5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Die dunklen Schatten der Vergangenheit: Der fesselnde Familiengeheimnisroman »Die Frauen von Maidenwood« von Barbara Michaels als eBook bei dotbooks. Ein Sommer voller dunkler Geheimnisse … Das idyllische Maidenwood scheint ein kleiner Ort zu sein wie viele andere – oder ist es der Schauplatz eines grausamen Verbrechens? Als das rätselhafte Grab einer Mutter mit ihrem Kind entdeckt wird, geht man zunächst von einem archäologischen Fund aus … bis sich zeigt, dass die beiden noch nicht lange tot sein können. Doch wer sind die Fremden, an die sich niemand in Maidenwood erinnern will? Diese Frage lässt Julie, die gerade erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, nicht mehr los. Gemeinsam mit ihrer Jugendliebe, dem Archäologen Alan, macht sie sich auf die Spurensuche. Zu ihrem Entsetzen zeigt sich schnell, dass es eine Verbindung gibt zu ihrer eigenen Familiengeschichte – und zu einem Erbe, das nun auch ihr Leben bedroht … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das spannende Romantik-Highlight »Die Frauen von Maidenwood« von Bestsellerautorin Barbara Michaels. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 475
Über dieses Buch:
Ein Sommer voller dunkler Geheimnisse … Das idyllische Maidenwood scheint ein kleiner Ort zu sein wie viele andere – oder ist es der Schauplatz eines grausamen Verbrechens? Als das rätselhafte Grab einer Mutter mit ihrem Kind entdeckt wird, geht man zunächst von einem archäologischen Fund aus … bis sich zeigt, dass die beiden noch nicht lange tot sein können. Doch wer sind die Fremden, an die sich niemand in Maidenwood erinnern will? Diese Frage lässt Julie, die gerade erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, nicht mehr los. Gemeinsam mit ihrer Jugendliebe, dem Archäologen Alan, macht sie sich auf die Spurensuche. Zu ihrem Entsetzen zeigt sich schnell, dass es eine Verbindung gibt zu ihrer eigenen Familiengeschichte – und zu einem Erbe, das nun auch ihr Leben bedroht …
Über die Autorin:
Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.
Eine Übersicht über weitere Romane von Barbara Michaels bei dotbooks finden Sie am Ende dieses eBooks.
***
eBook-Neuausgabe November 2020
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1985 unter dem Originaltitel »Be Buried in the Rain« bei Atheneum, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1987 unter dem Titel »Die verlorene Liebe« bei Heyne.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1985 by Barbara Michaels
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1987 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Nik Merkulov / Dmyko Sheremeta / Hayk_Shalunts / Andry tiyk / S.N. ph / Plastic Man
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-162-5
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Frauen von Maidenwood« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Barbara Michaels
Die Frauen von Maidenwood
Roman
Aus dem Amerikanischen von Iris Foerster
dotbooks.
Für die DelaplainesEinen und alle –Bettie und GeorgeBuckie und TedJim und John
Der alte Pritschenwagen traf mit einem dumpfen Aufprall auf ein Schlagloch, so daß noch ein paar mehr Schichten der verblaßten, blauen Farbe von der rostigen Karosserie abblätterten. Joe Danner fluchte, aber nicht laut. Er hatte seit sechs Jahren keine unflätigen Worte mehr benutzt, nicht, seitdem er seinen Herrn Jesus in den hypnotischen Augen eines Wanderpredigers gefunden hatte. Er hatte auch keine starken Getränke und keinen Tabak konsumiert, und ebensowenig hatte er im Zorn seine Frau geschlagen – es sei denn, sie hätte ihm widersprochen oder seine von der Schrift angeordnete Autorität als Familienoberhaupt in Frage gestellt.
Es wäre Joe Danner nie in den Sinn gekommen, daß seiner Frau der alte Lebensstil lieber gewesen war. Damals gehörten gelegentliche Prügel zur natürlichen Weltordnung, und es kostete nicht viel, wenn sie sich Samstag abends im örtlichen Lokal gemeinsam ein wenig betranken, miteinander plauderten und mit Freunden scherzten und dann nach Hause gingen und sich fantasielos, aber vergnüglich in dem alten Bett vereinigten, das Joes Vater eigenhändig angefertigt hatte.
Seitdem Joe Jesus gefunden hatte, gab es keine Samstagabende mehr im Lokal. Es waren auch keine Kleinen mehr da. Joe junior hatte im vergangenen Jahr das Elternhaus verlassen; er war irgendwo im Norden und schwelgte in den Sünden, die zu verabscheuen man ihm beigebracht hatte ... Nur hatte die Lehre irgendwie nichts gefruchtet. Auch nicht bei Lynne Anne. Sie hatte mit sechzehn Jahren geheiratet, gerade rechtzeitig, um ihrem Kind das Etikett ›unehelich‹ zu ersparen – aber nicht früh genug, um die Sünde der Unzucht auszulöschen. Sie wohnte in Pikesburgh, nur vierzig Meilen entfernt, aber sie kam nie nach Hause. Joe hatte sie an dem Abend, an dem sie ihnen sagte, sie sei schwanger, aus dem Haus geworfen, und Lynne Anne hatte ihm ins Gesicht gespuckt, ehe sie in den Schneesturm zu dem Vier-Meilen-Marsch aufbrach, um auf der Türschwelle ihres Zukünftigen zusammenzubrechen. Sie hatten auch einen fürchterlichen Skandal gemacht deswegen. Methodisten. Was konnte man von Methodisten anderes erwarten?
Ein zweites Schlagloch hob Joe vom Sitz, sein Kopf schlug an das Kabinendach, daß es schmerzte und seine mürrischen Gedanken über die undankbaren Kinder beendete. Diese verdammte Bezirksverwaltung, dachte er. Neue Straßen, noch nicht einmal ein Jahr alt, und schon zum Teufel. Weshalb man sie nicht gleich richtig gebaut hatte, konnte er nicht verstehen. Die alte war in Ordnung gewesen. Die neue Route war vielleicht kürzer, aber ... Nun, er mochte sie einfach nicht. Besonders die steile Kurve, die in die Niederung hinunterführte. Die Jungens nannten sie das Totenloch. Es hieß, daß es dort spukte. Dumme Jungens ... Er fürchtete sich nicht vor Gespenstern oder Toten, nicht mit der Kraft des Herrn Jesus in seinem Herzen. Trotzdem hatte dieser tiefer gelegene Teil der Straße etwas Unheimliches an sich ...
Joe trat auf die Bremse, als sein Wagen die abschüssige Kurve hinunterfuhr. Die Straße war schlüpfrig nach dem Regen in der Nacht; dichtes Gebüsch und krumme Bäume, die voll im Laub standen, schwächten das Sonnenlicht zu einem goldenen Dunst ab. Die Felder waren ein einziger Morast; ehe sie nicht trocken waren, konnte kein Pflanzer darauf arbeiten. Verdammter Regen, verdammte Verwaltung ...
Jesus Christus! Die Worte brachen aus den tiefen Winkeln seines Innern hervor und gipfelten in einem durchdringenden Schrei. Sein schwerer Stiefel trat das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Die Reifen quietschten und schlitterten, und er fing den rutschenden Wagen mit dem Geschick auf, das er in langen Jahren auf schlechten Straßen bei schlechtem Wetter erworben hatte. Schließlich blieb das Fahrzeug mit einem Rütteln stehen, rutschte seitwärts über den schmalen Heckenweg; und Joe saß da und starrte auf das Ding, das auf der Straße lag.
Hatte er es überfahren? Er hatte nichts gespürt. Er wußte, was für ein Gefühl es war bei Waschbären und Opossums und Wildschweinen, er hatte schon viel solches Zeug überfahren. Eine Leiche – eine menschliche Leiche – hätte einen noch härteren Schlag verursacht.
Schweiß trat auf seine mageren Wangen und tropfte in seinen Bart, als er vom Wagen runterkletterte. Er überlegte sich schon die Erklärung, die er vor der Polizei vorbringen würde. Es lag auf der Straße, als er es sah – regungslos lag es da, tot oder stockbetrunken – nicht seine Schuld – scharfe Kurve, nasse Straße …
Nicht seine Schuld. Wenn er wenden und den anderen Weg, den alten Weg einschlagen könnte – damit ein anderer es fand ... Trotzdem, lieber durchstehen. Er hatte schon genug Scherereien mit der Polizei gehabt. Dieses Getue im letzten Jahr, weil er die Kinder in der Sonntagsschule geschlagen hatte – alles getreu der Schrift: Lege die Rute beiseite und verdirb das Kind. Aber irgendein Wichtigtuer hatte Krach geschlagen, und er war ein Senior gewesen.
Langsam ging Joe zur Vorderseite des Pritschenwagens und fürchtete sich vor dem, was er sehen würde. Aber es war alles gut. Er hatte es nicht berührt. Die Räder waren einen guten Fuß davon entfernt. Es mußte tot sein – oder stockbetrunken. Es hatte sich nicht gerührt. Es? Sie! Ein Frauenkleid, aber ein verdammt komisches – so lang, daß es sogar die Füße bedeckte, ein verschossenes, bedrucktes Baumwollkleid, das einmal blau gewesen war. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, ihr Kopf war von einem Schal oder Tuch bedeckt. Ihre Arme waren gekrümmt, einer lag über ihrem Kopf, der andere an ihrer Seite. Die üppigen Stoffalten lagen merkwürdig flach, und als er langsam nähertrat, verschwand Joes Furcht, und an seine Stelle trat ein wachsender Zorn. Es war nur ein leeres Kleid. Darunter konnte kein Körper liegen. Ein paar dumme Jungen – sie hätten einen Unfall verursachen können, wenn sie solche Scherze trieben.
Er hob den Schal an.
Es grinste zu ihm herauf – zwei nackte Reihen erdbrauner Zähne. Die elfenbeinfarbene Rundung des Schädels war blaß vor dem schwarzen Straßenschotter. Ein Wassertropfen am Rand der leeren Augenhöhle glitzerte im Sonnenlicht.
Irgendwie fuhr er mit dem Pritschenwagen zurück und wendete. Die letzte wilde Umdrehung des Rades erzeugte ein leises, knirschendes Geräusch, und es fuhr Joe wie ein Echo durch die Knochen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich nur denken, daß es Lynne Anne war, die sich durch den Wintersturm gekämpft hatte. Er konnte auf diesem fleischlosen Horror auf der Straße noch ihr vom Haß verunstaltetes Gesicht sehen.
Er hatte nicht das andere kleinere Kleiderbündel gesehen, das halb verdeckt von dem vollen Ärmel und den gekrümmten Armknochen dalag, als wäre es bei einem Sturz heruntergefallen. Ein sehr kleines Bündel, nicht aus Baumwolle, sondern aus feinerem Stoff mit Rostflecken und zu einem merkwürdigen Muster aus Grün- und Brauntönen verfärbt. Es war einmal weiß gewesen – zarter, feiner Batist, mit Spitze gesäumt, handgenäht und bestickt, gerade in der richtigen Größe, daß es einer Puppe gepaßt hätte. Einer lebensgroßen Puppe.
Die Geschichte war makaber genug, um die Nachrichtendrähte der Nation heißlaufen zu lassen. Ich glaube, ich war einer der wenigen Menschen in den östlichen Vereinigten Staaten, der sie nicht gelesen hatte. Ich sah in jener Woche nicht fern und las keine Zeitungen. Schlußexamen standen bevor, und jenes erste Jahr des Medizinstudiums ist dasjenige, in dem die Spreu vom Weizen getrennt wird. Wenn ich mich nicht über meinen Schreibtisch beugte und immer wieder die Seiten durcharbeitete, die ich schon ein Dutzend Mal gelesen hatte, ging ich auf und ab und murmelte vor mich hin. Die zwölf Schädelnerven, die Gesichtsnerven – Nervus opticus, trigeminus, glossopharyngeus ... hin und wieder hörte ich mich in den Singsang ausbrechen: »Der Hüftknochen ist verbunden mit dem Schenkelknochen, der Schenkelknochen ist verbunden mit dem Beinknochen ...«
Dann machte ich ein paar Minuten aerobische Übungen oder raste hinaus und holte mir im Laden noch eine Büchse Instantkaffee.
Ich erinnere mich nur undeutlich daran, auf einem der Schundblätter in der Nähe des Ausgangs des Ladens am Zeitungsständer eine Schlagzeile gesehen zu haben. Da ich in der Schlange wartete, überflog ich unwillkürlich die Überschriften. Prinzessin Dis Privatleben wetteiferte mit gespenstischen Lügen über Hollywood und Rockstars, Versprechungen von Wunderdiäten, Krebskuren und Beweisen für ein Leben nach dem Tod. Eine Überschrift fiel mir auf: ›Aus dem Grab auferstanden! Um Rache zu nehmen???‹ Nur geschmacklose Sensationsheischerei, und es prägte sich meinem Gehirn nicht dauerhaft ein, das von anatomischen Ausdrücken überquoll.
Wenn ich die Geschichte gelesen hätte, wäre ich dann nach Virginia gefahren? Ja, natürlich – und dies gewiß um so eher wegen der merkwürdigen Ereignisse und der fesselnden Seite des Falls. Auf der anderen Seite hatte ich Knochen bis oben hin satt.
Der Ruf kam. Ich benütze diesen altmodischen Ausdruck absichtlich; es war einer, den sie benutzt hätte. Der Ruf kam jedoch nicht von ihr. Er kam von meiner Mutter, die mir gereizt mitteilte, daß sie schon seit drei Tagen versucht hatte, mich zu erreichen.
»Ich sagte dir doch, ich stehe mitten im Examen.«
Es war fünf Uhr an einem regnerischen Frühlingsnachmittag, und ich lag im Bett mit einem Bier und einem Kriminalroman und einer Schale Brezeln. Ich hatte die Examensergebnisse noch nicht bekommen, aber in diesem Augenblick genügte es, die Prüfungen hinter sich zu haben. Mutters Beschwerden überschwemmten mich, ohne den geringsten Eindruck zu hinterlassen. Ich hatte alles schon einmal gehört: es wäre nicht gut, wenn ich mich von der Welt abschnitte; wie, wenn ich krank würde? Wie, wenn ... sie zögerte aus Aberglauben, die Worte auszusprechen, und deshalb sagte ich an ihrer Stelle:
»Wenn jemand stirbt, würde ich es bald genug erfahren. Das ist nicht die Art Neuigkeit, auf die ich scharf bin.«
Obwohl Mutter seit Jahren in Pittsburgh lebte, hatte sie ihren hübschen Virginia-Akzent nie ganz abgelegt. Er machte ihre Stimme weicher, selbst wenn sie ärgerlich war, und ich glaube, er war teilweise verantwortlich für ihren Erfolg als Chefsekretärin. »Mrs. Newcomb ist so damenhaft.«
Sie seufzte leise: »Julie, ich wollte, du würdest über solche Dinge nicht scherzen. Das ist so gefühllos.«
Es war ein Segen, daß die gute Frau nicht einige der Witze hören konnte, die im Seziersaal gemacht wurden. Sie fand, daß ich gefühllos wurde. Ich fragte mich allmählich, ob ich jemals gefühllos genug werden würde.
»Ich wollte dich heute abend anrufen«, sagte ich, um vom Thema meines Humors abzulenken. »Ja, wirklich. Also, was gibt es Neues?«
»Was machst du diesen Sommer, Julie?«
»Du weißt; was ich vorhabe. Das gleiche wie im vergangenen Sommer.«
Ein weiterer Seufzer zitterte durch die vielen Meilen Draht, und ich sagte energisch: »Komm, Mutter, mach mir nicht die Hölle heiß. Ich weiß, du denkst, ich sei als Bardame nur einen Schritt von der Prostitution entfernt. Aber es ist eine völlig seriöse Beschäftigung, und ich kann auf diese Weise mehr Geld verdienen als in jedem anderen Beruf. Gott weiß, wir brauchen es. Es ist mir schrecklich genug, daß du deine Ersparnisse angreifst und Geld von deinem Chef leihst ...«
Sie ließ mich ausreden, ehe sie sagte: »Das ist es nicht. Es ist wegen Martha. Sie braucht dich, Julie.«
Die Vorstellung, daß Martha irgend jemanden brauchte und ausgerechnet mich, war so widersinnig, daß ich laut lachte. »Sage nicht, daß sie endlich stirbt.«
»Ich wollte, du würdest nicht so reden.«
»Entschuldige. Aber sie ist bald neunzig.«
»Fünfundachtzig.«
»Also gut, das ist etwas anderes.«
»Julie –«
»Schön, schön. Aber sei ehrlich, Mutter, ihr Tod kann kaum einen Schock auslösen. Fünfundachtzig ist nicht gerade der Frühling des Lebens, und unsere Verwandtschaft zartfühlend und liebevoll zu nennen –«
»Du solltest nicht so über sie sprechen, Julie. Sie ist schließlich deine Großmutter.«
Sie war meine Großmutter. Sie war auch die Mutter meiner Mutter. Keiner von uns benützte die familiären, liebevollen Worte. Wir nannten sie Martha, falls wir nicht einfach ›sie‹ sagten, wenn wir von ihr sprachen.
Mutter fuhr fort: »Sie möchte, daß du den Sommer in Maidenwood verbringst.«
Die Brezeln fielen mir auf den Schoß. Aus Respekt vor meiner armen Mutter, die ich wirklich sehr mag, schrie ich nicht auf. Ich sagte nur: »Warum?« Und ich sprach mit ruhiger, beherrschter Stimme.
Sie war erleichtert über meine Ruhe. »Es ist logisch, Julie, wenn du es dir genau überlegst. Sie hat sich bis vor ein paar Tagen von dem Schlaganfall ziemlich gut erholt. Dann hatte sie noch einen. Ihr Arzt glaubte, es wäre das Ende, aber es scheint, daß sie sich auf ganz erstaunliche Weise gefangen hat ... Was sagtest du?«
»Nichts!« Mutter beschloß, es dabei bewenden zu lassen.
»Sie ist gelähmt. Sie kann kaum sprechen.«
»Wie konnte sie dann nach mir verlangen?«
Sie hatte nicht nach mir verlangt, das gab Mutter ehrlich zu, aber erst, nachdem ich sie in die Enge getrieben hatte; sie bestand darauf, daß Martha nach mir gefragt hätte, wenn sie nicht – äh – nun – »Du weißt, Julie, wie ein Schlaganfall auf das Gehirn eines Menschen wirkt.«
Da ich an den Konversationsstil meiner Mutter gewöhnt bin, brauchte ich eine Weile, bis ich das Wirrwarr von konventionellen Klischees aussortiert hatte, das die Tatsachen verdeckte.
»Einen Augenblick, Mutter, das will ich genau wissen. Martha hatte noch einen Schlaganfall? Und sie ist zu Hause – in diesem baufälligen Wrack von einem Haus – und nicht in einem Krankenhaus?«
Eine weitere Dusche von Klischees ergoß sich über mich.
Der Wunsch der Sterbenden, ihre letzten Tage im eigenen Heim ... et cetera, et cetera. Es lief alles darauf hinaus, daß Martha es so wollte. Und was Martha wollte, das bekam Martha.
»Ja, ich verstehe«, sagte ich resigniert. »Ich verstehe aber nicht, warum du ausgerechnet mich als Opferlamm ausgewählt hast. Das ist Matts Problem. Er ist an Ort und Stelle, er ist Marthas Erbe, er hat keine Familie oder finanziellen Verpflichtungen – laß ihn damit fertig werden.«
»Aber Liebste, er ist ein Mann!«
»Ich dachte mir, daß er wohl inzwischen einer sein muß. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ein Junge. Deshalb –«
»Julie, dein Vetter tut sein Möglichstes. Er muß an seine Karriere denken. Dies ist ein Wahljahr, und er hat sehr viel zu tun.«
Bei der Ehrfurcht in ihrer Stimme hätte man denken können, Matt sei nicht nur ein kleiner Senator eines Bundesstaates, sondern er bewerbe sich um die Präsidentschaft.
Der Schlüsselsatz war der erste. Matt war ein Mann und daher automatisch aller familiären Aufgaben enthoben, die unter die Verantwortung einer Frau fallen. Die schmutzigen, unbezahlten, langweiligen Aufgaben – wie Bettschüsseln leeren und kochen, den Fußboden schrubben und Tabletts tragen.
Der Versuch, meine Mutter von der Ungerechtigkeit dieser Haltung zu überzeugen, wäre eine Vergeudung von Zeit und Energie gewesen. Sie war damit aufgewachsen; es war in ihr Gehirn eingeprägt. Deshalb schrie ich nicht: »Und wie steht es mit meiner Karriere? Was ist mit meinen Bedürfnissen?« Ich hörte mit wachsender Niedergeschlagenheit zu, wie meine Mutter die Argumente ausbreitete, die dafür sprachen, daß ich nach Maidenwood gehen sollte. Ich glaubte sicher, daß sie diese Argumente von Matt bekommen hatte; sie hatten den zungenfertigen, bestechenden Reiz einer politischen Rede.
»Du mußt sie nicht wirklich pflegen, Julie. Nein – äh – keine widerlichen Arbeiten. Shirley Johnson ist dort – vielleicht erinnerst du dich noch an sie? So eine gute Frau, sehr gewissenhaft, und Matt sagt, sie hat ihr Diplom als Krankenschwester. Ein Diplom.«
Mutter bemerkte wahrscheinlich nicht, daß ihr Argument auf mich in einer Weise wirkte, die sie nicht vorhergesehen hatte. Ich erinnerte mich nicht an Shirley Johnson, aber sie tat mir in der Seele leid.
Ein weiteres überzeugendes Argument war, daß Matt sich bereit erklärt hatte, mich für die Einnahmen zu entschädigen, die mir entgehen würden. Das erheiterte mich ein wenig, denn ich war ziemlich sicher, daß Matt nicht wußte, wie viel eine gute Bardame in drei Monaten verdienen kann. Natürlich rechnete er damit, das Geld von Martha zu bekommen. Ich wünschte ihm Glück. Vielleicht starb sie, bevor der Sommer vorüber war.
Aber das Argument, das den Ausschlag gab, war dasjenige, das Mutter nicht vorbrachte. Wenn ich nicht zu Martha fuhr, würde sie es tun müssen. Ich wußte, was sie über Martha dachte, auch wenn sie selbst es nicht wußte. Sie würde niemals vor sich selbst oder irgendeinem anderen zugeben, daß sie ihre eigene Mutter haßte und fürchtete; sie würde ihren Posten und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen für ein althergebrachtes Pflichtgefühl. Ich war ihre Stellvertreterin, und wie die bezahlten Hilfskräfte während des Bürgerkriegs würde ich die Waffen schultern und marschieren, um getötet zu werden.
Ich mußte hinfahren. Und ich wäre auch hingefahren, wenn ich gewußt hätte, daß der fantastische Vergleich mit dem Opferlamm treffender war, als ich es mir vorgestellt hatte.
Matt holte mich an der Busstation in Richmond ab. Der Kostenpunkt war gewiß ein Faktor bei meinem Entschluß, den Bus zu nehmen – bis jetzt hatte ich von Matt kein Geld bekommen, nur Versprechungen, Versprechungen –, aber ich muß zugeben, ein anderer Grund war mein Verdacht, daß Vetter Matt eher tot umfallen als sich mit dem Pöbel abgeben würde, der mit dem Greyhound fuhr. Ich hatte erwartet, daß er einen seiner Lakaien schicken würde, um mich abzuholen, deshalb wäre ich fast umgefallen, als ich ihn an der Tür stehen sah.
Er trug eine lange, weite Arbeitshose und ein blaues, grobes Drillichhemd mit hochgerollten Ärmeln und offenem Kragen. Er winkte und rief mit einer Stimme, die so laut war, daß sich alle Köpfe nach ihm umdrehten: »Cousine Julie! Schön, daß du da bist, Liebste!«
Nun, natürlich hätte ich es mir denken können. Dies war ein Wahljahr. Es konnte Matts Image nicht schaden, wenn er gesehen wurde, wie er sich zwischen die Unterprivilegierten mischte, gekleidet wie einer von ihnen. Ich rechnete damit, daß ein Blitzlicht aufleuchten würde, aber es schien kein Fotograf in der Nähe zu sein.
Matt umarmte mich brüderlich und hielt mich dann auf Armeslänge von sich, die Hände auf meinen Schultern: »Du bist eine Wohltat für meine müden Augen! Hübscher denn je!«
»Du auch«, sagte ich. Es war nicht gerade ein Kompliment. Als ich Matt das letzte Mal gesehen hatte, war er sechzehn Jahre alt gewesen mit all den normalen Leiden dieses Alters – Akne, lange, dünne Beine und Arme und einer Stimme, die in unpassenden Augenblicken vom Sopran in Baß umschlug. Jetzt war er dreißig, sieben Jahre älter als ich, und trotz meines sarkastischen Kompliments mußte ich zugeben, daß er sich in einen gutaussehenden Burschen verwandelt hatte. Seine legere Kleidung stellte seine Sonnenbräune, seine Muskeln und seinen flachen Bauch zur Schau. Ich glaubte sicher, daß alle drei der Erfolg eines teuren Gesundheitsclubs waren, aber das Arbeiterimage stand ihm nicht schlecht. Er hatte die Familienzüge, die vorstehende Nase, hohe Backenknochen und ein kräftiges Kinn. Leider habe ich sie auch. Einer der Gründe, weshalb ich mein Haar lang wachsen lasse, ist die Hoffnung, diese hervorstechenden Merkmale zu mildern. Meine besten Freunde würden mich nicht hübsch nennen. Die Frauen meiner Familie sind selten hübsch. Wenn wir in die mittleren Lebensjahre kommen, sehen wir alle wie Stammesmütter aus. Aber bei einem Mann ist das ›Carr‹-Gesicht attraktiv; es vermittelt einen (trügerischen) Eindruck von Kraft und Zuverlässigkeit – das Abe-Lincoln-Aussehen, nur stattlicher. Wir waren einander so ähnlich, wir hätten Bruder und Schwester sein können, Matt und ich, bis zu dem dunklen Kastanienbraun unserer Haare.
Auch Matt bemerkte die Ähnlichkeit. Sein Lächeln verschwand, und er musterte mich noch einmal eingehender, ehe er sagte: »Niemand kann daran zweifeln, daß du eine Carr bist, Julie. Auch wenn du nicht so heißen würdest.«
Der Fahrer hatte den Gepäckraum des Busses geleert und deutete auf meine drei Koffer. Ich nahm den leichtesten der drei und ignorierte Matts höflichen Protest. Als er die anderen zwei angehoben hafte, protestierte er nicht mehr. Ein Ausdruck milden Mißmuts huschte über sein Gesicht, aber er trug sie ohne große Mühe; der Gesundheitsclub mußte gute Arbeit geleistet haben.
»Was hast du da drin, zum Teufel?« fragte er.
»Kleider, Bücher, das übliche. Wenn ich den ganzen Sommer hier verbringen soll, komme ich nicht mit einem Paar Jeans aus.«
Er nickte und holte Luft. Ich sollte bald herausfinden, wofür er sie brauchte; als wir uns dem Ausgang näherten, trat uns ein Mann mit ausgestreckter Hand in den Weg.
»Senator Ellis! Hallo, Senator!«
Matt stellte den Koffer, den er in der rechten Hand trug, auf meinen Fuß und ergriff die ausgestreckte Hand. Er hob die Stimme nicht, aber plötzlich konnte man ihn in der ganzen Busstation hören. Man nennt das Projektion, glaube ich. »Mr. Busby, nicht wahr? Schön, Sie zu sehen, Sir! Wie geht es Ihrer Frau?«
»Viel besser seit der Operation, Senator. Ich möchte Ihnen danken, Sir; wenn Sie nicht gewesen wären, hätten wir es uns nicht leisten können. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft wir alle an Sie denken, Senator, und an die große Hilfe, die Sie uns gewährt haben –«
»Oh, bitte.« Matt ließ die Hand seines Bewunderers los und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ihr guten Leute verdient alles, was ihr bekommt, und noch viel mehr. Ich freue mich zu hören, daß es Mrs. Busby gut geht.«
Sie trieben es auf die Spitze, während sich eine kleine Menschenmenge um sie herum ansammelte. Matt stellte mich vor – »Meine kleine Cousine Julie. Sie kommt, um unsere Großmama zu pflegen – die gute alte Seele verlassen die Kräfte ...« Schließlich trat Mr. Busby – falls er so hieß, was ich sehr bezweifelte – zurück, verbeugte sich und machte einen Kratzfuß. Matt verbreitete ein freundliches, bescheidenes Lächeln für die wartende Menge und führte mich zur Tür, gefolgt von einem bewundernden Murmeln. Erst draußen auf der Straße sagte ich: »Kann ich mich jetzt übergeben? Oder wäre es dir lieber, wenn ich warte, bis der Chauffeur es wegputzt?«
Der vierzehnjährige Matt wäre purpurrot geworden vor Zorn und hätte versucht, mich zu schlagen. Senator Ellis lächelte: »So wird das gemacht, Süße, und ich mache es gut. In fünf Jahren bin ich Gouverneur.«
Jetzt lächelte er nicht. Seine Stimme war todernst. Ich glaubte ihm.
»Und dann?« fragte ich.
»Jeder kleine Junge in Amerika möchte gern Präsident werden.«
»Und jedes kleine Mädchen.«
»Einverstanden, Süße. Du kannst mich mit den Frauenrechten nicht aufs Glatteis führen. Sieh dir meinen Ruf an.«
»Wie schaffst du es damit in deinem Distrikt? Das Wort ›Proletarier‹ kommt mir in den Sinn ...«
»Dieses Wort sprechen wir mit Stolz aus«, sagte Matt und verzog die Lippen. »Ich komme damit zurecht, weil ich auch im Jagen und Fischen groß bin und im Reden unter Männern. Image ist alles, meine Liebe.«
Er blieb neben einem unbeschreiblichen Vehikel stehen – einem fünf Jahre alten braunen Chevy mit Rostflecken. Ich warf einen einzigen Blick darauf und brach in Gelächter aus.
Matt fiel in mein Gelächter ein. »Image, Julie! Ich sagte dir ja, ich bin gut darin.«
Er half mir mit einer theatralischen Galanterie beim Einsteigen und setzte sich hinter das Steuer. Während er geschickt durch den Mittagsverkehr fuhr, unterhielten wir uns oberflächlich miteinander – die üblichen höflichen Fragen über das Leben des anderen. Erst als wir die Stadt verlassen hatten und in Richtung Süden fuhren, brach ich ein langes Schweigen. »Wie geht es ihr, Matt?«
Er brauchte nicht zu fragen, wer ›sie‹ war. »Wie immer! Sie könnte taub, stumm, blind und gelähmt sein und würde immer noch den Hühnerstall beherrschen.«
Er wartete darauf, daß ich eine Bemerkung dazu machte. Als ich dies nicht tat, sagte er, ohne mich anzusehen: »Fürchtest du dich immer noch vor ihr, Julie?«
»Nein. Ja. Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich habe sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.«
»Aber ich«, sagte Matt. »Ich fürchte mich vor ihr.«
»Du warst immer ihr Liebling.«
»Steht nicht etwas darüber in der Bibel, daß man die, die man liebt, züchtigt?«
»Oh!«
»Sie hat mich bevorzugt«, gab Matt zu. »Ich war der Junge. Der einzige Junge, der seit Gott weiß wie vielen Generationen in der Familie geboren wurde. Es ist komisch, wie wir zu Mädchen neigen ... der gewöhnliche männliche Chauvinist kommt gegen diese zähen alten Damen nicht an, wenn es darum geht, andere Frauen zum Schweigen zu bringen. Aber ich bin sicher, wenn sie mit dir über mich spricht, lobt sie mich über den grünen Klee. Das war ihr Lieblingstrick – gehässige Vergleiche. Aber sie hat mir nie erlaubt, eine besonders gute Meinung über mich selbst zu haben.«
»Matt, sie ist eine kranke alte Frau, und du bist ein erfolgreicher junger Mann, und das Leben liegt noch vor dir. Sage nicht, daß du an einer Neurose leidest.«
»Nein.« Matts fester Griff am Steuerrad lockerte sich. Als er fortfuhr, lag nicht mehr die Bitterkeit in seiner Stimme. »Nein, ich glaube, ich bin mit meinen Neurosen zurechtgekommen. Was immer sie auch getan hat, jetzt bezahlt sie dafür. Es könnte keine schlimmere Strafe für sie geben, als hilflos dazuliegen. Wenn du sie sehen könntest –«
»Ich werde sie sehen.«
Er nahm eine Hand vom Steuerrad und tätschelte mein Knie. »Glaube nicht, daß ich dir nicht dankbar bin, Julie. Ich will versuchen, es wettzumachen. Wenn du irgend etwas haben möchtest – Möbel, Porzellan, solche Sachen ...«
Die Sympathie und Zuneigung, die ich für ihn zu empfinden begonnen hatte, verschwand abrupt. Ich weiß nicht, warum das Angebot mich so abstieß. Der Himmel weiß, daß ich keinen Grund hatte, wegen meiner mürrischen alten Großmutter sentimental zu werden.
Er spürte, wie ich mich versteifte und nahm seine Hand von meinem Knie. »Das war nicht allzu diplomatisch«, sagte er.
»Nein. Ich habe nicht vor, das Haus zu plündern wie ein Tier, das nach Beute sucht. Sie ist noch nicht gestorben.«
»Sie wird den Sommer nicht überleben«, sagte Matt einfach.
W1 fuhren noch eine Meile schweigend weiter. Der Wagen war trotz seines mitgenommenen Äußeren in tadellosem Zustand. Der Motor lief ruhig, und die Klimaanlage kühlte das Innere angenehm. Unter einer grellen, heißen Sonne säumten die ebenen Felder grün die Flußufer nach der neuen Aussaat.
Schließlich sagte ich: »Sie ist eine zähe alte Dame, Matt. Sie könnte sich wieder erholen. Und ich werde mein Möglichstes tun, damit sie wieder hochkommt.«
»Natürlich.«
Seine Miene war so mürrisch, daß ich lachen mußte, wenn auch mit wenig Humor. »Wir sind ein feines Paar liebender Enkel, nicht wahr? Es ist am besten, du unterrichtest mich – über das, was ich tun oder lassen soll, über Themen, die ich erwähnen oder vermeiden soll, über Dinge, die ihren Blutdruck vielleicht steigen lassen oder ihren Zustand verbessern – wenn es von den letzteren irgendwelche geben sollte ...«
»Es gibt keine«, grollte Matt. »Aber erwähne nicht das Skelett von der Straße. Sie weiß nichts davon.«
»Das Skelett von der ... Worüber sprichst du, um alles in der Welt?«
Matt warf mir einen Blick zu. »Hast du nichts davon gehört?«
»Nein.«
Matt trat auf die Bremse und betätigte den Blinker. »Es ist sowieso an der Zeit, daß wir anhalten und zu Mittag essen. Ich informiere dich am besten über die hiesigen Neuigkeiten, ehe du Martha siehst.«
Das Restaurant war eines jener Lokale am Straßenrand, die Namen wie ›Joe's Place‹ oder ›Flo's Place‹ oder ›Henry's Place‹ führen. Dieses ›Place‹ – falscher Tudorstuck und Balkenkonstruktionen, zwei Whiskyfässer voller Petunien, die den Eingang flankierten – gehörte Sam, wer immer das auch war. Es war offensichtlich eines von Matts Stammlokalen; die Kellnerin begrüßte ihn beim Namen und fragte, ob er das übliche haben wolle, und es stellte sich heraus, daß dies Bourbon on the rocks war, – eine Menge Bourbon auf ein paar wenigen Rocks. Wir waren nur noch eine halbe Stunde von Maidenwood entfernt, und ich stellte mir vor, daß Matt es sich angewöhnt hatte, bei ›Sam's‹ anzuhalten, um sich einen Schuß Mut anzutrinken, ehe er seiner Großmutter gegenübertrat.
»Und jetzt über dieses Skelett«, sagte ich und schlürfte meinen Gin Tonic.
Es waren eigentlich zwei Skelette; das eine war das eines neugeborenen Kindes. Ich hörte mit offenem Mund zu, zu erstaunt, um Fragen zu stellen oder Matt zu unterbrechen. Als die Kellnerin kam und fragte, ob sie unsere Gläser wieder auffüllen solle, lachte Matt über meine entgeisterte Miene und nickte dem Mädchen zu.
»Trink aus, Julie! Du siehst aus, als hättest du noch einen nötig.«
»In meinem ganzen Leben habe ich keine so verrückte Geschichte gehört! Gib es zu, Matt, du hast sie erfunden. Du hast mir früher Sachen erzählt –«
»So eine Geschichte habe ich nie erfunden. Schön, es ist verrückt, aber wenn du die Zeitungen so gewissenhaft lesen würdest, wie du solltest, wüßtest du, daß so unheimliche Dinge von Zeit zu Zeit geschehen. Leider passierte dies sozusagen in unserem Hinterhof. Die neue Straße führt durch unser Land.«
Ich trank mein Glas aus und schüttelte verwundert den Kopf. »Ich verstehe, weshalb ich Martha nichts davon erzählen soll. Sie würde es als persönliche Beleidigung auffassen. Glaubst du, das war das Motiv? Und woher stammen die Gebeine? Ich bin nicht so unwissend wie du glaubst; ich habe gelesen, daß Friedhöfe entweiht werden –«
»Dort hat die Polizei natürlich zuerst nachgesehen. Es gibt in und um Carrsville drei Friedhöfe – den methodistischen, den episkopischen und den alten katholischen Friedhof. Dort gab es keine Anzeichen für Grabschändungen.«
»Dann waren es also Exemplare aus der Medical School.««
»Denke nach, Julie, und stelle deine Kollegen und die Polizei nicht als dumm hin. Sheriff Jarboe ließ einen Anthropologen vom William and Mary College kommen und die Knochen untersuchen«
»Oh, natürlich. Das war der richtige Schritt.«
Ich dachte über die Angelegenheit nach, während Matt mich fragend ansah. Die Kellnerin brachte unsere zweiten Getränke. Ohne die abgegriffene Speisekarte anzusehen, bestellte Matt für uns beide.
»Nun?« sagte er.
»Was: Nun?«
»Ihr Medizinstudenten solltet etwas von Knochen verstehen. Was kann ein Experte aus einem Skelett schließen?«
»Ich bin kein Experte. Aber ich belegte einen Kurs in Gerichtsmedizin und habe etwas darüber gelesen. Ein Pathologe kann innerhalb gewisser Grenzen das Alter des Individuums bestimmen, das Geschlecht eines Erwachsenen oder Heranwachsenden – Geschlechtsmerkmale zeigen sich an den Knochen erst nach Beginn der Pubertät –, die Krankheitsgeschichte, den allgemeinen Gesundheitszustand, manchmal die Todesursache ...«
»Manchmal?«
»Nur, wenn die Todesursache eine Spur auf den Knochen hinterließ. Ein gebrochener Zungenbeinknochen kann darauf hindeuten, daß der Betreffende erwürgt oder, stranguliert wurde. Ein Schädelbruch deutet auf einen tödlichen Sturz oder eine stumpfe Waffe hin. Aber Knochenbrüche können nach dem Tod eingetreten sein, und es ist schwer, mit Sicherheit zu sagen, ob dies vor oder nach dem Tod geschah.«
Die Kellnerin stellte zwei Teller Chef's-Salat vor uns hin. Der Kopfsalat war an den Rändern braun, aber ich war zu hungrig, als daß es mich gestört hätte. »Den weichen Geweben kann man viel mehr entnehmen, falls Teile davon übrig geblieben sind. Ich erinnere mich daran, daß ich über eine Untersuchung ägyptischer Mumien gelesen habe, bei denen die Pathologen histologische Untersuchungen vornehmen konnten, nachdem sie die verhärteten Gewebe mit Natriumkarbonat aufgeweicht hatten. Sie fanden parasitäre Würmer in den Innereien ... Hast du keinen Appetit?«
Matt schob seinen Salat beiseite. »Tut mir leid, daß ich gefragt habe. Wechseln wir das Thema.«
Ich nahm ein Brötchen und strich Butter darauf. »Gut. Ich nehme an, dein langweiliger Anthropologe konnte die Todesursache nicht feststellen. Kein Wunder. Was hat er herausgefunden?«
»Nur das Alter, und bei den Überresten der Frau das Geschlecht. Sie war zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt.« Matt starrte den Salat immer noch etwas angeekelt an.
»Mmmmm. Er konnte das Geschlecht des Kindes nicht feststellen. Vielleicht starb die Frau während der Geburt. Wann starb sie?«
»Das ist die Frage.« Matt nahm seine Gabel und sah mich zweifelnd an. »Hast du jetzt genug über – äh – histologische Untersuchungen gesprochen?«
»Für den Augenblick ja. Wenn sie herausfinden könnten, wann die Frau starb, hätte man vielleicht einen Schlüssel für die Frage, woher die Gebeine stammen.«
»Genau das wollte ich dich fragen, wie man so etwas feststellt.«
»Das ist nichtleicht. Viele Faktoren beeinflussen den Zerfall von Knochen und Geweben, die Art der Erde, das Wetter, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Sarges, ob die Leiche einbalsamiert wurde –«
Matt hatte etwas von dem Salat gegessen. Er hörte auf zu kauen und sah mich vorwurfsvoll an. Ich lachte. »Schon gut, wir übergehen die Einzelheiten. In Wirklichkeit sind die Archäologen gewöhnlich auf mehrere Faktoren angewiesen, um Skelettüberreste datieren zu können, wie zum Beispiel auf die Gegenstände, die mit den Leichen begraben wurden, Kleiderreste, Knöpfe, Münzen und so fort. Ohne solche Hinweise oder die Anwendung eines Verfahrens wie der Carbon-14-Methode –«
»Ich habe darüber gelesen. Warum konnte sie in diesem Fall nicht angewandt werden?«
»Erstens funktioniert sie nur bei Exemplaren, die mehrere hundert Jahre alt sind, die Fehlerquote ist zu groß. Zweitens muß man die Gebeine zerstören, um Resultate zu bekommen. Matt, warum beschäftigt dich das so? Es ist doch ganz offensichtlich, woher die arme Frau und ihr Kind kamen. Es gibt im ganzen Staat alte, vergessene Friedhöfe, indianische Friedhöfe, Kolonisten-Friedhöfe, solche aus dem Bürgerkrieg ... Wir gehen bei jedem Schritt auf dem Staub unserer Vorfahren.«
»Sehr poetisch«, sagte Matt angeekelt.
»Sehr wahr. Es ist auch wahr, daß in der Nähe von Maidenwood lange Zeit illegale Ausgrabungen vorgenommen wurden. Diese alte Geschichte über den Schatz von Blackbeard –«
»Sie ist nicht so weit hergeholt«, protestierte Matt. »Blackbeard operierte nämlich in den Küstengewässern; nachdem er in einer Seeschlacht getötet wurde, hat man einen Teil seiner Mannschaft in Williamsburg gehängt, und er –«
»Matt, mein Junge, ich sehe in deinen Augen ein gieriges Leuchten. Sage mir nicht, daß du selbst auf den Wiesen von Maidenwood nach dem Schatz gegraben hast.«
»Natürlich habe ich das getan. Welcher abenteuerlustige amerikanische Junge könnte einer solchen Geschichte Wiederstehen?«
»Du hast mich dir nie helfen lassen.«
»Du warst nur ein Mädchen«, sagte Matt ernst.
Ich mußte unwillkürlich lachen. Matt grinste mich an, und ich stellte fest, daß ich ihn wieder mochte. »Mit meiner eigentlichen Schatzsuche begann ich erst, als du weg warst«, sagte er halb entschuldigend.
»Ich glaube, ich war eine Nervensäge«, gab ich zu. »Sieben Jahre sind ein großer Altersunterschied zwischen Kindern. Ich meine, wenn Kinder – ich meine –«
»Ich weiß, was du meinst. Aber Blackbeards Schatz ist kein Mythos. Und immer wieder lebt das öffentliche Interesse daran auf. Martha erwischte vor ein paar Jahren einen Idioten im Wald mit einem Schaufelbagger – sie vertrieb ihn mit ihrem Gewehr. Er hatte für fünfzig Dollar eine Schatzlandkarte von einem Betrüger gekauft.«
»Da hast du es wieder. Kinder, die nach Silberdollars suchen, entdecken ein altes Grab und beschließen, einen Streich zu spielen. Ist das nicht der Schluß, zu dem auch die Polizei kam?«
»Ja –«
»Dann wäre das also klar. Ißt du noch den Rest deines Salates?«
Er schob ihn mir hin, und ich begann die guten Stücke herauszupicken – Schinkenstreifen und kleine Käsestückchen. Aus der Art, wie Matt mich ansah, hätte ich entnehmen können, daß wir das Thema noch nicht abgeschlossen hatten.
»Deshalb habe ich den Archäologen die Erlaubnis gegeben, Grabungen vorzunehmen«, sagte er. »Ihre Anwesenheit wird Unbefugte fernhalten, und wenn sie den Friedhof finden, von dem die Gebeine stammen, kann die Polizei die Akten schließen.«
Ich spießte eine Olive auf und schob sie in den Mund.
»Martha wird der Schlag treffen«, murmelte ich. »Sie hat es nie geduldet ...« Dann begriff ich, und der Kern flog mir aus dem Mund und tanzte über den Tisch. »Archäologen? Du meinst doch nicht etwa einen bestimmten Archäologen? Doch nicht ... nicht ...«
»Sein Name ist Petranek«, sagte Matt. »Er behauptet, er sei ein alter Freund von dir.«
Ich griff nach dem Olivenkern und legte ihn auf meinen Teller. Der blasierte Ausdruck von Matts ansehnlichem Mund sagte mir, daß er die Wahrheit vermutete. Es war das gleiche Grinsen, das der Vierzehnjährige aufgesetzt hatte, wenn er mir Schlangen ins Bett legte und mir sagte, ich würde Tollwut bekommen, als ein Hahn mich ins Bein gepickt hatte. In Wirklichkeit war ich keineswegs beunruhigt, sagte ich mir. Es war lange her – fünf Jahre.
Ich war ein unschuldiger Neuling mit großen Augen im William and Mary College gewesen, und Alan war ein graduierter Student der Anthropologie, der sich sein Stipendium dadurch verdiente, daß er Einführungskurse in Anthropologie gab. Er sah wie ein junger Indiana Jones aus – schlank und braungebrannt, und sein Haar war nach einem Sommer auf den Feldern von der Sonne gebleicht. Ich fiel fast in Ohnmacht vor hingerissenem Unglauben, als er mich aus der Schar der bewundernden Mädchen herauspickte, die ihn umringten. Man sprach vage über eine Verlobung – hauptsächlich meine Mutter tat dies –, ehe ich den wahren Grund herausfand, weshalb er mir den Hof machte.
Schon damals hatte seine Zukunft festgestanden. Die historische Archäologie war eine relativ neue Disziplin, welche die Standardtechniken der Ausgrabung auf neuere historische Stätten anwandte. Man könnte denken, wir wüßten über die frühen Siedlungen in Amerika alles, was wir wissen müssen. Die Leute damals waren nicht nur zivilisiert, sie schienen auch den größten Teil ihrer Freizeit damit verbracht zu haben, Briefe, Deklarationen, Tagebücher und Dokumente zu verfassen. Aber es gibt Lücken, besonders über die Erkenntnisse der Lebensbedingungen des einfachen Volkes, die nur durch die Archäologie geschlossen werden können. Grabungen rund um Williamsburg, Plymouth und an anderen Stellen haben das bewiesen.
Ich könnte mit der Aufzählung fortfahren. Ich wußte wesentlich mehr über historische Archäologie, als ich wissen wollte. Ich hörte eine Menge darüber in jenem Jahr in Cafeterias und College Bars, in meinem Zimmer und in seinem Apartment, im Bett und anderswo. Er sprach sogar im Bett darüber. Das hätte mir zu denken geben müssen.
Aber ich begriff es nicht, nicht einmal, als Alan sich über die Schwierigkeiten beklagte, die man auf einem so schlecht fundierten und so auf Wettbewerb eingestellten Gebiet hatte. Er zweifelte nicht daran, daß er sich schließlich durchsetzen würde. Bescheidenheit gehörte nicht zu seinen Tugenden – oder Schwächen –, und er hatte Grund zur Eitelkeit. Er war gut – intelligent, einfallsreich und konnte hart arbeiten. Aber er wollte nicht warten, bis er fünfzig war, bevor er sich seinen Weg zu einer ordentlichen Professur oder zu einer der großen Kuratorenstellen erkämpft hatte. Er wollte sofort Erfolg, und die einzige Art und Weise, wie er dies erreichen konnte, war, eine wirklich sensationelle, bedeutsame Entdeckung zu machen.
Er war nicht auf meine Mädchenhaftigkeit lüstern, er war lüstern auf Maidenwood. Ich habe niemals wirklich verstanden, weshalb Alan davon überzeugt war, daß die Entdeckung, die seine Karriere sichern würde, unter dem verflochtenen Gewirr von Büschen und unkrautüberwuchertem Lehm auf dem Land meiner Familie verborgen lag. Wie alle alten Häuser hatte auch Maidenwood seinen Anteil an Legenden; die über den vergrabenen Piratenschatz war nur eine davon. Und sie war, worauf Matt hingewiesen hatte, nicht so weit hergeholt, wie man denken sollte.
Dann gab es die Geschichte über die schöne Lady Jocelyn, die vom liederlichen Hof James' I. geflohen war, um in der Wildnis der Neuen Welt die Freiheit zu finden. Dies war nicht nur weit hergeholt, sondern meiner Meinung nach einfach lächerlich. Frauen des 17. Jahrhunderts waren in England nicht ihre eigenen Herrinnen. Sie konnten nicht ohne die Erlaubnis ihres Gatten oder Vaters oder Vormunds ein Schiff besteigen und zu einer Seereise aufbrechen – zumal wenn sie das Mündel des Königs waren, wie man es von Lady Jocelyn erzählte. Alan bestand jedoch immer darauf, daß die Geschichte einen wahren Kern hatte.
Und dann gab es den Maydon Bezirk oder, wenn man leichtgläubig genug war, an Lady Jocelyn zu glauben, den Maiden Bezirk. Fantasielosere (d. h. vernünftigere) Gelehrte spotteten über den Anspruch, den einige meiner romantischen Vorfahren erhoben hatten, daß die Carrs durch die Bank um ein paar Ecken herum von der Lady abstammten. Sie schrieben den Namen einem sonst unbekannten Siedler namens Maydon zu.
Ob Maydon oder Maiden, es war einer der Bezirke gewesen, der Anfang des 17. Jahrhunderts den Emigranten der Virginia Company zugesprochen wurde. In Maidenwood hatte es 1622 eine Siedlung gegeben, als der erste Indianeraufstand die junge Kolonie Virginia beinahe zerstört hätte. Dreihundert Siedler von insgesamt zwölfhundert waren massakriert worden, zwei der vier Städte bis auf die Grundmauern niedergebrannt, viele der Bezirke in rauchenden Schutt verwandelt, übersät von den Leichen der Einwohner. Ich wußte nicht, weshalb Alan glaubte, er könne sich einen Ruf schaffen, indem er verkohlte Balken und vermoderte Gebeine ausgrub, selbst wenn er sie auf den fünfhundert Morgen Land von Maidenwood fand. Aber das glaubte er eben, und darauf war er scharf. Auf eine Erlaubnis, Grabungen vorzunehmen.
In Martha fand er seine Widersacherin. Sie durchschaute ihn, verdammt sollte sie sein – nicht, weil sie seine Gedanken las, sondern weil sie mir weitschweifig seine Motive erklärte.
Ich hatte an jenem Nachmittag Alan auf seine Bitte hin nach Maidenwood mitgenommen. Ich weiß noch, wie das Sonnenlicht schräg durch die Fenster fiel und auf dem silbernen Teeservice schimmerte, das seit zweihundert Jahren in der Familie war. Ich erinnere mich an Marthas Lächeln ...
Alan schmierte ihr mit großem Geschick Honig um den Mund. Nicht zuviel, nur den besten Honig. Es nützte nichts. Martha wies ihn rundweg ab. Sie hatte niemals Außenstehenden erlaubt, die Erde von Maidenwood zu entweihen, und sie würde es niemals erlauben – keinem Bauunternehmer, keinem Archäologen, keinem Schatzsucher. Sie ließ Alan keine Illusionen, daß er zum Erfolg kommen könnte, aber er nahm es scheinbar mit Fassung auf. Erst als er zu einem Rundgang hinausgegangen war, so daß ich ein wenig Zeit hatte, mit der lieben Großmama allein zu sein, kam Martha zum Wesentlichen. Mit gnadenloser Präzision schilderte sie meine Mängel, sowohl die körperlichen als auch die emotionalen. Wie könne ich mir überhaupt einbilden, daß ein Mann wie Alan – stattlich, gebildet, weltgewandt – an einem unreifen, häßlichen Mädchen wie mir interessiert sein könnte? Mit einer flachen Brust, mit glanzlosem, glattem, braunem Haar und den Carr-Zügen »so ungünstig für eine Frau« – und natürlich ohne jeden Charme.
Ich zog mich in keiner guten Verfassung zurück, noch ehe sie ganz geendet hatte. Im nächsten Jahr besuchte ich die University of Pennsylvania, obwohl ich dadurch das an die Familie gebundene Stipendium verlor, und das war auch mein Hauptgrund, in das College in Virginia zurückzukehren.
Alan versuchte ein paarmal, mich wiederzusehen, aber er war nicht der Mann, der angesichts so trotziger Empfindlichkeiten, so unvernünftigem Verlangen nach Rückversicherungen bei der Stange blieb. O ja, ich war unvernünftig gewesen, das konnte ich jetzt zugeben – jetzt, nachdem es zu spät war. Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Alan würde sie wahrscheinlich gar nicht ändern wollen. Er war alles das gewesen und war es noch, was Martha über ihn gesagt hatte – stattlich, gebildet, weltmännisch. Es mußte zahllose Frauen in seinem Leben gegeben haben ...
»Macht es dir nichts aus?« fragte Matt, als wir das Restaurant verließen.
»Was? Oh – die Ausgrabungen.« Ich lachte leichthin, und dann hielt ich den Atem an, als die warme Luft mich wie eine Sauna umhüllte. »Die Archäologen tun mir leid. Ich hatte vergessen, wie die Sommer in Virginia sind. Sie werden schweißgebadet sein, wenn sie nicht von Regengüssen durchweicht werden.«
»Ich dachte, es wäre der richtige Schritt«, sagte Matt. Er ließ den Motor an, und die Klimaanlage sprang an.
»Wie hast du Martha davon überzeugt?«
»Machst du Witze? Sie weiß nichts davon. Wenn sie es erfährt, bekommt sie wahrscheinlich noch einen Schlaganfall.«
»Hast du ihre Vollmacht?«
»Nein.« Matt runzelte die Stirn und scherte aus, um einen Traktor zu überholen, der mit zehn Meilen in der Stunde die Straße hinabfuhr. »Ich denke, daß ich sie bekomme – meine Rechtsberater bemühen sich darum. Im Augenblick handelt Marthas Anwalt für sie. Erinnerst du dich an ihn?«
»Nein.«
»Er ist achtundsiebzig. Es ist lächerlich, daß man einen Mann in seinem Alter Marthas Angelegenheiten regeln läßt. Ich bin sicher, das Gericht wird meinen Antrag zulassen, aber bis dahin muß ich mir die Gunst von Ronald Fraser McLendon erbitten, vielmehr erflehen – mit dem Hut in der Hand. Aber er stimmte mir zu, was die Ausgrabungen anbetrifft.«
Jetzt waren wir wieder bei den Ausgrabungen. Wußte Matt, daß er eine alte Wunde berührte? Ich war mir nicht bewußt gewesen, daß die Stelle immer noch so empfindlich war, bis Matt auf das Thema zu sprechen kam. Über die Jahre hin war die Erinnerung an Alans Gesichtszüge verblaßt. Jetzt konnte ich ihn plötzlich im Geist so deutlich sehen, als stünde er vor mir – seine Augen leuchteten vor Begeisterung, sein braunes Haar war zerzaust, und seine Hände bewegten sich in eindringlichen Gesten, während er sprach. Ich hatte die Argumente so oft gehört ...
»Martha hätte ihnen schon längst die Erlaubnis geben sollen, Ausgrabungen zu machen«, sagte ich. »Das Erbe der Vergangenheit gehört jedermann. Schatzjäger und Grabräuber können eine Stätte zerstören; das Licht, das vielleicht auf unsere Vergangenheit geworfen werden könnte, ist dann für immer verloschen. Die beste Art, Vandalismus zu verhindern, ist die, Archäologen zuerst graben zu lassen.«
Matt lächelte. »Ist das ein Zitat?«
»Ich bin sicher, es ist schon gesagt worden«, murmelte ich. »War das nicht Mr. McLendons Argument?«
»Nun, nicht ganz. Er kümmerte sich mehr um die juristischen Feinheiten. Wir wollen unser Möglichstes tun und mit der Polizei zusammenarbeiten, bis sie diese Gebeine identifiziert haben ...«
Ich wollte nichts mehr über Gebeine oder Ausgrabungen oder Archäologen hören. »Wo fährst du hin?« fragte ich. »War es nicht die Abbiegung, an der wir eben vorbeifuhren?«
»Es gibt eine neue Straße«, erklärte Matt. »Da ist sie, gerade vor uns.«
Er bog in die schmale Straße ein, deren Zufahrt halb verborgen war von den Ästen der Bäume, die zu beiden Seiten dicht am Straßenrand standen. Der Straßenbelag schimmerte von der Nässe, und Matt fuhr nur noch vorsichtige fünfundzwanzig Meilen.
»Sie sieht genauso aus wie die alte Straße«, sagte ich.
»Erinnerst du dich noch daran?«
»Es ist ja nicht so lange her.«
Aber lange genug, um den Kontrast zwischen dem verkehrsreichen State-Highway und dieser unnumerierten Landstraße noch auffälliger zu machen. Entlang des Highways war das Land neuerschlossen, es gab Ansammlungen von Schachtelhäusern, Einkaufszentren, Fabriken. Die Landstraße aber hätte genausogut in einem anderen Land oder zu einer anderen Zeit so aussehen können – es gab keine Zeichen des gegenwärtigen Jahrhunderts bis auf die Stromleitungen und die Masten, die den durchweichten Schotterbelag säumten. Nicht einmal Zäune. Aber ich wußte, es war alles Maidenwood-Land, durchschnitten von Hohlwegen und Schluchten, ausgewaschen von den Flüssen, die sich in den James River und die Bay ergossen, und der dichte Wald hatte sich seit dreihundert Jahren nicht verändert. Es mußte genauso ausgesehen haben, als die ersten Siedler zum Maydon Bezirk kamen – die Kavaliere aus der Zeit Jacobs mit den hohen Stiefeln und Halbharnischen und Frauen in langen Gewändern, die ihre Kinder in den Armen trugen. War die Kindfrau und ihr Säugling eine von ihnen gewesen? Es war nicht wahrscheinlich. Der schwere Virginia-Lehm hätte ihre zarten Knochen schon lange in Staub verwandelt.
Der Wagen fuhr um eine abschüssige Kurve und schlitterte hinunter in eine schattige Senke. »Ist das die Stelle, wo man sie fand?«
Matt hob die Augenbrauen. »Woher weißt du es?«
»Es ist genau das, was man eine passende Umgebung nennen könnte«, sagte ich.
Noch während ich sprach, wurde mir klar, daß die beiläufige, halb scherzhafte Bemerkung buchstäblich zutraf und grausam genau war. Durch die mit Flechten überwachsenen Baumstämme, deren Äste die schmale Straße beschatteten, konnte ich zu beiden Seiten dichte, ineinander verwachsene Vegetation sehen, fruchtbar und überwuchert wie ein tropischer Regenwald. Ich konnte die Feuchtigkeit fast spüren, sogar durch die geschlossenen Autofenster hindurch.
»Was für eine schreckliche Stelle«, sagte ich unwillkürlich. »Hat sie einen Namen?«
»Erinnerst du dich nicht daran?«
»Nein, sollte ich?«
Die Straße wurde wieder eben und gerade. Wir überquerten eine einspurige Holzbrücke, und das Sonnenlicht verdrängte die Schatten. »Sollte ich?« fragte ich noch einmal.
Matt zuckte die Achseln. »Es ist wahrscheinlich eine der Stellen, die für dich verboten waren, weil du eine Frau bist. Die hiesigen Kinder haben einen unheimlichen Namen dafür – ›Totenloch‹, irgend so etwas.«
Ich beharrte nicht auf dem Thema. Keiner von uns sprach, bis wir die Einfahrt zum Maidenwood House erreichten.
Vor fünf Jahren waren noch Spuren der Torpfosten vorhanden gewesen – zusammengebrochene Steinpfosten, die von Unkraut überwuchert waren. Die Steine waren jetzt unter üppigem Grün verschwunden. Rosarote Trompetenwinden erhoben triumphierend ihre Blüten über die Ruinen. Die schmale Fahrspur zwischen ihnen war frisch mit Schotter bestreut, aber danach zu schließen, wie der Wagen darüber tanzte, nicht planiert. Die Bäume drängten sich näher an den Weg, als hätten sie etwas gegen unsere Anwesenheit verkrüppelte Kiefern und Hartriegelschößlinge und Maulbeerfeigenbäume, erwürgt von dem Henkersseil des Geißblatts.
Matts Hände umklammerten das Steuerrad, und ich bemerkte, daß er ebenso zögerte, in Maidenwood einzutreffen, wie ich. Als wir die Bäume hinter uns hatten und das Haus vor uns lag, kam ich mir vor wie eine Fremde, die mit distanziertem und kritischem Blick eine Ungeheuerlichkeit betrachtete, die seit langer Zeit ihre Nützlichkeit oder Schönheit überlebt hatte.
Der Zerfall des Hauses war etwas, für das sie nicht die verdammten Yankees verantwortlich machen konnten. Es hatte den ›Krieg zwischen den Staaten‹, wie man in dieser Gegend sagte, intakt überlebt, dank einer Tochter des Hauses, wie es die Familienlegende behauptete, die den Hauptmann der Unionstruppen umgarnt hatte, so daß er das Herrenhaus und seinen Inhalt verschonte. In den achtziger Jahren war der Hausherr bedenkenloser gewesen als die Yankees. Als eingefleischter Spieler hatte er die Familienschätze verkauft und das Haus leergeräumt, die handgeschnitzte Walnußtäfelung abgenommen und sogar das Blei vom Dach verkauft. Eine andere Familienlegende behauptete, daß seine lange leidende Frau ihn schließlich vergiftet habe, ehe er ihre Juwelen und ihr bestes Bett verpfänden konnte. Die Juwelen hatten die Familie während des zu Ende gehenden Jahrhunderts ernährt. 1917 hatte ein Brand den Ostflügel zerstört, und da kein Geld für Reparaturen vorhanden war, hatte man diesen Teil des Hauses dem Wind und Wetter und dem Unkraut überlassen.
Ich sah es wie eine Fremde, und doch hatte ich es oft besucht, als meine Eltern in Richmond wohnten, und ich hatte vier endlose, schmerzliche Jahre in diesem Haus gelebt, von meinem achten bis zum zwölften Lebensjahr.
Mutter war nichts anderes übriggeblieben, als mich Martha anzuvertrauen. Alleingelassen, ohne Kenntnisse und ohne Ausbildung, mußte sie sich lange Zeit nach oben hocharbeiten, bis sie mich wieder zu sich nehmen konnte.
In den dazwischenliegenden Jahren war ich nur ein einziges Mal zurückgekehrt – bei jenem verhängnisvollen Besuch mit Alan und dies auch nur, weil er mich darum gebeten hatte. Ich hatte vor ihm nicht zugeben wollen, daß ich lieber den Fünften Kreis der Hölle besucht hätte, und ich hatte geglaubt, in seiner Gegenwart wäre es leichter ...
Vor fünf Jahren. Es war nur ein Augenblick im Leben der alten Eichen, in deren Schatten der Rasen vor dem Haus lag. Sie sahen noch genauso aus. Auch der Rasen war unverändert – kein weiches, grünes Gras, sondern eine riesige Fläche voller gemähten Unkrauts.
Ich erinnerte mich noch an die Bäume. Ich erinnerte mich an den Abhang hinter dem Haus, der durch die dicht mit Klee bewachsenen Wiesen zum Flußufer hinabführte. Ich erinnerte mich auch nur allzu deutlich an das steife Empfangszimmer, wo Martha meine rührende kleine Liebesgeschichte in Stücke zerrissen hatte. Das war alles, woran ich mich erinnerte. Es war so, als ob eine schwarze Wand den Rest des Hauses und die Jahre, die ich dort verbracht hatte, verbergen würde – eine Mauer, die mehr als zehn Jahre dick war.
Matt, hielt den Wagen an und griff nach einer Zigarette.
»Ich wußte nicht, daß du rauchst«, sagte ich neugierig.
»Ich habe nie das Bedürfnis zu rauchen, außer in Maidenwood«, sagte er mit einem schiefen Blick.
Ich lachte – aber nicht laut und nicht lange.
Wir saßen schweigend da, während Matt wütend Rauchwolken zwischen vorgewölbten Lippen ausstieß und ich mit seltsam konfusen Gefühlen das Haus betrachtete.
Das Haus bestand aus Backsteinen, die man an Ort und Stelle aus Lehm geformt hatte. Eine Treppenflucht führte zur Eingangstür in der Mitte der Westseite. Die schmiedeeisernen Geländer, die die Treppe flankiert hatten, waren schon lange nicht mehr da. Einer der Kamine war nur noch ein Stumpf, und das berühmte Bleidach war durch moderne Holzschindeln ersetzt worden.
»Wie scheußlich«, sagte ich.
In meiner Stimme lag kein Ärger, nur eine Befriedigung, die so stark war, daß nicht einmal Matt sie überhören konnte, der niemals für Anspielungen empfindlich gewesen war. Er antwortete jedoch so, als wäre meine Bemerkung Kritik und nicht ein Triumphschrei gewesen. »Ich kann das Haus nicht in Schwung halten. Martha hat keine Bohne, und ich stecke bis zu den Ohren in Schulden. Die Politik ist ein teures Geschäft.«
Ich fragte nicht, weshalb er von seiner Mutter keine Hilfe bekommen konnte. Ich bin nach meiner Tante Julia getauft worden, aber mehr als die Namen hatten wir nicht gemeinsam. Ein hübsches, frivoles Wesen, dem die Tragödie der ›Carr-Züge bei einer Frau‹ erspart geblieben war. Sie hatte einen aufstrebenden jungen Anwalt aus einer guten – das heißt armen Familie geheiratet und Matt zur Welt gebracht, ehe sie die vornehme Armut satt bekam. Jetzt hatte sie ihren vierten Ehemann, und er war so wenig wie Tante Julia selbst geneigt, Geld für ein zerfallenes Haus in der Wildnis von Virginia zu verschwenden. Tara-Gefühle waren nicht ihre Sache! Es wäre nie irgend jemandem in den Sinn gekommen, und am allerwenigsten ihrem Sohn, vorzuschlagen, daß Tante Julia auf ihren Sommer in Europa verzichten sollte, um für ihre sterbende Mutter zu sorgen. So ein Mensch war sie. Ich hätte nur gern gewußt, wie sie damit zurechtkam.
»Ich weiß nicht, warum es dir etwas ausmacht«, sagte ich. »Solche Häuser sind Anachronismen. Laß es zusammenfallen.«
Matt antwortete nicht. Er saß da und rauchte und starrte das Haus an mit einer Mischung aus Verwünschung und Verlangen, und ich las seine Gedanken so deutlich, als wären sie auf sein Gesicht geschrieben – was sie in einem gewissen Sinn auch waren. Er sah Maidenwood so, wie es einmal ausgesehen hatte und wie es wieder aussehen könnte, wenn er eine halbe Million Dollar besäße, um sie hineinzustecken – anmutig und schön, ein perfekter Hintergrund für den aristokratischen Gouverneur des alten Dominions.
»Verkaufe doch Land«, schlug ich vor. »Ich glaube nicht, daß es viel wert ist, aber es sind Hunderte von Äckern, glaube ich.«
»Du weißt, das würde Martha nie erlauben, und«, fügte er hinzu und warf mir einen verstohlenen Blick zu, »ich würde nichts gegen ihren Willen tun.«
Ich lächelte im Stillen. Matt war so leicht durchschaubar. Er würde niemals verhängnisvolle Eingeständnisse machen aus Angst, ich verriete Martha seine schändlichen Pläne und versuchte seine Stelle als Erbin einzunehmen. Angenommen, ich wäre so gemein, solch einen Trick zu versuchen er würde nicht funktionieren. Wenn Maidenwood mir gehörte, würde ich jeden einzelnen verdammten Acker verkaufen, vorausgesetzt, ich könnte einen Käufer finden, der einfältig genug war, in ein zerfallenes Haus und fünfhundert Äcker Unkraut zu investieren – und Martha mußte wissen, daß ich es tun würde.
Matt als der arme romantische Snob, der er war, würde wenigstens versuchen, das Haus in Schuß zu halten. Aber wenn Martha das Besitztum nicht in irgendeine Art Stiftung einbrachte, würde es in Vierteläcker aufgeteilt werden, noch ehe sie ein Jahr tot war.