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Eine alte viktorianische Villa – ein finsteres Erbe: Der Familiengeheimnisroman »Das dunkle Herz der Villa« von Barbara Michaels als eBook bei dotbooks. Nach einem schweren Unfall sucht die junge Meg Zuflucht in der abgelegenen Villa ihrer Familie. Hier hat sie das Gefühl, endlich wieder aufatmen zu können – bis sie Nacht um Nacht von düsteren Träumen geplagt wird. Darin erlebt sie, wie eine wunderschöne unbekannte Frau in der Villa ihrer Familie gefangen gehalten wird. Immer mehr beschleicht Meg der Verdacht, dass sich vor über 200 Jahren ein schreckliches Verbrechen ereignet hat, das seine Schatten bis in die Gegenwart wirft. Andy Brenner, der Verwalter des Anwesens, den sie noch aus Kindheitstagen kennt, will Meg bei ihren Nachforschungen helfen. Aber während seine starken Arme Wärme und Geborgenheit versprechen, flüstern seine dunklen Blicke von tödlicher Gefahr … »Faszinierend für alle, die Romantik mit einem Hauch Unheimlichem lieben.« San Francisco Chronicle Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Familiengeheimnisroman »Das dunkle Herz der Villa« von Bestseller-Autorin Barbara Michaels. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 399
Über dieses Buch:
Nach einem schweren Unfall sucht die junge Meg Zuflucht in der abgelegenen Villa ihrer Familie. Hier hat sie das Gefühl, endlich wieder aufatmen zu können – bis sie Nacht um Nacht von düsteren Träumen geplagt wird. Darin erlebt sie, wie eine wunderschöne unbekannte Frau in der Villa ihrer Familie gefangen gehalten wird. Immer mehr beschleicht Meg der Verdacht, dass sich vor über 200 Jahren ein schreckliches Verbrechen ereignet hat, das seine Schatten bis in die Gegenwart wirft. Andy Brenner, der Verwalter des Anwesens, den sie noch aus Kindheitstagen kennt, will Meg bei ihren Nachforschungen helfen. Aber während seine starken Arme Wärme und Geborgenheit versprechen, flüstern seine dunklen Blicke von tödlicher Gefahr …
»Faszinierend für alle, die Romantik mit einem Hauch Unheimlichem lieben.« San Francisco Chronicle
Über die Autorin:
Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.
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eBook-Neuausgabe August 2020
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1974 unter dem Originaltitel »House of many Shadows« bei Fawcett Books. Die deutsche Erstausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Das Haus der langen Schatten« bei Heyne.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1974 by Barbara Michaels
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1993 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Yodgi / Mountains Hunter / Christina Richards / justwonder4you / freedomnaruk / Nik Merkulov
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-163-2
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Barbara Michaels
Das dunkle Herz der Villa
Roman
Aus dem Amerikanischen von Hilde Linnert
dotbooks.
Für meine Tochter Beth
Am meisten störten Meg die Geräusche. Wenn man sie als auditive Halluzinationen bezeichnete, waren sie allerdings etwas leichter zu ertragen – ein Phänomen ist weniger beunruhigend, wenn es einen ordentlichen wissenschaftlichen Namen trägt. Meg hatte sich unter Halluzinationen immer etwas vorgestellt, das man sieht. Solche Halluzinationen hatte sie ebenfalls, aber unlogischerweise akzeptierte sie visuelle Illusionen ohne weiteres als unreal, während sie halluzinatorische Geräusche nicht überhören konnte. Natürlich wird man abgelenkt, wenn man gerade konzentriert einen Brief tippt und einem gleichzeitig eine Stimme etwas ins Ohr flüstert.
Dieses Problem ließ sich nicht so leicht beschreiben, und Meg fiel es ohnehin schwer, jemandem etwas zu erklären. Außerdem war es immer schon schwierig gewesen, Sylvia etwas auseinanderzusetzen. Sylvia wußte auf alles eine Antwort.
Meg versuchte es noch einmal.
»Es war mir absolut unmöglich, mit dem Diktiergerät zu arbeiten. Ich konnte nicht hören, was Mr. Philipps gesagt hatte. Die Stimmen murmelten immerzu und übertönten seine Worte. Einmal verdrängte der gesamte Mormonische Tabernakelchor den zweiten Absatz eines sehr wichtigen Memos.«
Sie lächelte, während sie sprach. Jetzt klang es komisch, aber damals hatte sie es überhaupt nicht komisch gefunden.
Sylvia lächelte nicht. »Der Mormonische Tabernakelchor? Warum ausgerechnet der?«
Meg zuckte hilflos die Achseln. »Es gibt keinen Grund dafür. Das ist ja der springende Punkt. Es handelt sich um sinnlose Halluzinationen. Der Arzt behauptet, daß sie irgendwann aufhören werden, aber bis dahin … Mr. Philipps war sehr nett. Sobald ich wieder arbeiten kann, will er versuchen, eine neue Stelle für mich zu finden, aber ich konnte nicht erwarten, daß er mich behält. Manche Bänder mußte ich mir dreimal anhören, um den Inhalt zu verstehen, und dann bestand noch immer die Möglichkeit, daß ich etwas Wichtiges überhörte. Und ich hatte bereits meinen ganzen Krankenurlaub verbraucht. Drei Wochen im Krankenhaus …«
»Du solltest froh sein, daß du nicht tot bist«, meinte Sylvia. »Daß der Mann, der den Wagen lenkte, nie gefaßt wurde, ist unerhört. New York ist ein wahrer Dschungel. Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst. Kann ich noch eine Tasse Tee haben?«
Meg schluckte die gereizte Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunter und schenkte nach. Sie konnte es sich nicht leisten, Sylvia zu verärgern, vor allem jetzt nicht, wenn sie sie um eine Gefälligkeit bitten mußte; aber die Klischees, die Sylvias einziges Kommunikationsmittel waren, hatten sie noch nie so aufgebracht. Warum sollte sie darüber froh sein, daß sie nicht tot war? Sie konnte genauso gut darüber froh sein, daß sie nicht an Lepra litt oder nicht mit dem verflixten siebten Jahr kämpfte oder nicht mit zwei Köpfen zur Welt gekommen war. Es war genauso logisch und wesentlich menschlicher, statt Freude Ärger zu empfinden. Warum ausgerechnet ich?
Die alte Frage, auf die es nie eine Antwort gibt … Warum mußte ich dem verrückten Autofahrer in den Weg laufen. Warum mußte ich auf dem Kopf landen statt auf einer weniger empfindlichen Stelle meiner Anatomie. Und warum, warum nur, lieber Himmel, muß ich statt einer netten, kleinen Gehirnerschütterung diese exotischen Symptome davontragen? Warum muß ich die arme Verwandte sein, die keine Ersparnisse besitzt, von denen sie leben kann, während Sylvia …
Sylvias eng beieinanderstehende graue Augen musterten die Teekanne aufmerksam. »Eine schöne Silberarbeit«, murmelte sie.
Das Teeservice war der einzige Wertgegenstand, den Meg besaß – das einzige Familienerbstück, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Davon abgesehen war die Wohnung mit Überbleibseln und Notbehelfen möbliert – Farbpostern statt Bildern, Stoffresten, die sie zu Vorhängen und Patchworkkissen verarbeitet hatte, Möbeln aus zweiter Hand, die Meg eigenhändig instandgesetzt und frisch gestrichen hatte. Es wirkte anheimelnd, weil Meg gelernt hatte, mit Provisorien umzugehen, aber es war gewiß nicht das Ambiente, an das Sylvia gewöhnt war. Man konnte sich darauf verlassen, daß sie den einzigen wertvollen Gegenstand in der Wohnung entdecken würde. In ihren Augen leuchtete Habgier auf; es war das einzige Gefühl, das die Kälte in ihnen milderte.
Sylvias linke Hand war halb in dem luxuriösen, weichen Zobelpelz vergraben, der neben ihr auf der Couch lag. Sie hatte nicht zugelassen, daß Meg ihn aufhing. Die Vorstellung, daß dieses rauchgraue Prachtstück zwischen Megs abgetragenem Trenchcoat und einer sechs Jahre alten Leopardenfellimitation hängen sollte, war tatsächlich widersinnig.
Meg musterte ihre Kusine zweiten Grades wieder einmal ungläubig. Wie hatte Sylvia es nur geschafft? Drei Ehemänner, alle drei wohlhabend, einer von ihnen Multimillionär. Hätte Sylvia dem gängigen Sexidol entsprochen – blond, langbeinig, schlank, Schlafzimmeraugen –, wäre es leichter zu verstehen gewesen. Aber Sylvia sah wie eine der Frauen aus, die mit einem kleinen Taschenrechner durch den Supermarkt gehen und die Preise addieren, während sie ihren Einkaufswagen füllen. Ihre Haare waren ausgezeichnet frisiert, aber naturbelassen grau; der Zobel und das teure Kostüm verbargen nicht, daß sie rundlich war. Sylvia trug eine Brille – eine hellblaue Fassung mit kleinen Straßsteinen. Meg hatte auf einem Teller ein paar Plätzchen arrangiert und beobachtete jetzt neugierig ihre Kusine, die sich darüberbeugte; sie suchte etwas – Wärme, Freundlichkeit, einen Hauch von Empfindsamkeit, fand nichts und gab seufzend auf. Sylvia hatte ihre guten Seiten, aber keine von ihnen gehörte zu den Eigenschaften, die einen Mann, geschweige denn einen Millionär, anzogen. Doch es waren Eigenschaften, die einer mittellosen Verwandten nützlich sein konnten.
»Es ist sicherlich nicht besonders empfehlenswert, in Manhattan zu leben«, gab sie zu. »Die Ärzte behaupten sogar, daß es im Augenblick für mich besonders schlecht ist. Offenbar würde sich dieser – dieser Zustand rascher ändern, wenn ich Ruhe und gute Luft hätte.«
»Hier bekommst du sie bestimmt nicht«, meinte Sylvia gönnerhaft. »Der Lärmpegel ist so hoch, daß er einen fertig macht.«
»Ich brauche deine Hilfe, Sylvia«, meinte Meg unvermittelt. »Ich bitte dich sehr ungern darum …«
»Das ist klar«, bestätigte Sylvia und blickte auf. Ihr reizloses Gesicht mit den kleinen Fältchen wirkte entspannt, und Meg wußte, daß ihre Antwort sich nicht auf den zweiten Teil des Satzes, sondern auf die erste Hälfte bezog. Sylvia besaß keine Spur von Phantasie, aber sie war auch nicht boshaft.
»Ich habe darüber nachgedacht, was das Beste für dich wäre«, fuhr Sylvia fort. »Der Arzt hat dir wahrscheinlich nicht verraten, wie lange dieser Zustand anhalten wird? Nein, so etwas sagen Ärzte nie. Ja also … sechs Monate vielleicht. Ja, sechs Monate sollten reichen.«
Sie griff wieder nach einem Plätzchen und sah Meg an, die hörbar nach Luft schnappte und sich zurücklehnte.
»Du bist weiß wie ein Laken«, bemerkte Sylvia kritisch. »Sicherlich, mager warst du immer, und groß bist du auch nicht – aber du müßtest mehr Fleisch auf den Knochen haben. Wahrscheinlich hast du im Krankenhaus abgenommen. Nimm dir ein Plätzchen. Zucker baut auf!«
Meg gehorchte lachend. Das Lachen war ein wenig zittrig, genau wie ihre Hand, als sie nach dem Plätzchen griff. Sie hatte gewußt, daß sie sich auf Sylvia verlassen konnte, aber … Schließlich waren sie nur entfernt verwandt, und Sylvia war ihr nichts schuldig. Es ist nicht angenehm, wenn man mit dreiundzwanzig mit seinem Latein am Ende ist und sich nur auf die Mildtätigkeit einer Kusine zweiten Grades verlassen kann.
Sie lächelte Sylvia aufrichtig dankbar an, dachte jedoch unwillkürlich, daß diese ihre Großzügigkeit eingegrenzt hatte. Sechs Monate. Sie hätte gern gewußt, wie Sylvia zu der Erkenntnis gelangt war, daß sechs Monate ausreichten, damit sie sich von ihrem ungewöhnlichen Leiden erholte. Aber darum ging es nicht. Sechs Monate war Sylvias üblicher Zeitraum. Es war ihr Hobby, Menschen zu helfen, die sich vorübergehend in Schwierigkeiten befanden – doch das Schlüsselwort war »vorübergehend«. Sylvia erwartete von ihren Schützlingen, daß sie innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne mit ihren Problemen fertigwurden. Wenn sie sich nicht zusammenrissen, wusch Sylvia ihre Hände in Unschuld; abgesehen davon war sie diejenige, die festlegte, was eine vernünftige Zeitspanne war.
Als Meg an diesem Punkt ihres stummen Selbstgesprächs angelangt war, schämte sie sich. Sie war boshaft und undankbar; eine der bedauerlichen Nebenwirkungen ihres Unfalls war ein ungewohnter Zynismus. Meg mochte diese Eigenschaft nicht und kämpfte dagegen an – am besten gleich jetzt Sylvia gegenüber. Also lächelte sie ihre Kusine so herzlich an, daß Sylvia hinter der dicken Brille blinzelte.
»Überlegen wir einmal …«, begann Sylvia. »Du beziehst doch diese kleine Leibrente?«
»Es ist eigentlich keine Rente, sondern es sind die Zinsen der Anleihe, die meine Eltern mir hinterlassen haben.«
»Könntest du davon leben, wenn du keine Miete und keine Nebenkosten bezahlen müßtest?«
»Ich weiß nicht recht …«
»Dann wollen wir es ausrechnen.« Sylvia entnahm ihrer Handtasche eine goldene Füllfeder. Sie begann, mit ihrer kleinen, präzisen Schrift auf einer Papierserviette Notizen zu machen. »Du mußt keine Kleider kaufen, du wirst keine Gäste einladen. Auf dem Land ist das Essen nicht so teuer …«
Meg öffnete den Mund, um die naheliegende Frage zu stellen, und schloß ihn wieder. Sylvia dachte an etwas Bestimmtes. Es hatte keinen Sinn, sie zu unterbrechen, denn sie würde erst dann auf Fragen antworten, wenn sie mit dem fertig war, was sie gerade tat. Sie brauchte nicht lange dazu.
»Das dürfte hinkommen«, verkündete sie vergnügt und überflog ihre Liste. »Die Arztkosten sind das einzige, was den Voranschlag überschreiten könnte. Wenn dieser Fall eintritt, geh zu Brumbart. Er stammt aus der Gegend, ist aber recht tüchtig; er soll die Rechnungen an mich schicken. Wie steht es mit Medikamenten? Nimmst du Tranquilizer? Versuche, den Verbrauch einzuschränken. Ich habe nichts dagegen, wenn sie eine vorübergehende Hilfe sind, aber du darfst nicht von ihnen abhängig werden. Davon abgesehen, solltest du es schaffen. Falls es dir nicht gelingt … Na ja, dann laß es mich wissen.«
Liebe, sagte sich Meg, denke an Liebe. Denke nicht an Sylvias Millionen und an die kleinliche, mit jedem Penny knausernde Liste, die sie aufgestellt hat. Sei nicht verärgert, weil Sylvia genau weiß, wie hoch dein winziges Einkommen ist. Es ist typisch für sie, daß sie es weiß. Und ihre Bemerkungen über Tranquilizer sind vernünftig. Es geht nicht darum, was Sylvia sagt, sondern wie sie es sagt.
»Ich komme bestimmt zurecht.« Megs Lächeln wurde allmählich verkrampft. »Aber wo …«
»Das Haus in Pennsylvania.«
»An das erinnere ich mich nicht.«
»Es ist das Haus, das George – mein zweiter Mann – mir überlassen hat.«
»Ach ja.« Megs Lächeln war jetzt ehrlich belustigt. »George war derjenige, der gestorben ist, nicht wahr?«
»Zwei von ihnen sind gestorben«, stellte Sylvia richtig. »Frederic – mein Erster – war derjenige, der aus der Wand gefallen ist. Für einen Mann seines Alters war es lächerlich, auf Felsen herumzuklettern, aber er wollte vor dieser Schauspielerin angeben. Wie hieß sie noch? Ich habe es vergessen, an diesem Wochenende waren so viele von ihnen da. Schauspielerinnen und Schauspieler, meine ich. Frederic hinterließ mir das Haus in Maine – dort ist er abgestürzt –, das Haus auf den Bahamas und das Château. George – mein Zweiter – vererbte mir das Haus in Pennsylvania und die Anwesen in San Francisco, Paris und Rom. Er hatte Angina pectoris. Es kam sehr plötzlich. Sie holten ihn noch einmal ins Leben zurück, aber nur für kurze Zeit.«
»Mir fällt es schwer, deine Ehemänner auseinanderzuhalten«, meinte Meg.
»Ich habe natürlich ein persönliches Interesse an ihnen. Wilfred, mein Dritter, war derjenige, der sich von mir scheiden ließ. Ich habe nie verstanden, was er an dieser Frau fand. Ihre Haare waren so oft gebleicht worden, daß sie wie Stroh aussahen. Es hielt nicht lang. Er ist jetzt bei seiner Vierten angelangt – oder ist es seine Fünfte?«
»Es hat mich etwas überrascht, daß du nicht wieder geheiratet hast, Sylvia. Es ist jetzt schon fünf Jahre her, nicht wahr?«
»Nächsten Monat sind es sechs.« Sylvias Stimme klang ausdruckslos, aber einen Augenblick lag etwas in ihren blaßgrauen Augen, das Meg eigentümlich berührte. »Ich mochte Wilfred, weißt du. Aber immerhin«, fuhr sie lebhaft fort, »überließ er mir das Haus in London und das in Palm Beach, natürlich nebst einer großzügigen Abfindung.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du deinen gesamten Besitz im Auge behältst.«
»Ich habe nichts anderes zu tun. Für Hobbies hatte ich nie etwas übrig. Reine Zeitverschwendung. Dank meiner Investitionen und allem übrigen besitze ich ausreichend Geld – so ausreichend, daß ich beinahe entschlossen bin, das Haus in Pennsylvania der dortigen Historischen Gesellschaft zu verkaufen. Sie können nicht viel dafür bezahlen, aber ich kann es mir leisten, großzügig zu sein. Das würde George gefallen. Er war immer so stolz auf das Haus.«
»Aber wenn du es verkaufen willst …«
»Ich werde es nicht so schnell verkaufen. Es muß noch eine Menge getan werden, deshalb bin ich der Meinung, daß es das richtige Haus für dich ist. Du kennst dich mit Antiquitäten und solchen Dingen aus. Die Culver waren beinahe ein Jahr dort, und ich habe sie gerade erst gebeten zu gehen.«
Meg taten die gerade vertriebenen Culver leid. Wahrscheinlich hatten sie sich nicht zusammengerissen. Sie mußten ein ungewöhnlich verdienstvoller Fall sein, wenn Sylvia ihren üblichen Sechs-Monate-Termin verlängert hatte.
»Er ist Künstler«, fuhr Sylvia fort. »Maler, sollte ich wohl sagen. Begabt, aber hoffnungslos faul. Er hat innerhalb von acht Monaten kein einzige Bild fertiggestellt. Deshalb habe ich ihnen gesagt, daß sie ausziehen sollen. Du kannst einziehen. Ich möchte, daß du es herrichtest – du weißt, was ich meine. Es gab in dem Haus schöne, alte Möbel, zumindest hielt ich sie für schön, wenn auch für altmodisch. Die besten Stücke habe ich auf den Dachboden gebracht. Es hat keinen Sinn, wenn ich meine Mieter von echten Chippendale-Tischen essen lasse. Du solltest dir alles ansehen und entscheiden, was im Haus bleiben und was verkauft werden muß. Vielleicht kannst du in den dortigen Antiquitätengeschäften noch ein paar Stücke auftreiben, gerade genug, damit das Haus stilecht eingerichtet ist. Du wirst schon wissen, was zu tun ist. Wenn ich es der Historischen Gesellschaft verkaufe, möchte ich, daß es ordentlich ausgestattet ist, mit den richtigen Möbeln, Bildern und allem.«
Sie sah sehr selbstzufrieden aus, als sie nach dem letzten Plätzchen griff. Meg starrte sie restlos verwirrt an. Ihr war nicht ganz klar, was Sylvia von ihr erwartete. In bezug auf Antiquitäten war sie eine Dilettantin. Dann fiel der Groschen. Als Gegenleistung für ihr Zimmer mußte sie Sylvia einen Dienst erweisen, selbst wenn diese einen Job erfinden mußte, um sie zu beschäftigen.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach sie. »Aus welcher Bauperiode stammt das Haus? Kolonialstil?«
»Nein. Es ist eine absolut scheußliche viktorianische Villa – ich glaube, man nennt es neugotisch, mit farbigem Glas und allem Drum und Dran. Ich finde es entsetzlich, aber offenbar gilt so etwas heute als reizvoll. Außerdem ist es ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen Baustil.«
»Du meine Güte«, stöhnte Meg, als das Bild allmählich vor ihrem geistigen Auge Gestalt annahm. »Es klingt überwältigend. Bist du sicher, daß es in dem Haus nicht spukt? Im Augenblick würde ich es nicht ertragen, mit einem Gespenst zusammenzuleben.«
»Warum sollte es dort spuken?«, fragte Sylvia verständnislos.
»Das sollte ein Witz sein.«
»Ach so. Ich habe jedenfalls nie von einem Gespenst gehört. Es ist ein riesiger alter Kasten, in dem du dich verirren wirst, aber die Gegend ist sehr friedlich. Es liegt in Berks Country auf dem Land, und im Gästehaus wohnt ein Hausmeister. Es ist weiß Gott ruhig. Das Grundstück umfaßt beinahe zwanzig Acres.«
»Zwanzig Acres!«, rief Meg. »Allein das Land muß heute einen ansehnlichen Betrag wert sein. Willst du all das der …«
Sie verstummte, als sie Sylvias Gesichtsausdruck sah. Sylvia wirkte nicht schuldbewußt. Die Meinung, die sie von sich hatte, war durch nichts zu erschüttern. Aber sie wirkte selbstgefällig, und Meg verstand. Natürlich würde Sylvia das Land nicht verschenken. Sie würde es einem Bauplaner verkaufen – oder sie hatte vielleicht vor, das Grundstück selbst zu erschließen. Das Haus an sich war zu wertvoll, um abgerissen, und zu groß, um auf den Markt geworfen zu werden. Sylvia würde es auf einem halben Hektar Grund hocken lassen und der einzigen Institution verkaufen, die bereit war, es zu erwerben.
Meg kämpfte wieder einmal mit Neid und Zynismus.
»Es ist sehr lieb von dir, mir zu helfen. Ich werde mich nach besten Kräften des Hauses annehmen. Danke.« Einem plötzlichen Impuls folgend sprang sie auf und küßte Sylvia auf die Wange.
Diese rümpfte die Nase. »Kommen wir auf unser Budget zurück.«
Als Sylvia endlich ging, waren Megs Ausgaben bis zum letzten Kaugummi und zur letzten Papiernagelfeile festgelegt. Sylvia hatte einen Cocktail am Tag vorgesehen – »Wenn du allein und deprimiert bist, mußt du darauf achten, daß du nicht zu viel trinkst.«
Meg begleitete ihre Kusine zur Wohnungstür und sah ihr nach, wie sie durch den Korridor zum Fahrstuhl ging. Sie bildete sich ein, daß Sylvias aristokratisches Cape die Haare anlegte, um jeden Kontakt mit den abblätternden, mit Leimfarbe gestrichenen Wänden zu vermeiden. Sobald sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, verriegelte Meg ihre Wohnungstür – nach zwei Jahren in Manhattan eine automatische Maßnahme – und trat ans Fenster.
Unten auf der Straße stand Sylvias lange, schwarze Fleetwood-Limousine am Gehsteig und mißachtete großzügig das Schild »Parken verboten«. Der Chauffeur stand daneben und behütete den Wagen vor schlimmen kleinen Jungen. Als Sylvia aus dem Gebäude trat, nahm er Haltung an und öffnete die Wagentür. Sylvia zog ihr Cape enger um sich und bückte sich, um einzusteigen. In diesem Augenblick durchbrach ein kühner Sonnenstrahl die Düsternis der Stadt und fiel voll auf ihren hutlosen Kopf. Die grauen Haare leuchteten silbern.
Meg, die von oben zusah, verzog die Lippen, und ein Grübchen, das in den letzten Monaten nicht oft erschienen war, kam aus seinem Versteck zum Vorschein. Mag hatte eine Schwäche für Omen, und das war das erste hoffnungsvolle Zeichen seit langem. Sylvia war ein Schutzengel, wenn auch ein unwilliger.
Megs Gesicht spiegelte sich undeutlich in dem schmutzigen Fensterglas – ein blasses, spitzes Gesicht, das von kurz geschnittenen braunen Haaren umrahmt war. Zum Glück wuchsen ihre Haare schnell. Sie hatte sie kurz geschnitten, als der abrasierte Teil nachzuwachsen begann, aber sie waren noch immer glanzlos und die Frisur stand ihr nicht. Ihr Spiegelbild schmeichelte ihr nicht; sie sah wie ein verängstigtes Kind aus, dessen dunkle Augen zu groß für das magere Gesicht sind. Die Augen schienen etwas zu fragen.
Es wäre gut, wenn ich es schaffe, beantwortete Meg die stumme Frage. Ich muß es schaffen. Sechs Monate. Mehr Zeit habe ich nicht.
Nach Sylvias Beschreibung war Meg darauf gefaßt, ein scheußliches Haus vorzufinden, das alle Merkmale der viktorianischen Gotik aufwies – hölzernes Schnitzwerk, Pseudofachwerk, Konsolen und farbige Glasfenster. Doch sie war angenehm überrascht. Das Haus besaß Persönlichkeit und eine gewisse Würde.
Es stand auf einem niedrigen Hügel, war von Bäumen umgeben und nicht so groß, wie sie erwartet hatte. Aus Stein erbaut – blauer Marmor und Kalkstein –, besaß es zwei Stockwerke plus einem Dachgeschoß mit lustigen kleinen Giebelfenstern.
Es erinnerte sie an die kleinen, behaglichen Provinzschlösser der unbedeutenden deutschen Barone und Grafen. Eine breite, von schweren Holzpfeilern getragene Veranda zog sich an der Vorderseite des Hauses entlang. Schornsteine ragten aus dem Dach, und an der Rückseite erhob sich ein quadratischer steinerner Turm mit Balkonen und reizvollen dreiteiligen Fenstern mit Rundbögen. Der Turm besaß ein Giebeldach; wie auch beim Haus, bestand der Abschluß der Giebel aus schmiedeeisernen Kreuzblumen. Es gab einige Fenster mit Bleifassungen, während andere das von ihr erwartete farbige Glas aufwiesen. Sogar an einem düsteren Wintertag hätte das Haus nicht abstoßend ausgesehen. Es war ein Spielzeugschloß und wirkte an dem strahlenden Herbstnachmittag inmitten der kupferfarbenen Bäume entscheidend frivol.
Megs Stimmung besserte sich, als das Taxi die lange, von Rasenflächen gesäumte, gewundene Auffahrt hinauffuhr. Der Rasen mußte gemäht, und die Büsche mußten gestutzt werden, aber das Ganze wirkte nicht vernachlässigt, sondern unbekümmert und bezaubernd. Trauerweiden fegten mit ihren langen Röcken über das Gras, und die große Eiche neben dem Haus war in ihrer Art ein Patriarch.
Meg gab dem Taxifahrer in ihrem Überschwang ein großzügiges Trinkgeld, worauf er ihr Gepäck auf die Veranda trug. Der größte Teil ihrer Besitztümer war vorausgeschickt worden. Sylvia hatte ihr versprochen, daß sich der Verwalter um alles kümmern würde, und als Meg durch die Glasscheiben neben der Eingangstür blickte, sah sie, daß sich in der Halle Schachteln türmten.
Der Fahrer bot ihr an zu warten, während sie das Haus besichtigte, aber sie lehnte lächelnd ab. Sie wollte allein sein, wenn sie über die Schwelle trat. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie hier Angst haben würde; dazu war es zu ruhig und zu ländlich. Sie sah dem davonfahrenden Taxi nach und bemerkte dabei weitere Kostbarkeiten – ein Sommerhaus inmitten einer Gruppe von Buchen, ein eiserner Hirsch, der aus einem verwilderten Spiräendickicht hervorlugte. Dann griff sie in die Tasche, zog die Schlüssel heraus, die Sylvia ihr gegeben hatte, und steckte sie feierlich in das jeweils zuständige Schloß. Ein alter, schwerer, eiserner Schlüssel paßte in das ursprüngliche und ein Yale-Schlüssel in das moderne Schloß. Sie funktionierten klaglos. Als Meg gegen die Tür drückte, schwang diese geräuschlos auf. Sie lächelte. Die gotischen Türangeln knarrten nicht einmal. Ein weiteres gutes Omen.
Sie wollte gerade das Haus betreten, als eine Stimme etwas rief. Als sie sich merkwürdigerweise gereizt umdrehte, sah sie, daß ein Mann über den Rasen kam. Er ließ sich Zeit, was ihren Ärger verstärkte, ihr aber die Möglichkeit gab, die flüchtige Erinnerung, die er ausgelöst hatte, genau zu bestimmen. Es war ein Gemisch von Eindrücken: Schlamm, Felsen und enge, dunkle Orte …
Obwohl Meg noch nie in diesem Haus gewesen war, hatte sie den Mann kennengelernt, dem es einst gehörte – Sylvias zweiten Ehemann. Sie hatte einmal einen Monat bei Sylvia in Kalifornien verbracht, während ihre Eltern Urlaub machten. Sie erinnerte sich undeutlich an George Brenner, einen schweigsamen, lächelnden Mann, der seiner lebhaften Frau unerklärlicherweise treu ergeben war. Und er hatte einen Sohn.
Schlamm, Steine und dunkle, enge Orte … Meg verkrampfte sich, als weitere Erinnerungen an diesen schrecklichen Monat wiederkehrten. Andy Brenner war ganz bestimmt der widerlichste, gemeinste Junge seiner Generation gewesen. Meg war damals acht Jahre alt. Andy war einige Jahre älter und somit erfinderisch und jung genug, um die Streiche zu genießen, die er dem schwachen Geschlecht spielte. Er hatte sie in Kleiderschränke und Schuppen gesperrt. Er hatte sie in die Marschen gelockt, die ihre Schuhe und ihre hübschen Sommerkleider mit Schlamm verkrusteten. Er hatte nach ihr geworfen – nein, nicht mit Steinen, sie mußte fair bleiben, aber die harten, grünen Äpfel hatten sich an ihren mageren, kurzen Beinen wie Steine angefühlt. Jeder Stuhl, in den sie sich setzte, gab ekelhafte Geräusche von sich, von jeder Tür, die sie öffnete, fiel ihr etwas auf den Kopf. Sie war einmal in einem Käfig aus Seilen aufgewacht. Andy hatte erfinderisch eine kräftige Schnur um die vier Säulen gewunden, die den Betthimmel trugen, und sie hatte gebrüllt, bis Sylvia sie befreite. (Sylvia hatte die Schnur nicht zerschnitten; das wäre verschwenderisch. Sie hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um sie aufzuwickeln, so geschickt hatte Andy sein Fadenspiel angelegt.) Sylvia war verärgert gewesen, aber dieser Ärger hatte sich unparteiisch gegen beide Kinder gerichtet. »Du bittest ja darum«, hatte sie zu Meg gesagt. »Du müßtest dich nur wehren, dann würde er dich nicht mehr quälen.« Ein ausgezeichneter Rat, wenn sie imstande gewesen wäre, ihn zu befolgen …
Als die daherschlendernde Gestalt so nahe war, daß Meg sie eindeutig identifizieren konnte, überwältigte sie die Erinnerung, und sie kniff wütend die Augen zusammen. Andy hatte sich nicht sehr verändert, außer daß er ein Stück gewachsen war. Der gleiche struppige, rotbraune Haarschopf, die gleiche Stupsnase, die gleichen abstehenden Ohren, der gleiche hagere, drahtige Körper, der unerwartet schmerzhafte Kraft entfaltete, wenn er an ihr Jiu-Jitsu-Griffe übte. Kein Wunder, daß Sylvia den Namen des Verwalters nicht erwähnt hatte.
Bei näherer Überlegung gelangte Meg zu der Erkenntnis, daß sie von Sylvia zu viel Feingefühl erwartete. Sylvia hatte Andy deshalb nicht erwähnt, weil er für sie vollkommen unwichtig war. Und als Andy schüchtern lächelnd die Stufen zu der Veranda hinauf stieg, tat er Meg leid. Jemanden als Verwalter des Gutes anzustellen, das seinem Vater gehört hatte und eigentlich ihm gehören sollte, war ziemlich … Es war typisch Sylvia.
Deshalb erwiderte sie Andys Gruß freundlich und ließ zu, daß er ihre Hand ergriff.
»Du siehst gut aus«, sagte sie – und erkannte im selben Augenblick, daß es nicht stimmte. Aus der Nähe entdeckte man zu viele Falten in dem Gesicht des Vier- oder Fünfundzwanzigjährigen. Außerdem war er mager.
»Das kann ich von dir nicht behaupten«, antwortete Andy. »Du bist dünn. Und die violetten Schatten unter deinen Augen passen nicht zu deinem Teint.«
Nein, Andy hatte sich überhaupt nicht verändert.
Meg griff nach einem Koffer. Andy ließ es zu, hob aber die anderen Koffer hoch und trug sie ins Haus. Er stellte sie auf den Boden, betrachtete den Haufen Gepäck und kratzte sich am Kopf. »Ich habe nicht gewußt, wo du das Zeug hinhaben willst …«
»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe das Haus noch nicht gesehen.«
»Dann sieh es dir an.«
Meg warf ihm einen langen Blick zu und musterte dann die Halle.
Eine Treppe mit reich geschnitztem Geländer führte zu einem Treppenabsatz, der sein Licht durch ein rundes Fenster mit farbigem Glas in der Art einer Fensterrose erhielt. Die Farbe des Glases war vorwiegend karmesinrot, so daß sich grelles, gespenstisches Licht auf die nackten Bretter des Treppenabsatzes ergoß. Links führte ein offener Bogengang zum Salon; dieser war zwar groß und bezog durch die hohen Fenster genügend Licht, war aber genauso spärlich möbliert wie die Halle. An der rechten Wand befand sich eine geschlossene Tür und ein Stück weiter unterhalb der Treppenbiegung eine zweite. Der hintere Teil der Halle war zu dunkel, als daß man etwas erkennen konnte; entweder gab es in diesem Teil keine Fenster, oder sie waren von schweren Vorhängen verdeckt. Die Tapete war alt; das einst leuchtende Karmesinrot und das Gold waren deutlich verblaßt. Außerdem wies sie scheußliche Flecken auf, die entsetzlich nach …
»Farbe«, erklärte Andy, während er zu den häßlichen Flecken trat und sie begutachtete. »Nur braune Farbe. Ich habe versucht, sie wegzureiben, aber diese Ölfarben kleben wirklich fest.«
»Die Flecken sehen neu aus. Wie …«
»Hat dir Sylvia nichts vom letzten Mieter erzählt?« Andy setzte sich auf einen von Megs Koffern, der sich protestierend ausbauchte. Bevor Meg etwas einwenden konnte, sprach er weiter. »Culver nahm an, daß er hier eine hübsche, gemütliche Bleibe gefunden hatte und war stinksauer, als ihn Sylvia an die Luft setzte. Er ließ also einige Hinweise auf sein Mißvergnügen zurück. Er berechnete Sylvias kritischen Punkt ziemlich genau. Ich glaube nicht, daß sie ihn verklagen wird, vor allem deshalb, weil er keinen roten Heller besitzt. Aber er hat einen echten Saustall hinterlassen. Ich habe das meiste in Ordnung gebracht.«
»Er hat Sylvias Charakter nicht richtig eingeschätzt, wenn er annahm, daß er ewig hierbleiben könne«, meinte Meg. »Würdest du bitte aufstehen, meine Koffer stammen von Woolworth und sind nicht auf dein Gewicht geeicht.«
»Oh.« Andy erhob sich. »Schnapp nicht gleich ein. Ich befolge nur den alten militärischen Grundsatz – stehe nie, wenn du sitzen kannst, sitze nie, wenn du …«
»Ich weiß, wie es weitergeht.«
»Dann solltest du dich daran halten. Du siehst aus, als würde dir Ruhe guttun.«
»Hör endlich auf, darauf herumzureiten, wie schrecklich ich aussehe. Du siehst auch nicht gerade taufrisch aus. Was war es – eine Lungenentzündung?«
Andys Gesicht wurde hart.
»Na sowas. Das liebe kleine Mädchen, das ich gepiesakt habe, ist erwachsen geworden. Und gemein.«
»Man muß gemein sein, wenn man in dieser Welt überleben will.«
»Das ist eine sehr zynische Einstellung für ein Mädchen deines Alters.«
»Frau, nicht Mädchen. Was würdest du dazu sagen, wenn die Leute dich als Jungen bezeichnen?«
»Verdammt, du bist nicht nur gemein, sondern du hast mehr Stacheln als ein Stachelschwein. Sieh mal, Meg, wir sind aufeinander angewiesen, also versuchen wir doch, miteinander auszukommen. Es hat keinen Sinn, wenn ich dir etwas vormache. Du kennst Sylvia genauso gut wie ich, und du weißt, daß sie mir nicht einmal das Geld für eine Tasse Kaffee geben würde, es sei denn, ich appelliere an ihre unter ihren Fettschichten begrabene Mildtätigkeit. Ja, ich war krank. Ich mußte im Frühjahr mein Studium unterbrechen, und Sylvia ließ mich hierherkommen, damit ich mich erhole. Soviel ich weiß, gilt das auch für dich. Keiner von uns wird auf diesen Zufluchtsort verzichten. Warum sollen wir also streiten?«
»Ich streite nicht.«
»Dann möchte ich dich erleben, wenn du kampflustig bist.«
»Und wer provoziert jetzt?«
»Heiliger Strohsack!« Andy griff aufs Geratewohl nach zwei Koffern und stieg die Treppe hinauf. Auf halbem Weg rief er zurück: »Such dir ein Zimmer aus, und ich befördere dein Zeug dorthin. Dann verschwinde ich.«
Meg folgte ihm. Die Koffer waren extrem schwer. Meg sah zu, wie sich die Muskeln auf Andys Rücken unter dem Baumwollhemd bewegten, und beschloß, etwas taktvoller zu sein.
»Es tut mir leid, Andy, ich wollte nicht ekelhaft sein. Ich war krank und bin noch immer mit den Nerven fertig. Waffenstillstand?«
»Das heißt, daß du deine Koffer nicht selbst tragen willst«, meinte Andy, ohne sich umzudrehen. Aber sein Ton war etwas versöhnlicher, und als sie hinaufkamen, führte er sie durch den ersten Stock, ohne den Streit zu erwähnen.
»Das Elternschlafzimmer befindet sich noch immer in sehr schlechtem Zustand.« Er öffnete eine der schweren Rundbogentüren, die sich zu beiden Seiten des Korridors befanden. »Hier drinnen hat sich Culver amüsiert.«
»Sein Wortschatz war sehr begrenzt, was?« Meg überflog die obszönen Ausdrücke, die in schreienden Kontrastfarben auf die Wände geschmiert waren.
»Die Tapete muß ohnehin erneuert werden«, meinte Andy. »Ich werde nicht versuchen, die Schmiererei abzuwaschen, sondern die Tapeten herunterreißen und neue ankleben.«
»Das klingt vernünftig. Aber warum machst du dir die Mühe … Ach, ich habe vergessen, daß du hier gewohnt hast.«
»Jeden Sommer bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr.« Andys Ton schloß weitere Fragen aus. Er zog die Tür des Schlafzimmers zu und ging den Korridor hinunter.
»Das war das Zimmer meiner Mutter. Sylvia hat es zugesperrt, deshalb befindet es sich in halbwegs gutem Zustand. Ich habe es gestern gelüftet und das Bett gemacht, aber wenn du ein anderes Zimmer vorziehst …«
»Es ist mir eigentlich gleich«, antwortete Meg. Andy stieß die Tür auf, und Meg rief: »Das ist ja entzückend, Andy. Ja, dieses Zimmer gefällt mir.«
Durch die großen Fenster, die offenstanden und die weiche Herbstluft hereinließen, sah man grünen Rasen und schwankende Büsche. Die verblaßte Tapete wies ein altmodisches Muster aus Rosenknospen in goldenen Rauten auf. Die Einrichtung war einfach – weiß gestrichen mit goldenem Rand: Ein Himmelbett, ein Frisiertisch mit duftigen rosa Rüschen, die üblichen Kommoden, Kleiderschränke und Tische. Es sah eher wie das Zimmer eines Kindes und nicht wie das einer erwachsenen Frau aus. Meg wurde klar, daß es wahrscheinlich vor ihrer Heirat das Zimmer von Andys Mutter gewesen war. Dann war sie mit ihrem Mann in das prunkvolle Elternschlafzimmer übersiedelt. Das bedeutete, daß das Haus Andys Mutter gehört hatte und dann seinem Vater zufiel und daß Sylvias Anspruch darauf noch weniger gerechtfertigt war, als Meg angenommen hatte.
»Okay«, sagte Andy. »Dann hole ich jetzt dein übriges Zeug.«
Meg folgte ihm. Andy stand auf dem Treppenabsatz, und sie befand sich zwei Stufen oberhalb von ihm, als sie ausglitt. Noch während sie fiel, wußte sie, daß sie nicht in Gefahr war. Als Andy das Scharren ihres Schuhs und ihren unterdrückten Schrei hörte, fuhr er herum und streckte die Hände aus, um sie aufzufangen. Während sich seine Finger um ihre Arme schlossen, geschah es. Meg erkannte die Symptome – ihr verschwamm alles vor den Augen, und sie verlor die Orientierung. Das Fenster aus farbigem Glas wurde dunkel und undurchsichtig. Die Wände verloren ihre Festigkeit. Durch sie erblickte sie nicht nur das Grün und Gold des Herbstlaubs, sondern einen anderen Raum – schmal, dunkel, niedrig. In diesem Raum bewegten sich undeutliche Gestalten, aber sie konnte sie nicht erkennen. Unter den Füßen befand sich kein Fußboden …
Die Vision verschwand langsam, beinahe zögernd. Meg blinzelte in dem regenbogenfarbenen Licht, schwankte, und Andys Arme schlossen sich um sie.
Einen Augenblick später stieß sie ihn von sich.
»Verdammt!« Sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Das war schlimm. Verdammt, verdammt. Es ist zwei Tage lang nicht vorgekommen, und ich hatte gehofft …«
Erst jetzt sah sie Andys Gesicht. Er war blaß geworden und starrte sie verblüfft und verständnislos an.
»Was ist geschehen?«, wollte er wissen.
»Hat dir Sylvia nichts von den grauenhaften Einzelheiten erzählt? Ich hatte einen Unfall – Kopfverletzungen. Seither leide ich an Halluzinationen. Ich höre und sehe Dinge, die nicht da sind. Andere Orte, andere Menschen – sogar Tiere. Einmal habe ich auf der Fifth Avenue einen Elefanten gesehen, der zu Brentano hineinging.« Sie versuchte erfolglos, zu lachen.
Andys Gesicht veränderte sich nicht. »Was hast du soeben gesehen?«
»Einen anderen Raum. Andere Wände. Es ist so entmutigend. Die Ärzte haben mir erklärt, daß es allmählich vergehen wird, aber die Besserung läßt auf sich warten. Ach, hör auf, mich anzustarren, als wäre ich eine Nummer in einer Schaubude. Sag nur nicht, daß du es nicht gewußt hast, Sylvia hat dir bestimmt davon erzählt.«
»Sie hat Halluzinationen erwähnt«, gab Andy zu. Langsam bekam sein Gesicht wieder Farbe. »Mir war nicht klar, daß sie so …«
»Sie hatte nicht das Recht, es dir zu erzählen«, platzte Meg heraus. »Sie hat dich mir gegenüber nicht erwähnt. Ich nehme an, daß mich inzwischen alle Nachbarn für verrückt halten.«
Andey öffnete den Mund. Er sprach beinahe sofort, aber Meg hatte den Eindruck, daß er ursprünglich etwas anderes hatte sagen wollen.
»Sylvia sagt den Leuten nur, was sie unbedingt wissen müssen. Sie tratscht nicht – Gott sei Dank. Du hast vor, allein im Haus zu leben?«
»Ich bin nicht krank, es ist nur …«
»Du siehst Dinge, die nicht da sind. Ziemlich gefährlich, nicht wahr? Wenn du zum Beispiel eine Treppe hinuntergehst, die nicht existiert …«
»Ich bin gestolpert. Die Halluzination hat erst eingesetzt, nachdem ich gefallen bin. Sobald sie beginnt, kann ich mich überhaupt nicht bewegen; ich bin wie gelähmt. Willst du etwa vorschlagen, daß du zu mir ziehst?«
»Gott behüte. Ich schlage vor, daß ich regelmäßig nach dir sehe. Wie oft kommt es vor? Soviel ich weiß, hast du auch auditive Halluzinationen.«
»Der Junge verfügt ja über ein medizinisches Vokabular«, stellte Meg fest und musterte Andy mißtrauisch. »Was hast du überhaupt studiert? Doch nicht Medizin?«
»Das geht dich nichts an«, erklärte Andy. »Jeder bessere Laie weiß über Halluzinationen Bescheid. Sie stecken vermutlich hinter neunundneunzig Prozent der sogenannten okkulten Erlebnisse, die manche Menschen haben. Ach, hör auf, glaubst du, daß mich deine blöden Probleme interessieren? Sylvia bezahlt mich – es ist nicht viel, aber sie bezahlt mich –, damit ich mich um das Haus kümmere. Das schließt dich ein. Ich werde nicht zulassen, daß du in einem Anfall von Wahnsinn das Haus in Brand steckst oder dir den Hals brichst.«
»Damit wäre ja alles klar. Also gut, zu deiner Information, ich habe diese blöden Probleme ein- bis zweimal täglich. Sie dauern nur wenige Sekunden, und sobald die Halluzination vorbei ist, bin ich vollkommen in Ordnung. Sylvia bezahlt dich nicht, damit du auf mich aufpaßt, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß du unter irgendeinem Vorwand ununterbrochen deine Nase hier hereinsteckst. Ist das vollkommen klar?«
»Vollkommen klar«, bestätigte Andy. Meg holte Luft, um weitere kritische Kommentare abzugeben, doch er ging schon die Treppe hinunter. Er durchquerte die Halle, ging zur Vordertür hinaus und schloß sie leise hinter sich.
Meg betrachtete die Schachteln mit Büchern, Kleidern und allen möglichen Gegenständen, die in der Halle herumstanden. Das war jetzt wirklich dumm von mir, dachte sie angewidert. Was ist mit mir los? Er hat versucht, nett zu mir zu sein – auf seine komische Art. Es war unnötig von mir, so überempfindlich zu sein.
Doch als sie begann, das Haus zu erforschen, vergaß sie ihre selbstkritischen Gedanken. Sie war begeistert. Jeder Raum enthielt neue Schätze – Fensterbänke mit aufklappbaren Sitzflächen, in denen man Spielzeug und Decken unterbringen konnte; unerwartete, von Efeu überwucherte Balkone; Kamine und wieder Kamine. Der Turm war das Glanzstück; wäre die Treppe nicht so steil gewesen, wäre Meg sofort in den obersten Raum eingezogen. Er besaß an allen vier Seiten Fenster und Balkone; eine gewölbte, mit Gipsstukkaturen von Früchten, Blumen und pummeligen Putten verzierte Decke; in einer Ecke einen mittelalterlichen Kamin mit Rauchabzug; eine Mahagonitäfelung, die aussah, als wären in ihr mindestens zwei Geheimtüren verborgen …
Doch vom Boden bis zum obersten Turmzimmer waren es fünf Treppenfluchten. Meg betrachtete den Raum zum letzten Mal sehnsüchtig und zog sich dann zurück. Sie konnte wenigstens passende Möbel hinaufschaffen und ihn als Lese- und Meditationszimmer benützen. Sylvia hatte ihr – na ja, keine unbeschränkte Vollmacht erteilt, dazu traute sie niemandem genug –, aber sie hatte angedeutet, daß sie bereit wäre, die erforderliche Einrichtung zu bezahlen. Es würde Spaß machen, die Möbel für diesen Raum auszusuchen.
Das Haus war nicht so groß und unübersichtlich, wie Sylvia gemeint hatte. Die Zimmer waren riesig, aber im ersten Stock gab es nur fünf Schlafzimmer sowie ein Badezimmer und einen Salon, die zum Elternschlafzimmer gehörten. Meg war vom viktorianischen Badezimmer entzückt. Es war beinahe so groß wie die Schlafzimmer und besaß einen eigenen Kamin. Die riesige, mit Mahagoni verkleidete Badewanne war so hoch, daß Meg einen Schemel brauchen würde, um hinein- und herauszuklettern. Als sie den Hahn aufdrehte, kam warmes Wasser.
Im zweiten Stock gab es weitere, kleinere und weniger elegante Schlafräume. Das war das Reich der Kinder gewesen. Ein etwas größeres Zimmer hatte als Tagesraum gedient, und ein winziges Zimmer daneben war das Schlafzimmer des Kindermädchens gewesen. Die Haupttreppe endete im dritten Stock, aber an der Rückseite der Halle gab es eine schmale, steile, umbaute Treppe. Sie führte weiter hinauf, vermutlich in das Dachgeschoß; Meg beschloß, sich diesen Teil des Hauses für die nächste Besichtigung aufzuheben. Sie ging die Treppe in den Keller hinunter und landete in einem Anrichte- und Servierraum zwischen Küche und Eßzimmer. Natürlich, das war die Dienstbotentreppe – die armen Teufel. Wo hatten sie geschlafen? Vermutlich unten, in der Feuchtigkeit und in Gesellschaft der Küchenschaben. Meg beschloß, auch das Kellergeschoß auf einen anderen Tag zu verschieben.
Auf sie wartete eine Menge Putzarbeit. Andys Vorstellung vom Saubermachen war typisch männlich – mit anderen Worten flüchtig. Ihr hübsches Zimmer – sie betrachtete es bereits als ihr Zimmer – war sauber, aber sehr staubig, und das Badezimmer schrie geradezu nach Scheuerbürsten und Reinigungsmitteln. Mrs. Culver hatte sich mit dem Hausputz sichtlich nichtüberanstrengt. Meg war keine fanatische Hausfrau, aber während sie die vernachlässigten, schmutzigen Zimmer besichtigte, wuchs ihre Abneigung gegen die Culver. Vermutlich hatte Mrs. Culver gefunden, daß sie nicht verpflichtet war, die unbenutzten Räume sauberzuhalten, aber wie konnte sie in diesem Schmutz leben? Ein Anwalt wäre vielleicht der Ansicht, daß es sich dabei um normale Abnützung handelte – jedenfalls für einen exzentrischen Maler und seine schlampige Frau normal. Culver hatte seiner Bosheit nur einmal, im Elternschlafzimmer, freien Lauf gelassen, als er seine angelsächsischen Schimpfworte auf die Wand pinselte. Die übrigen Schäden waren kaum bemerkbar, aber überall vorhanden – verschrammte Fußböden, zerkratzte Tische, Brandflecke und Schichten von fettigem Schmutz.
Als Meg durch den Anrichteraum in die Küche ging, war sie auf das schlimmste gefaßt, aber es war nicht so arg, wie sie befürchtet hatte. Der Raum war weit von der Sauberkeit entfernt, die sie als Minimum betrachtete, aber hier hatte es jemand wenigstens versucht.
Ursprünglich war die Küche einer jener riesigen Räume gewesen, die aus einer Zeit stammten, in der niemand auf die Senkfüße der Köchinnen Rücksicht nahm. Sie war vor nicht so langer Zeit unterteilt und modernisiert worden. Als Meg den reizenden Frühstücksplatz betrachtete, hätte sie gern gewußt, ob ihn Andys Mutter eingerichtet hatte. Der Frühstücksplatz war so zart und hübsch wie ihr Zimmer – beinahe zu aufwendig. Die Wände und die Geräte waren buttergelb, und überall gab es Gänseblümchen – auf den Tapeten, den Vorhängen, sogar auf der Schutzplatte um den Lichtschalter. Warum nicht auch Teller mit Gänseblümchendekor, dachte Meg lächelnd.
Als sie die Küchenschränke inspizierte, fand sie eine Garnitur Kunststoffteller, die so neu waren, daß die Etiketten noch auf ihnen klebten. »Spülmaschinenfest …«. Meg glaubte den Etiketten und füllte den Geschirrspüler. Typisch Mann, dachte sie, als die Maschine sich gurgelnd und keuchend in Bewegung setzte. Andy nahm wahrscheinlich an, daß man neues Geschirr nicht waschen muß. Meg war froh, daß sie nicht die Teller benutzen mußte, von denen die barbarischen Culver gegessen hatten. Was war eigentlich aus den hier sicherlich vorhandenen Tellern, Töpfen und Pfannen geworden? Vielleicht hatten sie den Culver gehört und diese hatte sie mit ihrem übrigen Besitz mitgenommen.
In einer Ecke stand ein strahlend neuer Tiefkühlschrank, und Meg, der das leere Gefühl in ihrem Magen immer deutlicher bewußt wurde, erforschte ihn. Er war gut gefüllt; vermutlich von Andy auf Sylvias Anweisung hin. Sie dachte durchaus freundlich an die beiden, während sie ein Steak herausnahm, das sein Gewicht in Silber wert war, um es auftauen zu lassen. Der Kühlschrank war genauso gut gefüllt. Sie würde einige Tage lang nicht einkaufen müssen. Aber sie würde erst dann in diesem Raum essen, wenn sie ihn gründlich gereinigt hatte. Sie war bereit, Andys Leistung anzuerkennen; sie trug deutlich seine Handschrift. Der Herd war abgewischt worden, aber noch immer fettig; der Boden war gefegt worden, aber die Sohlen ihrer Sandalen blieben an ihm kleben, wenn sie durch den Raum ging. Sie suchte Putzmittel und fand sie – original verschlossene Flaschen und Dosen. Es handelte sich also um Sylvias Vorräte und nicht um Reste, die die Culver zurückgelassen hatten. Meg war nicht überrascht. Sie öffnete eine Dose eines Reinigungsmittels und begann mit dem Herd.
Einige Zeit später fegte sie den Fußboden, bevor sie ihn aufwischte, und bückte sich, um auch unter den Küchenschrank zu gelangen: schmieriger, schwarzer Staub, eine verschrumpelte Olive und Erdnußschalen kamen ihr entgegen – sowie etwas, das musikalisch klirrte, als es über den Boden schlitterte.
Meg hob es auf. Es war ein Stück zerbrochenes Porzellan – dünn und sichtlich wertvoll. Sie drehte es um und erschauerte merkwürdigerweise, als sie das Gänseblümchenmuster erkannte.
Unter dem Kühlschrank fanden sich weitere Bruchstücke, und in dunklen Ecken auch ein paar, die Andys Besen entgangen waren. Alle gehörten zum gleichen Service – gebogene Scherben, die Teile von Tassen gewesen waren, der vertiefte Teil einer Untertasse, Randteile von Tellern. Das Porzellan war nicht so teuer wie das von Haviland oder Wedgwood, aber gute Qualität.
Also hatte Andys Mutter tatsächlich Teller mit Gänseblümchenmuster besessen. Wahrscheinlich hatte Sylvia sie für ihre verschiedenen Mieter zurückgelassen; sie waren alt, entsprachen nicht mehr der Mode, waren nicht besonders wertvoll. Und jemand hatte das gesamte Service zerschlagen. Als Meg die Schränke durchsuchte, fand sie nicht einmal eine einzige Untertasse. Es mußte erst kürzlich geschehen sein, sonst wären nicht so viele Bruchstücke vorhanden gewesen.
Andy hatte erwähnt, daß er nach dem Abzug der Culver saubergemacht hatte. Er hatte sichtlich das Ausmaß des Schadens untertrieben. Meg stellte sich vor, wie die Küche ausgesehen hatte, als Andy sie betrat – das Lieblingsgeschirr seiner Mutter lag in Scherben auf dem Fußboden. Irgendwie traf sie die bewußte, böswillige Vernichtung des ganzen Services mehr als alles andere, das die Culver getan hatten. Jeder konnte einmal in einem Wutanfall ein paar Teller zertrümmern; sie hatte es auch schon getan, und der Krach war äußerst befriedigend gewesen. Aber alles zu zerstören – alle Schüsseln, Tassen, Untertassen bis zum letzten Teller –, wies auf ein Ausmaß hin, das entschieden abnormal war.
Meg schrubbte den Boden auf Händen und Knien mit einer harten Bürste und dem stärksten Desinfektionsmittel, das sie gefunden hatte. Sie förderte noch einige Porzellanscherben ans Tageslicht und versenkte sie im Mülleimer. Dann ging sie zum Telefon und lud Andy zum Abendessen ein.
Andys Appetit hatte sich jedenfalls im Lauf der Jahre nicht verändert. Er verschlang Steak und überbackene Kartoffeln, Salat, Gemüse und Brötchen, als hätte er seit einer Woche nicht mehr gegessen. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete Meg anerkennend.
»Normalerweise ernähre ich mich von hartgekochten Eiern und Dosensuppe«, erklärte er. »Über was für Talente außer Kochen verfügst du noch?«
»Über nicht viele. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Sekretärin – wenn ich ihn verdiene.«
»Ich habe geglaubt, daß du Innenarchitektin oder etwas ähnliches bist. Sylvia hat gesagt …«
»Ich habe ein paar Kurse besucht. Aber Sylvias Idee, daß ich das Haus einrichten soll, ist künstliche Arbeitsbeschaffung. Wenn sie das Haus perfekt einrichten wollte, würde sie einen Profi anstellen.«
»Aha«, sagte Andy, während er den Kaffee einschenkte. »Das Schlüsselwort ist ›anstellen‹. Wenn es irgend möglich ist, bezahlt Sylvia niemanden dafür, daß er für sie arbeitet. Hoffentlich macht es dir nichts aus, wenn ich deine Verwandte kritisiere.«
»Ich kritisiere sie ebenfalls«, gab Meg zu. »Aber ich schäme mich dabei. Wenn Sylvia mir nicht geholfen hätte, würde ich jetzt ganz schön in der Tinte sitzen.«
»Das gleiche kannst du von mir sagen.«
»Das kann ich nicht. Ich weiß zu wenig über dich und deine Lage.«
Meg zögerte, bevor sie weitersprach. Der Anstand verbat ihr, sich direkt nach Andys Problemen zu erkundigen, aber sie wollte Mitgefühl andeuten. Doch wie so oft vergaß sie die taktvollen Bemerkungen, die sie sich ausdachte, und platzte mit ihrer Frage auf die direktest mögliche Art heraus.
»Wie kommt es, daß Sylvia das Haus besitzt. Sollte es nicht dir gehören?«
Andy, der auf seinen Teller hinuntergeblickt hatte, hob den Kopf. Meg hätte nie geglaubt, daß sich Sommersprossen und eine Stupsnase in eine so starre Maske verwandeln konnten.
»Mein Vater hatte das Recht, über sein Eigentum so zu verfügen, wie er es für richtig hielt«, antwortete er kalt. »Wir wollen uns lieber nicht in das Privatleben des anderen einmischen, okay?«
»Aber du …«
»Ich habe mich heute nachmittag in deine Privatangelegenheiten eingemischt. Das stimmt, aber ich habe es nur soweit getan, wie deine Probleme dein jetziges Leben und damit auch das meine beeinflussen.«