden?
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Das Ding mit dem Glück
Teil 1 Der Mann im Mond
Von Emma Winter
Impressum
Kerstin Walther
Lengberg 4, 98529 Suhl
Cover © EmmaWinter2021
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Playlist
Schon seit es geklingelt hat, habe ich nichts Besseres zu tun, als ihn zu beobachten. Sein hübsches Gesicht, wie er lacht und wieder einmal mit Janne schäkert. Dauernd wirft er kleine Papierschnipsel zu ihr hinüber. Erst hat sie ihn ignoriert, doch inzwischen kichert sie. Seine Augen lachen, seine braunen Locken fallen ihm ins Gesicht. Mein Kopf liegt abgestützt in meiner rechten Hand, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als sie zu sein. Wünsche mir, dass mein Schwarm und bester Freund mich mit diesen kleinen Kugeln bewirft. Leise seufzend weiß ich natürlich, dass dies niemals passieren wird. Nicht in diesem Leben. Meine Augen beobachten seine, sehen sie flirten, aber leider nicht mit mir. Das ist ganz schön gemein. Wie oft habe ich davon geträumt, dass genau dieses Lächeln mir gehören würde, dass er meine Hand in seine nimmt. Dies ähnelt so gar nicht meinen Träumen. Wieder entschlüpft mir ein Seufzen, so dass ich Emmas Blick spüre. Kurz huschen meine Augen über ihr Gesicht, doch sie widmet sich bereits wieder ihrem Handy. Ich glaube, wir haben in diesem gesamten Schuljahr nur eine Handvoll Worte gewechselt. Auch mit ihr liege ich nicht auf einer Wellenlänge. Aber mit wem liege ich schon auf einer Wellenlänge. Die meisten ignorieren mich oder reden nur mit mir, weil mein bester Freund der angesagteste Typ des gesamten Jahrgangs ist. Das ist verrückt. Wie in diesen Highschool-Filmen. Gehörst du dazu, bist du in, tust du es nicht, bist du ein Außenseiter. Total verrückt, idiotisch und vor allem bescheuert. Deswegen hasse ich die Schule, dieses Haus voller Narren, diese Schar schnatternder Idioten. Bis auf eine Handvoll Leute ist kaum einer echt. Bin ich es? Meine Augen heften sich wieder auf Stephans Gesicht. Nein, wohl auch nicht. Ich spiele dieses Spiel mit, versuche so wenig wie möglich aufzufallen. Tauche unter in meinem Selbstmitleid und nicht vorhandenem Selbstbewusstsein. Trotzdem wäre ich heute, genau in diesem Augenblick gerne sie. Janne wirft gekonnt ihre blonde Mähne nach hinten, tut schon wieder so, als ob ihr Stephan egal wäre. Aber ich kann in ihren hübschen, blauen Augen Interesse sehen. Ich kenne diesen Blick. So schaut sie fast alle Jungs an, die ihr gefallen. Meine Augen wandern zurück zu Stephan, der sich strecken muss, um das Fenster zu schließen. Sein T-Shirt rutscht über den Jeansrand, entblößt etwas nackte Haut. Wow! Ich weiß, dass er jede Woche neben seinem Fußballtraining in die Fitnessbude geht. Wie es sich wohl anfühlen würde? Meine Hand auf seiner Haut? Amy! Meine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen, weil ich wieder einmal zu viel Kopfkino habe. Das passiert mir ständig, weil in meinem Leben absolut nichts los. Muss man sich da nicht automatisch etwas zurechtträumen?
Meine Gedanken wandern zurück, vielleicht ungefähr ein Jahr. Damals ist Stephan in das Haus neben mir eingezogen. Ich hing auf meiner Fensterbank, träumte von Luftschlössern, besseren Noten und einem Prinzen auf einem Pferd. Doch anstelle dessen hielt ein riesiger Umzugswagen vor dem Haus, in dem noch ein paar Tage zuvor Herr Müller gelebt hatte. Er war gestorben, ich hatte gehört, dass die Familie seines ältesten Sohnes das Haus beziehen würde. Mein Interesse war geweckt. Als auch noch ein Junge in meinem Alter aus dem dahinter parkenden Passat ausstieg, war mein Nachmittag perfekt. Ich hatte einen Platz in der ersten Reihe, konnte eine Zeit lang das Umzugschaos beobachten. Leider hatte ich nicht mit der Neugier anderer gerechnet, denn der Blick des Jungen traf mich unerwartet. Ertappt fiel ich von der Fensterbank, holte mir einen ordentlichen Bluterguss, weil ich am Heizungsthermostat hängenblieb. Einen kurzen Moment später rannte ich fluchend und meinen Oberschenkel reibend die Treppe hinunter, weil die Klingel sich entschlossen hatte, einen endlosen Rhythmus zu spielen.
„Welcher Idiot…?“
Die restlichen Worte blieben mir im Halse stecken. Der Kerl hatte vielleicht Nerven! Wie kann man nur so dämlich grinsen und dabei so, so ... gut aussehen? Dunkele Locken umrahmten ein hübsches Gesicht, sein Körper steckte in einer engen Jeans und einem T-Shirt, aus dem er normalerweise längst herausgewachsen war. Es lag wie eine zweite Haut an seinem Körper, seine Muskeln traten deutlich hervor. Alles in allem stand hier mein langersehnter Prinz. Ich brauchte einen Moment, um mich von seinem Anblick zu erholen und meine Augen wieder zurück in sein Gesicht zu lenken. Ein überdimensional breites Grinsen lachte mich an.
„Hallo, hast du vielleicht Lust mir zu helfen? Ich bin Stephan und wir sind ab jetzt Nachbarn.“
Irgendwie kam nichts bei mir an, seine braunen Augen hatten es mir gleich angetan.
„Bist du stumm?“, fragte er mit einem noch breiteren Lachen.
Ich schloss meinen Mund, der schon viel zu lange offenstand.
„Ähm, nein. Ich bin Amy“, schaffte ich dann doch tatsächlich und nahm die Hand, die er mir bereits mehrere Sekunden entgegenhielt.
„Wie sieht´s aus?“
Meine Augen wanderten auf unsere sich schüttelnden Hände. Von der ganzen Situation war ich völlig überrumpelt und hörte mich:
„Klar, warum nicht“, sagen.
Ich lächele, weil ich immer noch nicht fassen kann, was mich damals geritten hat. Normalerweise meide ich jegliche Art körperlicher Anstrengung. Irritiert über meine eigene Zusage lief ich jedenfalls hinter ihm her und schleppte im Anschluss über zwei Stunden Kartons ins Haus. Die ganze Zeit fragte ich mich, welcher Teufel mich geritten hatte. Zum Glück hatte die Tortour irgendwann ein Ende und Stephan lud mich auf eine Cola ein. Gemeinsam saßen wir auf den Stufen vor dem Eingang. Stephan erzählte von sich, lachte mich immer wieder an. Ich befand mich in einer Art Seifenblase, hörte ihm einfach nur zu. Ich kann mich noch genau erinnern, wie unglaublich ich diesen Moment empfand. So viel Aufmerksamkeit hatte mir bisher kein Junge geschenkt. Die Abendsonne schien erbarmungslos, tauchte dabei alles in ein strahlendes Licht, in dem man Insekten und Staub schweben sehen konnte. Es war irgendwie magisch. Mein Kopf lag auf meinen Knien und meine Augen hatten sich auf Stephans Gesicht festgetackert.
„Wohnst du schon lange hier?“, fragte er irgendwann.
„Ja, seit meiner Geburt“, antwortete ich diesmal sofort voller Einklang.
„Und wie lange mag das her sein?“, fragte er verschmitzt.
Mein Lachen kam spontan, ich richtete mich etwas auf.
„Sechzehn Jahre, Mister Neugier.“
Er lachte auch und trank seine Cola aus. Danach stand er auf.
„Danke für deine Hilfe, das war echt toll. Ich mache jetzt weiter. Vielleicht kannst du mir bei Gelegenheit die Gegend zeigen?“
Augenblicklich erhob ich mich auch und nickte ausgiebig. Danach verschwand er in seinem neuen zu Hause und ließ mich in meiner rosaroten Wolke zurück.
Die restlichen zwei Ferienwochen verbrachten wir fast jeden Nachmittag zusammen. Stephan machte seinem ersten Eindruck alle Ehre und entpuppte sich als äußerst charmanter Junge. Ich genoss die Zeit mit ihm in vollen Zügen und zeigte ihm alle Highlights, die Erfurt zu bieten hat. Leider gehen alle Ferien einmal zu Ende, weshalb ich mich in den letzten Tagen emotional zurückzog. Mir war klar, dass jemand wie er überall schnell Anschluss finden und ich dann auf der Strecke bleiben würde. Dass er ausgerechnet auf meine Schule und auch in meine Klasse gehen sollte, war wohl wieder einer dieser kuriosen Zufälle im Leben. Ich kann mich noch deutlich an seinen Gesichtsausdruck erinnern, als er das Klassenzimmer betrat. Seine Augen überflogen den Raum und blieben an meinen hängen. Seine unerwartet verschlossene Miene wich einem ausgeprägten Lächeln, wodurch ich automatisch auch grinsen musste. Und dann kam natürlich alles so wie ich es erwartet hatte. Stephan war super schnell beliebt und von den Mädchen umschwärmt. Dabei musste ich mir eingestehen, dass ich mich in diesen ersten vierzehn Tagen bis über beide Ohren in ihn verliebt hatte. Natürlich war mir ebenso klar, dass so jemand wie ich keine Chance hat. Also nehme ich, was ich kriegen kann. Auch wenn sich unsere gemeinsame Zeit auf Hausaufgaben erledigen und zocken beschränkt. Wir sind gute Freunde, selbst in Liebesdingen fragt er mich um Rat. Eine gute Freundin für alle Fälle. Aber immerhin. Ich genieße diese Augenblicke, nehme, was er mir von seiner Zeit opfert. Allerdings kann ich diese Höhepunkte meines Lebens in den letzten Tagen an einer Hand abzählen. Notenschluss und Ferienlaune lassen die Partys wie Pilze aus dem Boden schießen. Es gibt kaum noch ein Wochenende, welches nicht vollkommen damit verplant ist. Im Grunde genommen ist das toll, ich meine wir sind jung, warum sollten wir das Leben nicht genießen? Doch leider hat diese Sache einen Haken. Ich gehe zu keiner Party. Warum? Keiner lädt mich ein, keiner vermisst mich. Nein, das stimmt nicht ganz. Einmal hat Stephans bester Freund Ulli mich tatsächlich gefragt, warum ich nicht auf Jannes Party war. Sie geht schließlich in meine Klasse und zu ihrer Party geht einfach jeder. Nun ja, fast jeder.
Bis jetzt versuche ich mir immer einzureden, dass das in Ordnung ist und es mir sowieso nicht gefallen würde. Bis jetzt hat das auch immer gut funktioniert. Allerdings die letzten Tage…
Stephan sieht kurz zu mir, nickt mir lachend zu, weshalb ich verkniffen zurücklächele. Idiot!
In der Hofpause stehe ich vor den Spiegeln in der Schultoilette. Meine Inspektion von Janne hat mir wieder einmal deutlich gemacht, wo ich stehe. Meine Augen sehen langweilige Haare mit einem Pony so dick, dass ein Pferd neidisch werden könnte. Es war irgendwann in der fünften Klasse, als meine Mutter mir diesen Haarschnitt verpasste. Es war das erste Mal in meinem Leben, in dem ich so etwas wie Hassgefühle empfand. Tränen rutschen in meine Augen, ich nehme meine hässliche Hornbrille ab, drehe sie zwischen meinen Fingern. Auch so ein Ding, welches sie mir aufgezwungen hat. Dabei gibt es hübsche, billige Gestelle. Aber selbst das bin ich ihr nicht Wert. Unwirsch wische ich über meine Augen, Selbstmitleid hat mir noch nie genützt. Es zieht einen nur noch mehr runter. Also drehe ich mein Gesicht hin und her, versuche genauso zu lächeln wie Janne. Es sieht nur gruselig aus. Gefrustet strecke ich mir die Zunge heraus und wasche meine Hände. Was solls! Es ist, wie es ist. Während das Wasser durch meine Finger rinnt, wandert mein Blick auf meine Klamotten. Alles sieht abgetragen aus, alles ist viel zu groß. Nur meine Mutter findet es toll. Wozu etwas Neues kaufen, wenn genug vorhanden ist. Sie spricht von used-Optik, allerdings hat sie dabei wohl etwas missverstanden. Verzweifelt entrinnt mir ein Lachen. Used-Optik. Es ist einfach nur hässlich. Hässlich und zu groß. Mindestens zwei Nummern. Wenn ich wenigstens nähen könnte. Dann würde ich mir daraus schon irgendwas zurecht schneidern. Aber wir haben keine Nähmaschine und ich kenne mich nicht aus. Der ewige Kreis, gefangen im eigenen Schlamassel. Heute catcht es mich besonders, eigentlich komme ich die letzte Zeit gut damit zurecht. Wahrscheinlich findet man sich irgendwann mit allen Dingen ab, die man nicht ändern kann. Resigniert beobachte ich wie sich zwei Mädchen in den Waschraum schieben. Sie kichern, ich erkenne Janne und Susi. Ausgerechnet.
„Findest du ihn süß?“
„Ja schon, aber zu jung. Jungs in diesem Alter sind meistens unreif. Was will ich mit so einem?“
Janne zupft an ihren Haaren herum und zieht ihren Lippenstift nach. Ihr Blick streift mich, weshalb ich schnell wieder auf meine Hände schaue. Das sollte reichen.
„Aber Stephan ist anders. Der war schon mit ein paar Mädels zusammen und ich habe gehört, er kann sensationell küssen!“
Susis Wangen nehmen eine zarte Rötung an, dabei schupst sie Janne lachend an die Schulter. Meine Augen beobachten die beiden über den Spiegel, gerne würde ich noch länger meine Hände mit dem Papier abtrocknen, aber es beginnt sich schon aufzulösen.
„Amy?“
Vorsichtig drehe ich mich um. Janne hat mich das ganze Schuljahr kaum beachtet. Fragend sehe ich zwischen den Mädchen hin und her.
„Stephan und du, ihr seid doch gute Freunde oder?“
„Ja klar. Er wohnt nebenan.“
Ich sehe Janne nicken, sie wirft Susi einen bedeutsamen Blick zu.
„Habt ihr was miteinander?“
Wie bitte? Hitze schießt in mein Gesicht.
„Natürlich nicht, wir sind nur gute Freunde. Stephan ist ein lieber Kerl. Wir verstehen uns gut.“
„Ist sie nicht süß?“, plappert Janne, dabei nimmt sie meine Haare in ihre Hand.
„Stephan scheint sich für mich zu interessieren. Meinst du, ich sollte mich darauf einlassen?“
Ihre Augen blicken eingebildet und hochnäsig. Du blöde Kuh, ist mir doch egal! Natürlich ist dieser Gedanke absoluter Bockmist. Schließlich bin ich in Stephan verliebt.
„Du solltest doch selber wissen, ob du ihn magst. Oder gehst du nur mit den Kerlen, weil sie gut aussehen?“
Abrupt entziehe ich ihr meine Haare und trete den Rückzug an.
„Sieh an, sieh an. Die unscheinbare Amy hat Haare auf den Zähnen. Allerdings weiß doch jeder, dass du hinter ihm her bist. Aber du bist einfach zu hässlich. Kein vernünftiger Junge wird sich mit dir blicken lassen. Sie dich doch an. Selbst meine Oma kleidet sich besser.“
Automatisch drehe ich mich aufgrund ihrer gemeinen Worte zurück. Janne wirft ihre Mähne nach hinten, gönnt sich nur selbst einen prüfenden Blick im Spiegel. Susi beißt sich auf ihrer Unterlippe herum. Ihre Worte stechen mir bis ins Herz. Trotzdem lasse ich nicht zu, dass sie sieht, wie sehr sie mich verletzt hat.
„Ja dann viel Glück, Janne.“
Ich lasse sie stehen, kämpfe die aufsteigenden Tränen nieder. Auf ihr Niveau werde ich nicht sinken. Warum gibt es diese Mädchen überall? Die, die sowieso schon alles haben, treten nach den Schwächeren. Ich finde das erbärmlich. Warum erkennt Stephan nicht ihr wahres Ich? Niedergeschlagen kehre ich in die Klasse zurück. Dieser Tag soll einfach nur noch schnell vorbei gehen. Es ist noch keiner im Raum, ich rutsche auf meinen Platz. Jannes Äußerung arbeitet an mir. Im Prinzip hat sie ja recht. Das ist wohl das Schlimmste daran. Nur, dass sie es mir einfach so ins Gesicht sagt … Ich habe mich damit abgefunden, mich meinem Schicksal ergeben. Für mich zählen Charakter und Freundschaft, allerdings reduziert das mein Sozialleben auf einige wenige Personen. Seufzend lege ich mein Gesicht auf meinen ausgestreckten Arm und rollere meinen Bleistift vor und zurück. Noch zwei Jahre muss ich durchhalten, dann wird alles anders. Zumindest habe ich mir das vorgenommen. Weg von daheim, weg von meiner Mutter. Wir verstehen uns nicht, mein Dad hat uns verlassen. Uns alle im Stich gelassen. Seitdem ist alles zum Kotzen. Kein Geld, keine Liebe. Nur die ewigen Bekundungen, wie wenig sie mich wollte. Wie soll man so glücklich sein? Tränen rutschen in meine Augen, aber ich will hier nicht heulen. Also richte ich mich auf, wische unauffällig über meine Augen, dabei sehe ich Stephan mit Janne schäkernd hereinkommen. Früher hat er mir wenigstens zugenickt, das ist wohl jetzt auch Geschichte.
Endlich ist es soweit. Herr Bretschneider verteilt gerade die Zeugnisse, damit geht dieser beschissene Schultag tatsächlich dem Ende zu Als er an meinem Tisch vorbeikommt, schüttelt er still den Kopf. Ich seufze, weiß, dass ich mich mehr anstrengen müsste. Mein Blick checkt die Noten. Nichts, was ich nicht schon wüsste. Sport vier, Mathe und Deutsch zwei und der Rest lauter Dreien. Wenn ich mich nicht bald mehr bemühe, wird das mit meinem geplanten Medizinstudium nichts mehr. Mein Blick wandert wieder zu Stephan. Er lacht, packt dabei sein Zeugnis ein. Seine Augen suchen schon wieder Janne. Mein Gott, was will er nur von ihr? Ich verstehe es immer weniger. Während der Lehrer uns noch schöne Ferien wünscht, bricht bereits ein riesiger Tumult aus. Die Freude der anderen schwappt nicht auf mich über. Langsam packe ich ebenso mein Zeugnis weg. Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich wieder so viele Dreien habe. Aber ich kann mich zum Lernen einfach nicht motivieren. Meistens verträume ich den ganzen Nachmitttag in meinem Zimmer auf meinem Bett. Und wenn ich dann doch irgendwann aus meiner Lethargie erwache, nehme ich meine Gitarre und singe einen Song nach dem anderen. Das ist das Einzige, was mich vorantreibt, das Einzige, was mich am Leben hält. Meine Liebe zum Gesang. Aber selbst in Musik habe ich eine Drei, was mich just verzweifelt auflachen lässt.
Als ich meinen Blick hebe, sind schon fast alle Mitschüler gegangen. Auch Stephan. Wir haben heute schon nach der dritten Stunde Schluss. Eigentlich müsste mich ein jubelndes Gefühl befallen, schließlich sind Sommerferien. Aber nichts dergleichen passiert. In wenigen Stunden fahre ich zu meinem Vater. Das lässt mein Herz bange schlagen, denn ich habe ihn seit fünf Jahren weder gesehen noch gesprochen. Meine Mutter hat das arrangiert und nicht damit hinter dem Berg gehalten, wie sehr sie sich freut, dass sie mich endlich mal los ist. Auch wenn wir uns nicht gut verstehen, muss sie das so deutlich zeigen? Kann man von der eigenen Mutter nicht wenigstens ein bisschen Zuneigung erwarten?
Missmutig verlasse ich als Letzte den Klassenraum und setze meinen Rucksack auf. Auf dem Schulhof sind alle sehr ausgelassen. Stephan erkenne ich bei Ulli und Paul. Sie schlagen sich lachend ab, weshalb das trostlose Gefühl in mir noch trostloser wird. Mein Blick wandert zum Himmel, wo sich die Sonne gerade hinter eine dicke Haufenwolke schiebt. Oder ist es nicht genau umgekehrt? Kann ich nicht genauso verschwinden? Seufzend wandert mein Blick wieder zu Stephan. Janne läuft gerade auf ihn zu. Er schenkt ihr ein charmantes Lächeln, wobei sie sich bei ihm einhakt. Es sieht nicht so aus, als würde er sich nochmal persönlich verabschieden. Er wird dies sicherlich über WhatsApp nachholen, wie immer. Janne schaut triumphierend in meine Richtung. Echt jetzt? Braucht sie das? Natürlich komme ich mir gleich noch erbärmlicher vor. Ein lauter Seufzer entrinnt meiner Kehle, während ich mich umdrehe. Gerade als ich loslaufe, höre ich meinen Namen.
„Hey Amy, alles klar?“
Ulli schließt neben mir auf und hängt seinen Arm über meine Schulter. Sein Lachen besänftigt meine angeknackste Seele.
„Geht so.“
Meine niedergeschlagene Stimmung ist nicht zu überhören. Er drückt meine Schulter leicht in seine Richtung und läuft mit mir ein paar Schritte weiter.
„Hey freu dich. Ferien! Egal was du machst, viel Spaß!“
Ich sehe zu ihm auf, blicke in grinsende Augen. Anschließend sprintet er zu den anderen zurück, wo Stephan mir ein Winken schenkt. Du mich auch, Blödmann. Ulli ist ein viel besserer Freund! Ich wende mich ab und mache mich auf den Heimweg. Ich habe noch genug Zeit, aber was soll ich hier noch. Niemand wird mich vermissen.
Zu Hause wartet mein einsamer Koffer gepackt auf dem Bett. Es ist nicht viel drin, weil ich nicht viel habe. Ich lege noch meine Zahnbürste und mein Deo dazu, danach schließe ich den Reißverschluss. Sekundenlang stehe ich nur davor, die Wohnung ist totenstill, so dass mir ganz eigenartig wird. Einsamkeit erfasst mich. Wahrscheinlich besonders, weil mein Zimmer total aufgeräumt aussieht. Es wirkt statisch, völlig ohne Leben. Als würde ich nie mehr zurückkommen, als wäre dies das Ende. Mein Blick schweift durch den kleinen Raum. Das Bett ist gemacht, mein alter Schrank und die kleine Kommode ordentlich verschlossen. Auf meinem Schreibtisch liegt mein Zeugnis. Vielleicht interessiert es meine Mutter ja doch. Die gelben Wände sind an der Decke bereits ganz grau und neben dem Schrank löst sich die Tapete. Alles in allem verlasse ich keinen Ort, dem ich nachtrauere. Allerdings weiß ich nicht, was mich erwartet. Schlimmer geht schließlich immer. Ich seufze erneut, rollere den kleinen, geborgten Koffer zur Tür. Er ist von Stephans kleiner Schwester. Aus dem Kühlschrank hole ich noch eine vorbereitete Brotbüchse und eine Flasche Mineralwasser. Als ich auch das verstaut habe, gönne ich meinem Zuhause einen letzten Blick und schließe hinter mir ab. Die Straßenbahnhaltestelle ist keine fünfzig Meter entfernt.
„Amy!“, ruft jemand hinter mir, weshalb ich mich umdrehe.
Emmi läuft eilig auf mich zu, in ihren Augen schimmern Tränen.
„Warum fährst du weg?“, jammert sie.
Gerührt hocke mich vor sie, woraufhin Stephans kleine Schwester ihre Arme um mich schlingt.
„Das habe ich dir doch erzählt. Mein Vater braucht mich die Ferien über. In sechs Wochen bin ich zurück.“
„Aber wer singt mit mir, wenn du nicht da bist?“
Ihre Augen schauen mich herzzerreißend an. Es gibt tatsächlich doch jemanden, der mich vermissen wird. Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.
„Emmi, du übst ganz fleißig und wenn ich wieder da bin, singen wir gemeinsam dein Lieblingslied. Vielleicht ist in deiner Grundschule wieder eine Talentshow. Du könntest doch auftreten, hm?“
„Wirklich?“, fragt sie ungläubig.
Ich nicke. Sie ist ein Abklatsch ihres Bruders und wird später für viele gebrochene Herzen sorgen. Ich erkenne meine Bahn.
„Ich hab dich lieb. Bis bald.“
Mein Zug erwartet mich bereits, als ich den Bahnsteig erreiche. Ich habe noch zehn Minuten. Seit ich den Bahnhof betreten habe, bin ich aufgeregt. Nein, eigentlich bin ich schon die ganzen letzten Tage aufgeregt, aber erst jetzt lässt diese Nervosität meinen Puls in die Höhe schnellen. Ich denke immerzu, das passiert nicht wirklich, nicht mir. Ich bin noch nie alleine verreist, geschweige denn, alleine Zug gefahren. Meine Endstation ist München, wo ich hoffen muss, dass mein Vater mich tatsächlich abholt. Danach geht es weiter nach Garmisch. Natürlich könnte ich meine Aufregung alleine auf das Reisefieber schieben, dabei weiß ich doch genau, wie idiotisch das wäre. Das bringt vielleicht das Fass zum Überlaufen, mein tristes Dasein zum Kollabieren. Der Hauptgrund ist schlicht und ergreifend Angst. Meine Augen nehmen die vielen Erwachsenen und Kinder wahr. Sie tauschen Küsse oder Umarmungen aus, all dass, was ich die letzten Jahre nie hatte. Tränen kämpfen sich an die Oberfläche, laufen in einem stillen Rinnsal über meine Wangen. Meine Mutter hatte natürlich keine Zeit, mich an den Bahnhof zu bringen. Wahrscheinlich hat sie ihre Schicht mit Absicht so gelegt. Der Gedanke ist genauso absurd wie er wahr sein könnte. Deshalb verbinde ich mit meiner Angst auch Hoffnung. So sehr ich die Begegnung mit meinem Vater fürchte, genauso sehr hänge ich auch Erwartungen daran. Dieses stille Vielleicht, diese innigliche Sehnsucht. Ich verbiete mir, daran zu denken. Doch gibt es nicht diesen Spruch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt?“ Genau daran halte ich mich fest, genau das lässt meine Angst in Grenzen halten. Der Zug ruckt, weshalb ich schlucke. Erst ist er ganz langsam, doch schon nach wenigen Minuten fliegt die Landschaft dahin.
„Tschüss Erfurt“, stoße ich leise aus.
Mein Herz klopft hart gegen meine Brust, meine Stirn liegt an der Fensterscheibe.
„Endstation Fräulein, wir sind in München.“
Meine Augen öffnen sich, kurz weiß ich nicht, was vor sich geht, doch dann schießt ein Ruck durch mich hindurch.
„Danke“, hauche ich hektisch und schnappe mir meine Sachen.
Bereits während ich aussteige, checken meine Augen den Bahnsteig ab. Es sind kaum noch Leute hier. Auch ganz vorne kann ich niemanden entdecken. Nicht das. Meine Angst kehrt schlagartig zurück, lässt mein Herz schnell und laut schlagen. Mein Magen beginnt sich zuzuschnüren. Langsam laufe ich Richtung Unterführung, meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Keiner erwartet mich. Und nun? Genau in diesen Gedanken hastet ein schlanker Mann die Treppe hinauf. Seine Augen blicken sich suchend um bis sie an meiner Gestalt hängenbleiben. Anschließend kommt er langsam auf mich zu.
„Amy?“
Kurz kann ich nicht reagieren, weil ich mich erinnere. Meine Augen saugen jedes winzige Detail in sich auf. Er hat sich kaum verändert, nur ein paar Falten mehr und die Haare sind nicht mehr ganz so schwarz. Kindheitserinnerungen tauchen auf und überrollen mich. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich schlucke hart, spüre, wie meine Augen geflutet werden. Es ist, als würde mich mein Bruder Michi anschauen, nur eben älter. Dass sie sich so ähnlich sehen, hatte ich vergessen. Deshalb kann ich just nur dastehen und ihn anstarren. Mein kleiner Koffer rutscht aus meiner Hand, Tränen rinnen unaufhaltsam aus meinen Augen. Meine Kehle ist so eng, dass es bereits weh tut. Ich kann nichts sagen, bin unfähig, mich zu bewegen. Unsagbarer Schmerz flutet meine Brust. Erst jetzt, wo ich vor ihm stehe, spüre ich, wie sehr ich ihn vermisst habe. Fünf Jahre! Fünf Jahre verdammt!
„Wo warst du nur?“, keuche ich hilflos.
Mir wird alles zu viel. Ich schluchze auf, spüre wie mein Vater die Lücke zwischen uns schließt und mich an sich zieht. Ich stehe nur, kann meine so schön verschlossenen Gefühle diesmal nicht kontrollieren. Alles bricht auf einmal aus mir heraus. Wut, Sehnsucht, Angst. Wovor hatte ich überhaupt Angst? Mein Vater wiegt mich, so dass ich irgendwann doch meine Arme um ihn schlinge. Ich höre mich weinend lachen, mein Gefühlschaos ist perfekt.
„Ich freue mich so!“, flüstert mein Vater erstickt in meine Jacke.
Wieder lache ich, drücke ihn diesmal noch fester an mich. Diesmal erfasst mich unendliche Erleichterung aufgrund seiner Worte. So stehen wir eine kleine Ewigkeit, keine Ahnung wie lange. Irgendwann schiebt mich mein Vater von sich und sieht mich an. Auch in seinen Augen kleben Tränen, aber gleichzeitig lächeln sie auch unendlich liebevoll, so dass ich erneut heulen muss. Es ist so verdammt lange her.
„Na komm. Wir machen uns jetzt eine schöne Zeit. Lass uns aufbrechen, es ist noch ein ganzes Stückchen.“
Verlegen nicke ich. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Wir haben uns so lange nicht gesehen.
„Wie war die Fahrt?“, fragt er auf dem Weg zum Auto.
Ich grinse verlegen.
„Bin eingeschlafen. Zum Glück war hier Endstation, sonst hätten wir uns verpasst.“
Nun grinsen wir miteinander, mein Vater schnappt sich meine Hand.
„Hast du Hunger?“
„Nein, alles gut.“
Schweigend laufen wir das restliche Stück bis zu seinem Auto, wobei wir uns immer wieder ansehen. Das ist irgendwie schön. Dann öffnet er mir die Tür eines schicken Geländewagens und verstaut anschließend meinen Koffer.
„Es sind noch ungefähr achtzig Kilometer.“
Wieder legt sich eine ruhige Stille zwischen uns. Mein Vater hat schon früher nicht viel geredet. Meistens nur, wenn er mir etwas erklären wollte oder mit mir schimpfen musste. Trotzdem fühlt sich diese Stille nicht schlecht an. Ich brauche diese Zeit, um mich von unserem ersten Wiedersehen zu erholen. So langsam erreiche ich wieder mein normales Level. Meine Augen hängen an der vorbeirasenden Landschaft. In den Kurven halte ich mich immer wieder an dem Griff oberhalb der Tür fest, weil mein Vater ganz schön auf das Gas drückt. Ich erkenne ein deutliches Grinsen.
„Wie soll ich dich anreden? Ich meine im Hotel und sonst auch?“
Ich sehe ihn an, während seine Augen konzentriert auf der Straße liegen. Bei einem kurzen Seitenblick lächelt er mich an.
„Wie wäre es mit Dad, so wie früher?“
„Meinst du das ernst? Findest du das nicht irgendwie peinlich vor all den Leuten?“, höre ich mich erstaunt fragen.
„Wahrscheinlich hast du recht. Dann sag einfach Thomas. Aber wenn wir unter uns sind, würde ich mich auch über Dad freuen“, sagt er mit einem eindringlichen Blick auf mich.
„Ich bin sehr gerne dein Vater“, fügt er anschließend hinzu.
Wow! Ich kann nicht verhindern, dass meine Augen just schon wieder geflutet werden. Er hat sich eine halbe Ewigkeit nicht gemeldet. Nicht einmal in fünf langen Jahren haben wir telefoniert und jetzt behauptet er so etwas? Mit einer schnellen Handbewegung tilge ich die Flüssigkeit von meinen Wangen, doch natürlich hat mein Vater sie gesehen. Er nimmt meine linke Hand und drückt sie.
„Es tut mir wahnsinnig leid, dass alles so gekommen ist. Ich wollte mich längst bei dir melden, aber irgendwie hat mich immer wieder der Mut verlassen.“
Verzweifelt wende ich mich ihm zu.
„Aber du hast doch nichts falsch gemacht. Mutter hat dich rausgeschmissen“, antworte ich leise.
Er nickt und presst die Lippen aufeinander.
„Aber ich habe euch im Stich gelassen. Frank und Michi waren erwachsen oder zumindest fast. Aber du? Du warst gerade mal zehn. Ich hätte dich mitnehmen sollen. Damals dachte ich, es wäre besser für dich bei deiner Mutter zu bleiben. Jetzt weiß ich es besser. Unser letztes Telefonat hat mir die Augen geöffnet. Ich hätte mich viel eher melden müssen. Ich hatte geschäftlich so viel um die Ohren, also habe mir eingeredet, dass du es schon gut haben würdest.“
Seine Stimme bricht, nur ein paar Sekunden später fährt er rechts ran und stellt er den Motor aus. Mit glasigen Augen blickt er mich an.
„Mir tut alles so wahnsinnig leid, die Streitereien, die vielen Probleme, aber vor allem, dass ich tatsächlich einfach gegangen bin. Damals dachte ich, es wäre der richtige Schritt. Ich habe niemals damit gerechnet, dass sie euch so vernachlässigen würde. Wir hatten kaum Kontakt, wenn ging es nur um den Unterhalt. Sie erzählte immer, es würde euch gut gehen. Damit habe ich mich beruhigt. Doch die letzte Zeit seid ihr mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Deshalb habe ich angerufen und nun bist du hier bei mir. Ich kann dir die verlorenen Jahre nicht zurückgeben, aber ich möchte dir wenigstens ab jetzt wieder ein guter Vater sein. Falls du nach den Ferien lieber bleiben möchtest, es gibt immer einen Platz für dich.“
Stille Tränen laufen in einem Fort aus meinen Augen. Auf einen so emotionalen Start bin ich nicht vorbereitet. Nun hält mich nichts mehr und ich werfe mich meinem Vater an den Hals.
„Ich hab dich vermisst“, schluchze ich an ihm.
Ich kann nicht aufhören zu weinen. Warum hat er sich nie gemeldet? Warum hat er sich mit Worten zufriedengegeben?
„Ich habe dich auch vermisst Kleines. Wir machen uns einen schönen Sommer und egal wie es danach weitergeht, es sind am Ende nur fünf Stunden. Nochmal gebe ich dich nicht wieder her.“
Weinend löse ich mich aus der Umarmung und sehe meinen Vater an. Meine verrutschte Brille nimmt er mir einfach ab und reicht mir ein Taschentuch.
„Dad?“, frage ich leise.
„Ja, meine Kleine?“
„Bist du wieder verheiratet oder so?“
Mein Vater schüttelt seinen Kopf, was mich irgendwie total erleichtert. Das mag egoistisch sein, aber so habe ich die Möglichkeit, ihn erst einmal wieder besser kennenzulernen. Wir drücken uns noch einmal bis ich ihn lachen höre.
„Nun komm, sonst verpassen wir das Abendbrot.“
Auf der ganzen Fahrt beobachte ich meinen Vater, sauge jedes Detail in mich auf. Er hat sich kaum verändert. Als er meine Blicke spürt, fragt er plötzlich:
„Was ist das eigentlich mit dieser Brille? Früher brauchtest du doch auch keine. Ich kann deine schönen grünen Augen gar nicht mehr sehen.“
Missmutig nehme ich meine Brille ab und drehe sie in meinen Händen.
„Ich konnte aus der letzten Bankreihe nichts mehr erkennen. In der Nähe ist alles schick, aber alles über fünf Meter erkenne ich nur verschwommen. Daher hat Mutter mir dieses Ding machen lassen. Ich hab sie erst zwei Jahre.“
„Aber es gibt heutzutage so schöne Brillen oder was ist mit Kontaktlinsen?“
Ich zucke nur die Schultern. Darum hat sich Mutter nie Gedanken gemacht. Alles unnötige Zeitverschwendung und Geldausgabe. Ich kann mich genau an den Tag erinnern, als wir bei diesem Optiker waren. Es gab richtig schicke Brillen, aber meine Mutter holte dieses Gestell aus ihrer Tasche und nahm wieder dieses Wort used-Optik in den Mund. Ich hasste sie in diesem Moment. Meine Proteste wurden im Keim erstickt.
„Hättest du gern eine andere? Wir könnten mal in die Stadt. Vielleicht willst du auch ein schickes Kleid.“
Ich kneife meine Augen zusammen.
„Gefalle ich dir etwa nicht?“
Das Räuspern meines Vaters bringt mich an meinen Tiefpunkt von heute Morgen zurück.
„Du würdest mir immer gefallen, auch wenn du schwer wie eine Tonne wärst und ein Horn auf deiner Stirn hättest.“
Seine Worte entlocken mir ein Kichern, viel fröhlicher gestimmt lächele ich ihn an.
„Dennoch wirkst du in deinen Sachen verloren, als wären sie nicht für dich bestimmt. Trägst du nur so weite Sachen? Schau mal, ich führe ein Beauty-Hotel mit Typenberatung. Sei mir nicht böse, aber das ist mein Job.“
Manchmal ist die Wahrheit schwer zu ertragen. Auch wenn man sie bereits kennt und besonders, wenn sie von lieben Menschen kommt. Gerade dann tut sie besonders weh, weshalb mein Herz ziemlich sticht. Ich unterdrücke neue Tränen und schlucke hart.
„Wir haben kein Geld, um mir ständig neue Sachen zu kaufen. Ich kriege nicht mal Taschengeld. Alles was ich anhabe, ist von irgendeiner entfernten, fetten Cousine.“
Der ganze Frust aus all den Jahren über mein trostloses Mädchendasein kocht hoch. Seit Dad weggegangen ist, habe ich kaum etwas Neues bekommen. Mutter wollte immer, dass ich pragmatisch denke. Sie kümmerte sich nicht darum, was sie mir damit antat. Letztendlich war es mir irgendwann auch egal. Haarschnitt, Schuhe, einfach alles. Ich sehe Dad mit so einem „Siehst du, was du angerichtet hast“ Blick an. An seinen Gesichtszügen kann ich seine Erschütterung erkennen.
„Aber ich überweise deiner Mutter jeden Monat fünfhundert Euro!“, erwidert er dennoch ungläubig.
„Das mag sein, aber ich sehe von dem Geld nicht einen Cent. Wenn ich nicht nebenbei ab und an jobben würde, könnte ich nicht einmal ins Kino gehen.“
Meine Augen richten sich starr auf die Straße, weil ich meine Wut kaum unter Kontrolle bringen kann. Ich will nicht darüber reden. Es ist nicht zu ändern. Trotzdem erinnere ich mich, wie oft ich meine Mutter um fünf Euro angebettelt habe. Ich war auf keiner Klassenfahrt und an Wandertagen hat Claudia mir stets etwas ausgelegt. Ich habe es ihr immer wieder zurückbezahlt und bin ihr nie etwas schuldig geblieben. Das sind die ersten Ferien seit zwei Jahren, in denen ich nicht jobben gehe. Wenn meine Klassenkameradinnen von ihren Shoppingtouren erzählten, bin ich immer weggegangen. Ich habe es einfach nicht ausgehalten. Irgendwann habe ich mir selbst weiß gemacht, dass ich mir so gefalle. Bis eben hat das auch prima funktioniert. Aber nun hat mein Vater schwer an meinem Ego gekratzt und ich fühle mich schlecht.
„Das tut mir sehr leid Kleines.“
Er sieht mich traurig an, berührt mich am Arm.
„Weißt du was? Wir werden ein Konto für dich einrichten, wo ich dir jeden Monat etwas hin überweise. Wie klingt das?“, fragt er leise.
Sprachlos wandern meine Augen in sein Gesicht.
„Das klingt richtig gut“, flüstere ich.
Ich glaube, jetzt wird alles gut. Noch lange sehe ich ihn einfach an, beobachte, wie er mich immer wieder zärtlich anschaut. Kann es sein, dass das Leben doch etwas für mich bereit hält? Voller vorsichtiger Zuversicht sehe ich auf die schöne Landschaft, die so ganz anders ist als daheim. Mit einem Mal ist meine Angst verschwunden und weicht einer neugierigen Vorfreude.
„Dauert es noch lange?“, frage ich kurze Zeit später.
„Nein, gleich haben wir es geschafft.“
Und tatsächlich fahren wir etwa zehn Minuten später vor einem hübschen Hotel in Garmisch-Partenkirchen vor. Bewundernd steige ich aus und stehe vor einem Gebäude mit herrlich geschnitzten Balkonen geschmückt mit rosa und rot blühenden Geranien.
„Es sieht wunderschön aus“, hauche ich.
Ich kann meinen Blick kaum losreißen, doch die kleinen Rollen meines Koffers machen solchen Krach, dass ich belustigt zu meinem Vater aufschließe. Als wir in die Lobby des kleinen Hotels eintreten, erscheint ein älterer Mann im Anzug.
„Herr Bartstuber, schön, dass sie wieder zurück sind. Und das ist die reizende Tochter?“
„Hallo, ich bin Amy“, erwidere ich verhalten.
„Na komm, ich zeige dir schnell alles und dann essen wir einen Happen.“
Nickend folge ich ihm, bewundere dabei, die gemütliche und doch elegante Ausstrahlung seines Hotels. Leise Musik durchdringt die kleine Halle, während ich meinem Vater zum Fahrstuhl folge. Im dritten Stock halten wir an, folgen einem langen dunkelblauen Teppich bis zum Ende des Ganges. An der Tür steht „Privat“. Mein Vater schließt auf und führt mich in eine schöne Wohnung.
„Das ist jetzt auch dein Reich. Hier, dein Zimmer, ich schlafe erstmal auf der Couch. Morgen stellen wir ein Bett im Wohnzimmer auf. Das habe ich heute leider vergessen. Falls du dich umziehen oder frisch machen willst?“
Er sieht mich fragend an. Also betrete ich mit meinem Koffer den kleinen Raum. Es sieht gemütlich aus, ein großes Fenster, daneben ein riesiges Bett und in der Ecke ein eigenes Waschbecken. Auf einem Nachtisch stehen ein Wecker und ein Bild, welches mich magisch anzieht. Meine Hand greift automatisch danach. Frank, Michi und ich stehen vor unserem Haus. Wir lachen und sehen glücklich aus. Das liegt lange zurück. Ich kann mich an diese Begebenheit nicht erinnern.
„Das war gleich nach einem Fußballspiel von Michi. Er hatte mit seiner Mannschaft gewonnen und durfte den Pokal mit nach Hause nehmen. Deine Mutter war nicht mit, wir hatten viel Spaß. Es war das letzte Mal, dass ich euch so ausgelassen gesehen habe. Danach fingen die Streitereien an und das hat uns allen sehr zugesetzt.“
Mit Tränen in den Augen stelle ich das Foto zurück. Die Erinnerungen an diese furchtbare Zeit drohen mich zu überwältigen, aber ich will nicht mehr zurückblicken, sondern nach vorne schauen und genau so glücklich sein wie auf diesem Foto. Als ich aufsehe, ist Dad verschwunden. Für einen Moment sinke ich auf das Bett, hüpfe vorsichtig und lächele. Es wirkt sehr gemütlich und einladend. Eigentlich bin ich ziemlich fertig. Dieser ganze Tag war unglaublich anstrengend, vorwiegend emotionaler Natur. Trotzdem will ich meinen Vater nicht warten lassen, weshalb ich mir die Hände wasche und Wasser über mein Gesicht laufen lasse. Meine Augen erkennen mein Spiegelbild, das viele Weinen hat seine Spuren hinterlassen. Insgesamt sehe ich jedoch nichts, was ich nicht jeden Tag gesehen hätte. Doch heute stört es mich. Erst Janne mit ihrer gemeinen Bemerkung und vorhin noch Dad. Meine Haare sind mittelbraun und hängen glatt herunter. Das Pony ist zu lang und verdeckt bereits einen Teil meiner Brille. Ich schaue mich seufzend an, strecke mir wie fast immer die Zunge heraus. Die Schultern straffend wende ich mich ab, um meinen Vater zu suchen.
Kurze Zeit später befinden wir uns in einem gemütlichen, kleinen Speisesaal. Überall brennen Kerzen und auf den Tischen sind hübsche Dekorationen aufgelegt. Alles wirkt sehr familiär, im Hintergrund spielt ein älterer Herr seichte Lieder auf einem schwarzen Flügel. Mein Vater bestellt für mich ein Stück Thunfisch mit Salat.
„Du wirst sehen, es schmeckt fantastisch.“
„Und warum isst du nichts?“, frage ich skeptisch.
„Ich esse abends nichts. Alles Gewohnheit. Mach dir keinen Kopf und genieße jeden Bissen.“
Nachdem ich mein Essen verschlungen habe und mir mit der Serviette meinen Mund abwische, strahle ich meinen Vater an.
„Es war köstlich. Ich glaube, ich habe noch nie so gut gegessen. Thunfisch ist oberlecker, hätte ich nicht gedacht.“
„Ich wusste es. Du warst schon immer ein Feinschmecker. Weißt du noch, als wir einmal in Berlin waren? Frank und Michi wollten eine Bratwurst an einer Imbissbude essen, aber du hast darauf bestanden, einkehren zu gehen. Überhaupt wolltest du immer in einer Gaststätte essen, sobald wir nicht zu Hause waren.“
Lachend höre ich ihm zu. Ich kann mich nicht erinnern, aber ich bin absolut glücklich. Warum habe ich nicht selbst den Kontakt gesucht? Ich habe darauf gewartet, dass mein Dad zu seiner kleinen Prinzessin zurückkommt. Stumm danke ich meiner Mutter, dass sie mich hierher geschickt hat.
„Ist alles in Ordnung?“
Nickend sage ich:
„Mehr als das.“
Wir verbringen den Abend auf der Terrasse, weil die Luft angenehm warm ist. Um mich ist alles wunderschön beleuchtet und der Mond schaut als helle Sichel auf uns herab. Eine Weile ist jeder in seine eigenen Gedanken versunken und ich überlege wie es ab morgen weitergeht.
„Wie sieht mein Tagesablauf aus? Soll ich helfen?“
„Also in erster Linie sollst du dich erholen. Aber wir haben hier viele Sportprogramme und vielleicht hättest du Lust, mitzumachen?“
„Sport ist Mord“, erwidere ich spontan.
„Du treibst nicht gerne Sport? Früher waren wir doch immer Fahrrad fahren. Mindestens einmal jedes Wochenende.“
Dad blickt mich prüfend an. Was soll ich sagen? Die Zeiten haben sich geändert.
„Ich habe kein Fahrrad.“
Ich reduziere alles auf dieses eigentlich unwichtige Detail. Dad schüttelt still den Kopf.
„Morgen früh um acht machen wir eine kleine Fahrradtour. Wir haben genug Räder, ich sage Charlotte Bescheid. Sie ist hier für das Sportprogramm zuständig. Und danach kannst du dir überlegen, die anderen Tage bei ihr mitzufahren. Sie übernimmt jeden Vormittag eine andere Strecke. Du wirst staunen, wie schön die Landschaft ist.“
Schnaufend halte ich an.
„Warte, ich kann nicht mehr!“
Ich trinke meine Wasserflasche leer, dabei kommt mein Vater ein Stück zu mir zurückgefahren.
„Meine liebe Dame. Du musst dringend an deiner Kondition arbeiten. Das waren gerade mal drei Kilometer und davon fast alles geradeaus. Ab heute wird trainiert. Am Wochenende fahren wir zusammen und unter der Woche kannst du alles mitmachen, was im Angebot ist. Zumba, Workouts, Fitness, Schwimmen. Egal. Das kann ja wohl nicht wahr sein.“
Er radelt wieder voran, weshalb ich mich zwangsläufig anschließen muss. Na toll! Sportprogramm. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir der Gedanke. Schon lange stören mich diese Speckröllchen an meinem Bauch. Ich bin nicht dick, aber auch nicht besonders dünn. Spontan würde ich sagen, ich habe so fünf Kilogramm zu viel. Das wäre doch ein Ziel. Ein Grinsen schleicht sich in mein Gesicht, dass allerdings sofort verschwindet, weil der Weg mindestens einhundert Meter bergauf führt. Oben auf der Anhöhe lege ich mich ins Gras. Schwer atmend sehe ich in den blauen Himmel und bin fix und fertig. Trotzdem fühle ich mich gut. Meine Seele befindet sich in einem wohligen Schwebezustand. Diese ungewohnte Freude in mir macht mich glücklich. Der Ausblick ist fantastisch. Überall ringsherum die Berge und weiter unten kleine Häuser und ein See.
„Es ist schön, nicht wahr?“
Dad legt einen Arm um mich, nachdem ich aufgestanden bin. Gemeinsam blicken wir ins Tal. Jetzt weiß ich, warum es meinen Dad genau hierher verschlagen hat.
„Amy?“
„Mh“, sage ich nur.
„Wir müssen zurück. Es wartet viel Arbeit auf mich.“
Nickend laufe ich zu meinem Rad. Die Rückfahrt ist schnell geschafft, weil es vorwiegend bergab geht. Am Hotel verabschiedet er sich von mir, wir werden uns erst zum Abendbrot wiedersehen. Nach einer ausgiebigen Dusche begebe ich mich auf Erkundungstour durch das Hotel. Vorsichtig spähe ich überall hinein, ernte dafür mal fragende und mal genervte Blicke. Als ich den Sportraum entdecke, tippt mir jemand auf die Schulter.
„Hey, ich bin Charlotte. Du musst Amy sein. Schön dich kennenzulernen.“
Sie hält mir bereits ihre Hand entgegen, die ich zögerlich nehme.
„Willst du mitmachen? Gleich kommen ein paar Gäste zu einem Workout.“
Eigentlich bin ich noch vom Fahrradfahren alle, aber ich will nicht kneifen.
„Klar, warum nicht.“
Diese Entscheidung bereue ich bereits nach wenigen Minuten. Mein Bauch brennt wie Feuer und meine Arme und Beine fühlen sich wie Wackelpudding an. Mit aller Willenskraft kämpfe ich mich durch die dreißig Minuten. Zum Schluss bleibe ich einfach auf der Matte liegen. Charlotte hockt sich zur mir und grinst.
„Du hast dich wacker geschlagen. Machst wohl zu Hause nicht viel?“
„Morgen werde ich keinen Schritt gehen können. Nein, ich bin ein Sportbanause.“
„Los komm mit. Wir gehen in die Sauna. Das lockert deine Muskeln und du bist morgen fit wie ein Turnschuh.“
Lachend zieht sie mich hoch und läuft voraus. Als ich ihr nicht folge, bleibt sie stehen und sieht mich fragend an.
„Ich war noch nie in einer Sauna. Ist man da nicht nackt?“
Charlotte kichert.
„Klar, aber nur wir zwei. Für die Gäste ist die Sauna erst ab 16 Uhr geöffnet. Mach dir keinen Kopf, ich guck dir schon nichts weg.“
Ein weiteres Mal lasse ich mich überreden und sitze nur wenig später mächtig schwitzend mit wahrscheinlich hoch rotem Kopf auf einem Handtuch. Verlegen schaue ich auf meine Füße, weil ich noch nie nackt mit fremden Menschen zusammen war.
„Du brauchst dich nicht zu verstecken. Hätte ich nicht gedacht, dass unter diesem Pulli so ein heißer Feger sitzt“, höre ich sie irgendwann kichern.
Was? Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich sie an. Doch weil Charlotte nur lacht, stimme ich mit ein. Das alles ist verrückt. Gestern war ich noch völlig traurig in Erfurt und jetzt sitze ich in Garmisch mit einem fremden Mädchen in einer Sauna. Mit beiden Händen reibe ich über mein Gesicht und schiebe mir meine Haare komplett nach hinten.
„Wie lange bleibst du?“
Wir sehen uns an. Charlotte wirkt absolut sympathisch.
„Sechs Wochen. Bei uns sind gerade Sommerferien, danach steht das Abi an.“
„Dann sehen wir uns jetzt wohl öfter. Darf ich dir was sagen?“
„Klar“, antworte ich arglos.
Lange werde ich es hier drinnen nicht mehr aushalten. Ich fühle meinen Puls bereits.
„Du siehst viel hübscher aus, wenn dir die Haare nicht so ins Gesicht fallen. Entschuldige, wenn ich das sage, aber du musst unbedingt deinen Friseur wechseln“, witzelt sie.
„Meine Mutter ist mein Friseur.“
Mehr will ich nicht preisgeben, das geht niemanden etwas an.
„Und warum hast du nicht selbst ein bisschen geschaut, was dir steht?“, hakt sie nach.
Ihre Augen sehen kein bisschen arrogant aus. Überhaupt ist Charlotte total nett. Sie hat einen fechen Haarschnitt, der gut zu ihren braunen Locken passt. Ich zucke mit den Schultern. Irgendwie wollte ich nichts verändern, keine Ahnung warum. Sie rutscht zu mir auf und nimmt meine Haare nun ganz nach hinten. Anschließend klaut sie mir auch die Brille.
„Weißt du, dass du richtig hübsch bist? Nur diese Brille und der Haarschnitt sind furchtbar. Ich werde mal mit deinem Vater reden müssen.“
„Hör auf!“, sage ich lauter, als beabsichtigt.
Sie hat kein Recht sich einzumischen. Ist das heute einer dieser Tage, wo ich besonders hässlich bin? Und jeder dem ich begegne reibt es mir unter die Nase?
„Vielleicht will ich gar nicht schön sein? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Ich bin nicht einer deiner Gäste, die du verwandeln sollst. Du kennst mich überhaupt nicht.“
Und schon erschließt sich ein neuer Tiefpunkt. Warum sollte es auch anders sein.
„Okay, okay, ist ja schon gut.“
Charlotte schaut mich verstohlen an und will etwas sagen, doch aus irgendeinem Grund schließt sie ihren Mund wieder. Wahrscheinlich hält sie es nicht aus, denn keine Minute später sagt sie:
„Hat dich schon ein Junge geküsst oder hat sich einer nach dir umgedreht, von dem du dachtest, Mensch, der ist aber süß?“
Erst stiere ich sie an, aber dann schüttele ich meinen Kopf. Das ist gemein. Diese verfluchte Sinnlosflüssigkeit müsste doch endlich mal alle sein. Tränen fluten meine Augen, hart kämpfe ich dagegen an. Charlotte nimmt vorsichtig meine Hände.
„Amy, ich wollte dir auf keinen Fall zu nahetreten. Wenn du dich gut fühlst und dein Leben schön ist, vergiss meine Worte. Aber falls nicht, denke darüber nach. Warum willst du dich schlechter machen als du bist? Du bist jung und solltest Spaß haben. Ich würde jedenfalls alles aus mir rausholen, was geht. Also falls du es dir überlegst, wir haben hier sogar einen hauseigenen Friseur und ich stelle ihn dir gerne vor. Jetzt aber raus mit uns, sonst kriegen wir einen Herzkasper.“
Eilig verlassen wir die Dampfsauna und laufen nach einer kurzen Dusche in das Becken mit dem Eiswasser. Es ist der Wahnsinn, das kalte Wasser entlockt mir ein Keuchen.
„Wow ist das kalt!“, schreie ich gleich noch einmal.
Aber trotzdem ist es herrlich. Meine ganze Haut prickelt, als ich mich anschließend abtrockne. Am Ende fühle ich mich körperlich deutlich besser, aber mein Kopf tickt. Ich denke über Charlottes Äußerungen nach und bin hin und her gerissen.
Eine Woche später sitze ich wieder einmal auf einem Fahrrad und radele energisch den Anstieg hinauf. Charlotte ist mit mir und ein paar anderen unterwegs. Die Sonne wird gerade von ein paar Wolken verdeckt, wofür ich sehr dankbar bin. Der Schweiß tropft mir von der Stirn, aber ich kämpfe mich vorwärts. Ich will nicht schon wieder absteigen und schieben. Es sind noch etwa fünfzig Meter. Diese Strecke bin ich schon zweimal gefahren, doch bisher habe ich es nie geschafft. Meine Kondition hat sich in den paar Tagen schon deutlich verbessert. Ich schaffe 10 Liegestütze und 30 Sit ups am Stück und laufe jeden Abend noch etwa dreißig Minuten. Meine Hosen hängen noch mehr an mir herum, deshalb will mein Dad morgen mit mir in die Stadt gehen. Er sagt, ich kann so nicht mehr herumlaufen.
Ächzend halte ich bei den anderen an, bekomme für einen Augenblick keine Luft mehr. Als ich aufblicke, erkenne ich ein überdimensional großes Grinsen in Charlottes Gesicht. Voller Stolz schaue ich ins Tal. Die Zeit hier ist toll, ich bin so glücklich wie lange nicht mehr. Kein Tag ist wie der andere, leider vergehen sie im Nu.
„Du bist heute über dich hinausgewachsen“, sagt Charlotte etwas später, als sie mein Fahrrad in den Keller schiebt.
„Ja es wird langsam. Wenn nicht dieser innere Schweinehund jeden Tag wieder da wäre...“
Wir lachen.
„Ja den kenne sogar ich. Morgen steht eine Wanderung an, aber mindestens zwei Stunden bergauf. Der Ausblick auf dem Berg belohnt die Mühe. Besprich es mit dem Schweinehund und gib mir Bescheid.“
Erneut lachen wir, ich winke und laufe gedankenversunken in unser Apartment zurück. Seit ich hier bin, esse ich total anders. Abends gibt es nur Salat mit Fisch oder Fleisch. Mittags esse ich meistens eine Suppe, auch, weil es so warm ist und ich kaum Hunger habe. Nur morgens haue ich richtig rein. Ich hätte nie gedacht, dass solche kleinen Veränderungen so große Auswirkungen auf meine Seele, auf mein ganzes Sein haben würden. Ich fühle mich ausgeglichen, verschwende kaum einen Gedanken an meine Mutter und mein trostloses Dasein in Erfurt.
Am späten Nachmittag schlendere ich von einem Spaziergang noch ein Stückchen weiter Richtung Stadt. Die Luft ist warm und weich, weshalb ich immer wieder meine Augen schließe. Musik mischt sich dazu, was mich neugierig macht. Ich erkenne einen kleinen Park rechts von mir. Ein breiter Sandweg führt hinein, auf welchem bereits eine Vielzahl von Passanten unterwegs sind. Erwartungsvoll schließe ich mich diesem regen Treiben an, werde von der lauter werdenden Musik wie magisch angezogen. Nach wenigen hundert Metern eröffnet sich eine kleine Bühne mit einem Platz davor. Ziemlich überrascht überfliege ich die doch beachtliche Menschenansammlung. Es ist mitten am Nachmittag. Gerne würde ich weiter zur Bühne vordringen, aber es erscheint mir zu voll. Daher lehne ich mich an eine große Buche und schaue der Band zu. Kurz darauf bricht großer Jubel aus, eine Gruppe neuer junger Leute übernimmt die Show. Aus irgendeinem Grund treibt es mich vorwärts. Ein junges Mädchen mit blauen Haaren singt einen aktuellen Hit, drei Kerle an Gitarren und am Schlagzeug begleiten sie. Die Stimmung im Publikum ist viel ausgelassener als noch vor wenigen Minuten. Nach dem ersten Song tritt einer der Gitarristen ans Mikrofon. Bereits nach den ersten Tönen weiß ich, welcher Song jetzt folgt. Bruno Mars ist mein absoluter Lieblingssänger, gespannt lausche ich den ersten Tönen von „Grenade“. Überrascht heften sich meine Augen auf den Sänger. Gänsehaut zieht meinen Nacken hinauf. Der Typ am Mikrofon singt mit geschlossenen Augen, rau und einzigartig dringt seine Stimme durch die Lautsprecher. Es ist unglaublich. Wie hypnotisiert arbeite ich mich Schritt für Schritt in die Mitte vor. Mein Blick saugt jede Sekunde auf, um keinen Moment zu verpassen. Er singt mit unglaublicher Hingabe, holt mich komplett ab. Dass jemand anderes als Bruno Mars dies schaffen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Seine Augen sind immer noch geschlossen. Blonde Strähnen schauen unter dem Rand eines verrückten Hutes hervor. Wie ferngesteuert halte ich erst an, als ich mich direkt vor der Bühne befinde. Sein Gesicht wirkt abwesend, als würde er völlig in der Musik abtauchen. Ich kenne dieses Gefühl, wenn alles um einen herum verschwindet, unwichtig wird. Berauscht höre ich alle applaudieren, vergesse dabei mit einzustimmen. Ich kann ihn nur anstarren, nur hoffen, dass es noch nicht vorbei ist. Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, er sagt etwas. Anschließend tritt er wieder näher an das Mikrofon, nimmt es aus dem Ständer und setzt sich vorne an den Bühnenrand. Seine Gitarre hängt nur lose auf seinem Rücken. Seine gesamte Art und Ausstrahlung wirken so selbstsicher, dass es mich umhaut. Ein weiterer Song beginnt, ich schlucke, schließe meine Augen, weil es absolut fantastisch klingt. Ich liebe dieses Lied. Völlig in mich versunken singe ich jedes einzelne Wort, jede einzelne Zeile mit. Erst beim Refrain „Talking to the moon“ hebe ich meinen Blick. Der Typ scheint mich direkt anzuschauen, was mir just Hitze in meinen Wangen schickt. Für einen Moment bin ich wie versteinert, kann mich nicht bewegen. Vorsichtig schaue ich nach rechts und links, aber auch als ich wieder zur Bühne blicke, liegen seine Augen auf mir. Unsicher weiche ich nach hinten, wo ich jemandem auf die Füße trete.
„´Tschuldigung“, murmele ich voller Verunsicherung.
Meine Augen wandern zurück zu diesem Jungen, der zu meiner Erleichterung seine Aufmerksamkeit in den Himmel richtet. Gefesselt lausche ich seiner rauchigen Stimme, kann mir nichts Schöneres vorstellen. Ich schwebe irgendwo, bin benommen und abwesend. Irgendwann ist dieses Lied zu Ende, so wie jedes Lied einmal endet. Ein tiefer Seufzer arbeitet sich aus meiner Kehle hoch. Es war so einzigartig, so besonders. Versonnen beobachte ich, wie er nach hinten zu seinen übrigen Bandmitgliedern verschwindet und die Blauhaarige am Mikrofon erscheint.