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Johanna möchte so gerne in die Welt hinaus, doch leider hängt sie auch nach dem Abitur in ihrer Heimatstadt Ulm fest. Sie ist gefrustet von ihrem langweiligen Dasein und hadert mit ihrem Schicksal, dass sie aufgrund der wenigen Geldmittel nicht die gleichen Chancen wie andere hat. Eine verrückte Begegnung beim Joggen durchbricht das tägliche Einerlei. Tom wäre genau ihr Typ, allerdings sucht dieser nach seinem Sommerflirt. Es wäre auch zu schön gewesen. Trotzdem will es das Schicksal, dass sie sich immer wieder über den Weg laufen und Freunde werden. Dann kommt es auf der Campusparty zu einem verhängnisvollen Kuss, der alles auf den Kopf stellt ...
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Der beste Tag der Welt
von Emma Winter
Impressum
Kerstin Walther
Lengberg 4, 98529 Suhl
Cover © EmmaWinter2021
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Johanna
In mir summt alles, es ist so wunderschön und ich merke erst jetzt, mit jedem Schritt, wie sehr ich es vermisst habe. Keuchend erklimme ich den schmalen Pfad, die Luft ist noch kühl und feucht, riecht irgendwie noch nach dem Regen von gestern Abend. Gibt es etwas Schöneres? Wieso habe ich damit aufgehört? Der Weg vor mir wird wieder breiter, ein typischer Waldweg mit dem Strich Rasen in der Mitte. Ich springe übermütig über eine große Pfütze, lache, weil mein linker Fuß doch voll reinpatscht. Das wäre mir vor ein paar Wochen nicht passiert. Meine Kondition ist dahin, eine Opfergabe an den Abistress. Mir war einfach alles zu viel. Meine Augen erblicken die aufgehende Sonne links durch die Bäume, es glitzert wie Diamanten. Es ist so stimmig, dass ich anhalte, schnaufend in die Richtung starre und nicht verhindern kann, dass sich etwas Breiiges meine Kehle hochschiebt. Der ganze Stress, der ganze Druck. Die Prüfungen sind schon ein paar Wochen her, vor zwei Tagen war Abiturball. Eigentlich müsste ich in der Lage sein, endlich wieder frei zu atmen, aber irgendwie will die Anspannung nicht von mir abfallen. Bevor ich völlig außer Kontrolle gerate, wende ich mich wieder dem Weg zu und laufe los, drücke meine Emotionen wieder schön in den Bauch runter. Das kann ich gut. Alles schön schlucken, niemandem zeigen, wie es wirklich in mir aussieht. Ich habe keine Ahnung, ob ich das durchhalte. Ich habe auch keine Ahnung, ob es gut für mich ist. Ich weiß nur, dass es funktioniert. Niemand interessiert sich letztlich für meinen Scheiß. Meine monotonen Schritte hinterlassen ein dumpfes Knirschen auf dem sandigen Weg, was mich nach und nach runterholt. Es ist wirklich gut, dass ich wieder laufe. Heute war es eine Kurzschlussreaktion, weil ich immer noch nicht weiß, für welches Studium ich mich bewerben soll. Ich musste einfach raus, habe es im Bett mit den grübelnden Gedanken nicht mehr ausgehalten. Wieso ist das so schwer? Alle meine Freunde wissen, welche Fachrichtung sie belegen wollen. Wieso habe nur ich keinen Plan? Das ist echt frustrierend. Seit Tagen blättere ich im Studienführer oder drangsaliere meinen Computer. Vieles klingt gut, aber ist es das Richtige? Für immer? Ich meine, mindestens vierzig Jahre ist es dann nur noch das eine. Tag ein, Tag aus. Sollte ich mir da nicht sicherer sein und es zu einhundert Prozent wollen? Gleichmäßig geht meine Atmung, der Weg gabelt sich, ich halte mich rechts. Versunken in den kreisenden Gedanken in meinem Kopf nehme ich kaum etwas wahr. Der nächste Gedanke hockt seit Stunden in meinem Hirn fest und treibt mir die fiesesten Gefühle in mein Herz. Alex. Meine angeblich beste Freundin. Nein, es sind nicht nur fiese Gefühle, sie kotzt mich sogar richtig an. Seit Sonntag, um genau zu sein. Seit ihrem fuck Anruf, den ich dummerweise entgegengenommen habe.
„Hey Hannalein, der Abschied naht. Ich bin so happy …“
Blablabla … Ich kann ihre schrille, sich vor Begeisterung überschlagende Stimme immer noch hören. Und das will eine beste Freundin sein?“
„Bitch“, entschlüpft mir keuchend.
Doch hier kann alles raus, hier hört mich keiner. Endlich kann ich es herausschreien. Sie widert mich nur noch an. Hanna hat ihren Zweck erfüllt, Hanna kann sehen, wo sie bleibt. Aber was habe ich erwartet? Ich horche in mich hinein, doch da kommt nichts. Nur Leere, weil ich tief in mir schon immer wusste, dass alles nur Schein war. Doch tut man nicht alles um dazuzugehören? Mit den beliebtesten, coolsten what ever abzuhängen? Ein bisschen wie sie zu sein? Eigentlich müsste ich mich schämen, aber das Gefühl bleibt aus. Meine Augen nehmen eine weitere Gabelung wahr. Diesmal gehen drei Wege ab. Automatisch verlangsame ich das Tempo, mein Blick wandert prüfend über die Bäume, die kleine Bank mit dem Wegweiser. Leider steht nichts darauf und ich kann mich nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein. Meine Hand sucht automatisch mein Handy, zieht es aus der Jackentasche. Ohne Navigation bin ich aufgeschmissen. Mein Orientierungssinn ist hundsmiserabel. Kein Empfang. Shit! Typisch oder?
„Wäre ja auch mal echt cool gewesen, wenn etwas glatt laufen würde“, knurre ich vor mich hin und sehe mich dabei suchend um. Und nun? Ich sehe nach links. Die ganzen letzten Male bin ich rechts abgebogen. Demnach wäre links die bessere Wahl. Der Weg sieht auch cool aus. Viel Wiese mit Lärchen und Fichten. Irgendwie idyllisch. Also laufe ich los. Ich bin seit über einer Stunde unterwegs, so langsam sollte ich den Rückweg finden. Immer wieder schaue ich auf mein Handy. Nichts. Wahrscheinlich ein Funkloch. Auch die nächste Viertelstunde kommt kein Wegweiser oder Hinweisschild. Nur unzählige Gabelungen, an denen ich mich entscheiden muss. Es kommt mir vor, als würde das Leben mir meine Unentschlossenheit vorwerfen.
„Ich glaub´s nicht“, sage ich laut, stütze mich auf meinen Oberschenkeln ab und lache frustriert auf.
Kopfschüttelnd biege ich noch einmal links ab. Laufe ich im Kreis? Gerade, als ich mir anfange Sorgen zu machen, sehe ich am Ende des Waldweges eine Straße. Die Erleichterung treibt mich zu einer schnelleren Geschwindigkeit an. Keuchend erreiche ich den Asphalt, bleibe mit hängenden Schultern stehen. Der Waldweg endet hier gänzlich, ist das zu fassen? Während ich versuche zu Atem zu kommen, schaue ich mich nach allen Seiten um. Unweit zeichnet sich ein Parkplatz ab. Ganz langsam laufe ich in diese Richtung. Meine schnaufende Atmung durchbricht die natürliche Stille. Ich höre nur noch Vogelgezwitscher und den Wind. Eigentlich genau richtig, doch gegenwärtig wünsche ich mir, es wäre anders. Noch einmal sehe ich auf mein Handy. Fuck! Langsam ist es zum Heulen. Etwas verzweifelt strebe ich auf die Bank mit den zwei Sitzreihen zu. Kein Auto, kein Nichts. Es ist Sonntagmorgen, gerade mal acht Uhr. Meine Augen schweifen abermals in alle Richtungen, dann sinke ich für ein paar Augenblicke auf diese Bank. Stütze meinen Kopf in die Hände und versuche ruhig zu bleiben. Als ich die Augen wieder öffne, starre ich auf den übervollen Mülleimer. Unzählige Flaschen und Dosen liegen daneben. Hier scheint nicht einmal die Müllabfuhr Halt zu machen. Ich lache, aber es klingt etwas hysterisch. Dabei ist der Morgen wunderschön. Die Sonne erwärmt die Luft, weshalb überall Nebelschwaden über den Wiesen hängen. Ein kleiner Spatz landet auf dem Rand des Mülleimers, bewegt sein Köpfchen, hüpft prüfend herum. Dieser Anblick ist niedlich, ich muss automatisch lächeln. So ein mutiges Kerlchen. Dann höre ich sie. Typische Motorradgeräusche. Ich könnte schnell an die Straße laufen. Doch in diesen Gedanken hinein sehe ich es schon vorbeirasen. Ein geiles, rotes Motorrad. Wow! Das war cool. Ich habe auch einen Führerschein, aber traue mich nicht, weil ich das Moped meines Kumpels in einen Graben versenkt habe. Das war gleich nach der Prüfung. Weder mir noch dem Teil ist etwas passiert, aber seitdem habe ich es gelassen. Manche Dinge sollen vielleicht nicht sein. Noch einmal Motorradgeräusche, aber aus der anderen Richtung. Diesmal bremst es vor dem Parkplatz und biegt ganz langsam ein. Es scheint das Gleiche wie eben zu sein. Auch rot. Der Fahrer steckt von Kopf bis Fuß in schwarzen Klamotten. Der Helm hat diese geile mattschwarze Farbe, die ist momentan total angesagt. So einen hätte ich auch gerne. Etwa zehn Meter entfernt kommt das Motorrad zum Stehen. Wahrscheinlich stimmt etwas nicht, denn der Fahrer steigt ab und hockt sich seitlich daneben. Ich überlege. Dann geht ein Ruck durch mich hindurch, ich nähere mich mit langsamen Schritten.
„Hey.“
Die schwarze Gestalt blickt überrascht auf. Stahlblaue Augen liegen ernst auf mir. Dieser Blick ist so genial, dass ich schlucke. Nach einer gefühlten peinlichen Stille strenge ich mich an.
„Weißt du zufällig, wo wir hier sind? Ich …“
Ich atme tief durch.
„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo ich bin.“
Die Gestalt erhebt sich. Eindeutig ein Typ. Er nimmt den Helm ab, entblößt dabei eine Flut blonder, langer Haare. Anschließend erreicht mich sein Grinsen durch den ganzen Wirrwarr. Er legt den Helm auf den gepflasterten Weg und geht sich mehrfach durch die Haare. Geschickt bindet er sie im Nacken zusammen. Die Seiten sind kurzgeschoren. Auch das ist im Moment total angesagt. Als er mich wieder ansieht, stehe ich komplett neben mir. Kann mich mal jemand zwicken? Mein Traummann steht vor mir, lächelt mich amüsiert an und legt den Kopf zur Seite. Ich bin absolut geflasht, starre ihn wie eine kleine Göre an. Als ich es bemerke, sehe ich zur Seite.
„Hat dich jemand entführt?“, fragt er.
Als ich ihn wieder anschaue, steht immer noch dieses überdimensionale Grinsen in seinem Gesicht. Er ist um die zwanzig.
„Nein!“, lache ich, weil er mich antippt, um mich aus meiner Erstarrung zu befreien.
Geht es noch peinlicher? Ich reibe über mein Gesicht, schüttele immer noch lachend den Kopf. Danach zeige ich einfach auf meine Klamotten. Der Typ scheint sich köstlich zu amüsieren.
„Du hättest Brotkrümel streuen sollen.“
Brotkrümel?
„Wie Gretel. Nur so hat sie den Weg nach Hause zurückgefunden.“
Will er mich verarschen? Ich kann mir bildlich vorstellen, wie dämlich ich gerade aussehe. Der Typ lacht ausgelassen, hockt sich wieder vor sein Motorrad.
„Kannst du mir nicht einfach sagen, wie ich nach Ulm zurückfinde?“, frage ich unsicher.
Er schaut von unten auf.
„Echt jetzt? So weit?“
Seine Augen wandern abschätzend über meine Gestalt. Ich werde dabei rot bis zu den Zehenspitzen. Was für ein Typ!
„Immer geradeaus. Aber das letzte Straßenschild zeigte etwa 30 Kilometer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich willst.“
Was? Okay, die Straße führt mit Sicherheit außen herum, ich will ja nicht bis ins Zentrum, sondern nur in die Vorstadt.
„Wow. Das klingt übel. Du hast nicht zufällig den gleichen Weg?“
Es rutscht mir einfach heraus.
„Ja dann. Danke.“
Ich will bereits gehen, als seine Stimme mich ihn wieder anblicken lässt.
„Kein Problem. Ich muss nur den Vergaser prüfen. Irgendetwas klingt komisch. Hast du zufällig etwas zu trinken?“
Ich schultere diesen winzigen Laufrucksack ab und reiche ihm meine halbvolle Wasserflasche. Er schraubt den Saugdeckel ab und nimmt ein paar Schlucke. Mich erstaunt das doch, weil keiner meiner Freunde aus dieser „verseuchten“ Flasche trinken würde. Die sind viel zu spießig.
„Danke. Wollen wir uns kurz setzen?“
Nickend laufe ich zu der Bank zurück. Der Typ folgt mir und rutscht in einigem Abstand neben mich.
„Ist echt schön hier.“
„Bist du aus Ulm?“, frage ich neugierig.
Er grinst, sieht mich von der Seite aus an.
„Nein. Ich wollte mir mal die Uni anschauen und wie die Gegend so ist.“
Meine Augen forschen in seinem markanten Gesicht. Er hat ausgeprägte Wangenknochen, ziemlich männlich. Irgendwie könnte er als Filmstar durchgehen. Blond, blauäugig … Natürlich stehe ich ausgerechnet auch auf blond und auf diese neue Modefrisur sowieso. Verlegen schaue ich auf die Landschaft geradeaus. Neben diesem Typ sehe ich sicherlich furchtbar aus. Hochrotes Gesicht, verklebte Haare, die ich in aller Eile nur zu einem Zopf zusammengerafft habe. Konnte ja nicht wissen, dass ich so einem geilen Typ begegnen würde. Für eine Weile schweigen wir, dann kann ich wieder einmal meine Neugier nicht zügeln.
„Gibt es dafür einen Grund? Ich meine, Ulm?“
Er grinst.
„Ich bin übrigens Tom.“
„Johanna.“
Wir reichen uns die Hände. Seine ist total stark und warm. Ein angenehmes Kribbeln breitet sich in mir aus. Seine Berührung, sein Blick, ich fühle mich wie eine aus diesen Highschool Filmen.
„Also? Was treibt dich her?“, grinse ich ihn an.
Tom schüttelt lachend den Kopf.
„Du bist wohl eine von denen, die nicht nachgeben.“
Er grinst breit.
„Ich wollte mir nur die Stadt anschauen. Ob sie was für mich wäre. Die Uni hier bietet viele Möglichkeiten.“
„Du bist auch mit dem Abi fertig? Ich hätte dich älter geschätzt“, platzt es aus mir heraus.
Erst denken, dann reden. Immer bin ich zu voreilig. Ich könnte mir auf die Zunge beißen. Doch Tom lacht schon wieder, reibt anschließend seine Hände über das Gesicht.
„Nein. Ich studiere bereits seit drei Jahren. Ingenieurwissenschaften in Halle.“
„Wie kommst du dann auf Ulm?“
Doch ich schüttele sofort meinen Kopf.
„Entschuldige, ich kann meine Klappe nicht halten.“
Tom mustert mich, ich finde ihn total smart und süß. Vor allem sein Lächeln, das sich gerade in seinem Gesicht ausbreitet. Seine Augen verlassen meine, wandern zu seinem Motorrad.
„Es ist totaler Schwachsinn, also frag nicht weiter nach. Manchmal tut man einfach bescheuerte Dinge.“
Toll! Macht er das mit Absicht? Nun bin ich neugieriger als zuvor. Unsere Augen treffen sich, ich knabbere an meiner Unterlippe, weil ich es kaum aushalte. Seine Mundwinkel wandern nach oben und um seine Augen legt sich ein amüsiertes Grinsen.
„Du platzt gleich oder? Eigentlich ist egal, was ich sage, Hauptsache ich erzähle dir irgendetwas.“
„Das stimmt nicht. Nur …“
Ich zucke mit den Schultern.
„Du hättest nicht so eine interessante Bemerkung machen sollen. Dabei wird jedes Mädchen neugierig. Komm, ich habe mein Wasser mit dir geteilt. Erzähl es mir, bitte …“
Wir lachen beide über meinen bettelnden Tonfall.
„Ich habe keine Ahnung, warum ich mit dir darüber spreche.“
Tom reibt noch einmal über sein Gesicht und lächelt anschließend vor sich hin. Dann dreht er seinen Kopf in meine Richtung. Sein Lächeln ist so wahnsinnig charmant, dass ich innerlich dahinschmelze. Was für ein Typ!
„Letzten Sommer habe ich auf Mallorca ein Mädchen kennengelernt. Nicole. Sie kommt aus Ulm. Vor einem halben Jahr hat sie aufgehört, auf meine Nachrichten zu antworten.“
„Du kannst sie nicht vergessen?“
Mein Mund steht vor Staunen leicht offen, unsere Augen treffen sich. Unmerklich nickt Tom. Er wirkt jetzt ein bisschen unsicher, löst den Knoten aus seinen Haaren und geht mehrfach mit den Fingern durch. Anschließend bindet er sie wieder zu diesem kleinen Knoten am Hinterkopf.
„Bescheuert nicht?“
Ich grinse und ziehe meine Knie an.
„Ich finde das total süß“, sage ich mit einem warmen Blick.
Er lächelt, schüttelt den Kopf.
„Ja genau. Total süß. Und idiotisch, hirnverbrannt, aber vor allem sinnlos. Egal. Ich muss es tun. Sei es nur deshalb, um damit abzuschließen.“
Er erhebt sich, geht zu seinem Motorrad zurück. Schade. Tom bückt sich und fummelt eine Weile an dem geilen, roten Ding herum. Dann blickt er in meine Richtung. Er winkt. Zögerlich stelle ich meine Beine ab und laufe langsam zu ihm. Er schmiert sich seine Hände an einem Lappen ab, danach richtet er sich auf. Er ist viel größer, so direkt vor mir. Mindestens einen Kopf.
„Ich denke das wars. Wir könnten los. Ich habe aber keinen zweiten Helm.“
„Fahr einfach nicht so schnell. Ich muss auch gar nicht nach Ulm rein, wahrscheinlich nur etwa 15 Kilometer. Ich sage dir Bescheid, wenn ich wieder weiß, wo ich mich in diesem Universum befinde.“
Wir grinsen uns an.
Meine Arme um ihn geschlungen liegt mein Kopf an seinem Rücken. Es ist so geil. Nicht nur das Motorrad fahren, auch Tom. Ich genieße jeden Augenblick. Wir fahren schätzungsweise nicht schneller als 60 km/h. Total alleine auf dieser Landstraße. Als hätte ich diesen Ausflug gepachtet. Glücklich öffne ich die Augen, sehe die Bäume, die kleinen Hügel. Etwas weiter wirkt plötzlich alles vertrauter, ich klopfe Tom auf den Rücken und deute auf einen Feldweg etwa 50 Meter weiter. Ab hier kenne ich meinen Weg. Leider.
Viel zu schnell ist diese geile Fahrt zu Ende. Tom hält das Motorrad an, stellt seine Beine ab und schaltet es aus. Ich steige ab, bedauernd, leise seufzend. Das wars also. Ce la vie. Erstaunlicherweise setzt Tom seinen Helm ab, steigt ebenfalls von seiner Karre.
„Ja dann“, sage ich leise und presse für einen Moment meine Lippen zusammen.
Seine Haare fallen ihm fast komplett ins Gesicht, ich erkenne seinen Blick, träume eine Sekunde von einem heißen Kuss. Doch anstelle dessen streift er mit einer Hand komplett die ganze Pracht nach hinten und sieht mich lächelnd an.
„War schön. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“
„Ja vielleicht in Ulm. Viel Glück.“
Er blickt auf mich herab, dann kommt er mir unerwartet entgegen und küsst meine rechte Wange. Ein ganzes Feuerwerk zündet mit einmal, ich vergesse kurz zu atmen. Passiert das wirklich? Als ich die Augen wieder aufschlage, sitzt er bereits wieder auf seinem Motorrad. Er dreht laut auf, dreht noch einmal seinen Kopf. Seine Augen blitzen mich an. Dann rauscht er davon. Wie hypnotisiert starre ich ihm nach, auch noch, nachdem das Motorrad mit ihm längst verschwunden ist. Erst, als ich die Motorradgeräusche gar nicht mehr hören kann, seufze ich tief. Schade. Ich laufe Richtung Wald, erkenne die Kreuzung, an der ich immer abbiege. Automatisch steige ich in mein Lauftempo ein, schätzungsweise sind es noch 5 Kilometer. Tom, was für ein schöner Name.
Als ich aufschließe, kommt mir meine Mutter bereits entgegen.
„Na endlich. Mensch Hanna, wo warst du denn so lange?“
Ich ziehe meine Schuhe aus und schaue sie wieder an.
„Bin irgendwo falsch abgebogen. Dann hatte ich keinen Empfang und wusste nicht wohin. Scheiß Funkloch. Der Weg endete an einer Landstraße. Wäre nicht ein Motoradfahrer vorbeigekommen, müsstest du dir noch länger Sorgen machen.“
„Du bist bei einem Fremden aufgestiegen?“
Ich schiebe mich an ihr vorbei, lasse mir ein Glas voll Wasser laufen. Meine Mutter blickt mich fassungslos an.
„Mensch Mama. Ich bin 18. Sonst hättest du dir noch viel länger Sorgen gemacht.“
„Ich weiß, dass du 18 bist. Seitdem reibst du es mir ständig unter die Nase. Hast du dich wegen der Uni gekümmert?“
Völlig kaputt lasse ich mich auf einen der weißen Küchenstühle fallen. Es riecht lecker nach Gulasch.
„Wann gibt’s Mittag?“
Nach einem Blick in das ernste Gesicht meiner Mutter stöhne ich.
„Montag fahre ich noch mal rein. Kann ich nicht doch lieber nach Berlin oder München? Auch Leipzig soll total schön für Studenten sein.“
Meine Mutter sinkt auf den Stuhl neben mich und nimmt meine Hand.
„Hannalein. Das hatten wir doch schon. Wie sollen wir das schaffen? So sparen wir die Miete. Du lernst mit Sicherheit auch hier viele nette, neue Leute kennen.“
Unsere Augen treffen sich, dann starre ich zurück auf mein Glas.
„Jaja“, gebe ich grummelnd von mir.
„Jetzt sei nicht so. Ich würde es dir doch gerne ermöglichen. Aber …“
Ihr Seufzen klingt resignierend.
„Studiere, dann kannst du deinem Kind später mal mehr bieten. Dafür war ich eben zu doof.“
„Mensch Mama! Hör auf. Ich weiß doch, dass du alles tust, was möglich ist. Aber versteh mich doch. Alexandra und die anderen fahren nächste Woche nach Mallorca. Ich sitze zur gleichen Zeit an einer Kasse im Lebensmittelmarkt, auf Abschlussfahrt war ich auch nicht und ... Das ist so ungerecht. Ich will auch mal raus!“
Mama schaut mich nur an. Dann erhebt sie sich und sieht nach dem Essen. Ihr Schweigen ist erdrückend. Scheiße! Ich trete hinter sie, lege meine Arme um ihre Taille und schmiege meinen Kopf an ihren Rücken.
„Es tut mir ja auch leid. Aber mehr ist eben nicht drin. Mach deinen Bafög-Antrag fertig. Vielleicht bekommst du mehr, als wir denken und es reicht für eine andere Stadt.“
Mein schlechtes Gewissen regt sich. Seit Dad verunglückt ist, fehlt es hinten und vorne. Die Witwenrente ist lächerlich. Davon kann man weder die Miete noch den Unterhalt für das Auto bezahlen. Wir hechten uns von Monat zu Monat. Ich weiß, wie sehr Mama unter meinem Weggang leiden würde.
„Ist schon gut. Manchmal kommt eben alles hoch. Ich schau mir morgen alles an. Ich schwanke noch zwischen Betriebswirtschaft oder Lehramt. Was meinst du?“
Während ich mich zurück auf meinen Stuhl setze, sehe ich meine Mutter mit den Schultern zucken.
„Lehrer ist ein schöner Beruf, aber in der heutigen Zeit? Manche Lehrer haben sogar Angst vor ihren Schülern, vor allem in Großstädten. Ich kann dir nicht wirklich zuraten.“
Ja, das ist übel. So selbstbewusst bin ich auch nicht und als Frau ist es noch einmal schwieriger. Meine Lieblingsfächer wären Sport, Physik und Mathe. Ich hatte überall 14 oder 15 Punkte.
„Warum studierst du nicht Physik? Die nehmen Mädchen mit Kusshand.“
„Aber das soll echt schwer sein. Ich habe Schiss, dass ich es nicht packe.“
„Probiere es doch. Du kannst doch immer noch umschwenken. Heutzutage wechselt doch fast jeder noch einmal die Richtung.“
„Aber dann verliere ich Zeit und liege dir noch länger auf der Tasche!“
Meine Mutter zieht mich hoch und umarmt mich.
„Was ist schon ein Jahr? Sieh, wie schnell die Zeit vergeht, wie groß und erwachsen du geworden bist. Haben wir bis jetzt nicht alles geschafft? Probiere, was du willst und wenn es zehn Jahre dauert. Aber jetzt solltest du wirklich duschen. Du müffelst.“
Wir lachen. Was? Ich denke automatisch an Tom. Oh mein Gott! Dann habe ich vorhin auch schon gemüffelt. Wie peinlich ist das denn. Ausgerechnet!
„Mama? Ich geh noch mal zu Christian“, schreie ich laut im Flur.
Nichts. Seufzend laufe ich die drei Schritte bis zum Wohnzimmer und spähe durch die Tür. Der Fernseher spukt leise Volksmusik aus. Meine Mutter schläft im Sitzen. Dieses Bild ist so friedlich, dass ein warmes Lächeln in mein Gesicht zieht. Ich schleiche zu ihr, lege die braune Kuscheldecke über sie und entkomme auf Zehenspitzen, um sie nicht zu wecken. Draußen regnet es volle Kanne, aber das hatten sie angesagt. Ich setze die Kapuze auf und flitze im Affenzahn auf die andere Straßenseite. Etwa einhundert Meter weiter unten springe ich unter das kleine Glasvordach und klingele Sturm.
„Hanna!“, entschlüpft es meiner Tante vorwurfsvoll.
Als sie den Regenguss wahrnimmt, macht sie seufzend die Tür weiter auf.
„Warum bleibst du bei dem Wetter nicht zu Hause? Mir wäre bei der Klingelei beinah die Wurst vom Brot gefallen.“
Ich drücke ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange.
„Hab dich lieb“, rufe ich laut, während ich bereits die Treppe ins Obergeschoss erklimme.
Ohne anzuklopfen öffne ich die Tür und starre meinen völlig perplexen Cousin an.
„Spinnst du?“
„Warum?“, frage ich feixend und schlüpfe aus meiner Jacke.
„Das ist mein Zimmer. Ich könnte wer weiß was gerade tun. Kannst du nicht wenigstens anklopfen oder mich vorwarnen?“
Seine Augen schießen Pfeile auf mich ab, aber ich ignoriere sein Gezeter und schmeiße mich auf sein Bett. Die Konsole läuft bereits. War ja klar. Ich schnappe mir den Controller und übernehme seinen Part.
„Ey!“
Christian springt zu mir, will mir sofort den Controller wegnehmen. Doch ich kämpfe darum und fange an zu kichern.
„Jetzt sei nicht so. Dann lass uns zu zweit spielen. Bist du ein Mädchen oder was?“
Er lässt von mir ab, fällt mit Schwung neben mich auf die Matratze. Ich nehme wahr, wie er seine Haare richtet und sich schmollend an die Wand lehnt. Mein Cousin ist ein Nerd, aber ein wahnsinnig hübscher. Deshalb passt er nicht in dieses typische Klischee, die Mädchen stehen auf ihn. Weil er erst sechzehn ist, kann er mit ihnen noch nicht allzu viel anfangen. Nur die letzte Zeit fragt er mich immer mal etwas, so dass ich glaube, dass der Mann in ihm geweckt wurde. Ich kichere, rutsche neben ihm auf.
„Ach komm schon. Lass uns gemeinsam zocken. Ich habe vom letzten Mal eine Runde gut. Du hast mich voll abserviert.“
Mit der Schulter schubse ich ihn an, worauf hin er mir endlich einen Blick gönnt.
„Manchmal kann ich dich gar nicht leiden.“
Er sieht mich immer noch wie ein beleidigtes, kleines Kind an.
„Dafür habe ich dich umso lieber.“
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange, lege mich auf den Bauch und bringe mit meinen Armen suchend den zweiten Controller zum Vorschein. Doch Christian greift nicht danach. Resigniert lasse ich meine Hand sinken.
„Das kann jetzt aber nicht an mir liegen. Was ist denn los? Weiber?“
Er grinst.
„Du bist auch eins. Nein, meine Mutter geht mir den ganzen Tag schon auf die Nerven. Ich soll mich um einen Ausbildungsplatz kümmern. Dabei habe ich doch noch ein ganzes Jahr Zeit.“
„Willkommen im Club“, lautet meine knappe Antwort.
Eine Weile starren wir vor uns hin.
„Hast du irgendeine Idee?“, frage ich irgendwann.
„Ich würde gerne was mit Computern machen. Vielleicht schaue ich mal in dem Geschäft in der Stadt vorbei und frage. In zwei Wochen ist eine Messe. Es gibt auch Fachschulen, da braucht man kein Abi.“
Ich nicke. Das sind doch Pläne.
„Weiß das deine Mutter?“
Zögerlich schüttelt Christian den Kopf. Deshalb nehme ich ein Kissen und schlage ihn damit.
„Warum denn nicht, du Idiot? Machst dir selber das Leben schwer und jammerst“, lache ich ungehalten.
Er hebt abwehrend die Arme, lacht aber inzwischen auch.
„Sie soll mich eben meinen Kram machen lassen. Dieses ewige Bevormunden muss doch mal aufhören.“
„So sind Mütter. Meinst du, obwohl ich 18 bin, wäre es bei mir anders? Wir machen es später bestimmt auch nicht besser.“
Ich höre auf zu schlagen, lasse das Kissen auf den Boden fallen.
„Du kennst mich, würdest du mir zu Physik raten? Oder soll ich lieber den einfacheren Weg einschlagen, BWL zum Beispiel.“
„Erinnerst du dich, als ich Weihnachten diesen Baukasten bekommen habe? Schon nach kurzer Zeit habe ich es aufgegeben. Du hast dich einfach drangesetzt und ausprobiert. Am Ende fuhr dieses winzige Krandingsbums umher. Richtig mit Licht und Sirene. Das war toll. Ich habe es nicht vergessen. Du kannst das. Nimm die Herausforderung an. Etwas Simples kannst du immer noch machen.“
Unsere Augen treffen sich. Christian erstaunt mich immer wieder. Er ist manchmal schon richtig erwachsen. Deshalb hänge ich auch so gerne mit ihm ab.
„Genug geredet. Lass uns endlich zocken“, sagt er plötzlich und schnappt sich aus meiner Hand den Controller.
Ich lache über seinen Gefühlswandel, rutsche neben ihn. Dann versinken wir im Spielfieber. Ich habe keine Chance. Christian ist heute einfach besser. Nach zwei Stunden gebe ich auf.
„Viel Glück wegen der Computergeschichte. Wir sehen uns, wenn wir uns sehen?“
Unser üblicher Spruch. Ich grinse. Christian nickt schmunzelnd.
„Wie immer. Unsere Hanna ist aber auch ein Blitzmerker.“
Ich strecke ihm die Zunge heraus und ziehe seine Zimmertür zu.
Meine gute Laune ist verschwunden. Zwei meiner ehemaligen Klassenkameradinnen haben mir Nachrichten geschickt. Die eine geht nach Berlin und die andere sogar nach England. Es ist zum Kotzen. Nur ich hänge hier fest. Bereits seit achtzehn Jahren. Ich war im Prinzip noch nirgendwo. Aus Deutschland bin ich erst einmal herausgekommen. Das war vor Papas Tod. Wir waren in Italien, richtig am Meer für ganze zwei Wochen. Es war der schönste Urlaub, den man sich vorstellen kann. Damals war ich unglaublich glücklich, die Zeit war voller Harmonie, Sonnenschein und Lachen. Papa hat mit mir stundenlang im Wasser getobt. Immer wieder hat er mich hineingeworfen. Ich kann mich an die vielen Sandburgen und Motive aus Muscheln erinnern. Ich lache, weil die Erinnerung mich zu überwältigen droht. Damals war ich vierzehn. Wahrscheinlich kann ich mich deswegen so gut erinnern, weil es eigentlich die schönsten zwei Wochen meines Lebens waren. Ich würde die Zeit so gerne zurückdrehen. Die voreiligen Tränen tilge ich unwirsch von meiner Wange. Im Radio läuft „Alles brennt“. Ich schmeiße wütend meinen Hefter auf den Boden. Die losen Blätter der Anträge rutschen heraus und verteilen sich auf knappen zwei Quadratmetern. Ich starre darauf, drehe mit der Fernbedienung die Lautstärke immer lauter. Ich will auch diese Mauern niederreißen, will hier raus. Alles muss neu! Mit dem Fuß kicke ich meinen Hefter zur Seite und tanze wie eine Bekloppte bis sich das Licht plötzlich verändert. Auch die Musik ist mit einem Mal nahezu aus. Überrascht blicke ich zur Tür, dort steht Mama. Entgeistert, mit der Fernbedienung in ihrer Hand.
„Spinnst du? Wir haben Nachbarn, es ist gleich Mitternacht!“
Boa! Immer das Gleiche, immer dieses Pflichtgefühl und diese Ernsthaftigkeit. Nicht einmal kann man das machen, worauf man Bock hat. Wortlos schmeiße ich mich auf mein Bett und starre die Decke an. Mein Innenleben gleicht einem Vulkanausbruch.
„Hanna?“
„Lass mich alleine.“
Nach ein paar Sekunden höre ich die Tür. Natürlich hinterlässt sie mir die volle Zimmerbeleuchtung. Das grelle Licht grinst mich an, die weiße Wand wird noch ein bisschen weißer, trostloser, nichtssagender. Mein Leben langweiliger. Wie eine Furie springe ich auf und schlage derb auf den Schalter. Das Ergebnis ist krass. Bis auf den Bildschirm meines Computers ist es stockdunkel. Ich bin eingetaucht in eine schwarze Masse. Gibt es nichts dazwischen? Nur schwarz oder weiß? Langeweile oder Abenteuer? Bin ich selber schuld? Wenn ich Bafög bekomme, könnte ich doch abhauen. Irgendwohin, wo ich noch nie war. Nicht unbedingt München, dort ist alles zu teuer und auf Alex habe ich sowieso keinen Bock mehr. Aber vielleicht in den Norden, Hauptsache hier raus. Seufzend lande ich wieder auf meinem Bett. Ich habe keine Ahnung, warum ich eigentlich weg will. Mama und ich verstehen uns super, Ulm ist mein zu Hause. Aber im Moment kommt mir selbst dieses Zimmer, dass ich liebe, zu klein vor. Ich angele mir mein Handy und sehe mir die letzten Einträge meiner Freunde auf facebook an. Fast jeder postet Urlaubsbilder. Das Gefühl auf der Verliererseite zu stehen, kriecht wieder in mir hoch, lässt mich mein Handy ans Fußende werfen. Frustriert nehme ich mir meine Kopfhörer und stelle noch einmal dieses Lied an.
Den nächsten Vormittag verbringe ich am Computer. Den Bafög-Antrag habe ich fertig. Wenn ich Glück habe, bekomme ich zwischen 600 und 700 Euro. Das wäre schon geil. Ich müsste meine Mutter nicht ständig nach Geld fragen. Ich wechsele die Internetseite und gehe auf die, der Universität. Für Physik bräuchte ich eigentlich eine 1,0, weil es ein Numerus clausus Studiengang ist. Ich habe 1,2. Ob das überhaupt reicht? Sicher nicht. Nein, sogar ziemlich aussichtslos. Seufzend lese ich mir die wichtigsten Informationen durch. Das wäre schon was. Es klingt sogar ziemlich interessant. Viele Mädchen werden sich auf diesen Studiengang nicht bewerben. Womöglich habe ich dadurch eine Chance. Augen zu und durch. Ich fülle meine Bewerbung online aus, setze dabei Ulm auf den ersten Rang. Dann wähle ich Stuttgart, Berlin, Leipzig, Hannover und als letztes München. Ich muss grinsen, weil ich gar nicht nach München will. Es auf den letzten Platz zu setzen, verschafft mir ein gutes Gefühl, völlig absurd, völlig bescheuert.
„Worum geht es?“
Meine Mutter schaut einen Krimi. Ich will meine Bewerbung noch einmal mit ihr besprechen bevor ich sie abschicke.
„Ach, ein verschwundenes Mädchen. Sie verdächtigen den Stiefvater, aber der kann es meines Erachtens nicht gewesen sein.“
Für ein paar Minuten verfolge ich die Sendung.
„Du meinst, ich sollte es mit Physik probieren?“, frage ich irgendwann.
Mama stellt den Ton aus, sieht mich nachdenklich an.
„Willst du es? Es ist deine Entscheidung. Meine Meinung kennst du doch schon. Du hast dich immer für diese technischen Dinge, die ich nicht verstehe, interessiert. Papa musste dir stets und ständig erklären wieso und warum etwas funktioniert, wie es funktioniert. Selbst, als du noch nicht einmal in der Schule warst, haben dich Windräder, Lokomotiven und Autos fasziniert. Du konntest nicht genug bekommen. Papa fand das toll, es war sein Metier, schließlich war er Ingenieur. Es gibt bestimmt nicht viele Mädchen, die solche Ambitionen haben. Damit steigen deine Berufschancen.“
„Oder man wird nicht für voll genommen. Erinnere dich an das Praktikum in Papas Firma. Die wollten mich nur ins Büro stecken.“
„Aber bei der Olympiade warst du im Raum Ulm bis zur Zehnten immer vorne dabei. Danach hattest du keine Lust mehr. Wir wissen beide warum.“
Ja … Papa. Ende der Zehnten hatte er einen Verkehrsunfall. Er lag mehrere Wochen im Koma. Schließlich wurden die Apparate abgestellt. Es war schrecklich.
„Okay“, hauche ich und verlasse die Stube.
Abends liege ich mit Kopfhörern im Bett. Alexandra hat mir geschrieben. Früher haben wir stundenlang telefoniert, obwohl wir in der Schule schon ständig zusammen hockten. Jetzt reicht es gerade noch für eine WhatsApp-Nachricht.
„Hey. Liebe Grüße. Morgen geht es los. Schade, dass du nicht mitkommen kannst. Wir denken an dich. Bis bald.“
Das ich nicht lache. „Wir denken an dich.“ Ich kenne Alex seit der fünften Klasse. Im Grunde genommen ist sie ein oberflächlicher Mensch. Bis zum Abi war ich gut genug, habe ihr in der Schule ständig geholfen und mit ihr gelernt. Nur so hat sie überhaupt die 2,0 geschafft. Wahrscheinlich hat ihr das gefallen. Sie hat mich gebraucht. Ich sie auch, aber anders. Alex war total beliebt. Sie muss nichts dafür tun, es hängt an ihr. Jeder will ihr Freund sein. Das fasziniert mich sowieso. Wie kommt das? Egal. Durch sie war ich ebenfalls beliebt, uns gab es sozusagen nur im Doppelpack. Ich drehe mein Handy.
„Ja schade. Viel Spaß. Bis dann.“
Zu mehr reicht es nicht. Eigentlich würde ich am liebsten gar nichts schreiben. Mama färbt ab. Pflichtgefühl heißt meine Misere. Egal, ab Oktober ist Alex weg. Wie so viele. Ich denke an den Typen von gestern. Wo der wohl inzwischen ist? Der war echt schnucklig. Ich hatte noch keinen Freund und so einer interessiert sich sowieso nur für Alexandras. Diese beliebtesten Mädchen, die es überall gibt. Auch wenn ich ihre Freundin war, bin ich im Grunde genommen das genaue Gegenteil. Ich stehe weniger auf den typischen Mädchenkram, breche nicht in Geschrei aus, nur weil Justin Bieber oder wer auch immer auftaucht. Am liebsten trage ich Jeans und legere Pullover. Meine mittelbraunen Haare sind schulterlang. Ich trage meistens einen Zopf. Das geht schnell und steht mir. Ich bin einfach pragmatisch. Dazu eine gehörige Portion Ernsthaftigkeit gepaart mit Ehrgeiz und Mitgefühl. Also alles in allem keine Eigenschaften, die ein junger Kerl in meinem Alter attraktiv findet. Ich muss lächeln, denn zum Abiball war es anders. Mal keine Jeans, mal keine weiten Pullis. Nein, ein kleines, süßes Schwarzes. Ich fand mich richtig heiß. Natürlich keine Idealmaße wie 90-60-90, sondern eher 80-70-90. Aber ich fand mich toll und dass ich nicht so schlecht aussehe, habe ich an den vielen Blicken meiner ehemaligen Klassenkameradinnen gespürt. Sogar Alexandra war aufgrund meiner Erscheinung etwas konsterniert. Wahrscheinlich habe ich ihr ein bisschen die Show gestohlen. Ich suche auf meinem Handy unser Gruppenbild und summe „Feuerwerk“ vor mich hin. Ja, das war ein toller Abend. Wie aus einem Märchen. Ein bisschen Feuerwerk täte mir mal wieder gut.
Eine Woche später trete ich meinen Dienst im Lebensmittelmarkt an. Ich sitze von 8 bis 16 Uhr an der Kasse oder räume Regale ein. Irgendwann höre ich ein ungläubiges:
„Johanna?“
Ich sehe auf, erkenne Marvin aus der Parallelklasse. Er hat lauter Schnapsflaschen und Zigaretten in seinem Wagen liegen.
„Hey, du hast wohl ganz schön was vor?“, lache ich ihn an.
„Jo. Party. Hast du nicht Lust?“
Überrascht schaue ich ihn an. Ich war die letzten Jahre auf keiner Party, eigentlich nur Silvester.
„Ja, warum nicht. Etwa heute?“
„Kassieren Sie hier oder wie ist das?“, meckert eine dicke Frau hinter Marvin.
Wir grinsen uns an, ich ziehe schnell das ganze Zeug drüber.
„20 Uhr, Roschstr. 12. Würde mich freuen. Bis dann.“
Ich sehe ihm noch nach. Er verschwindet hinter der automatischen Tür.
„Na das wurde aber Zeit. Beeilen Sie sich mal“, geifert die Frau schon wieder.
Aber ich lasse sie einfach. Ich bin eingeladen. Ohne Alex. Das Gefühl ist überwältigend. Marvin ist nicht irgendwer, er ist einer der beliebtesten Kerle. Er hat ständig was mit Mädchen laufen, sein Abi aber nur mit ach und krach geschafft.
Kaum, dass ich zu Hause ankomme, reiße ich meinen Kleiderschrank auf. Mal nicht typisch Johanna sein. Das ist mein einziges Ansinnen. Wenn ich kein Feuerwerk bekomme, muss ich mir es eben selber beschaffen. Doch die Jeanshosen lachen mich als erstes an. Zwei Stapel. Die meisten davon abgetragen, aber ich kann mich davon einfach nicht lossagen. Ich schiebe die Kleiderbügel durch. Neben meinem Abi Kleid gibt es nur noch ein Sommerkleid. Ich hatte es erst einmal an. Zögerlich nehme ich es heraus und halte es vor mich. Letztlich schlüpfe ich hinein und checke mein Aussehen im Flur. So richtig wohl fühle ich mich nicht. Es ist ziemlich eng und auch ganz schön kurz. Wenn ich mich setze, muss ich ständig aufpassen, dass keiner meinen Slip sieht. Nein, das wird nichts. Also doch eine Jeans. Ich wähle die Schwarze mit den zerrissenen Knien. Als Oberteil suche ich mir ein dunkelrotes Top. Falls es zu kalt wird, lege ich noch die schwarze Strickjacke zurecht. Als ich anschließend im Bad vor dem Spiegel stehe, sehe ich meine Unsicherheit. Ich löse meinen Zopf. Meine halblangen Haare fallen wellig über meine Schultern. Ich flechte mir zwei französische Zöpfe, tusche meine Wimpern und lege etwas Lipgloss auf. Dann begutachte ich mich. Eigentlich nicht übel. Graublaue Augen, Stupsnase und voller Mund. Ich weiß, dass es jemand mit mir gut gemeint hat. Auch ohne Schminke kann ich unter Leute, dass würde Alex niemals tun. Schon schade.
Voller Herzklopfen stehe ich kurz nach 20 Uhr vor der genannten Adresse. Alles ist still. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier eine Party stattfindet. Natürlich kenne ich Marvins Nachnamen nicht. Und nun? Ich sehe mich um. Die ganze Straße ist wie leergefegt. Ich checke die Fenster, laufe bis ans Hausende. Nichts. Genial! Volle Verarsche! Und ich habe mich die ganze Zeit verrückt gemacht. Manchmal ist das Leben nicht nur unfair, sondern richtig zum Kotzen. Wo bleibt jetzt mein Feuerwerk? Ich kann mich nicht einmal bei jemandem beschweren. Nach einer Minute innerlicher Wut resigniere ich und drehe mich seufzend um. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und trete den Rückweg an. Zum Glück ist es nicht besonders weit, dann kann ich noch ein bisschen laufen gehen. Als ein Auto laut neben mir hupt, fahre ich erschrocken zusammen. Erst jetzt höre ich die abartig laute Musik aus der alten Schrottkiste. Eine Tür öffnet sich.
„Johanna warte!“
Ungläubig ziehe ich mir die Stöpsel heraus. Der Wagen hält erst jetzt, das Quietschen klingt ohrenbetäubend. Marvin springt heraus. Er zieht an seiner Zigarette und wirft sie anschließend achtlos weg.
„Hey. Geil, dass du da bist. Die Party ist nicht bei mir. Komm steig ein.“
Er schnappt meine Hand, bugsiert mich auf die Rücksitzbank. Ich sage zu den anderen beiden Kerlen artig „Hallo“. Das Auto stinkt nach Qualm, der Typ neben mir scheint schon in eine andere Welt entschwunden zu sein. Kifft er etwa? Der Fahrer wirkt auch nicht vertrauenswürdig. Hoffentlich ist es nicht weit. Er trinkt Bier und lacht dauernd. Dabei hat er eine Kippe zwischen den Lippen hängen. Durch den Rückspiegel wirft er mir immer wieder einen unmissverständlichen Blick zu. Mit was für Kerlen verkehrt Marvin? Ich hätte mir das gründlicher überlegen sollen. Aber nun ist es zu spät. Wir fahren vielleicht 10 Minuten. Es sind die längsten meines Lebens. Die vulgäre Sprache zwischen Marvin und dem anderen Typen tut ihr übriges. Wer welches Mädchen als erstes klarmacht. Hat er vergessen, dass ich hinter ihm sitze? Der Wagen hält in einer anderen Wohngegend. Hier kenne ich mich nicht gut aus. Trotzdem bin ich froh, dieser Klappermühle mit der abartigen Punkmusik entkommen zu können.
„Kannst du was nehmen?“
Ich drehe mich zu Marvin um. Er hält mir zwei Sixpacks entgegen. Die anderen heben zwei Bierkästen und diverse Tüten aus dem Kofferraum. Unverkennbar der Schnaps und das ganze Zeug aus meinem Einkaufsmarkt. Marvin lächelt mich entschuldigend an. Ich leiere nur die Augen und folge ihnen. Die Party ist schon in vollem Gange, wir steigen ein paar Stufen in einen Keller mit dunkler Beleuchtung hinunter. Bei näherem Hinsehen erkenne ich fast nur Jungs, ein paar Mädchen auf einer Couch, aber kein einziges Gesicht, dass mir bekannt vorkommt. Das mulmige Gefühl in mir breitet sich immer mehr aus. Klar, war ja auch meine Idee ohne Alex irgendwo aufzulaufen. Ich bin so etwas von geliefert!
„Hier!“
Marvin reicht mir eine Flasche aus dem Sixpack, ich versuche ein Lächeln.
„Nicht so dein Fall, was?“
Er grinst, stößt an meine Flasche. Ich zucke verlegen die Schultern. Die nächste halbe Stunde stellt er mich seinen Leuten vor. Langsam fühle ich mich nicht mehr wie ein Alien, obwohl das alles keine Leute sind, deren Kennenlernen ich vertiefen möchte. Eines der Mädchen heißt auch Alex, aber sie scheint locker drauf zu sein.
„Marvins Feten sind immer cool! Du musst dich nur fallen lassen. Kennst du Trichtern?“
Was?
„Nein, keine Ahnung.“
„Marvin, hol mal Bier. Wir haben eine Anwärterin“, ruft Alex laut.
Zwei Typen halten meine Arme fest, ich werde etwas panisch.
„Lasst mich los!“
„Johanna beruhige dich, dass macht Spaß!“
Dann passiert etwas, dass ich in meinem Leben nicht wiederholen möchte.
„Lass es einfach rein …“Ein Stück Gummischlauch wandert in meinen Mund, dass mit einem roten Trichter verbunden ist. Marvin kippt bereits die zweite Flasche Bier hinein. Schon alleine der Gedanke, wer daran alles schon herumgenuggelt hat, verursacht einen Würgereflex. Doch bevor ich weiter nachdenken kann, hebt Marvin den Trichter und das Bier fließt mir unweigerlich in den Mund. Sind die verrückt? Natürlich schlucke ich, kämpfe mit der Menge an Flüssigkeit und Schaum. Und natürlich verschlucke ich mich und richte eine riesige Sauerei an. Hustend ringe ich nach Luft. Es ist schrecklich und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich beruhige. Marvin grinst die ganze Zeit neben mir, so ein Blödmann!
„Bist du okay?“
„Nein, nichts ist okay!“
Was mache ich hier? Alles wirkt schäbig, die Leute sind nicht meine Sorte Leute. Wütend über mich und Marvin gehe ich mich etwas waschen, schimpfe vor mich hin und beschließe, hier schleunigst zu verschwinden. Das Blöde ist nur, ich trinke so gut wie nie. Deshalb reicht schon das bisschen Bier aus, um mein Gehirn zu benebeln. Als ich das Bad verlasse, stößt sich Marvin von der gegenüberliegenden Wand ab.
„Nicht so deine Welt, was?“
Hat er das nicht vorhin schon gefragt? Déjà-vu?
„Du hast die anderen nicht abgehalten“, höre ich mich antworten.
Marvin schiebt sich zu mir heran. Seine Finger rollern meine Haarsträhne auf. Er beugt sich zu mir und flüstert:
„Vielleicht wollte ich das nicht.“
Danach sieht er mich wieder an. Ich werde aus ihm nicht schlau, allerdings funktioniert mein Gehirn deutlich langsamer als sonst. Marvin grinst. Keine Sekunde später küsst er mich. Ganz kurz gefällt es mir sogar, wahrscheinlich der Alkohol. Aber mein Verstand funktioniert noch zu gut, als dass ich hier etwas passieren lassen würde. Mit aller Kraft schiebe ich Marvin von mir und lasse ihn stehen. Ich schnappe mir meine Sachen und haue ab.
Den restlichen Sommer verbringe ich im Lebensmittelmarkt und in unserem Garten. Die ersten Termine für die Zulassung sind verstrichen, ich habe noch keinen Platz erhalten. Heute ist der dritte Termin, danach gibt es nur noch das Losverfahren. Bereits 5 Uhr morgens checke ich meine Emails. Nichts. Deprimiert hocke ich mich auf mein Fahrrad und lasse mich von meiner Playlist zudröhnen. Als ich im Markt ankomme, werde ich an die Kühlregale zum Prüfen der Ablaufdaten geschickt.
„Stimmt etwas nicht?“, fragt Karin, der ich unterstellt bin.
„Ach nur die Uni. Immer noch keine Zulassung. Jetzt ist schon Mitte September. Ich glaube, das wird nichts.“
Den ganzen Tag prüfe ich Lebensmittelverpackungen und räume Regale ein. Gerade sortiere ich die Milch, als ich erneut meinen Namen höre. Marvin steht grinsend neben mir. Sein Einkaufswagen voll von Dingen wie beim letzten Mal.
„Die Antwort ist nein“, sage ich lachend.
„Schade. Ich hatte letztens ganz schön was Indus. Tut mir leid.“
„Ist schon okay. Aber ich habe keinen Nerv für Party. Was machst du eigentlich ab Oktober? Party?“
Marvin grinst.
„Kfz-Mechaniker. Geht schon nächste Woche los. Also nichts mehr mit Party, leider. Dann hörst du hier sicherlich bald auf?“
„Mal sehen. Ich habe noch keine Zulassung. Aber das ist nur ein Hilfs Job. Den gebe ich auf jeden Fall auf.“
„Gibst du mir deine Nummer?“
Überrascht sehe ich ihn direkt an.
„Warum?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Viel Spaß bei deiner Party“, sage ich schmunzelnd.
„Okay, das war wohl ein nein. Ist mal was Neues. Mach´s gut Jojo.“
Ich sehe ihm nach. Dass er meinen Spitznamen kennt, wusste ich nicht. Seine schlanke Gestalt verschwindet hinter den Regalen für Backwaren.
Gegen 12 Uhr habe ich Pause. Obwohl ich mir vorgenommen habe, erst heute Abend zu schauen, halte ich es nicht länger aus. Mit angehaltenem Atem logge ich mich in meinem Postfach ein, sehe tatsächlich eine E-Mail von der zentralen Studienvermittlung und klicke sie gleich an. Im Anhang finde ich ein Schreiben, ich lese es immer wieder. Dann wähle ich die Nummer meiner Mutter.
„Mama?“
„Ich bin angenommen“, stoße ich euphorisch aus.
„Du meinst Physik?“
„Ja. Ist das nicht genial? Ich habe schon gar nicht mehr daran geglaubt. Freust du dich?“
„Oh Hannalein. Das ist phantastisch. Ich kann gerade nur schlecht. Wir feiern heute Abend, ja?“
Den gesamten Nachmittag bekomme ich das Grinsen nicht mehr aus meinem Gesicht. Es tut schon fast weh. Auf dem Heimweg überkommt es mich, ich erstehe eine Flasche Sekt.