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Was wäre wenn? Wer kennt es nicht, dieses Gefühl sich selbst im Weg zu stehen, nicht gut genug zu sein, zu versagen. Aber trotzdem bleibt dieser Traum. Greta möchte auf einer Bühne stehen, möchte tanzen. Wäre nicht dieses verflixte Lampenfieber... Seit Ewigkeiten kämpft und arbeitet Greta nur dafür. Nun scheint ihr Traum in greifbarer Nähe, aber die Situation ist kompliziert. Zum einen ist die Rolle längst vergeben, sie wäre nur der Ersatz, zum anderen wäre ihr Tanzpartner dieser arrogante, kühle, aber unglaublich gut aussehende Halbbruder ihrer besten Freundin. Wie gesagt, es ist kompliziert. Ihre innere Zerrissenheit kennzeichnet ihren Charakter. Jede andere Tänzerin würde keinen Gedanken an mögliche Konsequenzen verschwenden, würde sich die Hauptrolle schnappen und triumphieren. Aber so ist Greta nicht. Zu sehr hat man sie in der Vergangenheit verletzt. Durch ihre schüchterne und unsichere Art hat sie bisher jedes wichtige Vortanzen verpatzt. Es die Krux, die ihre beste Freundin Juliette für sie lösen will...
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Feuer auf Feuer
Emma Winter
Impressum
Kerstin Walther
Lengberg 4, 98529 Suhl
Cover © EmmaWinter2021
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Playlist
Weitere Buchtitel von Emma Winter, die bald erscheinen werden
Meine Augen hängen an dem Plakat gegenüber, diesem wunderschönen Bild zweier Tänzer. Juliette Kopera und Adrian Lachmann steht in dicken Buchstaben darunter. Ich habe es mir schon so oft angesehen, aber dennoch hängt mein Blick sehnsüchtig daran.
„...hörst du mir überhaupt zu? Du bist gut genug, wie oft muss ich dir das noch sagen. Deine ewigen Selbstzweifel werden dir jede Chance im Keim ersticken. Ich brauche diese Auszeit, mein Knie braucht sie. Es wird sonst nur schlimmer. Soll Georgio doch sagen was er will!“
Mein Gesicht dreht sich zu ihr und ihrer Stimme, die es nach ihrer kleinen Ansprache am Ende schnippisch nach oben katapultiert. Juliettes große Kulleraugen mustern mich aufmerksam, jetzt streicht ihre Hand zart über meine linke Wange.
„Was bist du für ein Angsthase! Jede andere würde Luftsprünge wegen dieser Möglichkeit machen. Aber du? Du zitterst wie Espenlaub und willst am liebsten weglaufen.“
Um ihre Augen entsteht ein Lächeln, ihr Kopf wackelt missachtend hin und her. Ich seufze, zucke leicht mit den Schultern.
„Ach Greta. Du bist fantastisch, warum stellst du dein Licht so unter den Scheffel? Liegt es an Adrian? Ich weiß, er ist ziemlich einschüchternd. Aber wenn man ihn erst einmal kennt...“
„Das ist es nicht.“
„Nicht?“
Ich muss aufgrund ihres überraschten Gesichtsausdruckes lächeln. Natürlich ist Adrian arrogant, selbstverliebt und hat vom lieben Gott einfach zu viele dieser guten Gene abbekommen. Aber damit kann ich leben, zumindest aus der Ferne. Allerdings mit ihm tanzen… Nein, an ihm liegt es nicht, ganz bestimmt nicht, es liegt an mir.
„Jetzt sag schon! Was hindert dich an deinem Glück?“
Juliette nimmt meine Hände, ihre Augen forschen in meinen, woraufhin ich leise seufze. Was soll ich sagen, was sie nicht längst schon weiß. Wir kennen uns seit wir fünf sind, unsere Ballettschuhe waren fast immer gleichzeitig zu klein.
„Nur mein dummes Herz“, flüstere ich brüchig.
„Es sagt mir immerzu, dass ich es nicht schaffe. Wie auch. Sieh dich an, wie soll ich dich ersetzen? Du bist die perfekte Tänzerin, machst nie einen Fehler, tanzt mit Hingabe und Ausdruck. Ich habe einfach Angst, dass ich es wie eben immer in den Sand setze ... Ich bleibe lieber in der zweiten Reihe. Wahrscheinlich hat niemand je von mir Notiz genommen und Semirow hat mit Sicherheit keinen Schimmer, wen er hier heute dieses Vortanzen einräumt ...“
Meine Stimme bricht mir weg, eigentlich wollte ich das nicht schon wieder laut aussprechen. Juliette nervt mich! Ich hasse mich selber wegen dieser ewigen Selbstzweifel, diesem Gefühl, nur zweite Wahl zu sein.
„Aber Greta, was für ein Unsinn. Und ich weiß nicht, wie oft ich es dir schon gesagt habe. Du bist mindestens genauso gut. Nur meine Arroganz und Eitelkeit bringen den Unterschied. Scheiß doch auf die Leute, was wissen die schon. Sie sehen doch sowieso nie wirklich hin. Ich weiß, was du kannst, ich kenne dein Talent und vor allem deine Hingabe. Warum verstehst du das nur nicht.“
Ihr Gesichtsausdruck ändert sich plötzlich.
„Wenn du mir diesen Gefallen nicht tust, rede ich nie wieder ein Wort mit dir.“
Was? Verwirrt schüttele ich ihre Hände ab.
„Aber es gibt doch ein Vortanzen, ich bin nicht einmal eingeladen. Nur durch dich sitze ich jetzt hier. Weißt du, wie ich mir vorkomme?“
„Ein bisschen Vitamin B hat noch nie geschadet. Hast du die drei anderen gesehen?“
Ja habe ich. Ich schaue an Juliette vorbei.
„Hanna hat null Ausdruckskraft, Vivian verpatzt jede Hebefigur und über Marianne verliere ich kein Wort. Du bist nur nicht eingeladen, weil sie dich noch nie tanzen sehen haben. Zumindest nicht wirklich. Wer sieht schon dem 24. Schwan ganz hinten am Vorhang zu. Wenn ich mich recht erinnere, bist du zum eigentlichen Vortanzen nicht erschienen, dir war wie immer kotzübel!“
Ihr vorwurfsvoller Tonfall ist echt hart. Ja mir war eben schlecht. Das typische Lampenfieber. Ich weiß auch nicht, warum ich damit so geplagt bin. Beim Training geht es mir wunderbar, nur diese verflixten Vortanzen sind mein Untergang.
„Bitte Greta. Egal wieso du heute diese Chance bekommst, tue es für mich. In ein paar Wochen bin ich wieder fit und dann möchte ich in einen vollen Saal zurückkommen und nicht leere Stühle sehen. Bei den anderen ist das durchaus möglich. Hinzu kommt, dass Adrian eigentlich auch nicht tanzen möchte, wenn ich ausfalle. Hier dreht also sowieso jeder am Rad.“
Meine Augen schnellen nun doch wieder in Juliettes Gesicht. Das klingt perfekt! Dann ist doch alles halb so wild.
„Dann pausiert das Stück eben auch ...“
„Bist du verrückt? Die anderen Tänzer sind für eine Spielperiode alle bezahlt, dass kann er voll knicken. In jedem Stück gibt es eine Zweitbesetzung und du bist meine. Ende der Diskussion.“
Wie sie es sagt, erhebt sie sich und verschwindet in den Teil des Gebäudes, in den ich nicht hinein möchte. Klar, Ende der Diskussion. So ist Juliette. Ich sehe wieder auf dieses Plakat, in ihr wunderschönes Gesicht und dann in das andere. Adrian. Seufzend schüttele ich meinen Kopf. Warum bin ich überhaupt hier? Das ist nicht meine Idee, ich werde es sowieso nur wieder verpatzen.
„Greta Fischer?“
Mein Name klingt fremd, trotzdem sehe ich auf und direkt in das Gesicht einer älteren Dame mit strengem Dutt. Sie mustert mich, bleibt an meinen Augen hängen, in ihren kann ich so etwas wie ein Lächeln erkennen. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor.
„Fischer also. Ich habe gehört, dass du den Namen deines Vaters angenommen hast. Da bist du also.
„Da bin ich“, entschlüpft mir ahnungslos.
„Ich war deine erste Tanzlehrerin, deine Mutter brachte dich immer hierher. Jeden Montag und Donnerstag für eine Stunde. Leider wurde ich krank, deshalb habe ich dich aus den Augen verloren und naja, seit deine Mutter weggegangen ist, habe ich nichts mehr über dich erfahren. Du willst also vortanzen?“
Diese kleine Story verwirrt mich, dass sie meine Mutter erwähnt, lässt den Kloß in meinem Magen anschwellen. Wo sind gleich die Toiletten? Weil ihre Augen mich immer noch mustern, zucke ich schließlich mit den Schultern.
„Wollen ist wohl der falsche Ausdruck, Nötigung trifft es wohl eher. Bin hier sowieso falsch, also bringen wir es hinter uns.“
Ohne die alte Dame weiter zu beachten, stehe ich auf und laufe ein paar Schritte. Mir ist schwindelig, mir ist schlecht. Das wird wieder einmal so etwas von schief gehen.
„Adrian Lachmann lässt sich entschuldigen. Er wird von Matthias Eisner ersetzt. Das ist ein ganz feiner Kerl und ausgezeichneter Tänzer. Mach dir also keine Sorgen. Was ich bis jetzt gesehen habe, war ein Fiasko. Juliette hat sich einen sehr schlechten Zeitpunkt für eine Auszeit ausgesucht. Wir wissen doch alle, dass ihre Knieschmerzen nur vorgeschoben sind und hinter alledem nur ihr Ego ihrem Bruder eins auszuwischen steckt.“
Was? Meine Füße verweigern mir abrupt den Dienst, ich kann es nicht glauben. Sie haben sich gestritten? Wieder einmal? Davon hat sie kein Sterbenswörtchen erzählt. Diese miese Intrigantin. Aber okay, das verstehe ich fast mehr als ihre Schmerzen. In der letzten Zeit gibt es immer mehr Probleme mit Adrian, sie fühlt sich eingeengt und kontrolliert. Früher hat sie deswegen jedoch keine Aufführung hingeschmissen.
„Ist ein ganz schönes Fressen, nicht?“
Nun sehe ich doch wieder in ihr faltiges Gesicht, ihre Ausdrucksweise lässt mich schmunzeln.
„Aber sie könnte doch mit Matthias tanzen.“
„Wenn Adrian verzichten würde, was er nicht tut. Er liebt es, über Juliettes Leben zu bestimmen. Das war schon immer so. Allerdings hat er wohl vergessen, dass sie inzwischen erwachsen geworden ist. Ich kann sie schon verstehen, irgendwann will man unabhängig sein. Adrian sollte die Vaterrolle nicht mehr so ernst nehmen. Ein bisschen Fürsorge in allen Ehren. Ich erzähle es dir nur, weil ich gehört habe, dass du ihre beste Freundin bist. An ihrer Stelle würde ich auch ausbrechen wollen.“
Bin ich hier die Einzige ohne Durchblick? Fassungslos starre ich die Dame an.
„Du hast keinen Schimmer was?“
Ihr Lachen klingt nicht gemein, sondern wie „typisch Juliette“.
„Ich bin also nur der Lückenbüßer … Das ist ja noch besser. Ich meine, sie war schon immer egozentrisch. Leider kann ich ihr nie lange böse sein. Das ist eben Juliette.“
Die Frau nimmt meine Hände und tätschelt sie.
„Das hast du definitiv nicht von deiner Mutter. So komm jetzt, sie warten schon auf dich.“
Damit öffnet sich die Tür direkt vor uns, durch die ich gar nicht hindurch will und schiebt mich in den großen Tanzsaal. Juliette sieht mich sofort und kommt auf mich zugeeilt.
„Endlich! Jetzt reiß dich zusammen, du siehst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen. Wir haben die Schritte geübt. Tue es für mich!“
Arg! Tausend Fragen gehen mir gleichzeitig durch den Kopf, ich möchte sie eigentlich nur zur Rede stellen. Doch hier ist weder der Ort noch der Zeitpunkt für eine derartige Auseinandersetzung. Wütend entledige ich mich meiner leichten Jogginghose und meiner Strickjacke. Ich spüre die Blicke um mich herum und trete tief durchatmend in die Mitte des Raumes.
„Greta?“
„Ja, das bin ich.“
„Eigentlich stehen Sie nicht auf unserer Liste, Juliette hat jedoch behauptet, dass Sie diese Chance verdienen. Meinen Sie das auch? Vergeuden Sie bitte nicht unsere Zeit. Da uns Ihr Name nichts sagt, sollten Sie jetzt wohl besser über sich hinauswachsen. Also bitte!“
Die Stimme von Herrn Semirow lässt meine Nackenhaare aufstellen. Na das nennt man doch mal keinen Druck aufbauen! Mich fröstelt, mein Herz poltert, während ich immer noch nur dastehe und mein Gehirn wirr tickt. Oh Gott, ist mir schlecht. Die Tür quietscht, was mich kurz hinüberblinzeln lässt. Auch das noch. Adrian baut sich direkt daneben an der Wand auf und verschränkt seine Arme vor der Brust. Will er zuschauen wie ich versage? Ich denke, er ist verhindert? Ich bin es also nicht wert. Am liebsten würde ich heulen, davonlaufen. Meine Augen werden bereits leicht geflutet. Scheiße noch mal!
„Hey, alles klar?“
Ein junger Mann steht auf einmal neben mir, ich sehe in warme, braune Augen, die mich aufmunternd anlächeln. Das wird wohl mein Partner sein. Ich schlucke mehrfach, versuche mich unter Kontrolle zu bringen. Wenigstens er wirkt wie ein ganz normaler Mensch.
„Greta Fischer? Sind sie endlich soweit?“
Ich schlucke noch einmal, nicke und stelle mich ziemlich weit rechts an den Rand. Meine Konzentration ist nicht weit her, mein Herz schlägt affenartig, wieder huschen meine Augen zu diesem Mann, der einer versteinerten Statue gleicht. Meine innerliche Aufregung schießt meinen Puls in ungeahnte Höhen, ganz ungünstig für den gleich einsetzenden, langsameren Rhythmus. Gleich darauf beginnt bereits die Musik. Ich verpasse den Einsatz, tanze trotzdem die erste Sequenz, wobei meine Bewegungen mechanisch alles abspulen. Es ist wie verhext. Natürlich verhaspele ich mich bei der Pirouette, weshalb ich selbst resigniert abbreche. Shit, shit, shit! Ich wusste es. Es ist so leise, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
„Vielen Dank, wir haben genug gesehen ...“
„Wartet, nur einen Moment. Sie war noch nicht so weit!“
Juliette kommt rufend auf mich zu, weshalb ich abwehrend die Hände hebe. Doch sie ignoriert meine Geste einfach, nimmt sie und sieht mich eindringlich an.
„Hör nur auf die Musik, vergiss das hier alles. Vergiss Semirow und Adrian. Die wissen gar nichts. Schließ die Augen, los!“
Nach einem kurzen Moment tue ich es, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt. Es ist wie immer, weil ich immer alles tue, was Juliette sagt.
„Du bist in unserem Übungssaal, stehst vor den großen Spiegeln, wir tanzen gemeinsam unseren Abschlusstanz bei Frau Gebauer, erinnerst du dich?“
Ihre flüsternde Stimme und ihre warmen Hände regulieren meine Atmung, katapultieren mich nur einen kurzen Moment später etwa ein halbes Jahr zurück. Wir waren voller Freude, es war einer der schönsten Tage meines Lebens.
„Halte dieses Gefühl fest und tanze“, flüstert sie weiter und ruft anschließend: „Maestro bitte!“
Gemeinsam laufen wir an die richtige Position, ich spüre einen letzten aufmunternden Druck an meinen Händen, dann stehe ich alleine mit mir und meiner Nervosität. Meine Augen huschen aufgeregt zur Jury, zu Juliette und noch einmal zur Tür, die gerade ins Schloss fällt. Der Platz daneben ist leer. Mein Blick haftet auf der weißen Wand, dann atme ich tief durch und schließe die Augen. Konzentriert warte ich auf die Melodie und denke nur noch ans Tanzen.
Diesmal überstehe ich die erste Sequenz fehlerfrei, komme immer mehr hinein, spüre die Musik, dieses Lied, dass ich über alles liebe. Zu Beginn der zweiten Strophe erscheint mein Tanzpartner neben mir, unsere Augen fangen einander ein. Als er mich emporhebt, klopft mein Herz wie verrückt. Ein Teil meiner Aufregung ist verschwunden, weshalb ich den Tanz sogar genießen kann. Nie zuvor habe ich mit einem fremden Mann getanzt, doch seine warmen, braunen Augen machen es mir ganz einfach, er ist der perfekte Partner. Viel besser als der andere. Er lässt mich geschmeidig herabgleiten. Gemeinsam tanzen wir, als würden wir nichts anderes tun. Mein Gesicht strahlt, Feuer auf Feuer. Atemlos bleiben wir stehen, als die letzten Töne verklingen. Unsere Augen tanzen immer noch, lächeln miteinander.
„Danke!“, hauche ich benommen.
„War mir ein Vergnügen.“
Er küsst meine Hand und grinst verschmitzt.
„Fräulein …?“
Mein Kopf schnellt in Richtung der Jury, mein Herzschlag beschleunigt sich automatisch.
„Greta“, erwidere ich, während ich ein paar Schritte Richtung Herrn Semirow laufe.
„Das war eine passable Leistung. Besser als die der anderen. Wir werden uns kurz beraten und Ihnen dann die Entscheidung mitteilen.“
Wow! Nicht gleich eine Absage. Das erste Mal. Ich sehe noch einmal zu meinem Partner, der mich anlächelt und in seinen blauen Trainingsanzug schlüpft. Anschließend laufe ich zur Wand links neben der Tür, wo ich meine Tasche abgestellt habe.
„Gretchen!“
Juliettes erfreute Stimme lässt mich aufblicken, gleich darauf zieht sie mich in eine intensive Umarmung.
„Ich wusste es. Du warst unglaublich. Ganz passabel, pah! Es war umwerfend, jeder hat geflüstert und gefragt, wer du bist. Sie werden dich nehmen, warts nur ab.“
Juliette gleicht einem Wirbelwind, redet unentwegt weiter auf mich ein. Ich warte lieber ab, ziehe währenddessen meine Jogginghose und meine Strickjacke an. Anschließend rutschen wir beide nebeneinander auf die kleine Bank. Der Tanzsaal hat sich sichtlich geleert. Ganz rechts unterhalten sich mehrere Mädchen, zwei von ihnen kenne ich. Sie haben auch vorgetanzt.
„Hey.“
Ich blicke neben mich, mein Tanzpartner gesellt sich gerade zu mir.
„Auch hey. Danke noch mal. Du warst echt toll.“
„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Ich bin übrigens Matthias.“
Seine Hand tanzt vor mir. „Greta“, erwidere ich lächelnd und reiche ihm meine.
Sein Körper sinkt gegen die Wand, seine Augen blicken Richtung Jury.
„Wie kommt es, dass du bisher bei keinem Vortanzen warst? Du bist echt gut.“
„Sag ich ihr auch immer, aber leider hockt in ihrem Kopf so ein kleiner Kobold, der ständig etwas anderes behauptet“, mischt Juliette sich ein.
„Hör auf. Das ist nicht fair.“
Ich schüttele immer wieder meinen Kopf. Das versteht sowieso niemand.
„Jetzt bin ich ja hier und es lief tatsächlich ganz gut. Wie lange werden sie sich beraten?“, frage ich Matthias und beachte Juliette überhaupt nicht mehr.
„Meistens dauert es ziemlich lange, aber diesmal liegt der Fall anders. Es bleibt nicht viel Zeit für ausgedehnte Entscheidungen. Ich bin übrigens die Zweitbesetzung.“
„Schade“, grinse ich ihn an, werde mir erst anschließend bewusst, wie das geklungen haben muss.
„Oh nein, so meine ich das nicht. Mir wäre es viel lieber, du würdest die Erstbesetzung sein.“
Matthias lacht, dabei entstehen um seine Augen kleine Grübchen. Er ist echt ein sympathischer Typ. Ganz anders als Adrian. Der Gedanke an ihn versetzt mir einen Stich.
„Warum schaust du so betrübt?“
Juliette klingt sich in das Gespräch wieder ein.
„Weil dein werter Bruder es nicht einmal für nötig gehalten hat, beim Vortanzen zuzuschauen. Ich meine, wenn er schon selber nicht tanzt, sollte er doch zumindest wissen wollen, mit wem er es die nächsten Wochen zu tun haben wird.“
Das macht mich echt wütend.
„Aber du darfst dich glücklich schätzen. Bei den anderen hat er nicht einmal ein paar Sekunden verschwendet. Nur bei dir war er kurz hier.“
Juliette nimmt ihn in Schutz?
„Ja, genau so lange, bis ich es in den Sand gesetzt habe. Jetzt hat er den perfekten Eindruck von mir.“
„Du willst Adrian beeindrucken?“
Mein Kopf wendet sich Matthias zu. Seine Stimme klang eigenartig.
„Beeindrucken ist das falsche Wort. Ich bin es wohl eher, die beeindruckt ist. Deswegen wäre es schön, wenn er meine beste Seite kennengelernt hätte. Wie soll ich ihm sonst als ebenbürtige Partnerin gegenüberstehen? Du musst wissen, dass ich von Natur aus schüchtern bin. Ich habe keinen Plan, ob ich das überhaupt schaffe. Kannst du nicht doch lieber die Erstbesetzung sein? Es wäre um so vieles leichter.“
Matthias sieht mich etwas nachdenklich an, bevor er wieder lächelt.
„Tja, das wäre es in der Tat. Aber Adrian verzichtet nicht freiwillig auf seine Rolle.“
„Dann müssen wir ihn wohl dazu zwingen“, flüstert Juliette und zwinkert uns beiden zu.
„Greta Fischer!“
Ich zucke zusammen. Juliette schiebt mich hoch, langsam trete ich der Jury entgegen. Herr Semirow blickt mich streng an.
„Das wird harte Arbeit. Fühlen sie sich dem gewachsen? Es wird zukünftig keine zweiten Chancen geben. Sie müssen auf den Punkt abliefern. Haben Sie das verstanden?“
Hippelig nicke ich und bringe noch ein: „Ja“ zustande.
„Unter den gegebenen Umständen und der kurzen Vorbereitungszeit sind Sie wohl unsere beste Option. Ich erwarte Sie morgen 8 Uhr tanzbereit. Mit der ersten Vorstellung treten Sie in Juliettes Vertrag ein. Vollständig. Haben Sie das verstanden?“
„Ja“, wiederhole ich mich.
„Und danke, dass sie mir diese Chance geben, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar!“
„Danken Sie nicht mir, sondern Juliette. Es ist schließlich ihre eigene Show, nicht wahr Fräulein Kopera?“
Seine Augen liegen erzürnt und enttäuscht auf Juliette, weshalb ich meine Augen auf sie wandern lasse. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. Allerdings holen mich seine Worte auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch nur B-Ware.
Alle erheben sich, die anderen Mädchen werfen mir missgünstige Blicke zu. So läuft das überall. Daraus mache ich mir auch nichts, aber der tiefere Sinn seiner Worte, der nagt an mir. Niemals hätte er mich ausgesucht. Sollte es mir egal sein? Sollte ich es wirklich nur als einmalige Möglichkeit, als Sprungbrett für meine Zukunft betrachten? Im Grunde meines Herzens weiß ich genau, dass ich so nicht bin und dass ich es nicht kann. Selbstzweifel nagen an mir. Mit diesem Gefühlschaos wende ich mich der Tür zu. Juliette und Matthias warten dort bereits auf mich.
„Ist das nicht wunderbar?“
Meine Augen wandern zu Juliette.
„Wir müssen reden, jetzt!“
Ich schüttele ihren Arm ab, hole meine Tasche und ziehe mich auf den großen Flur zurück. Als Juliette mich mit fragendem Blick anschaut, gehe ich einfach los. Erst draußen unter den großen, alten Eichen halte ich an und drehe mich nach ihr um. Matthias begleitet sie. Als er meine abweisende Miene erkennt, bleibt er stehen.
„Ich schätze, ich gehe dann mal. Kommt ihr zur Party bei Richard?“
Meine Arme vor der Brust verschränkend bleibe ich ihm eine Antwort schuldig. So bin ich sonst gar nicht, aber gerade jetzt möchte ich nur mit Juliette sprechen.
„Okay, dann bis irgendwann. War mir ein Vergnügen.“
Meine Augen wandern zu Juliette, die missachtend den Kopf schüttelt.
„Ich komme bestimmt. Bis dann“, säuselt sie ihm gut gelaunt hinterher.
„Spielst du jetzt schon die Diva? Daraus wird nichts, ich ...“
„Halt den Mund Juliette! Du denkst immer nur an dich. Du hast mich benutzt. Bei der ganzen, großen Mitleidsnummer für mich, geht es am Ende doch wieder nur um dich! Ich hätte nie geglaubt, dass du so egoistisch sein kannst.“
Juliette sieht mich an, als würde ich den Verstand verlieren. Vielleicht ist es tatsächlich soweit.
„Es geht doch nur um deinen Bruder. Du willst ihm eins auswischen, gibt es deine Knieschmerzen überhaupt? Ich bin so blöd, glaube dir jedes Wort!“
Wie betäubt werfe ich die Arme in die Luft. Von Juliette kommt keine Widerrede. Bingo.
„Warum tust du das? Kannst du mit ihm nicht einfach reden wie es normale Menschen tun?“
„Was weißt du schon. Du hast keine Geschwister, geschweige denn einen Halbbruder, der beschlossen hat, für den Rest deines Lebens die Vaterrolle zu übernehmen. Ich bin es leid. Das geht jetzt seit zehn Jahren. Ich bin neunzehn verdammt! Ich will meine eigenen Fehler machen, mich aus meinem Scheiß selber raushauen. Ja es tut mir leid! Du hast recht! Aber ich weiß wirklich nicht mehr weiter ...“
Juliette verschränkt die Arme vor ihrer Brust. Ich kann nicht einschätzen, in wieweit sie Theater spielt oder es echt ist. Nervös knabbere ich an meiner Unterlippe.
„Warum lügst du mich aber an? Du hättest es mir sagen können.“
„Und dann hättest du vorgetanzt?“
Juliette sieht mich eingeschnappt an und lacht resigniert auf.
„Vielleicht“, erwidere ich leise.
Dabei weiß ich genau, dass dies nicht der Wahrheit entspricht.
„Okay, wahrscheinlich eher nicht. Ich hätte dir empfohlen, dich mit ihm auszusprechen.“
Juliette lacht noch einmal, es klingt total unecht und wütend. Bin ich jetzt schon wieder der Buhmann?
„Meinst du, ich hätte es nicht versucht? Meinst du, es macht mir Spaß dich anzulügen? Er ist so stur. Ich bin es leid.“
Ihr Gesicht wirkt abwesend und traurig. Immer wieder wischt sie sich über die Wangen. Diesmal scheint sie jedenfalls kein Theater zu spielen. Das weiß man bei Juliette nie so genau.
„Aber warum hast du mich nicht gefragt? Wir hätten gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Du hast nur an dich gedacht und keinen Gedanken daran verschwendet, wie ich mich dabei fühlen könnte“, sage ich leise.
Juliette sieht mich an, anschließend nickt sie.
„Du hast recht. Aber immerhin ist für dich die Hauptrolle herausgesprungen, das ist doch wenigstens etwas oder?“
Wow! Sie kann echt gemein sein.
„Ich habe dich nicht darum gebeten und du weißt genau, dass ich immer alleine kämpfe. Alles was ich erreicht habe, habe ich selber geschafft. Niemand hat mir je etwas geschenkt.“
„Na dann freu dich doch jetzt mal ...“
„Ich freue mich aber nicht, wenn ich weiß, dass ich nur zweite Wahl bin, weil du deine Tage hast!“
Wir starren uns an. Ich löse zuerst meinen Blick.
„Tut mir leid. Es ist nur so ... so eigenartig. Natürlich möchte ich gerne tanzen. Das weißt du am besten, aber ...“, immer wieder schüttele ich den Kopf, „ich weiß einfach nicht, ob ich das packe. Mit Matthias war es ganz leicht. Seine Augen haben mir jegliche Angst genommen, ich konnte mich fallen lassen. Bei Adrian ... ich weiß nicht, ob ich mit ihm tanzen kann.“
Diesmal habe ich meine Gedanken laut ausgesprochen. Meine Augen wandern zurück in ihre. Eine kleine Weile sagen wir beide nichts bis Juliette sich räuspert.
„Hör zu. Das alles ist ganz blöd gelaufen. Ich bin eben ein egoistisches, exzentrisches und blödes Miststück!“
„Das habe ich so nie gesagt“, unterbreche ich sie.
Juliette hebt beschwichtigend ihre Hand.
„Adrians Worte. Mein Zug nach Madrid fährt in zwei Wochen. Vielleicht kannst du es probieren und schaust was daraus wird. Wenn du partout nicht möchtest, bleibe ich. Ich verspreche es. Okay?“
Während sie mit mir redet, umarmen wir uns. Mein Kopf liegt an ihrer Schulter, ich bin froh, dass wir uns ausgesprochen haben. Moment mal! Ich schiebe mich von ihr.
„Wolltest du nicht nach Berlin?“
Juliettes Augen leiern, alles klar. Auch nur eine beschissene Lüge. Sollte ich ihr überhaupt noch etwas glauben?
„Du weißt schon, dass man sich Vertrauen verdienen muss“, erwidere ich mürrisch.
„Ich verspreche es hoch und heilig.“
„Dann versprich mir auch, dass du mich nie wieder anlügst. Ich meine wirklich nie, nie wieder!“
Juliettes Augen lächeln so liebevoll mit mir, dass ich mich wieder an sie schmiege.
„Ich verspreche es, Gretchen.“
Zwei Stunden später telefonieren wir. Juliette hat mich schon wieder überrumpelt. Wie soll ich morgen für das Training fit sein, wenn ich mich nachts herumtreibe?
„Aber nur bis gegen 22 Uhr!“
Damit drücke ich mein Handy aus. Glücklicherweise ist es nicht weit. Die Straßenbahn kommt gerade und ich springe hinein. Der ganze Tag war verrückt. Juliette will mit mir unbedingt darauf anstoßen. Ja klar freue ich mich auch irgendwie, aber dieses Glück wird von diesem Breiklumpen in meinem Magen überdeckt. Ich hasse mich selber dafür. Nach drei Stationen verlasse ich die Bahn und biege in die Goethestraße ein. Es ist gleich das erste Haus an der Ecke. Vor dem Eingang erkenne ich bereits Juliette und neben ihr winkt mir Matthias zu.
„Hey, ich habe es gefunden“, überspiele ich meine Unsicherheit.
Juliette drückt mich, auch Matthias umarmt mich einfach. Das kommt ziemlich überraschend. Ich habe es nicht so mit dieser Knuddelei. Erst muss ich auftauen und Vertrauen aufbauen. Aber mein Mitspracherecht scheint in dieser Hinsicht nicht zu existieren. Als wir uns lösen, sehen mich seine warmen Augen strahlend an.
„Schön, dass du gekommen bist. Ich war mir vorhin nicht so sicher.“
„Ja sorry. So bin ich sonst gar nicht. Aber ich hatte mit Juliette ein Hühnchen zu rupfen...“
„Und da habe ich einfach gestört. Schon klar. Komm mit rein. Ich stelle dich ein paar Leuten vor.“
Hilfesuchend wandern meine Augen zu Juliette, doch die lacht mich nur kopfschüttelnd aus.
Das Haus ist wunderschön. Keines von diesen mega modernen Teilen, sondern eher ein gemütliches, kleines, so wie ich es mir in einer halben Ewigkeit wünsche.
„Wo ist denn dieser Richard?“, frage ich etwas später, nachdem ich gefühlt einhundert Hände geschüttelt habe.
„Der ist draußen im Garten. Er hat Zoff mit seiner Freundin. Also verschieben wir das lieber.“
Das Radler schmeckt gut, es ist schön kalt. Matthias verschwindet kurz, weshalb ich mich auf der Treppe zum Obergeschoss niederlasse. Gerade kommen noch ein paar Leute. Einen davon kenne ich. Mein Puls klettert sofort einige Etagen nach oben. Adrian. Den habe ich hier nicht erwartet. Juliette erzählt mir immer, dass er unter der Woche nie ausgeht. Aber was heißt schon nie, wie man sehen kann. Er ist größer als die meisten, seine blonden, lockigen Haare fallen ihm in die Stirn, während er lacht. Es ist mir schon öfter aufgefallen, dass er ein wunderschönes Lachen hat. Es erreicht seine Augen. Das ist nicht bei allen Menschen so. Außerdem wirkt er in diesen winzigen Augenblicken viel weniger arrogant, fast sogar warmherzig. Sein dunkelblaues Hemd passt wunderbar zu seiner Augenfarbe und steht oben zwei Knöpfe offen. Ich habe Adrian eigentlich noch nie ungestylt gesehen. Als ob er früh morgens bereits so aufwacht. Bei diesem Gedanken muss ich kichern.
„Du amüsierst dich alleine?“
Matthias neckt mich, schaut vom Geländer auf mich hinunter. Ich schüttele nur energisch den Kopf, was soll ich auch sagen. Ich bin keine Partymaus.
„Willst du tanzen?“
Fragend schaue ich mich um. Niemand tanzt.
„Wohl eher nicht“, erwidere ich irritiert.
„Nicht hier drin, draußen am Pool.“
Die haben einen Pool? Matthias belustigt sich über mich, greift sich meine Hand und zieht mich mit sich. Ich habe nicht einmal eine Sekunde, um noch einen Blick Richtung Tür zu werfen.
Mein Lachen will gar nicht mehr aufhören. Wieder und wieder dreht mich Matthias, obwohl ich ihm bereits dreimal gesagt habe, dass ich gehen muss. Es ist bereits nach 23 Uhr. Die letzte Bahn fährt Mitternacht.
„Bitte, lass mich gehen“, bettele ich schon wieder.
„Niemals!“, flüstert er plötzlich ganz nah an meinem Ohr.
Die Musik hat just in einen langsamen Song gewechselt. Es tanzen mehrere Pärchen, auch Juliette mit einem mir unbekannten Typen. Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse meinen Kopf gegen Matthias Schulter sinken. Er ist nur einen Kopf größer als ich. Der Abend ist fantastisch, ich habe mich selten so gut amüsiert. Eigentlich habe ich niemanden weiter kennengelernt. Gerade fällt mir auf, dass es Matthias gar nicht möglich gemacht hat. Er war ständig um mich. Meine Augen suchen Juliette, bleiben aber an einem blonden Typen hängen, dessen Blick auf Juliette ruht. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten, allerdings lässt er auf nichts Positives schließen. Ein schlankes, ebenso blondhaariges Mädchen schiebt sich vor ihn, seine Hände ziehen an ihr, so dass sie auf seinem Schoß landet. Sie lacht, küsst ihn anschließend. Überrascht sehe ich weg. Irgendwie kann ich mir Adrian als zärtlichen Liebhaber nicht vorstellen. Er wirkt so unnahbar.
„Bist du okay?“
Matthias reißt mich aus meinen Gedanken. Er verfolgt meinen Blick.
„Das wird schon. Soll ich dich heimbringen?“
Dankbar lächele ich ihn an, Matthias ist wirklich ein feiner Kerl. Als wir am Pool vorbeimüssen, nimmt er meine Hand. Mein Blick gleitet noch einmal zu Adrian, der mich just anschaut. Mir geht es durch und durch. In seinen Augen steht nur Abscheu. Gänsehaut wandert von meinem Nacken bis zu meinen Armen.
„Ist dir kalt?“
Matthias hat wohl meinen Frostschauer mitbekommen. Ich schüttele nur still den Kopf und gehe keinen Meter weiter wortlos an Adrian vorbei. Auch er hat kein Wort für mich. Das wird ein Desaster.
Wir lachen immer wieder. Die Probe mit Matthias hat sich als außerordentlich erfolgreich herausgestellt. Sogar Herr Semirow ist positiv gestimmt. Seine Augen schimmern irgendwie zufrieden, was ich als gutes Zeichen deute.
„Für heute bin ich zufrieden. Weißt du, wo Adrian steckt?“
Matthias schaut mich an, anschließend schüttelt er den Kopf. Wegen mir kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.
„Vielleicht könnten Matthias und ich als Paar tanzen. Ich vertraue ihm in der kurzen Zeit.“
„Mag sein. Aber es ist Adrians Rolle. Matthias springt nur im Notfall ein. Ich muss mit Adrian sprechen. Bis morgen.“
Wir üben noch ein paar Hebefiguren, immer wieder lassen mich laute Stimmen von draußen zur Tür schauen. Was ist dort nur los? Matthias setzt mich ab, wir werfen uns stille, fragende Blicke zu. In diesem Augenblick fliegt die Tür mit voller Wucht auf. Adrian stürmt mit wütendem Blick in den Raum direkt auf mich zu. Ich bin wie erstarrt.
„Anna oder Emma oder wer auch immer du bist. Wir werden niemals tanzen, so wahr ich hier stehe. Dies ist ein abgefucktes, ganz mieses Spiel. Aber Juliette kann ihren Arsch darauf verwetten, dass ich nicht mitspielen werde. Dann hat sie eine fette Vertragsstrafe an der Backe. Hast du das kapiert?“
Adrian baut sich direkt vor mir auf, ist dabei mindestens zwei Köpfe größer und strahlt eine dermaßen intensiv negative Energie aus, dass ich zitternd und heulend die Flucht ergreife.
„Was bist du für ein Arschloch! Sie kann doch nichts dafür. Beschwere dich bei deiner Schwester und lass deinen Frust nicht an hilflosen, kleinen Mädchen aus“, höre ich Matthias lautstark äußern.
Ich entkomme in den Flur, lasse mich vollkommen durcheinander an der Tür auf den Boden herabgleiten.
„Von wegen hilflos. Das ist ein abgekartetes Spiel. Sie ist ihre beste Freundin. Vielleicht haben dir die zwei Weiber dein Gehirn weggevögelt, aber ich falle darauf nicht herein. Wenn du unbedingt willst, dann hole sie zurück. Ich kann dir aber nicht garantieren, dass ich sie nicht aus Versehen fallen lasse.“
Seine bösen Worte dringen in mich, ich schluchze leise auf. Er ist so gemein. Warum hat Juliette mich mit hineingezogen?
„Du spinnst, Adrian, das bist doch nicht du. Und Greta wusste von diesem ganzen Kram gar nichts. Sie ist die anständigste Person, die ich je kennengelernt habe. Gerade sie solltest du nicht verurteilen. Du kennst sie überhaupt nicht.“
„Das soll auch so bleiben“, knurrt Adrian.
Ich will nichts mehr hören, aber nach Hause will ich auch nicht. Deshalb versuche ich mein Glück im kleinen Studio gegenüber. Die Tür ist tatsächlich nicht verschlossen. Todunglücklich und heulend lege ich mich auf den Boden. Die Tränen rinnen aus meinen Augen, ich kann nichts dagegen tun. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass es schwer werden würde. Aber dass er mich scheinbar abgrundtief hasst und mir nicht die kleinste Chance gibt? Einfach so? Ich versuche zu begreifen, warum Adrian sich so hintergangen fühlt und es als persönlichen Affront gegen seine Person ansieht. Womöglich liebt er Juliette mehr als er sollte? Mir will keine vernünftige Antwort darauf einfallen. Inzwischen kann ich keine Stimmen mehr hören, wahrscheinlich sind alle längst gegangen. Ich kann mich aber nicht aufraffen. Monoton greife ich mein Handy, stelle dieses Lied an und schließe die Augen. Wie immer nimmt es mich sofort gefangen, nimmt mich auf eine Reise mit, die ich noch gar nicht kenne. Ob es eine solche Liebe wirklich gibt? Ohne nachzudenken bewegen sich erst meine Hände, dann meine Arme. Ich stehe auf, versinke in der Melodie. Es ist befreiend, löscht zumindest für den Moment meine Sorgen aus. Noch einmal lasse ich es abspielen, erkenne die Tür und die Gestalt darin. Matthias steigt in den Song ein, hebt mich empor, wodurch es mir erneut Tränen in die Augen treibt. Ich vergesse mich vollkommen, tanze als wäre es der letzte Tanz auf Erden. Völlig versunken, völlig abwesend. Erst, als die letzte Zeile verklungen ist, erlischt auch dieses inbrünstige Feuer in mir. Matthias hält mich, atemlos schauen wir uns an. Ganz langsam und vorsichtig zieht er mich an sich. Für einen Moment lasse ich ihn, genieße es. Doch dann schiebe ich ihn von mir und sinke auf die kleine Bank. Matthias hockt sich neben mich.
„Adrian ist ein Idiot. Du tanzt sogar besser als Juliette. Anders besser. Deine Bewegungen sind anmutiger, inniglicher. Versteh mich nicht falsch. Juliette ist eine außerordentlich talentierte Tänzerin. Aber genau diesen Song füllst du perfekt aus. Ich nehme an, du kennst dich mit der Liebe aus?“
Soll das ein Scherz sein? Meine Augen huschen über seine. Ich sehe bestimmt schlimm aus. Ich erkenne nur Aufrichtigkeit und sein typisch liebevolles Lächeln.
„Meine einzige Liebe gilt dem Tanz, aber das kann ich nun vergessen. Juliette hat mir die Wahl gelassen. Ich kann hinschmeißen und sie wird bleiben. Ich habe ihr gesagt, sie hätte mit ihm reden müssen. Und natürlich hätte sie mit mir reden müssen. Aber jetzt weiß ich, dass man mit Adrian nicht reden kann. Er hat seine vorgefertigte Meinung und lässt nichts anderes gelten. Warum auch immer. Er gibt mir nicht einmal eine Möglichkeit, mich zu beweisen. Das Schlimme daran ist, dass ich es wahrscheinlich mit ihm sowieso nicht gekonnt hätte. Er schüchtert mich ein, ich werde mit ihm niemals so tanzen können. Also ist es egal, niemand bekommt, was er möchte. So ist das Leben. Ich verliere immer, solange ich denken kann. Erst meinen Vater, dann meine Mutter, ...“
Ich breche ab, gebe viel zu viel Preis. Meine Tasche schnappend renne ich zur offenstehenden Tür. Durch die Tränen erkenne ich Adrian, der mit den Händen in den Hosentaschen an der gegenüberliegenden Wand lehnt. Seine Haltung verändert sich etwas, strafft sich. Doch ich will nur noch weg. Soll er seinen Scheiß eben alleine machen. Ich bin raus.
„Juliette wird tanzen. Sie hat es versprochen.“
Die Worte kommen brüchig über meine Lippen. Ich sehe, wie sein Mund sich öffnet, um etwas zu sagen. Aber ich warte nicht ab, sondern laufe davon.
Den ganzen nächsten Vormittag wälze ich mich unruhig in meinem Bett hin und her. Ich habe mich kurzer Hand krankgemeldet. Juliette geht nicht an ihr Handy, was mich mehr als nervt. Mein Vertrauen in sie schwindet. Es ist gerade mal 9 Uhr durch, ich kann mir vorstellen, was Herr Semirow jetzt von mir denken wird. Meine Zukunft als Tänzerin kann ich nun absolut vergessen. Das Vibrieren meines Handys in meiner Hand lässt mich hektisch darauf sehen.
„Beweg deinen Hintern hier her!“
Die Nummer kenne ich nicht.
„Wer ist da?“
„Adrian.“
Vor Schreck fällt mir mein Handy aus der Hand. Meine Augen hängen an diesem einen Wort. Was will er denn noch? Reicht sein Auftritt von gestern nicht? Das erneute Vibrieren auf der Bettdecke lässt mich die Luft anhalten.
„Ich entschuldige mich wegen gestern. Du hast dreißig Minuten.“
Wie vom Bus überfahren kann ich es nicht fassen. Was soll ich denn jetzt machen? Diesmal vibriert mein Handy nicht, sondern klingelt mich freudig mit „Save your tears“ an. Noch eine unbekannte Nummer. Langsam greife ich danach und nehme den Anruf entgegen.
„Hallo?“
„Greta? Matthias hier. Kommst du? Adrian hat es sich nochmal überlegt und ist etwas zerknirscht wegen dem, was er gestern von sich gegeben hat.“
Ich kann ihn im Hintergrund reden hören, dass klingt aber anders.
„Sei still!“, faucht Matthias.
„Nicht du. Also kommst du? Semirow hat für heute auch abgesagt, er weiß also noch nicht, dass du verschlafen hast.“
„Ich habe ... verschlafen?“, frage ich ungläubig.
„Na klar, du Dummerchen. Deswegen rufe ich doch an. Aber jetzt solltest du dich wirklich beeilen, sonst bekommt der Typ mir gegenüber schlimme Gesichtskrämpfe.“
Matthias lacht laut und legt einfach auf. Ich stehe immer noch etwas neben mir und ringe mit meiner Entscheidung. Auf noch so eine Predigt wie gestern kann ich getrost verzichten. Andererseits hat er sich zumindest per SMS entschuldigt. Seufzend krabbele ich aus meinem Bett, bin keine zehn Minuten später tatsächlich auf dem Weg, wobei ich anhaltend vor mich hin schimpfe wie dämlich ich doch bin. Vor der Tür zum Tanzstudio halte ich inne und atme tief durch. Anschließend drücke ich die Türklinke nach unten. Unsere Augen treffen sich sofort. Adrian scheint bereits länger hier zu sein, er ist außer Atem. Ich sehe mich nach Matthias um, doch von ihm fehlt jede Spur.
„Komm rein, ich beiße nicht. Matthias ist schon weg.“
Nach einem längeren Augenkontakt schließe ich die Tür. Vorsichtig schiebe ich meine Tasche gleich daneben auf die Bank und stehe anschließend unschlüssig davor. Mein Herz pocht einen unsteten Rhythmus. Alles kommt mir verkehrt vor.
„Willst du dich nicht warm machen? Ich möchte ungern an einer Verletzung schuld sein.“
Seine Stimme klingt heute ohne Druck, aber auch ohne Emotionen. Wie die eines Fremden. Okay, nur nicht so viel hineininterpretieren, nur nicht so viel nachdenken. Nachdem ich mir meine Schuhe angezogen habe, stelle ich mich an die Stange vor den Spiegeln, beginne mit den alltäglichen Übungen. Meine Augen huschen ab und an über den Spiegel hinweg in seine Richtung. Adrian steht seit einer Weile am Fenster und scheint in sich versunken zu sein. Auch während ich mich ausgiebig dehne, bleibt er ohne Regung. Normalerweise wäre ich soweit, allerdings habe ich keinen Plan, wie er sich das hier weiter vorstellt. Deshalb laufe ich zu meiner Tasche zurück und trinke etwas. Adrian beobachtet mich aus den Augenwinkeln, letztlich wendet er sich um und lehnt sich an die Fensterbank.
„Matthias behauptet, dass du es echt drauf hast.“
Wieder sehen wir uns nur an. Sollte ich etwas erwidern?
„Was ich beim Vortanzen gesehen habe, war das genaue Gegenteil.“
Echt jetzt? Wie lange war er dort?
„Du meinst die verpatzten drei Sekunden?“
Mein Gesicht spricht sicher Bände, denn Adrian lacht leise und stößt sich von der Wand ab.
„Ich wusste nicht, dass ich deine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch genommen habe.“ Idiot! Arroganter Mistkerl! Doch ich bleibe still, das bringt doch alles nichts.
„Okay, jetzt hast du die Möglichkeit, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Semirow hätte dir Juliettes Platz nie gegeben, wenn er in dir nicht irgendetwas sehen würde.“
Das sind die ersten ansatzweise netten Worte, die ich von ihm höre. Deshalb stelle ich meine Trinkflasche auf die Bank und komme ihm ein Stück entgegen.
„Hast du auch das Solo vor dem Schlussakt drauf?“
Verwirrt nicke ich, ich dachte wir üben unser Duett, weil wir gerade zusammen sind. Adrian nickt, läuft Richtung Soundanlage. Ich begebe mich inzwischen an seine alte Position und warte auf sein Zeichen.
Erst nach dem dritten Anlauf verpatze ich meinen Einsatz nicht. Meine Bewegungen sind mechanisch, abspulend. Ich kann mich in Adrians Nähe nicht entspannen. Verärgert breche ich nach der zweiten Pirouette ab und stürze zum Fenster. Die frische Luft auf meiner Haut blendet meinen Frust auf mich etwas aus.
„Es ist noch keine Pause.“
„Ist doch egal. Es hat keinen Zweck. Sobald ich Juliette erreiche, bist du mich los.“
Plötzlich ist er direkt neben mir. Seine Hand dreht meinen Arm.
„Autsch verdammt. Du tust mir weh. Was willst du?“
„Wer sagt, dass ich überhaupt noch mit Juliette tanzen will?“
„Und was bedeutet das jetzt genau?