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Welchem der ungleichen Brüder gehört ihr Herz? Die Regency-Romanze »Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft« von Barbara Michaels als eBook bei dotbooks. England im 18. Jahrhundert. Nach dem Tod ihres Vaters ist für die junge Francesca nichts mehr wie zuvor: Die einzige Familie, die sie noch hat, sind ihre entfernten Verwandten in Italien. Schweren Herzens reist sie dort hin – und ist überwältigt von der Pracht ihres neuen Zuhauses, das wie ein Schloss inmitten von Rosen und Zypressenwäldern thront. Doch ihre Verwandten empfangen Francesca mit kaltem Argwohn. Einzig der ungestüme Andrea scheint Francesca für den Zauber dieses Landes begeistern zu wollen – wohingegen sie sicher ist, dass sein düsterer Bruder Stefano um jeden Preis etwas vor ihr zu verbergen sucht. Ein Geheimnis, das Francesca schon bald tief in die Intrigen der Adelsfamilie verwickelt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft« von Bestseller-Autorin Barbara Michaels verbindet fesselnde Regency-Liebe mit einem Hauch von Gefahr und Exotik. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 436
Über dieses Buch:
England im 18. Jahrhundert. Nach dem Tod ihres Vaters ist für die junge Francesca nichts mehr wie zuvor: Die einzige Familie, die sie noch hat, sind ihre entfernten Verwandten in Italien. Schweren Herzens reist sie dort hin – und ist überwältigt von der Pracht ihres neuen Zuhauses, das wie ein Schloss inmitten von Rosen und Zypressenwäldern thront. Doch ihre Verwandten empfangen Francesca mit kaltem Argwohn. Einzig der ungestüme Andrea scheint Francesca für den Zauber dieses Landes begeistern zu wollen – wohingegen sie sicher ist, dass sein düsterer Bruder Stefano um jeden Preis etwas vor ihr zu verbergen sucht. Ein Geheimnis, das Francesca schon bald tief in die Intrigen der Adelsfamilie verwickelt …
Über die Autorin:
Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.
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eBook-Neuausgabe Februar 2020
Dieses Buch erschien bereits 1991 unter dem Titel »Auf den Schwingen der Liebe« bei Heyne.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1977 by Barbara Michaels
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel »Wings of the Falcon« bei Dodd, Mead and Company.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1991 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ Frame Art, Somyk Volodymyr und Period Images/Dunraven/Mary Chronis und AdobeStock/picture 10
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-155-7
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Barbara Michaels
Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft
Roman
Aus dem Amerikanischen von Eva Malsch
dotbooks.
Für Joan und Fred,
Caroline, Mary Ann und Nancy
und unsere vierfüßigen Freunde, deren Anzahl im Augenblick unbestimmt ist.
Obwohl alle Personen in diesem Buch der Fantasie entsprungen sind, basieren einige Ereignisse auf Tatsachen, so unwahrscheinlich sie auch erscheinen mögen. Die Geschichte der Einigungsbestrebungen in Italien ist von Geschehnissen erfüllt, wie sie kein Schriftsteller dramatischer hätte gestalten können. Die Figur des Falken habe ich natürlich erfunden; aber Emilio und Attilio Bandiera nicht. Die Stadt Parezzo gibt es in Wirklichkeit nicht, doch die Erhebung Perugias und die Vergeltungsaktionen der päpstlichen Truppen sind historische Fakten. Auch Hauptmann De Merode ist erfunden, aber Schmidt aus Perugia und andere Söldnerkommandanten lieferten mir die Grundlagen, die ich brauchte, um meinen fanatischen Soldaten zu charakterisieren. Eine Familie wie die Tarcontis hat nie gelebt. Doch ihr etruskischer Friedhof wurde realen Vorbildern angeglichen, und was das Grab der Fürstin betrifft, orientierte ich mich am historischen Regolini-Galassi-Grab. Mehrere frühe Ausgräber behaupten, sie hätten makellos erhaltene Leichen zerbröckeln sehen, sobald frische Luft in die Grabkammern gedrungen wäre. Sogar die weißen Hasen sind einem Tatsachenbericht von Mrs. Hamilton Gray entnommen.
Um den historischen Hintergrund von Italien im Jahre 1860 darzustellen, hielt ich mich, so gut ich es vermochte, an die Wirklichkeit. Ich hoffe, es ist mir gelungen, dem Mut und der Hingabe jener Männer gerecht zu werden, die für die Einheit Italiens kämpften und es von seinen mittelalterlichen Institutionen befreien wollten.
Eine Autorin, die in der ersten Person schreibt, kann nicht erwarten, daß ihre Leser ernsthaft um das Überleben der Hauptperson besorgt sind. Wenn eine Heldin ihre Leidensgeschichte in wohlgesetzten Worten schildert, hat sie ganz offensichtlich alle Torturen überstanden, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Und doch erinnere ich mich, wie ich vor Spannung den Atem anhielt, als die Verrückte in Miß Jane Eyres Kammer eindrang und den Brautschleier zerriß; und wie ich mir die Fingernägel abbiß, während ich die Schicksale von Mrs. Radcliffes gepeinigten Heroinen verfolgte.
Da ich weder Miß Brontë noch Mrs. Radcliffe bin, darf ich nicht hoffen, die Aufmerksamkeit meiner Leser in gleichem Maße zu fesseln. Aber was mir in einem gewissen Lebensabschnitt widerfuhr, war genauso grausam und fast ebenso unwahrscheinlich wie die Abenteuer meiner Lieblingsheldinnen. Vielleicht hielt ich in meiner Jugend und Unerfahrenheit jene Probleme für schlimmer, als sie es tatsächlich waren. Doch selbst jetzt, wo ich einige Jahre älter bin (ich ziehe es vor zu verschweigen, um wie viele) überläuft mich immer noch ein Schauer, wenn ich mich Lord Sheltons entsinne und jenes gräßlichen Augenblicks, wo ich hilflos in seinen Armen lag, wo sein heißer Atem mein abgewandtes Gesicht streifte und seine Hände an meinem Kleid zerrten.
Aber ich greife den Ereignissen voraus. Ich muß zunächst erklären, wie ich in eine so üble Situation geraten konnte, und um dem Leser ein klares Bild zu vermitteln, auch einen Teil meiner Familiengeschichte einflechten.
Mein Vater war ein Künstler – leider kein sehr guter.
In gewisser Weise finde ich es bedauerlich, daß sein Vater ihm ein kleines Vermögen hinterließ, denn ohne dieses Geld hätte er sich eine gewinnbringende Beschäftigung suchen müssen, statt den schwer erreichbaren Schutzgeistern der schönen Künste nachzujagen. Sein Erbe genügte, um ihm für einige Jahre ein halbwegs komfortables Leben zu ermöglichen, während er den europäischen Kontinent bereiste und schließlich im künstlerischen Mekka, in Rom landete. Auf einen jungen Mann von romantischer Gesinnung, mit einem glühenden Herzen übte die alte Hauptstadt der Cäsaren eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Und das lag nicht nur an ihren Kunstschätzen, sondern auch an den schönen Modellen, die auf der Spanischen Treppe ihre Talente anpriesen, an der Gesellschaft anderer aufstrebender junger Künstler, am Wein, am Gelächter und an den Gesängen in den warmen italienischen Nächten.
Vater sah bemerkenswert gut aus, sogar auf dem Totenbett. Schwindsucht ist keine entstellende Krankheit. Im Gegenteil, eins ihrer teuflischen Symptome besteht darin, daß sie ihre Opfer mit der gespenstischen Illusion von Schönheit und Gesundheit umgibt, bis kurz vor dem Ende. Vaters schlanke Gestalt und die feingezeichneten Gesichtszüge wurden von den Folgen seines Leidens noch betont. Seine Blässe bildete einen eindrucksvollen Kontrast zu dem weichen, dunklen Haar, zu den strahlenden schwarzen Augen, eingerahmt von den langen, dichten Wimpern, um die ihn so manche Frau beneidet haben mußte.
Ich kannte ihn nur während seines körperlichen Verfalls, aber ich kann mir vorstellen, wie hübsch er mit zwanzig war, als er meiner Mutter begegnete, und ich verstehe, daß es ihm so schnell gelang, ihr Herz zu erobern. Ihrer Familie mangelte es an diesem Verständnis, denn sie stammte aus einem vornehmen italienischen Haus. Unter normalen Umständen hätte mein Vater sie niemals kennengelernt. Ein romantischer Zufall führte die beiden zusammen. Sie fuhr in einer Kutsche nach Rom, und die Reise mußte wegen eines Gewitters unterbrochen werden. In der Dunkelheit tauchten Banditen auf. Die Diener meiner Mutter flüchteten oder wurden überwältigt. Und im gefährlichsten Augenblick, als einer der Schurken die Dame aus dem Wagen zerrte, kam Vater zufällig dazu. Als die Huf Schläge seines Pferdes aufklangen, hielten ihn die Räuber für den Anführer einer Schutztruppe. Er fand gerade noch Zeit, meine halb ohnmächtige Mutter zu sich in den Sattel zu heben, und zu entkommen, ehe sie ihren Irrtum erkannten.
Im schwachen Mondlicht hatte er genug gesehen, um die wehrlose Gestalt einer Frau auszumachen, umringt von Männern, die ihr Leben, ihr Eigentum oder beides bedrohten. Erst als sie das nächste Gasthaus erreichten, das glücklicherweise nur wenige Meilen entfernt lag, erblickte er das Gesicht der jungen Frau, die er gerettet hatte.
Ich gleiche ihr nur, was die Haare und die Augenfarbe betrifft – worüber manche Leute überrascht sind, denn ich bin blond und blauäugig. Aber nicht alle Italiener sind schwarzhaarig, mit dunklen Augen. In der nördlichen Region leben viele blonde Menschen, und einige Vorfahren meiner Mutter stammten von dort. Meine Gesichtszüge habe ich von Vater geerbt. Und obwohl er hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung keine übertriebene Bescheidenheit an den Tag legen konnte, ohne die meine zu verunglimpfen, wollte er niemals zugeben, daß andere Frauen meiner schönen Mutter ebenbürtig wären.
Natürlich genügten die romantischen Begleiterscheinungen jener ersten Begegnung, um jeden jungen Mann zu entflammen. Meine Mutter war bewußtlos, als er sie ins Gasthaus trug und auf ein Sofa vor dem Kamin bettete. Der Feuerschein färbte ihre zerzausten Locken goldrot, und dieser schimmernde Heiligenschein umrahmte ein Gesicht von reiner Vollkommenheit. Er kniete neben ihr nieder, legte einen Arm unter ihren Kopf. Ihre Lider zitterten, sie öffnete die Augen. Das erste, was sie sah, waren seine Züge – jung, hübsch, von tiefen Gefühlen beseelt; und das erste, was sie spürte, war sein kraftvoller Arm, der sie zärtlich und doch respektvoll umfing.
Kein Wunder, daß sie sich auf Anhieb ineinander verliebten … Um so wundersamer war es, wie beharrlich ihre Liebe alle Hindernisse überwand. In ihrer jugendlichen Unerfahrenheit, voneinander verzaubert, konnten sie am ersten Abend nicht vernünftig denken, sonst hätten sie sofort erkannt, daß ihre einzige Hoffnung in der sofortigen Flucht lag. Doch die eigentlichen Schwierigkeiten wären ohnehin gewaltig gewesen. Zum Beispiel konnte meine Mutter keinen Protestanten heiraten. In Italien durften die Angehörigen dieses Glaubens nicht einmal Gottesdienste abhalten. So wurden die Behörden von dem Überfall auf die Kutsche verständigt, und man teilte dem Fürsten Tarconti mit, seine Tochter wäre in Sicherheit; aber nicht bevor die Liebenden Zeit gefunden hatten, sich stundenlang in einer Sprache zu unterhalten, die viel beredsamer war als das fließende, wenn auch grammatikalisch etwas fehlerhafte Italienisch meines Vaters.
Wie gut ich jede Einzelheit dieser romantischen Geschichte kenne! Während der Kindheit war dies meine liebste Gute-Nacht-Geschichte. Und wenn ich meine Mutter als eine Heilige betrachtete, an die ich meine kindlichen Gebete richtete, verkörperte ein gewisser Graf Ugo Fosilini den Schurken meiner Albträume. Francescas aristokratischer Vater hatte diesen entfernten Verwandten zum Schwiegersohn erkoren; und sie war auf dem Weg nach Rom gewesen, um Fosilinis Familie zu besuchen, als das Schicksal eingegriffen hatte. Natürlich schickte Fürst Tarconti keinen anderen als jenen jungen Mann in das Gasthaus, um seine Tochter abholen zu lassen. Sobald Graf Ugo meinen Vater erblickte, wußte er, daß er einen Rivalen hatte; und er erdreistete sich, diesen zu beleidigen, indem er ihm Geld anbot, zum Dank für die Rettung des Mädchens.
Natürlich schleuderte Vater die Goldmünzen wütend auf den Boden. Diese Geste war tapfer, aber unklug, denn sie bestätigte, was der Graf bis dahin nur vermutet hatte. Meine Mutter wurde augenblicklich nach Rom gebracht, in den Palazzo Fosilini, wo man sie buchstäblich gefangenhielt. Doch das genügte dem Grafen noch lange nicht. Er war zu hochmütig, um einen Mann, den er nicht für ebenbürtig erachtete, zum Duell zu fordern. Und so kaufte er sich einige jener Meuchelmörder, die sich in Rom zahlreich herumtrieben. Nur die Loyalität der ambitionierten jungen Schriftsteller und Maler, mit denen mein Vater befreundet war, bewahrte ihn vor dem Tod. Einige gehörten einem revolutionären Geheimbund an und brannten geradezu darauf, die Pläne Graf Ugos zu vereiteln, der als grausamer Gutsherr galt. Die Mitglieder der Gruppe standen meinem Vater bei, der meiner Mutter bis auf den Familienlandsitz in den Bergen folgte, und sie verhalten den beiden auch zur Flucht aus Italien. Dies war das aufregendste Kapitel der ganzen Geschichte. In nächtlicher Stille verließ meine Mutter das schlafende Schloß, begleitet von einer treuen Dienerin, die für die heimliche Verständigung zwischen den Liebenden gesorgt hatte. Nach einem wilden Ritt durch die Dunkelheit, wobei meine Mutter, in Männerkleidung und im Herrensitz, auf dem Rücken eines temperamentvollen Hengstes saß, erreichten sie Genua. In einem Fischerboot, dessen patriotische Besatzung des öfteren eine andere Fracht als Fische übers Meer beförderte, fuhren sie nach Frankreich. Triumphierend gingen sie in Marseille an Land.
Sie heirateten in London. Meine Mutter sagte sich von allem los, was sie in Italien zurückgelassen hatte, sogar von ihrer Religion. Zunächst lebte das junge Paar sehr zurückgezogen, weil es die Rache von Francescas Verwandten fürchtete. Doch nachdem einige Monate verstrichen waren, erfuhren sie, daß Mutters Verwandtschaft mit einer kalten, für ihre Gesellschaftsschicht typischen Arroganz auf die Flucht reagiert hatte. Italienische Freunde teilten ihnen mit, Fürst Tarconti hätte seine Tochter enterbt. Ihr Name durfte in seiner Gegenwart nicht mehr ausgesprochen werden. Für ihre Familie war sie so gut wie tot.
Und sie starb tatsächlich nach kurzer Zeit – als sie mich zur Welt brachte. Vater schrieb einen Brief, um die Tarcontis zu informieren, erhielt aber keine Antwort. Er hatte nur aus menschlichem Anstand heraus gehandelt und keineswegs, um irgend etwas zu erbitten, und er bedauerte, daß der Anfang dieser Korrespondenz zugleich das Ende bedeutete.
Die nächsten siebzehn Jahre kann ich getrost übergehen. Es waren keine schönen Jahre für ihn; doch das erkannte ich erst, als es keine Rettung mehr gab. In jugendlicher Selbstsucht trug ich hübsche Kleider, spielte mit teuren Spielsachen, und akzeptierte die ständige Anwesenheit von Hauspersonal und Kindermädchen, ohne mich zu fragen, woher das Geld dafür stammte oder warum Vater so selten zu Hause war. Er malte immer noch – um seine Bilder zu verkaufen, wie ich annahm. Wie krank er war, merkte ich erst, nachdem er an einem Winterabend bei meinem Gute-Nacht-Kuß einen sehr schweren Hustenanfall bekommen hatte.
Ich war zu jung, um das unheilvolle Omen jenes Anfalls zu begreifen. Hastig versicherte er mir, alles sei in Ordnung. Eine Dame aus seinem Bekanntenkreis schickte ihn nach Südfrankreich, womit sie sein Leben zweifellos verlängerte. Ich blieb in England, auf einem Internat. Daß mein Schulgeld von Mrs. Barton bezahlt wurde, womit sie meinen Vater teilweise für seine Dienste entlohnte, wußte ich nicht, ebensowenig, daß der Ausdruck ›Gönnerin‹ die wirkliche Rolle, die sie in seinem Leben spielte, dezent umschrieb.
Sie war weder die erste noch die letzte seiner ›Gönnerinnen‹. Jetzt verstehe ich das. Ich verurteile ihn nicht, und ich glaube immer noch, daß er sich vor allem mir zuliebe mit diesen Frauen einließ, um mir die Annehmlichkeiten und die Sicherheit zu bieten, die er mir sonst nicht hätte ermöglichen können. Ich sah ihn nicht allzu oft und war eigensüchtig genug, um ihm diese mangelnde Zuwendung, wie ich es damals betrachtete, übelzunehmen. Ich verstand nicht, warum er sich von mir fernhalten mußte, doch das brauche ich mir nicht vorzuwerfen. Es gelang ihm sogar, meine naiven Lehrerinnen zu täuschen. Das Internat lag in Yorkshire, weit weg von den bösartigen Londoner Klatschmäulern, und meine liebe, alte Mrs. Smith hätte die Tratschgeschichten nicht einmal geglaubt, wenn sie ihr zu Ohren gekommen wären. Alle diese Damen beteten meinen Vater an, schwirrten bei seinen seltenen Besuchen um ihn herum und akzeptierten ihn als den wohlhabenden Gentleman, den er ihnen vorspielte.
Trotz allem liebte ich ihn, und ich hätte die wachsende Verzweiflung hinter seiner heiteren Fassade spüren müssen.
Er hatte guten Grund, um in jenem Winter vor meinem achtzehnten Geburtstag in tiefer Verzweiflung zu versinken. Die Grundlagen der unsicheren Existenz, die er sich aufgebaut hatte, begannen zu wanken. Und ich hätte wie die Bewohnerin eines von Insekten zerfressenen Hauses in meiner trügerischen Sicherheit weitergelebt, bis der Boden unter meinen Füßen eingestürzt wäre. Als er vor den Weihnachtsferien ins Internat kam, um mich abzuholen, merkte ich nicht, wie es um ihn stand. Nie hatte er hübscher ausgesehen, und die lieben alten Damen umschwärmten ihn, boten ihm Tee und Kümmelkuchen an. Er trug eine großartige neue Uhrenkette aus massivem Gold, und daran hingen allerlei Schmuckstücke – Kameen und Medaillons und dergleichen, die ich mir gern genauer angesehen hätte.
Aber ich saß züchtig da, die Hände im Schoß gefaltet, wie Mrs. Smith es mir beigebracht hatte. Meine Zukunft wurde besprochen, und die Damen erklärten meinem Vater voller Stolz, meine Ausbildung wäre nun abgeschlossen. Ich war die beste Schülerin, ein Vorbild für alle anderen, und beherrschte sämtliche Handarbeiten, von der broderie anglaise bis zur Kreuzstickerei. Mein Meisterwerk – ein Stickbild, das eine Dame und einen Herrn in einem Obstgarten darstellte, wo Äpfel an den Zweigen hingen, so groß wie der gepuderte Kopf der Lady, wurde triumphierend vorgezeigt. Außerdem lobte man meine Kunstfertigkeit am Klavier und an der Harfe und meine Französischkenntnisse. Wie ich bald erfahren sollte, war Vater ein hervorragender Schauspieler, doch an jenem Tag fiel es ihm schwer, sich zu verstellen. Die alte Mrs. Smith unterbrach sich mitten in einem Satz, um ihre Besorgnis über seine fahlen Wangen auszudrücken und ihm noch ein Glas Madeira aufzuzwingen.
Ich glaube, er hatte erst wenige Wochen vorher begonnen, der Wahrheit über seinen Zustand ins Auge zu blicken. Nun sah er sich genötigt, eine zweite bedrückende Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen, die er bis dahin zu ignorieren versucht hatte. Meine Schulzeit näherte sich dem Ende. Ich mußte das Internat verlassen – aber wohin sollte ich gehen? Darin lag nun sein großes Problem, und es mußte ihm so vorgekommen sein, als würde die ganze Welt ringsum auf einmal zusammenbrechen.
Jahrelang hatte er mir etwas vorgemacht, und er schaffte es auch, seinen Besuch bis zum Abschied stilvoll durchzustehen. Wir setzten uns in eine schöne Reisekutsche, in Pelze und Decken gehüllt, die uns vor der winterlichen Kälte schützten. Als wir davonfuhren, begann es zu schneien, doch ich war zu glücklich, um auf das Wetter zu achten. Immerhin hatte ich Vater ein Jahr lang nicht gesehen.
Ich redete unentwegt, schwatzte über Mary Wentworths schockierenden Flirt mit dem jungen Priester und über Alice Johnson, die beim Landkartenzeichnen gemogelt hatte. Lächelnd hörte mein Vater zu. Während sich der Nachmittag hinzog, wurde ich immer stiller und schlief schließlich ein.
Plötzlich erwachte ich. Die Schatten des frühen Abends füllten das Innere des Wagens. Vater beugte sich über mich. Im Dunkel schimmerte sein Gesicht hell wie Perlmutt, und irgend etwas in seiner Miene erschreckte mich. »Was ist denn los?«, rief ich und kämpfte gegen meine Müdigkeit an.
Sofort zog er sich in die andere Ecke der Sitzbank zurück. »Nichts, mein Liebes. Verzeih, daß ich dich geweckt habe. Ich wollte nur dein Gesicht betrachten. Du siehst aus wie …«
Er wandte sich ab, und ich war tief bewegt, weil ich seinen offensichtlichen Kummer zu verstehen glaubte. »Erinnere ich dich wirklich an Mama? Ich dachte …«
»Im Laufe der Jahre wirst du ihr immer ähnlicher. Weißt du, Francesca, daß du jetzt genau so alt bist, wie es deine Mutter war, als wir uns ineinander verliebten?«
»Wenn es dich traurig stimmt, von ihr zu sprechen …«, begann ich und berührte seine Finger, die er mir hastig entzog.
»Nein! Ich muß von ihr sprechen – und von anderen Dingen, die ich stets verdrängt habe. Ich war nicht immer so feige, mein Liebling, aber als sie starb, starb auch etwas in mir – vielleicht meine Männlichkeit …« Dann merkte er, daß seine Schwermut mich bestürzte, und er griff lächelnd nach meiner Hand. »Reg dich nicht auf. Ich verspüre nur den Unmut eines Vaters, der mit ansehen muß, wie ihm seine Tochter entgleitet, der den Tag fürchtet, wo ein anderer Mann ihr Herz gewinnen wird. Du bist jetzt eine junge Frau, mein Liebes. Gibt es einen Mann, der dir gefallen könnte?«
Solche Gespräche fand ich interessant, aber auch ein bißchen peinlich. Über diese Dinge tuschelten wir Mädchen spät abends, wenn die Lampen erloschen waren. Ich glaube, ich wurde ein wenig rot. »Mary Ellens Bruder ist sehr attraktiv«, erwiderte ich zögernd. »Als er letztes Jahr zu Besuch kam, unterhielten wir uns, und ich fand ihn sehr nett. Mary Ellen sagte, er wäre ganz begeistert von mir gewesen.«
»Tatsächlich?« Vaters Stimme klang müde. Ich sah sein Gesicht nur undeutlich. Er fuhr fort, als würde er mit sich selbst reden. »Aber was für Gelegenheiten findest du schon in dieser unschuldigen kleinen Oase, junge Männer kennenzulernen? Und wer würde dir einen Antrag machen, wenn er wüßte … Was soll ich tun? Was, um Himmels willen, soll ich mit dir anfangen?«
»Aber Vater!«, rief ich verwirrt. »Ich will nicht heiraten. Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«
Er stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen. Nun war ich ernsthaft erschrocken und zerrte an seinem Arm. »Was fehlt dir denn, Vater? Bist du krank? Hast du Schmerzen?«
Ein Schauer durchlief seinen Körper, dann ließ er die Hände sinken und lächelte mich an. Mit ruhiger Stimme erwiderte er: »Nein – es ist zu ertragen. Natürlich bleibst du bei mir. Wir werden uns nicht trennen – bis … Francesca, haben wir jemals über die Verwandten deiner Mutter gesprochen?«
»Oft. Was für herzlose Menschen müssen das sein!«
»Diesen Eindruck hätte ich dir nicht vermitteln dürfen«, sagte er langsam. »Ich befand mich im Irrtum. Gerade ich hätte erkennen sollen, wie schwer und leidvoll ihr Verlust war.«
»Aber der böse Graf Ugo …«, begann ich.
Mein Vater murmelte etwas, das ich nicht ganz verstand, aber ich glaubte, das Wort ›Narr‹ zu hören. Allerdings wußte ich nicht, wen er damit meinte – den Grafen oder sich selbst. »Sogar ihn muß man entschuldigen«, fügte er laut hinzu. »Auch ich hätte um sie gekämpft. Jetzt ist er ein alter Mann, falls er noch lebt. Ich nehme an, er hat geheiratet und selbst Kinder. Nun, sprechen wir nicht von ihm. Dein Großvater …«
»Er war grausam«, unterbrach ich ihn in entschiedenem Ton. Doch dieses Wort weckte seltsame Gefühle in mir. Der gestrenge alte Fürst hatte zu den Schurken in jener romantischen Geschichte gezählt, aber er war mein Fleisch und Blut, der Vater meiner Mutter – und so eng mit ihr verbunden, wie mir der Mann nahestand, der jetzt an meiner Seite saß.
Vater schüttelte heftig den Kopf. »Er tat, was jeder Vater getan hätte. Jetzt, wo auch ich eine geliebte Tochter habe, begreife ich seine Haltung. Er war nicht unfreundlich zu deiner Mutter, Francesca, und sie liebte ihn.«
»Dich hatte sie lieber.«
»Ja.« Danach versank er in Schweigen, und ich glaubte, er würde an die Vergangenheit denken. Jetzt weiß ich, daß er einen qualvollen inneren Konflikt durchmachte. Nachdem wir in dem Gasthaus, wo wir die Reise unterbrachen, zu Abend gegessen hatten, bat er um Tinte und Papier und schrieb bis spät in die Nacht hinein. Ich erinnere mich noch an den Schein, den das Kerzenlicht auf seine langen, schmalen Finger warf, an die Schatten, die über sein Gesicht glitten. Seine Augenhöhlen, die Vertiefungen in den eingefallenen Wangen hoben sich dunkel von der weißen Haut ab und verliehen ihm die Züge einer tragischen Maske.
Die Ferien waren wundervoll. Wir wohnten in einem schönen, alten Haus in Leicester, das einer vornehmen Witwe gehörte. Wie fast alle Frauen verliebte sie sich in Vater, und wir verbrachten fröhliche Stunden, während wir die Zimmer mit Tannen- und Stechpalmenzweigen dekorierten. Wir stellten sogar einen Weihnachtsbaum auf. Prinz Albert hatte nach seiner Hochzeit mit der Königin diese deutsche Sitte eingeführt, und die hübschen Fichten, mit Kerzen und Zierat geschmückt, waren sehr beliebt. Ich hatte für Vater ein Paar Pantoffel mit violetten Stiefmütterchen und grünen, sonderbar aussehenden Zweigen bestickt, die Rosmarin darstellen sollten – ›zur Erinnerung‹, wie ich ihm erklärte. Ich selbst bekam zauberhafte Geschenke, die seine übliche Extravaganz sogar noch übertrafen – einen Mantel mit Hermelinbesatz und Silberknöpfen, einen winzigen Muff aus grauem Eichhörnchenfell, eine Halskette aus Korallen, Bücher, Klaviernoten – so viel, daß ich es gar nicht mehr in allen Einzelheiten weiß. Widerstrebend kehrte ich ins Internat zurück, nur durch Vaters Versprechen getröstet, er würde mich bald besuchen.
Ich nahm an, ich würde das Halbjahr planmäßig beenden, aber zu meiner freudigen Überraschung sah ich meinen Vater viel früher wieder, als ich es zu hoffen gewagt hatte. Anfang April, als die Knospen zu sprießen begannen, tauchte er auf, ohne vorherige Anmeldung. Und als ich ihm gegenüberstand, war Mrs. Bertha Smith hastig unterdrückter Ausruf unnötig, um mich auf sein verändertes Aussehen hinzuweisen.
Er erschien mir attraktiver denn je, falls das überhaupt möglich war. Zarte Röte schimmerte in seinen Wangen, aber er war furchtbar dünn. Fröhlich gab er zu, er wäre krank gewesen und würde immer noch von einem leichten Husten geplagt. Doch das schöne Wetter würde ihn bald kurieren.
Ich akzeptierte seine oberflächliche Heiterkeit, weil ich daran glauben wollte. Weder ich noch andere Leute hätten etwas für ihn tun können. Trotzdem werde ich immer noch von schweren Gewissensbissen geplagt, wenn ich daran denke …
Meine hastig gepackten Truhen und Koffer wurden in die Kutsche verfrachtet. Weinend umarmten mich die Lehrerinnen. Auch ich schluchzte bitterlich, als ich mich von meinen Freundinnen verabschiedete. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und ich beugte mich aus dem Fenster, um den Mädchen zu winken, die mich ganz sicher um meinen hübschen jungen Vater beneideten. Ich ahnte nicht, daß ich sie nie Wiedersehen würde, obwohl wir verabredet hatten, einander zu schreiben und uns regelmäßig zu treffen – und daß diese Töchter reicher Kaufleute viel hoffnungsvoller in die Zukunft blicken konnten als ich.
Vater hatte ein Haus in Richmond gemietet, außerhalb von London. Es war winzig, aber mit einem schönen Garten umgeben. Wir führten ein sehr zurückgezogenes Leben. Ich spielte ihm auf dem ebenfalls gemieteten Klavier vor und arbeitete an meinen Zeichnungen. Mit seiner Hilfe konnte ich mein bißchen Talent weiterentwickeln und machte beachtliche Fortschritte. Eigentlich hätte mich der Mangel an gesellschaftlichen Ereignissen langweilen müssen, denn wir sahen keine Menschenseele außer den Lieferanten und Dienstboten, aber während jener kurzen Wochen wünschte ich mir nichts anderes, als mit Vater beisammen zu sein. Er wirkte glücklich und zufrieden, obwohl ich ihn nachts oft husten hörte.
Eines Nachmittags kehrte ich ins Haus zurück, nachdem ich im Garten meine Skizze von einem Narzissenbeet vollendet hatte. Ich konnte es kaum erwarten, dieses Werk meinem Vater zu zeigen, denn ich hielt es für das beste, das ich je zustande gebracht hatte. Rosarote Bänder schmückten mein weißes Musselinkleid und den breitrandigen Hut, den ich sofort abnahm, als ich die Halle betrat. Es war viel zu warm für die Jahreszeit. Ich dachte, Vater hätte sich hingelegt, wie immer am Nachmittag.
Ich ging durch die Seitentür hinein, und so sah ich die Kutsche nicht. Daß wir Besuch hatten, merkte ich erst, als ich mich der Salontür näherte und Stimmen hörte. In meiner Eile und dummen Unwissenheit kam ich gar nicht auf den Gedanken, zu warten oder wenigstens anzuklopfen. Ich dachte nur: Wunderbar! Vater ist wach – und öffnete die Tür.
Ehe man meine Anwesenheit registrierte, hörte ich noch einen Satz. »Aber mein Lieber, du glaubst doch nicht, daß du mich für alle Zeiten ausschließen kannst, nachdem …«
Ein Ausruf meines Vaters unterbrach den Sprecher, der sich blitzschnell auf dem Absatz umdrehte. Eigentlich sah er nicht so aus, als könnte er sich sonderlich schnell bewegen. Er war hochgewachsen und kräftig gebaut, nicht dick, aber mit fleischigen Zügen, die auf seine Vorliebe für reichliches Essen hindeuteten. Seine Kleidung mit den seltsamen Nuancen einer fast femininen Eleganz faszinierte mich – Handschuhe aus perlgrauem Satin, eine Krawattennadel mit einem großen Opal, ein Umhang, mit meergrüner Seide gefüttert.
Es gab keinen Grund, warum mich seine äußere Erscheinung mit solchem Abscheu erfüllen sollte, daß ich zurückwich. Er war nicht mehr jung, doch sein Doppelkinn und die faltigen Wangen wirkten keineswegs unattraktiver als die Züge anderer Männer, die ich kannte. Vielleicht waren es seine Augen, die meine Abneigung hervorriefen – Augen in hellem Grau, das mit der ungesunden Blässe seines Teints zu verschmelzen schien. Ein zögerndes Lächeln öffnete seine Lippen, und ich sah häßliche, gelbgefleckte Zähne. Bald sollte ich feststellen, daß er nur selten lächelte, vielleicht, um diesen Makel zu verbergen.
Mein Vater, der ein paar Sekunden lang wie gelähmt dagestanden hatte, wollte auf mich zugehen, doch der andere Mann hob einen Arm, um ihn zurückzuhalten. Seine Lippen schlossen sich, versteckten die unschönen Zähne, aber er lächelte noch immer. »Nun, Allen – jetzt verstehe ich den Grund deines Verhaltens in der letzten Zeit. Du scheust wohl keine Mühe, um diese Perle in ihrer Muschel zu verwahren, was? Möchtest du mich nicht vorstellen? Nein! Dann …« Den Arm immer noch ausgestreckt, machte er eine höfliche Verbeugung und wandte sich an mich. »Ich heiße Shelton, meine Liebe. Allen hat mich nie erwähnt? Wie undankbar! Wo ich doch sein ältester, bester Freund bin – der Gönner, der sein Talent so großzügig fördert … Aber meine Interessen gelten verschiedenen Bereichen und beschränken sich keineswegs auf die – Kunst.«
Ich wußte nicht, worauf er anspielte, fand ihn häßlich und unsympathisch, aber sehr zuvorkommend. Und falls er die Bilder meines Vaters gekauft hatte – denn so interpretierte ich seine Bemerkung – verdiente er eine freundliche Antwort. Also knickste ich und sagte: »Guten Tag, Sir. Ich war bis vor kurzem im Internat, und deshalb müssen Sie verzeihen, daß ich nichts von den Geschäften meines Vaters weiß. Allerdings hoffe ich, bald mehr darüber zu erfahren.« Da ich glaubte, die passenden Worte gefunden zu haben, runzelte ich bestürzt die Stirn, als Mr. Shelton mich entgeistert anstarrte. Seine Augen verengten sich, dann begann er leise zu kichern.
»Mein Gott! Ich hätte nie gedacht, daß du so ein großes Kind hast … Wie alt sind Sie, meine Liebe? Fünfzehn oder sechzehn?«
»Fast achtzehn«, entgegnete ich.
»Also schon erwachsen! Übrigens, meine Liebe, ich bin Lord Shelton, und Sie müssen mich mit ›Mylord‹ oder »Eure Lordschaft‹ anreden. Das werden Sie doch tun? Braves Mädchen! Achtzehn – ein wunderbares Alter. So zart, so unschuldig … Eigentlich müßte ich dir böse sein, weil du diese reizende junge Dame versteckt hast, Allen. Ich wäre ihr liebend gern zu Diensten, ebenso wie ihrem Vater. Wir drei würden großartig miteinander auskommen, meinst du nicht auch?«
Mein Vater stieß einen gräßlichen, halb erstickten Schrei aus. Er fiel vornüber und umklammerte Sheltons ausgestreckten Arm.
Seine Lordschaft handelte unverzüglich. Vorsichtig ließ er den schlaffen Körper meines Vaters zu Boden gleiten, und rief mit lauter Stimme, die in einem krassen Gegensatz zu seinem sonstigen Lispelton stand, nach dem Personal. Das Hausmädchen kam angelaufen, gefolgt von der Köchin. Mit sanfter Gewalt zogen mich die beiden von Vater weg. Er würgte, hellrote Flüssigkeit quoll aus seinem Mund.
Drei Tage später starb er. Ich saß bei ihm, ebenso Lord Shelton. Es war unmöglich, ihn fernzuhalten, und das strebte ich auch gar nicht an, weil er sich während dieser grauenvollen Tage um alles kümmerte. Ich hätte weder gegessen noch geschlafen, wäre er nicht so umsichtig gewesen, die Mahlzeiten zu bestellen, den Dienstboten Anweisungen zu geben; und er brauchte nur die Brauen zu heben, schon rannten sie herbei und fragten nach seinen Wünschen. So bedingungslos hatten sie meinem sanftmütigen Vater nie gehorcht.
Wenn ich, was nicht allzu oft geschah, an Lord Shelton dachte, so bereute ich mein erstes kritisches Urteil, denn er begegnete mir überaus freundlich, sogar väterlich. Das einzige, was mich störte, war seine Weigerung, mich mit Vater allein zu lassen. Er meinte, das würde mich zu sehr deprimieren. Aber Vater war ohnehin meist bewußtlos. Er konnte nur mühsam atmen.
In der Nacht, in der er starb, spürte ich das bevorstehende Ende. Der Arzt war zum letztenmal gekommen und gegangen. Für ihn gab es nichts mehr zu tun. Ich kniete neben dem Bett, hielt Vaters schlaffe Hand und betete um ein letztes Wort aus seinem Mund. Seine Lordschaft saß am Fußende des Betts, reglos wie eine Statue. Er schwieg und ließ seine Augen nicht von meinem Gesicht. Nur das Gähnen des Hausmädchens, dessen Anwesenheit Shelton aus ›Schicklichkeitsgründen‹ wünschte, durchbrach hin und wieder die Stille.
Man sagt, die Seelen der Sterbenden würden die Körper verlassen, wenn die Gezeiten wechseln oder wenn die Nacht in den Tag übergeht. Und in jenem Augenblick, wo ein trübes Grau den Morgen ankündigte, öffnete mein Vater die Augen.
Er sah mich nicht. Sein Blick richtete sich auf einen Punkt hinter mir, über meinem Kopf, außerhalb des Lichtkreises, den die Kerze verbreitete – irgendwo in der Finsternis. Und dieser Blick erschien mir so eindringlich, daß ich unwillkürlich den Kopf wandte, um festzustellen, wohin er schaute. Da war nichts. »Francesca«, sagte er, und seine Stimme klang jugendlich und kräftig, ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Bald, mein Liebling, bald.«
Und dann setzte er sich ruckartig auf, mit einer energischen Bewegung, die alle Folgen der zerstörerischen Krankheit Lügen zu strafen schien. Seine Augen irrten umher, glitten über mich hinweg und konzentrierten sich schließlich auf den Mann am Fußende des Bettes. Seine Lordschaft stand auf. Mein Vater entzog mir seine Hand, mit einem zitternden Finger zeigte er auf ihn und rief, so kraftvoll wie zuvor: »Es ist ein Toter, der mit dir spricht, Shelton! So wie du mein hilfloses Kind behandelst, so möge Gott eines Tages auch dich behandeln! Denk daran!« Ein Blutsturz beendete seine Worte, und er sank in die Kissen zurück.
Eine unsichtbare Ader schien in meinem Inneren zu zerplatzen, alles Leben schien aus mir zu fließen und nur eine leere Hülle zu hinterlassen. Mit sicherer Hand schloß ich die starren Augen meines Vaters. Ein Instinkt mußte mir verraten haben, daß mein Zusammenbruch bald erfolgen würde und daß ich dies tun mußte, solange ich mich noch bewegen konnte. Ich erhob mich. Wie eine Schlafwandlerin ging ich an seiner Lordschaft vorbei. Wie versteinert saß er da, eine Hand erhoben, als wollte er einen Schlag abwehren. Sein schweißnasses Gesicht glänzte wie eine Maske aus gelbem Wachs. Ich erreichte gerade noch mein Zimmer und mein Bett, ehe ich die Besinnung verlor.
Die nächsten Tage verlebte ich wie in Trance. Vermutlich wäre ich in tiefer Apathie versunken, hätte das Hausmädchen mir nicht gesagt, was ich tun mußte. Sie hieß Bessie, ein gutmütiges, ziemlich dummes Geschöpf, und ich nahm an, daß sie aus ehrlicher Zuneigung so nett zu mir war. »Sie müssen etwas essen, Miß Fran. Schauen Sie, was für eine wunderbare Suppe die Köchin für Sie gemacht hat … Nein, Miß Fran, dieses Kleid dürfen Sie nicht anziehen, es wäre Ihrem armen Papa gegenüber respektlos, was Buntes zu tragen. Hier ist das neue schwarze Modell, das seine Lordschaft für Sie bestellt hat.«
Seine Lordschaft wurde oft erwähnt. Er hatte das Begräbnis arrangiert und den Sarg ausgewählt, er bezahlte auch die Rechnungen, woran ich allerdings nicht dachte. Es kam mir gar nicht in den Sinn, mich zu fragen, mit welchem Geld die Miete für das Haus bestritten wurde. Bis zum Tag nach der Beerdigung ging er mir aus dem Weg.
Die Bräuche bei einem Tod erfüllen einen gewissen Zweck. Sie gestatten den Hinterbliebenen, ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen, so daß sie ihn nicht in ihren Herzen verschließen müssen.
Die Totenmesse war kurz und schlicht, nur wenige Trauergäste nahmen daran teil – außer mir nur noch das Personal und seine Lordschaft. Vater wurde auf dem kleinen Friedhof der nahe gelegenen Kirche bestattet, St. Margaret. Es war ein schöner Frühlingstag. Ruhig, mit trockenen Augen stand ich vor dem Grab, an der Seite seiner Lordschaft, aber als die ersten Erdklumpen mit hohlem Echo auf den Sarg fielen, spürte ich in meinem Herzen den schmerzhaften Widerhall dieser Geräusche. In dieser Nacht weinte ich zum erstenmal, während Bessie mich auf ihre unbeholfene Art tröstete.
Nachdem sie in der irrtümlichen Überzeugung, ich würde schlafen, auf Zehenspitzen hinausgegangen war, starrte ich ins Dunkel. Ich wünschte, die angenehme Benommenheit der vorangegangenen Tage hätte mich nicht verlassen, denn die Gedanken, die mich nun heimsuchten, quälten mich in zunehmendem Maße. Ich war allein. Was sollte aus mir werden? Zum erstenmal befaßte ich mich mit finanziellen Erwägungen. Vielleicht schickte sich das nicht für ein Mädchen, das soeben den Vater verloren hatte. Aber ich entdeckte in mir die Fähigkeit, praktisch zu denken – einen Charakterzug, den ich bis dahin nicht gebraucht hatte.
Ich muß immer noch wehmütig lächeln, wenn ich mich erinnere, daß mir seine Lordschaft als einzige Rettung aus der Not erschien. Hatte er nicht versprochen, mir beizustehen? Hatte er nach Vaters Tod nicht mit äußerstem Taktgefühl all die traurigen Pflichten erledigt? Und war er nicht, laut eigener Aussage, der Freund meines Vaters gewesen? In meiner jugendlichen Naivität legte ich sogar die letzten Worte meines sterbenden Vaters als innige Bitte aus, an einen vertrauenswürdigen Gefährten gerichtet. Deshalb erfüllte mich freudige Erleichterung, als mir am nächsten Abend der Besuch seiner Lordschaft gemeldet wurde.
Ich saß im Salon. Am westlichen Himmel erlosch das letzte sanfte Licht des Sonnenuntergangs. Ich hatte Bessie gebeten, mir eine Stickerei zu bringen. Aber meine schmerzlichen Gedanken lenkten mich immer wieder von der Arbeit ab.
Lord Shelton trat ein. Ich erhob mich, um ihn zu begrüßen, und legte meine Stickerei beiseite. Trotz meiner Dankbarkeit mißfiel mir der Blick seiner grauen Augen, die mich von Kopf bis Fuß musterten. Ich trug das einzige schwarze Kleid, das ich besaß und das er für mich bestellt hatte. Plötzlich wurde mir bewußt, wie es meine Taille und meinen Busen betonte. »Eure Lordschaft …« Ich knickste. »Wie schön, daß Sie gekommen sind! Ich wollte Ihnen danken und …«
»Das ist nicht nötig.« Er kam auf mich zu, dann drehte er sich zu Bessie um, die in der Tür wartete. »Hier ist es schrecklich dunkel. Bringen Sie ein paar Kerzen.« Nachdem sie seinem Wunsch Folge geleistet hatte, schien er sich wohler zu fühlen. »Ah, jetzt wirkt das Zimmer gleich viel gemütlicher. Sie können gehen.«
Trotz meiner Unerfahrenheit wußte ich, daß es ihm in meiner Gegenwart nicht zustand, meinen Dienstboten Befehle zu erteilen. Aber es wäre unhöflich gewesen, ihn darauf hinzuweisen – nach allem, was er für mich getan hatte.
Als sich die Tür hinter Bessie schloß, überfiel mich das panische Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Ich sagte mir, das sei albern, aber er sah mich so merkwürdig an … Und er wandte immer wieder den Kopf hin und her, schaute suchend in die dunklen Ecken. Ich kehrte zu meinem Sessel zurück, doch dann hielt ich es aus unerklärlichen Gründen für besser, stehenzubleiben. »Sie waren sehr gütig«, begann ich, während er fortfuhr, den Raum zu inspizieren, wie ein Tyrann, der sich vor Meuchelmördern fürchtete. »Und ich bin froh über diese Gelegenheit, Ihnen meinen Dank …«
»Ihr Vater war mein Freund.« Zum zweitenmal unterbrach er mich. Das Wort ›Dank‹ schien ihn zu irritieren. »Ja, mein bester Freund. Ich leide sehr unter diesem schweren Verlust.«
»Ich auch«, sagte ich leise.
»Und als sein Freund …« Er zögerte kurz, dann schien er Mut zu fassen. »Immerhin – was für eine andere Möglichkeit gäbe es denn? Ich tue dem jungen Ding nur einen Gefallen.« Es kam mir so vor, als spräche er nicht mit mir, sondern zu einer unsichtbaren dritten Person. Das war kein angenehmes Gefühl.
»Eure Lordschaft …«
Er sah mich an, seine schmalen Augen funkelten. »Ja, einen Gefallen«, wiederholte er. »Es wäre ein Verbrechen, diese Schönheit verblassen zu lassen, in einer Fabrik oder auf der Straße. Irgendeiner wird das alles ohnehin genießen. Sie ist so jung, so unschuldig … Warum nicht ich selber? Ich habe gewisse Vorrechte. Ich werde Sie beschützen, dieses goldene Haar mit Rubinen krönen, mit Smaragden, obwohl es auch ohne Juwelen wie eine Krone wirkt…« Er ging auf mich zu. Sein Gesicht war rot angelaufen und gedunsen. Wie eine Schlange ließ er seine Zunge aus dem Mund schnellen und befeuchtete die Lippen. Erschrocken wich ich zurück. Da blieb er stehen, seine Augen verengten sich zu unheimlichen Schlitzen. »Möchten Sie keine Rubine haben, meine Liebe? Oder Smaragde, wenn Sie die vorziehen? Bei Gott, es würde sich lohnen, Geld für Sie auszugeben. Sie wären eine Sensation, falls ich beschließen sollte, Sie zur Schau zu stellen, statt Ihre Schönheit für mich allein zu behalten. Und Sie bekommen auch prachtvolle Kleider, meine Liebste – Kleider aus Satin und Seide, nicht in diesem häßlichen Schwarz. Zarte Spitze um diese hübschen, weißen Schultern …«
Mit einer jener schnellen, behenden Bewegungen, die man einem so kräftig gebauten Mann nicht zugetraut hätte, sprang er vor und riß mich in die Arme. Keiner hatte mich je zuvor auf diese Weise festgehalten, und mir wurde übel, als ich seinen schwammigen Körper so dicht an meinem spürte. Er war keineswegs muskulös, aber sehr groß, und ich versuchte vergeblich, mich zu befreien. Ich wollte schreien, doch meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich brachte nur einen schwachen Laut hervor. Er lachte und preßte mich noch fester an sich. »Es wäre reine Zeitvergeudung, nach Bessie zu rufen, mein Schatz. Die ist gerade vollauf damit beschäftigt, die Goldmünzen zu zählen, die ich ihr geschenkt habe. Übrigens – ihr Gehalt wurde schon die ganzen Wochen von meinem Geld bezahlt. Oder wußtest du das nicht?«
Für einen Augenblick hörte ich auf, mich gegen ihn zu wehren, als mir der Sinn seiner Worte ins Bewußtsein drang. Ruckartig schob er den Kopf vor und erinnerte mich erneut an eine angriffslustige Schlange. Ich wandte mich ab, um seinen Lippen auszuweichen, fühlte sie heiß und feucht auf meinem Hals. Zwischen gierigen Küssen, flüsterte er mir Dinge ins Ohr, die mir noch gräßlicher erschienen als der Druck seiner Arme.
»Ja, ich habe ihren Lohn bezahlt. Und alles andere – jeden Bissen, den du in deinen süßen, kleinen Mund gesteckt hast, meine Liebe. Was glaubst du wohl, wo Allen sein Geld hernahm? Ich habe ihm alles gegeben, diesem Undankbaren …« Das Wort, das nun folgte, ist mir entfallen. Ich hatte es nie zuvor gehört. »Ja, undankbar war er«, fuhr Shelton fort. »Er hat mich bestohlen und ist davongelaufen. Dafür bist du mir nun verpflichtet, meine Kleine. Du mußt die Schulden deines Vaters begleichen. Im Grundy tu ich dir nur einen Gefallen. Das ist sehr freundlich von mir. Ich hatte schon lange keine Frau mehr … Beinahe eine neue Erfahrung, eine interessante Abwechslung … Du bist ihm ähnlich, weißt du das? Abgesehen von der goldenen Haarpracht …«
Der grausige Monolog schien kein Ende zu nehmen. Ich verstand nur einen geringen Teil davon, und meine Sinne drohten zu schwinden. Feige, wie ich war, hieß ich die Ohnmacht, die mich zu umnebeln begann, fast willkommen. Aber dann packte seine Klauenhand den Kragen meines Kleides und zerriß es über meinen Schultern. Kühle Luft streifte meine Haut wie Eis. Ich erwachte wieder zum Leben, kämpfte verzweifelt gegen Shelton an und versuchte erneut zu schreien. Seine Lippen verschlossen die meinen und erstickten den Hilferuf. Dieser Kuß erfüllte mich mit heftigem Abscheu, und das gab mir die nötige Kraft, ihn zu beißen.
Er fluchte und gab meinen Mund lange genug frei, so daß ich endlich laut und verzweifelt um den Beistand meines Personals flehen konnte.
Ich glaubte, in diesem modernen Zeitalter geschehen keine Wunder mehr, zumindest werden sie nicht so unwürdigen Menschen wie mir zuteil. Was sich nun ereignete, war auch gar kein Wunder, es wirkte nur so erstaunlich, weil es sich ausgerechnet in jenem Augenblick abspielte. Und noch etwas erschien mir sonderbar – etwas, das ich bis zum heutigen Tag nicht begreife. Der Ruf, der über meine Lippen kam, galt nicht Bessie oder meinem Vater, der mich erst vor kurzem verlassen hatte. »Mutter!« stieß ich hervor.
Das Gesicht seiner Lordschaft neigte sich über mich und füllte mein ganzes Blickfeld aus wie eine Teufelsfratze. Ich schloß die Augen, wußte, daß ich verloren war, und hoffte nur noch, ich würde möglichst schnell in eine tiefe Ohnmacht versinken. Dann spürte ich plötzlich, wie ich zu Boden stürzte. Ich versuchte wieder zu schreien, konnte aber nur nach Atem ringen, und mit einem würdelosen Stöhnen landete ich auf dem Teppich, in sitzender Haltung. Zunächst fürchtete ich, Lord Sheltons Arme würden mich sofort wieder umfangen. Als nichts dergleichen passierte, wagte ich die Augen zu öffnen.
Nie werde ich den Moment vergessen, wo ich ihn zum erstenmal sah. Unter diesen Umständen mußte mir jeder Mann wie ein heroischer Rächer erscheinen – wie der heilige Georg, Apollo und Perseus in einer Person. Und er war so attraktiv, hochgewachsen und breitschultrig, mit markanten Gesichtszügen, von goldenen Locken umgeben. Während er vor mir stand, kam er mir überlebensgroß vor. Er hatte die Stirn gerunzelt, Lord Shelton an der Kehle gepackt, und nun schüttelte er ihn wie ein Terrier eine Ratte. Dann schleuderte er die schlaffe Gestalt von sich, mit einer Geste, die von triumphaler Verachtung zeugte. Seine Lordschaft fiel auf einen Stuhl, der unter seinem Gewicht zusammenbrach, worauf er schmachvoll am Boden landete, inmitten der Holzsplitter.
Mein Retter wandte sich zu mir und sank auf ein Knie. Seine blauen Augen leuchteten wie tiefe, vom Sonnenschein beseelte Teiche. Hastig griff ich nach meiner Brust, um die Fetzen meines Kleides zusammenzuhalten. Sofort schaute der junge Mann weg. »Sind Sie verletzt?«, fragte er mit sonorer, vibrierender Stimme. »Wenn er Ihnen etwas angetan hat, töte ich ihn.«
Natürlich war ich verletzt. Lord Sheltons Finger hatten sich in mein Fleisch gegraben. An diesen Stellen würden in ein paar Stunden blaue Flecken entstehen. Und seine Nägel hatten meine Schultern zerkratzt. Doch ich wußte, was mein Retter meinte. In jenen schrecklichen Minuten hatte ich mir eine gewisse Lebensweisheit angeeignet. »Nein«, würgte ich hervor, »nein, Sie müssen ihn nicht töten. Er hat nicht … Sie würden nur in Schwierigkeiten geraten.«
»Bah!«, rief mein Held temperamentvoll. »Wen kümmert das schon? Dieser cretino, dieser Vandale hat es gewagt, Sie anzurühren … Gestatten Sie – darf ich mir erlauben, Sie in Ihr Zimmer zu tragen? Danach werde ich zurückkehren und mich mit dieser Kreatur befassen.«
Er besaß wunderbare Hände, mit langen, schmalen Fingern, aber durchaus männlich mit ihrer enormen Kraft. Zögernd hielten sie inne, gaben mir genügend Zeit, um Widerstand zu leisten und zu protestieren. Ich tat nichts von beidem. Als er mich behutsam auf seine Arme hob, legte ich den Kopf an seine breite Brust. Mühelos sprang er auf und drehte sich zu Shelton um, der zur Tür kroch. »Wie eine Schlange – das paßt zu ihm«, bemerkte mein Held voller Genugtuung. »Wollen Sie nicht aufstehen, Sie Schurke, so daß ich Ihnen einen Tritt versetzen kann? Die Hände möchte ich mir nicht mehr an Ihnen schmutzig machen.«
Seine Lordschaft riß sich zusammen und kam taumelnd auf die Beine. In diesem Moment, in dem man ihm sein Alter deutlich ansah und seine Kleider derangiert an seinem massigen Körper hingen, hätte ich beinahe Mitleid mit ihm empfunden, doch das bösartige Glitzern in seinen Augen hielt mich davon ab. »Auch ich besudle meine Hände nicht, um ein Unrecht zu sühnen«, fauchte er. »Da gibt es bessere Möglichkeiten. Es stand Ihnen nicht zu …«
»Ich bin völlig im Recht«, entgegnete der fremde junge Mann emphatisch. »Und ich würde Sie zum Duell fordern, Sie alter Schuft, wenn Sie diese Ehre verdienten. Aber die Abkömmlinge meines Geschlechts kämpfen nicht mit Personen von niedrigem Stand.«
»Ihr Geschlecht?« höhnte seine Lordschaft. »Ich bin Lord Shelton…«
»Und ich bin Conte Andrea del Baldino Tarconti, der Sohn des Fürsten Tarconti. Wir können unsere Ahnen über dreitausend Jahre hinweg zurückverfolgen, bis zu den Königen von Etrurien. Ja …«, fuhr er fort, während das Gesicht seiner Lordschaft eine häßliche Purpurfarbe annahm. »Ja, Sie sehen also, daß das Recht auf meiner Seite steht, denn ich bin der Cousin dieser Dame und zu ihrem Beschützer berufen. Und da Sie behaupten, ein paar Tropfen edles Blut würde in Ihren Adern fließen, mache ich mir vielleicht doch noch die Mühe, Sie zu töten, Mylord.«
Wollte man meinen Cousin Andrea ungestüm nennen, würde man ihm damit durchaus gerecht werden. Die Umstände unserer ersten Begegnung nötigten ihn zu einem Verhalten, das seinem Charakter nicht unbedingt hätte entsprechen müssen. Wie er mir später erklärte, hätte ihn die Szene, die sich seinen schreckgeweiteten Augen bot, nachdem er auf meinen Schrei hin zur Tür hereingestürmt war, zu sofortigem gewaltsamen Handeln gezwungen. Doch ich sollte bald erfahren, daß er sich sehr häufig so benahm. Er war schnell entflammt, handelte gerade aus und strebte immer direkt auf sein Ziel zu.
Am Morgen nach seiner dramatischen Ankunft weckte mich seine tiefe Stimme, die draußen vor meiner Tür erklang. Ohne diese Bestätigung seiner Existenz hätte ich vielleicht geglaubt, das gestrige Ereignis wäre ein Traum gewesen. Dann drehte ich mich im Bett um und erhielt eine weitere Bestätigung der Wirklichkeit. Alle Knochen taten mir weh.
Seinem Tonfall entnahm ich, daß er heftig mit jemandem diskutierte, doch wer das sein mochte, ließ sich nicht feststellen, denn ich hörte keine andere Stimme, weil er so laut und pausenlos sprach. Endlich öffnete sich die Tür, und Bessies Kopf tauchte auf – nur der Kopf, sonst nichts. Als sie sah, daß ich wach war, gestattete sie dem Rest ihrer Person, hereinzukommen. »Miß?«, begann sie zögernd. »Möchten Sie schon aufstehen?«
»Ja«, erwiderte ich kurz angebunden. Ich fand mich noch nicht bereit, ihr die Rolle zu verzeihen, die sie bei meiner gestrigen Demütigung gespielt hatte, obwohl sie später, von Andrea zur Rede gestellt, in Tränen ausgebrochen und von heftiger Reue überwältigt worden war. »Weiblicher Judas«, lautete das mildeste Schimpfwort, mit dem er sie bedachte, nachdem er von ihrem Vergehen erfahren hatte. Er schlug mir vor, sie sofort hinauszuwerfen, sah aber ein, daß ich eine Dienerin brauchte, und so erlaubte er ihr, im Haus zu bleiben, versprach allerdings, im Gästezimmer zu übernachten, um meine Sicherheit zu gewährleisten.
Ob er das getan hatte, wußte ich nicht. Ich war überzeugt gewesen, daß ich kein Auge zutun würde, schließlich aber doch sofort eingeschlafen bin, sobald mich Bessie ins Bett gebracht hatte. Nun befand ich mich trotz meiner Schmerzen in erstaunlich guter Stimmung, und ich fragte mich, ob mein Cousin wirklich so hübsch war wie in meiner Erinnerung.
Das konnte ich vorerst nicht überprüfen, denn Andrea weigerte sich, mein Zimmer zu betreten, obwohl Bessie mich in einen Morgenmantel gehüllt hatte, der mich vom Kinn bis zu den Zehen bedeckte und mir als durchaus respektables Kleidungsstück erschien. Doch als ich den Raum verließ, warf er nur einen kurzen Blick auf mich, um dann tief zu erröten und woanders hinzuschauen. Während wir am Frühstückstisch saßen und von Bessie bedient wurden, fiel es ihm noch immer schwer, mir in die Augen zu sehen.
Es mag seltsam anmuten, daß ich überhaupt einen Bissen hinunterbrachte, aber ich verspeiste die Eier mit Schinken mit meinem gewohnten Appetit. Unser gesellschaftliches System macht aus den Frauen Heuchlerinnen, aber ich war noch zu jung, um Gefühle vorzutäuschen, die ich nicht empfand. Die wachsende Bewunderung in den blauen Augen meines Cousins gab mir die beruhigende Gewißheit, daß ich nichts mehr zu befürchten hatte. Und es fällt einem leicht, an Wunder zu glauben, wenn man siebzehn ist. Im Lauf der Mahlzeit verflog Andreas Befangenheit, und schließlich fragte er naiv: »Kann eine englische junge Dame in ihren Nachtgewändern erscheinen, ohne unschicklich zu wirken?«
Ich hörte zu essen auf. Die Gabel blieb auf halbem Weg zu meinem Mund in der Luft hängen, und ich starrte bestürzt auf die üppigen Falten meines Morgenrocks hinab. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß dies der Grund seines Unbehagens sein könnte. Vater und ich hatten immer so gefrühstückt. »Das ist nicht mein Nachtgewand«, erwiderte ich. »Oh, ich dachte nicht … Ich meine, da du ein Verwandter bist – mein Cousin …«
»Nur ein Halbcousin«, erklärte er mit unnötiger Präzision. »Deine Mutter und mein Vater waren nur Halbgeschwister.«
»Ich weiß nichts von der Familie.«
Andrea begann zu sprechen, dann warf er einen bedeutsamen Blick auf Bessie, die neben dem Sideboard stand, die Hände gefaltet, und ihn mit den ängstlich flehenden Augen eines kleinen Hündchens betrachtete. »Schick sie hinaus!« Mit einer knappen Kopfbewegung wies er auf das Mädchen. »Sie verdirbt mir den Appetit.«
Bessie heulte auf und rannte aus dem Zimmer, ohne meinen Befehl abzuwarten.
Ich betrachtete Andrea, dessen breite Stirn sich wieder geglättet hatte und der nun mit sichtlichem Vergnügen aß. Offenbar beinhalteten Bessies Gefühle für ihn kompliziertere Elemente als bloße Furcht. Kein Wunder. Meine neu erworbene Lebensweisheit verriet mir, daß seine Wege schon seit einigen Jahren mit gebrochenen Frauenherzen aus allen Altersstufen und Gesellschaftsschichten übersät sein mußten. Mein Halbcousin war sogar noch hübscher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Trotz der blonden Haare und blauen Augen merkte man ihm die ausländische Herkunft an. Er trug seine Locken etwas länger, als es bei den Engländern üblich war, aber keinen Bart.
Er schaute mich an, und jetzt war es an mir zu erröten. Ich hätte ihn nicht so neugierig begaffen dürfen. Um meine Verwirrung zu überspielen, fragte ich: »Wieso waren dein Vater und meine Mutter Halbgeschwister?«
»Das ist ganz einfach. Unser Großvater heiratete zweimal. Mein Vater und deine Mama hatten verschiedene Mütter. Meine Großmutter stammte aus England. Deshalb spreche ich so gut Englisch.«
»Ah, ich verstehe. Das hast du von deiner Großmutter gelernt.«