Das Haus des Schweigens - Barbara Michaels - E-Book
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Das Haus des Schweigens E-Book

Barbara Michaels

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Beschreibung

Die Schatten der Vergangenheit: Der fesselnde Familiengeheimnisroman »Das Haus des Schweigens« von Barbara Michaels jetzt als eBook bei dotbooks. Als Waise aufgewachsen, hütet die junge Haskell das wenige, was sie über ihre Eltern weiß, wie einen Schatz. Doch als bei ihr eine seltene Erbkrankheit festgestellt wird, muss Haskell erkennen, dass ihr Leben eine einzige Lüge ist: Der Mann, den sie bisher für ihren Vater gehalten hat, kann es unmöglich sein. Sie muss um jeden Preis die Wahrheit herausfinden – aber sie ist nicht auf die Abgründe vorbereitet, die hinter der Idylle ihrer Heimatstadt zum Vorschein kommen. Ist ihre Mutter etwa gar nicht bei einem Unfall gestorben? Und welche Verbindung gibt es zu dem ägyptischen Museum, das Haskells Namen trägt? Einzig der charmante Archäologe Dave scheint ihr helfen zu wollen – doch womöglich weiß er auch mehr über die dunkle Vergangenheit von Haskells Familie, als es den Anschein hat … »Der beste Roman, den Barbara Michaels bisher geschrieben hat.« Bestsellerautorin Mary Higgins Clark Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der romantische Spannungsroman »Das Haus des Schweigens« von Bestseller-Autorin Barbara Michaels. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 537

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Über dieses Buch:

Als Waise aufgewachsen, hütet die junge Haskell das wenige, was sie über ihre Eltern weiß, wie einen Schatz. Doch als bei ihr eine seltene Erbkrankheit festgestellt wird, muss Haskell erkennen, dass ihr Leben eine einzige Lüge ist: Der Mann, den sie bisher für ihren Vater gehalten hat, kann es unmöglich sein. Sie muss um jeden Preis die Wahrheit herausfinden – aber sie ist nicht auf die Abgründe vorbereitet, die hinter der Idylle ihrer Heimatstadt zum Vorschein kommen. Ist ihre Mutter etwa gar nicht bei einem Unfall gestorben? Und welche Verbindung gibt es zu dem ägyptischen Museum, das Haskells Namen trägt? Einzig der charmante Archäologe Dave scheint ihr helfen zu wollen – doch womöglich weiß er auch mehr über die dunkle Vergangenheit von Haskells Familie, als es den Anschein hat …

»Der beste Roman, den Barbara Michaels bisher geschrieben hat.« Bestsellerautorin Mary Higgins Clark

Über die Autorin:

Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.

Eine Übersicht über weitere Romane von Barbara Michaels bei dotbooks finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2020

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1987 unter dem Originaltitel »Search the Shadows« bei Atheneum Macmillan, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Schatten des Glücks« bei Heyne.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1987 by Barbara Michaels

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1989 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Buckeye Sailboat / Natalia Bostan / Andrew Mayovskyy / Scorpp / IamTK / freedomnaruk / Nik Merkulov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-164-9

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Barbara Michaels

Das Haus des Schweigens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hilde Linnert

dotbooks.

Für Oliver Blumer,

mit herzlichem Dank für ihreberufliche Perfektion und ihrenpersönlichen Charme

Kapitel 1

Neunzehnfünfundsechzig war nicht das schlechteste Jahr, um zur Welt zu kommen, aber bestimmt auch nicht das beste. In diesem Jahr fuhr Martin Luther King nach Alabama; sie empfingen ihn mit Tränengas und Hunden. In Chicago empfingen sie ihn mit Gummiknüppeln. Aber 1965 wurde die Wahlrechtsakte zum Gesetz erhoben. Das muß man positiv werten.

Es war das Jahr des ›Great Society‹-Programms, das die Armut in Amerika beseitigen sollte. Eine großartige Idee – wenn sie geklappt hätte. Auf dem Unterhaltungssektor landeten die Rolling Stones einen Hit mit dem Titel ›I Can'T Get No Satisfaction‹, und Simon und Garfunkel kamen mit ›The Sounds of Silence‹ in die Hitparade. Die glücklichen Amerikaner lernten Diät-Pepsi kennen; und im Dezember, meinem Geburtsmonat, hob Mary Quant den Minirock aus der Taufe.

Auf der Minusseite stand die kleine, weit entfernte Militäraktion in Vietnam. Ende 1965 hatten US-Flugzeuge begonnen, den Norden zu bombardieren, und über 400 000 amerikanische Soldaten kämpften, bluteten und starben bei Einsätzen, die nie als Krieg bezeichnet wurden. Einer von jenen, die starben, war ein Junge namens Kevin Maloney. Über zwanzig Jahre lang glaubte ich, daß er mein Vater sei.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich vom Arzt nach Hause gekommen bin. Überhaupt nicht. Ich habe bestimmt eine Fahrkarte gekauft und bin bei der Station Dreißigste Straße eingestiegen. Ich bin bestimmt wie üblich in Wayne ausgestiegen und nach Hause gegangen. Das Haus ist nur eineinhalb Kilometer von der Station entfernt, und es war ein schöner Frühlingstag. An das Wetter erinnere ich mich. Teilweise deshalb, weil der Sonnenschein und die zarten Blüten in solch bizarrem Gegensatz zu meiner Stimmung standen, teils, weil Pooch infolge der blaßrosa Blütenblätter in seinem schwarzen Fell so komisch aussah – wie die bemalte Porzellanfigur eines Katers.

Er schoß unter den Azaleen im Vorgarten heraus, stieß an meine Knöchel und miaute zur Begrüßung. Ich mußte reagieren – es wäre unhöflich gewesen, wenn ich nicht darauf eingegangen wäre – und die Verpflichtung, den Gruß eines Freundes zu erwidern, rüttelte mich aus meiner Betäubung auf. Ich entdeckte, daß ich den Schlüssel zur Eingangstür in der Hand hielt. Ich steckte ihn in das Schlüsselloch, öffnete die Tür und trat leichtfüßig zur Seite, um Pooch hineinzulassen. Es war eine reine Reflexhandlung, wie alles, was ich in den letzten Stunden getan hatte. Pooch wiegt neun Kilo, und von gutem Benehmen kann bei ihm keine Rede sein. Wenn man ihm nicht ausweicht, rennt er einen über den Haufen.

Er marschierte in die Küche. Ich blieb stehen, sah mich im vertrauten Vorraum um und fragte mich, warum er mir so fremd vorkam. Ich kannte jeden Gegenstand darin; ich hätte mich sogar im Dunkeln zurechtgefunden. Neunzehn meiner zweiundzwanzig Lebensjahre hatte ich hier verbracht. Alles war gleich geblieben – nur ich nicht.

Jessie war noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hatte mich von klein auf großgezogen; sie war meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Das hatte ich jedenfalls immer angenommen ... Wir hatten gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt – eine Menge Tiefen in den ersten Jahren, und dann später wieder, als ich in die Pubertätsschizophrenie verfiel, wie Jessie es ausdrückte. Ich war ein Scheusal von einem Kind gewesen. Das behauptete jedenfalls Jessie; es war zum Stichwort in einem unserer Standarddialoge geworden. »Mein Gott, warst du ein Scheusal, Haskell.« Dann widersprach ich: »Unmöglich. Wie könnte sich ein Scheusal zu einem so vollkommenen menschlichen Wesen entwickeln?« Und Jessie mußte darauf antworten: »Das ist ganz allein mein Verdienst. Es hatte eine Menge Nörgelei und Prügel gebraucht, um aus einem Scheusal ein vollkommenes menschliches Wesen zu machen.«

Sie hatte genörgelt – zumindest hätte ich es damals so bezeichnet. Aber sie hatte mich nie angerührt. Obwohl sie unverheiratet war, ihren Beruf liebte und für Kinder bestenfalls lauwarme Gefühle aufbrachte, war sie einmaliger Mutterersatz gewesen. Ich betete sie an. Falls sie mich nicht ebenfalls anbetete, war sie die großartigste Schauspielerin der Welt. Wie hatte sie mich nur belügen können? Sie mußte es gewußt haben. Ausgerechnet sie ...

Aus der Küche kam Poochs erbärmlich klagendes Miauen. Wahrscheinlich war seine Futterschüssel leer. Statt hinzustürzen und seine Wünsche zu erfüllen, wie ich es sonst tat, ging ich die Treppe hinauf. Meine Füße wichen automatisch der abgenützten Stelle aus, die Jessie immer ausbessern wollte. In diesem Haus wurde nie eine Tür versperrt. Ihre Tür stand offen. Ich betrat ihr Zimmer.

Es war ein asketisches Schlafzimmer, beinahe klösterlich, weil der gesamte weibliche Firlefanz fehlte. Bevor sie zur Arbeit ging, machte sie immer das Bett; die einfache weiße Decke war faltenlos glatt gestrichen und wurde nur durch die hartnäckig auf ihr haftenden Katzenhaare verunziert. Auf der Frisierkommode lagen Kamm und Bürste; neben ihnen stand ein Foto von mir. Der Schreibtisch war genauso effizient gestaltet; in einem Ordner mit Unterteilungen bewahrte sie Rechnungen und unbeantwortete Briefe auf. Ich setzte mich und öffnete die oberste Schublade.

Ich wußte nicht, was ich suchte, aber ich suchte immer noch danach, als ich hörte, wie Jessie eintraf – das Scharren des Schlüssels im Schloß, die zugeschlagene Tür, ein Plumps, als sie etwas fallen ließ, und ein lautes »Verdammt«. Sie war körperlich genauso ungeschickt wie sie geistig beweglich war; sie ließ immer etwas fallen und stieß mit den Schienbeinen an die Möbel.

Ich hatte meine Handtasche auf dem Tisch im Vorraum liegenlassen. Jessie hatte sie wahrscheinlich gesehen, denn sie brüllte: »He, Haskell, ich bin da«, und dann im gleichen Atemzug: »Schon gut, du verdammter, zudringlicher Kater, kannst du nicht warten?«

Ich durchsuchte weiterhin die Schubladen. Die unterste links war doppelt so tief wie die übrigen und enthielt Mappen mit Dokumenten. Ich blätterte sie systematisch durch – Versicherungsformulare, Wagenpapiere, Steuererklärungen, bezahlte Rechnungen. Unten klapperten Jessies Schritte von Raum zu Raum, und dazu klapperten die Utensilien, während sie Pooch fütterte, und sich ihren abendlichen Martini mixte. Als sie begann, die Treppe hinaufzugehen, rief sie wieder: »Wo bist du, Haskell? Kommst du herunter? Willst du etwas trinken?«

Ungeduldig wie immer wartete sie die Antwort nicht ab. Sie ging zuerst zu meinem Zimmer. Ihres lag weiter hinten im Korridor, weiter weg vom Ende der Treppe. Ich sah gerade den Ordner mit der Aufschrift ›Amtliche Papiere‹ durch, als sie in die offene Tür trat.

»Was tust du da?« fragte sie.

Ihre Stimme klang eher neugierig als empört, obwohl sie das Recht gehabt hätte, zornig zu sein. Jede von uns respektierte die Privatsphäre der anderen; seit meinem dreizehnten Lebensjahr hatte sie keine Schublade oder Schranktür in meinem Zimmer geöffnet.

Mit dem Glas in der Hand starrte sie mich von der Tür aus an. Sie war um zwei Zentimeter kleiner als ich, genau einen Meter zweiundsechzig; und bis vor ein paar Jahren hatten wir die gleiche Körpergröße getragen. Seit einiger Zeit nahm sie zu. Ihr graumeliertes Haar war naturgewellt. Es war kurz geschnitten, nicht um damit etwas auszusagen, sondern um Zeit zu sparen. Das graue Nadelstreifenkostüm und die maßgeschneiderte weiße Bluse paßten zu ihrer Stellung als Chefeinkäuferin eines großen Kaufhauses in Philadelphia. Ich erwiderte ihren Blick, als wäre sie eine Fremde.

Sie legte die Nase in Falten und kniff die Augen zusammen. Sie wurde kurzsichtig und trug beim Autofahren eine Brille. Aber sie kannte mich so gut, daß sie merkte, wie verzweifelt ich war.

»Was ist los?«

»Ich war heute beim Arzt.«

»Das habe ich angenommen, weil du mir heute früh erzählt hast, daß die voreheliche Untersuchung für heute angesetzt ist.«

Diese kühle Reaktion war für Jessie typisch; aber die Falten um ihre Augen vertieften sich, und die Eiswürfel in ihrem Glas klirrten verräterisch – ein Ersatz für die aufgeregten Fragen, die jede andere gestellt hätte. Ich hörte geradezu die Ängste, die ihr durch den Kopf schossen. Eine peinliche Geschlechtskrankheit? Oder noch gräßlichere, gefährlichere Symptome?

Ich sprach es aus. »Ich habe es. Tay-Sachs.«

»Was, zum Teufel, ist ... ach, du meinst diese exotische Krankheit, auf die du dich auf Wunsch deiner zukünftigen Schwiegermutter unbedingt testen lassen mußtest?« Jessies volle Wangen röteten sich, als an die Stelle der Besorgnis Erleichterung und aufwallender Zorn traten. »Was willst du mir einreden, Haskell? Du kannst gar nicht Tay-Sachs haben. Wenn du es hättest, wärst du tot – schon seit Jahren. Säuglinge, die diese Krankheit bekommen, werden nicht älter als zwei oder drei Jahre.«

»Du hast es nachgeschlagen.«

Jessie zuckte die Schultern.

»Ich habe von der verdammten Krankheit zum erstenmal gehört, als Mrs. Feldman sie erwähnte. Natürlich habe ich sie nachgeschlagen, und das tut mir heute noch leid; eine schreckliche, grauenhafte Krankheit ... und es gibt keine Heilung.«

Ich hätte mir denken können, daß Jessie es ›nachschlagen‹ würde. Das war eine ihrer bewundernswertesten Eigenschaften – das Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, die Tatsachen herauszufinden, wenn sie auch noch so schwer verdaulich waren, und sich ihnen zu stellen. Ich hoffte, daß es auch für mich typisch war. Ich hatte ebenfalls nachgeschlagen.

»Fünfundachtzig Prozent der Tay-Sachs-Opfer sind Kinder osteuropäischer Juden«, erklärte ich ausdruckslos. »In den siebziger Jahren begann die jüdische Gemeinde, ihre Mitglieder darauf zu untersuchen; daher tritt die Krankheit heute wesentlich seltener auf. Mrs. Feldman hatte recht, als sie darauf bestand, daß wir uns beide testen lassen; es ist eine Erbkrankheit, die in anderen Bevölkerungsgruppen nur selten vorkommt. Eine schreckliche Krankheit – keine Heilung, keine Behandlung. Erblindung, Lähmung, geistiger Verfall, Tod zwei bis vier Jahre nach der Geburt.«

»Ich weiß«, bestätigte Jessie. »Das heißt doch nicht ... du bist ein Krankheitsträger?«

»Ja.«

»Und was ist mit Jon?«

»Er ist keiner.«

Jessie atmete erleichtert auf.

»Dann ist ja alles in Ordnung. Es ist ein rezessives Gen: wenn nur ein Elternteil Krankheitsträger ist, besteht keine Gefahr für die Kinder.« Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt, aber sie ärgerte sich immer noch über mich. Sie warf einen Blick auf ihr Glas und erklärte mürrisch: »Inzwischen besteht mein verdammter Drink zur Hälfte aus Wasser. Ich muß ihn wegschütten und von vorn beginnen. Komm mit hinunter und sprich mit mir.«

»Woher habe ich es?«

»Was soll das heißen, woher du es hast? Du hast genügend Biologie gelernt, um diese Frage selbst zu beantworten. Die Kinder erben ihre Gene von ihren Eltern, die sie von ihren Eltern erben, und so weiter ad infinitum.«

»Die meisten Krankheitsträger sind osteuropäische Juden. Aschkenasim.«

Meine Tante, die wie meine Mutter von Holländern abstammte, betrachtete mich. Mein Vater hatte Maloney geheißen. So stand es zumindest in meiner Geburtsurkunde.

Sie wußte, worauf ich hinauswollte, stellte sich jedoch dumm. Sie wich meinem Blick aus und antwortete trotzig: »›Die meisten‹ bedeutet nicht alle. Es gibt Ausnahmen. Sie sind in dem Buch erwähnt, in dem ich nachgeschlagen habe. Eine Gruppe in Neuschottland –«

»Es geht nicht nur darum. Sieh mich an. Sieh sie an.« Ich deutete blödsinnigerweise auf eine Fotografie, die sich nicht einmal in diesem Zimmer befand, sondern seit Jahren auf dem Flügel im Wohnzimmer stand. Ein Hochzeitsbild in Farbe. Die blonde, blauäugige Leah Emig, deren kräftiges Kinn durch die zarten Spitzen verschleiert wurde, die ihr Gesicht umrahmten; Kevin Maloney, schlank und sportlich in Ausgehuniform, dessen widerspenstiges rotes Haar leuchtete und dessen grüne Augen lachten. In dem Spiegel, der an der Wand hing, konnte ich mich sehen, falls der Vergleich noch notwendig gewesen wäre – Augen, die so dunkel waren, daß sie schwarz wirkten, olivenfarbene Haut, ein herzförmiges Gesicht, dichte, schwarze Locken.

Jessie seufzte. »Fängst du schon wieder damit an?«

»Du sagst es, als würde ich jede Woche auf das Thema zurückkommen. Ich habe es seit Jahren nicht mehr erwähnt.«

»Das stimmt, du hast es überwunden. Eine Menge Kinder, vor allem früh verwaiste, denken sich fantastische Geschichten über ihre ›wirklichen‹ Eltern aus. Sie glauben, daß sie die lang gesuchten Erben des französischen Königs oder etwas Ähnliches sind. Du hast diesen Unsinn vergessen –«

»Du und Doktor Whitaker habt mich so lange einer Gehirnwäsche unterzogen, bis ich es vergessen habe. Vielleicht hat sie wirklich geglaubt, daß es sich um typische pubertäre Fantastereien handelt, aber du hast die Wahrheit gekannt. Nein, unterbrich mich nicht, laß mich zu Ende sprechen. Ich weiß genau, daß Statistiken nicht auf Einzelpersonen angewendet werden können. Mir ist auch klar, daß zwei blauäugige Menschen ein dunkeläugiges Kind haben können, auch wenn es selten vorkommt. Ich weiß, daß Tay-Sachs zwar bei osteuropäischen Juden hundertmal häufiger vorkommt, daß es sich aber bei mir um eine der seltenen Ausnahmen handeln könnte. Ich kenne alle diese faszinierenden Tatsachen; was ich nicht kenne, ist der Name meines wirklichen Vaters.«

Jessie öffnete den Mund, sprach aber nicht.

»Ich muß es wissen«, fuhr ich fort. »Sie war deine Schwester. Meine Mutter. Oder ist das auch eine Lüge? Bin ich das zufällige, unbequeme Souvenir einer kurzen Leidenschaft – ihrer ... deiner ...«

Jessie reagierte rasch und ohne ihre übliche Ungeschicklichkeit: Sie trat einen Schritt vor und schlug mich ins Gesicht.

Wir starrten einander verblüfft an. Sie war bestimmt genauso überrascht und entsetzt wie ich.

»Du bist hysterisch, ich bin nur sehr verwirrt.«

Ich ließ die Lade mit den Dokumenten offenstehen, stand auf und verließ das Zimmer.

Im Lauf der Jahre war mein Zimmer einige Male umgestaltet worden. Drucke von Schneewittchen und dem Froschkönig waren durch Poster von Rockstars ersetzt worden, an deren Stelle irgendwann Kopien von Degas-Tänzerinnen und Monet-Seerosen getreten waren. Ich war in diesem Zimmer aufgewachsen – hatte die Kissen mit den bitteren Tränen der enttäuschten Jugendliebe durchweicht, hatte mit Freundinnen gekichert und geflüstert, hatte während der obligaten Kinderkrankheiten Kräutertee getrunken und Hühnersuppe gelöffelt, hatte hier gespielt, gelernt und geträumt.

Der Raum war von guten und schlechten Erinnerungen erfüllt. Aber hauptsächlich von guten.

Das Kätzchen unter dem Bett. Ich war acht Jahre alt. Jessie hatte mir nie ein Haustier bewilligen wollen. Ich war zu jung gewesen, um ihre Begründung zu verstehen. »Wir sind den ganzen Tag nicht da, ich arbeite, und du bist in der Schule oder beim Babysitter; es wäre dem Tier gegenüber nicht fair.« Als mir das hungrige, durchnäßte Kätzchen an diesem Tag nachlief, mußte ich nicht lang überlegen. Ich hielt es beinahe vierundzwanzig Stunden versteckt, bis Jessie es entdeckte. Ich hätte wissen müssen, daß sie sich fragen würde, warum ich an einem sonnigen Samstag soviel Zeit in meinem Zimmer verbrachte. Sie befürchtete, daß ich krank oder unglücklich war. Als sie hereinkam, saß das Kätzchen auf meinem Schoß. Sie schrie vor Überraschung laut auf, und das genauso überraschte Kätzchen durchnäßte prompt meine Jeans. Ich kreischte, das Kätzchen verlor die Kontrolle über eine weitere lebenswichtige Körperfunktion, und Jessie brach in einem Stuhl zusammen und lachte Tränen. Seither gehörte Pooch zur Familie und Jessie sagte oft, sie wisse nicht, wie wir es ohne ihn ausgehalten hatten. »Aber dein Gesichtsausdruck, Haskell, als er auf deinen Schoß pinkelte ...« Wir haben seither oft darüber gelacht.

Ich saß auf dem Rand des Bettes und hörte, wie Jessie mit raschen, schwerfälligen Schritten die Treppe hinunterging. Ich wußte, daß sie auf sich böse war und den impulsiven Schlag bitter bereute. Ich nahm ihn ihr nicht übel. Es war kein heftiger, überlegter Schlag gewesen. Sie ging leicht in die Luft und hatte mir ein paarmal gründlich die Meinung gesagt, als ich jünger war, aber sie hatte mich nie ins Gesicht geschlagen. Ich war nichtzornig; ich war nur vollkommen verwirrt. Ich konnte mich nicht an meine Eltern erinnern, denn ich hatte beide sehr früh verloren – meine Mutter durch einen Autounfall, meinen ›Vater‹ im Krieg. Aber am schlimmsten war, daß ich mich selbst verloren hatte. Ich wußte nicht, wer ich war.

Seit ich mich erinnern konnte, hingen die Fotografien zu beiden Seiten des Frisiertisches an der Wand – sie waren das erste, das ich am Morgen erblickte, und das letzte, das ich am Abend sah, bevor ich das Licht löschte. Das Foto meiner Mutter war ein Studioporträt, das an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag aufgenommen worden war. Ich hatte ihr junges, noch ungeprägtes Gesicht immer wieder betrachtet und versucht, eine Ähnlichkeit mit mir zu entdecken. Bis auf den annähernd gleichen Schwung der lächelnden Lippen konnte ich jedoch nichts finden. Ihr Haar leuchtete im Schein einer Lichtquelle, die hinter ihr stand; auf dem Schwarz-Weiß-Foto sah es silbern aus. Ich hatte sie nie hübsch gefunden, aber ich mochte ihr Gesicht. In ihm lagen Stärke und Humor und ein Hauch von Melancholie. Oder hatte ich sie vielleicht in romantischem Licht gesehen, weil ich wußte, daß das blonde Haar nie silbern sein und nie Runzeln die glatten Wangen verunstalten würden?

Kelvin Maloneys Gesicht war aus einem Schnappschuß vergrößert worden, deshalb war es ein wenig unscharf, aber im Ausdruck wesentlich besser als ein gestelltes Studioporträt. Er hatte den Kopf lachend zurückgeworfen, so daß man das kantige Kinn und die gleichmäßigen, weißen Zähne sah. Ein hübsches Gesicht, herzzerbrechend jung und glücklich; auf jedem seiner Fotos, die ich kannte, lächelte oder lachte er. Unterhalb des Bildes lag auf schwarzem Samt seine Tapferkeitsmedaille, die ihm posthum verliehen worden war. Wie sehr hatte ich dieses Gesicht und den tapferen jungen Mann idealisiert, der die höchste Auszeichnung seines Landes dafür erhalten hatte, daß er sein Leben für andere gab.

Mein Gesicht war tränenüberströmt. Ich hörte Schritte und griff nach einem Taschentuch.

Jessie zögerte kurz und setzte sich dann auf den Bettrand – nicht zu nahe, in angemessener Entfernung von mir. »Es tut mir leid«, murmelte sie.

»Das weiß ich.«

»Möchtest du etwas trinken?« Wie ein junger Hund, der seinen Lieblingsknochen anbietet, holte sie hinter ihrem Rücken ein Glas Weißwein hervor. Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, fuhr sie fort: »Oder eine Tasse Tee? Oder –«

»Nein, danke.«

Jessie sah das Glas erstaunt an, als wäre es gerade in ihrer Hand materialisiert, hob es dann an die Lippen und leerte es in einem Zug.

Ich begann zu lachen. Ich glaubte jedenfalls, daß ich lachte, bis mein Lachen rauh und häßlich wurde und die Tränen dunkle Flecken auf meinem Rock hinterließen.

»Kind – das darfst du nicht ...« Sie streckte die Hand nach mir aus.

»Es ist schon in Ordnung. Der letzte Schauer.« Ich schneuzte mich und stellte fest, daß es stimmte; wie bei einem vorüberziehenden Gewitter waren die Tränen versiegt.

»Ich verstehe dich nicht.« Jessie hatte den Versuch aufgegeben, mich an sich zu drücken; obwohl ich ruhig gesprochen hatte, war mein Ton so ablehnend gewesen, als wäre ich zurückgewichen. »Mein Gott, Haskell, bist du nicht ein bißchen melodramatisch? Du bist immer ein so ausgewogener Mensch gewesen.«

»Dank drei Jahren Behandlung bei einem Seelenklempner.«

Ich verwendete das Wort absichtlich, weil ich wußte, daß Jessie es nicht mochte, vor allem, wenn es auf ihre alte Freundin gemünzt war. Sie runzelte die Stirn. »Den meisten Leuten täten ein paar Jahre Beratung gut. Ein Kind, das beide Eltern verloren hat und von einer verknöcherten alten Jungfer aufgezogen wurde, muß Probleme haben. Normale Probleme.«

»Du bist nicht alt und verknöchert.«

»Danke für die Blumen. Wo ist eigentlich dein Sinn für Humor geblieben? Du hast mir von der komischen kleinen Stimme in deinem Kopf erzählt, die unfreundliche Bemerkungen macht, wenn du in Selbstmitleid schwelgst.«

»Ich habe sie umgebracht«, antwortete ich, ohne zu lächeln. »So wie Mark Twain sein Gewissen umgebracht hat. Jetzt weiß ich, wie ihm zumute gewesen ist, als er diese Geschichte schrieb. Es wäre so bequem, ohne eine nörgelnde innere Stimme zu leben, die dir nicht erlaubt, dich und deine Gefühle zu dramatisieren. Offenbar verfügen die wenigsten Menschen über ein solches Handicap.«

»Deine Mutter verfügte darüber.« Jessie sah mir in die Augen. »Sie war deine Mutter, Haskell. Sie hat während dieser neun Monate bei mir gelebt; ich habe zugesehen, wie sie runder wurde; ich habe gefühlt, wie du dich in ihrem Bauch bewegt hast. Ich habe sie ins Krankenhaus gefahren, als die Wehen einsetzten; ich saß im Wartezimmer, als die Hebamme dich herausbrachte.«

»Du warst die einzige, die dort saß.«

»Dein –« Sie zögerte, dann sprach sie entschlossen weiter. »Dein Vater war tot. Wir hatten erst ein paar Tage zuvor das Telegramm bekommen; ich habe geglaubt, daß es die Ursache für die Frühgeburt war.«

»Bis du mich gesehen hast – dick, dunkel und voll entwickelt.«

»Bitte, Haskell.«

»Entschuldige.«

»Du warst ein so schönes Baby.« Sie blickte auf ihre gefalteten Hände hinunter. »Ein vollkommenes, kleines Gesicht, ohne die fleckige Haut, die viele Neugeborene haben; dichte, schwarze Locken, und lange, dunkle Wimpern. Du hast mich angelächelt. Die Hebamme hat gesagt, daß es Blähungen sind, aber das stimmte nicht; es war ein echtes Lächeln.«

Sie hatte noch nie so mit mir gesprochen. Die Tatsachen waren mir bekannt, aber das Gefühl in ihrer Stimme war neu. Ich hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen und sie an mich gedrückt, aber etwas hielt mich zurück – eine neue Besessenheit, die jedes Gefühl erstickte bis auf das verzweifelte Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren. Ich mußte die ganze Geschichte noch einmal hören, denn wenn sich eine unbestrittene Annahme als falsch herausgestellt hatte – wie viele weitere Annahmen waren dann Lügen und nicht Tatsachen?

»Meine Großeltern waren nicht dabei.«

»Das weißt du.«

»Erzähl es mir noch einmal.«

Jessie ergab sich in ihr Schicksal. »Deine ... Kevins Mutter war tot, und sein Vater hatte wieder geheiratet; er hatte mit der zweiten Frau Kinder und interessierte sich nicht sehr für dich. Es ging zu schnell, als daß meine Eltern kommen konnten. Außerdem hätten sie es ohnehin nicht getan. Papa hielt nichts von Ärzten, vor allem dann, wenn eine Frau nur das tat, wozu sie da war, wie er es ausgedrückt hätte.«

Das weiche Lächeln, das auf ihrem Gesicht gelegen hatte, als sie von mir sprach, war verschwunden, und sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Sie hatte mir schon jetzt etwas für mich Neues erzählt. Wie sie wirklich zu ihrem Vater gestanden hatte. Sie hatte ihn kaum jemals erwähnt. Merkwürdigerweise war es mir nie aufgefallen.

»Und Großmutter?« fragte ich.

»Er hätte ihr nicht erlaubt zu kommen.«

»Nicht erlaubt?«

»So war er eben. Und«, fügte sie bitter hinzu, »so war sie.«

Ich tastete mich weiter vor. »Aber du hast nach Mutters Tod zugelassen, daß sie mich zu sich nahmen.«

»Ich konnte sie nicht daran hindern. Er war bereit, vor Gericht zu gehen, und welche Chance hätte ich gegen sie gehabt – eine unverheiratete Karrierefrau, stahlhart, wahrscheinlich ›verschroben‹ – er hätte dieses Wort gebraucht –, und auf der anderen Seite ein Paar liebevoller, gottesfürchtiger, plätzchenbackender, idealer Großeltern? Er ist gestorben, als du drei Jahre alt warst, und ich habe dich zurückbekommen – aber nur, weil deine Großmutter nicht gegen mich gekämpft hat.« Jessie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Ich möchte nicht über sie sprechen. Sie war deine Mutter, Haskell. Habe ich dich jemals angelogen?«

»Ich ... nein. Nein, niemals.« Bis auf den Weihnachtsmann und den Osterhasen und den Himmel, in dem meine Eltern auf mich warteten. Aber das waren keine Lügen, das waren kleine Bröckchen Trost, die ich verzweifelt brauchte, und die mir eine tapfere Frau gab, die nie an eines dieser Dinge geglaubt hatte. Aber sie war nie gezwungen gewesen, in bezug auf die Identität meiner Eltern zu lügen. Ich war nie auf die Idee gekommen zu fragen. »Also frage ich jetzt: Wer war mein Vater?«

Sie wurde blaß, zögerte aber nicht. »Ich habe nie etwas erfahren, das mich zu der Annahme veranlaßt hätte, daß es nicht Kevin Maloney war.«

Schon die Formulierung war ein Eingeständnis. Ich bohrte weiter. »Du hast es vielleicht nicht gewußt, aber du mußt es vermutet haben. Willst du mir einreden, daß du sie nie gefragt hast, daß sie es dir nie anvertraut hat?«

»Es ging mich nichts an.«

»Aber es geht mich etwas an. Die Hinweise häufen sich. Tay-Sachs, die Tatsache, daß ich keinem meiner angeblichen Elternteile ähnlich sehe, die Tatsache, daß ich ein Sieben-Monats-Kind war ...«

»Wo hast du das her?« unterbrach mich Jessie.

»Um Himmels willen, Jessie, ich kann bis zehn zählen – oder bis neun. Außerdem –« Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich. »Ich habe den Ausdruck irgendwo, irgendwann gehört. Ich wußte damals nicht, was er bedeutet, aber er prägte sich mir durch die Art ein, wie er gesagt wurde.«

Jessie preßte die Lippen zusammen, gab aber keine Erklärung ab. »Angenommen, du hast recht. Na und? Spielt es eine Rolle?«

»Es spielt eine sehr große Rolle. Ich will wissen, wer ich bin.«

»Das wirst du herausfinden. Irgendwann. Es wird kaum damit zu tun haben, wer deine Eltern gewesen sind.«

»Aber klar, komm mir nur mit den abgedroschenen Redensarten. Ich bin, wer ich bin, ich bin Herr über mein Schicksal und Kapitän meiner Seele ... Aber die verdammten Gene zählen. Tay-Sachs beweist, daß sie zählen. Woher soll ich wissen, ob nicht noch andere tödliche Faktoren in meinem Blutkreislauf herumschwimmen?«

»Das ist nur eine Ausrede.«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber das ist mir gleichgütig. Ich will es wissen.«

»Und wenn du es nie erfährst?«

»Dann werde ich damit leben müssen. Aber falls eine Möglichkeit besteht –«

Das Telefon auf meinem Schreibtisch schrillte. Wir zuckten beide zusammen, und Jessie fluchte.

»Verdammt, da siehst du, was du mir antust. Willst du nicht abheben?«

»Nein.«

»Es ist wahrscheinlich für dich.«

»Ich will mit niemandem sprechen.«

»Verdammt noch mal ...« Jessie sprang auf und lief hinaus. Das Telefon klingelte weiter. Dann hörte das Klingeln plötzlich auf, und ich vernahm Jessies Stimme, die vom Anschluß in ihrem Zimmer aus sprach. Ich konnte die Worte nicht verstehen.

Als sie zurückkam, lag ich auf dem Bett und starrte zur Decke.

»Es war Jon«, berichtete sie.

»Das habe ich mir beinahe gedacht.«

»Er wollte mit dir sprechen. Ich habe ihm gesagt, daß du dich hingelegt hast.«

»Danke.«

»Ich habe ihm gesagt, daß er nach dem Abendessen kommen kann.«

»Noch einmal danke.« Ich richtete mich auf, obwohl ich das Gefühl hatte, daß ich einen 25-Kilo-Sack mit Erde hochstemmte. »Früher oder später muß ich es ihm ja doch sagen.«

»Ihm was sagen?«

»Daß die Hochzeit nicht stattfindet.«

Damit war die Auseinandersetzung noch lange nicht zu Ende. Jessie versuchte mit allen Mitteln, mich von meinem Entschluß abzubringen. Während ich die Mahlzeit zubereitete und auftrug, von der ich dann beinahe nichts aß, redete sie auf mich ein, bis ich schließlich sagte: »Du hast doch nie gewollt, daß ich heirate, Jessie. Ich habe geglaubt, daß du froh sein wirst, wenn ich die Hochzeit verschiebe.«

»Ich habe gefunden, daß du zu jung bist, das war der einzige ... Hast du ›verschieben‹ gesagt?«

Ich zuckte die Schultern und stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum. »Das hängt von Jon ab. Vielleicht stehe ich in einigen Monaten anders dazu, aber ich kann von ihm nicht verlangen, daß er herumsitzt und wartet, bis ich zu einem Entschluß komme.«

Jessie nickte begeistert und schnitt sich noch ein Stück Karottenkuchen ab. Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte, grinste sie. »Ich weiß, ich weiß; ich habe gesagt, daß ich weniger Süßigkeiten essen werde. Du bist schuld. Wenn ich mich aufrege, stopfe ich mich immer voll. Wenn du nicht –«

Die Türklingel schrillte; Jessie ließ ihre Gabel fallen. »Verdammt! Sieh dir das an. Ich bin nur noch ein Nervenbündel. Er kommt zu früh.«

»Du hast gesagt, nach dem Abendessen«, rief ich ihr ins Gedächtnis.

»Ja, aber ... Läßt du ihn herein?«

»Natürlich.« Ich stand auf. »Kommst du mit?«

»Ganz bestimmt nicht. Rechne nicht damit, daß ich dich moralisch unterstütze.«

»Wie nett von dir, daß du es zugibst.«

Jessie stopfte sich den Mund mit Kuchen voll und verdrehte die Augen.

Ich ging geradewegs zur Tür, ohne mich wie sonst vor dem Spiegel zu überzeugen, daß meine Frisur in Ordnung und mein Lippenstift nicht verschmiert war. Als ich die Tür öffnete, wandte mir Jon den Rücken zu. Sein erhobener Arm und die Rufe der Kinder, die im Park jenseits der Straße spielten, verrieten mir, daß er ihnen einen Ball zurückgeworfen hatte. Er hatte sich bereits mit den Gefahren der Nachbarschaft, wie Jessie es ausdrückte, angefreundet. Wenn er zu früh oder zu spät kam, spielte er manchmal mit ihnen. Die Kinder mochten ihn. Ich auch.

»Wie gewöhnlich zeige ich mich von meiner besten Seite«, erklärte er, während er sich zu mir umdrehte.

Man konnte ihn nicht als ausgesprochen gutaussehend bezeichnen. Obwohl er erst Ende zwanzig war, hatte er eine Stirnglatze; seine Nase war zu groß, und er hatte tiefliegende, unter den schweren Augenlidern halb verborgene Augen, die von kräftigen, dichten, dunklen Augenbrauen überschattet wurden. Aber ich hatte sein Gesicht bewundert, noch bevor ich mich in ihn verliebte, und konnte es jetzt nicht mehr vom ästhetischen Standpunkt aus beurteilen. Er besaß wunderbare, wohlproportionierte, kräftige Knochen, und die Strenge seines langen, starken Gesichts wurde durch einen überraschend sanften Mund gemildert. Zumindest war er bei mir immer sanft.

Daran, daß ich aus dem Sprechzimmer des Arztes hinausgestürzt war, auf seine besorgten Fragen nicht reagiert und abgelehnt hatte, mich von ihm zur Station bringen zu lassen, mußte er gemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war; aber er redete sich ein, daß es nichts Ernstes war. Ich ließ mich von ihm küssen. Das war alles – ich ließ mich küssen. Dann führte ich ihn in den Salon.

Wir waren wie zwei Menschen, die versuchen, miteinander zu sprechen, ohne dieselbe Sprache zu verwenden. Was ich ihm sagte, kam ihm sinnlos vor; seine Argumente beeindruckten mich nicht.

Es war so verdammt vernünftig, was er sagte; mit seiner tödlichen Rechtsanwaltslogik brachte er ein Argument nach dem anderen an. Tests, wie derjenige, dem wir uns gerade unterzogen hatten, wiesen nur auf Wahrscheinlichkeiten hin; für Einzelpersonen waren sie nicht schlüssig. Jeder meiner westeuropäischen Vorfahren konnte irgendwo ein östliches Gen aufgelesen haben. Und selbst wenn – ich müsse ihm schon verzeihen – mein übertrieben emotionaler Verdacht zutraf – was spielte es für eine Rolle? Wir waren doch die gleichen Menschen wie bisher, nicht wahr? Wir liebten einander, nicht wahr?

Richtig, richtig und noch einmal richtig. »Ich weiß nicht, wer ich bin«, sagte ich.

»Aber du hast doch gerade bestätigt –«

»Behandle mich nicht wie einen gegnerischen Zeugen.«

»Das tue ich nicht. Ich erwarte nur ein wenig logisches Denken.«

»Ich denke logisch, verdammt noch mal. Auf einer Ebene bin ich der gleiche Mensch. Auf einer anderen Ebene – nenne sie psychisch, nenne sie emotional, bin ich völlig ratlos. Ich stehe vor einer Vielfalt von Möglichkeiten.«

»Ich verstehe.« Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa und sahen einander an. Er griff nach meiner Hand wie nach einem Seil, das knapp außer seiner Reichweite baumelte.

Ich zog meine Hand zurück. »Du verstehst mich nicht, sonst würdest du nicht versuchen, es mir auszureden.«

Er preßte die Lippen zusammen, und sie sahen nicht mehr sanft aus. Als er sprach, war seine Stimme ruhig. »Wenn du deine Wurzeln suchen willst, ist es in Ordnung. Ich werde dir helfen. Wir werden es gemeinsam tun.«

»Ich muß es allein tun.«

»Warum?«

Warum? Eine gute Frage. Wenn ich nur eine gute Antwort darauf gewußt hätte.

Ich hätte behaupten können, daß ich großzügig handelte, daß ich ihn von einer Verpflichtung entband, an die er sich sonst gebunden fühlen würde, bis ich sicher war, daß mein unbekannter Familienstammbaum keine faulen Äpfel enthielt. Aber das hätte in unserer Zeit absurd melodramatisch geklungen; es gab für alle derartigen Probleme Lösungen, sogar für so gräßliche genetische Abnormitäten wie Tay-Sachs. Ich hätte auch die genauso melodramatischen Erklärungen wiederholen können, die ich bereits abgegeben hatte: »Ich weiß nicht, wer ich bin. Die Frau, die ich gewesen bin, liebte dich. Die Frau, die jetzt neben dir sitzt, ist jemand anderer.« Aber das klang einfach zu abgedroschen, zu kitschig – selbst wenn es zum Teil stimmte.

Ich kannte nicht die ganze Antwort, aber ich kannte einen Teil von ihr. Es war etwas, das ich selbst tun mußte, ohne Hilfe, ohne falschen Trost, ohne mich auf die Kraft eines anderen Menschen zu stützen. Ich hatte immer jemanden gehabt, auf den ich mich stützen konnte. Zuerst Jessie, eine starke Frau, die ihre eigenen Probleme und die der anderen löste. Dann Jon. War das vielleicht der Grund, warum ich Jons Heiratsantrag so gern angenommen hatte, statt mich der Alternative zu stellen – Unabhängigkeit, Abschied von meinem Zuhause, Verantwortung?

Damals dachte ich nicht so klar, aber mein Herz, wenn schon nicht mein Hirn, wußten, daß ich es allein tun mußte, sonst würde ich nie mehr etwas allein tun können. Und weil ich solche Angst davor hatte, allein zu sein – weil ich nicht nur gegen Jon, sondern auch gegen mich selbst kämpfen mußte –, kämpfte ich grausam und unfair.

»Warum?« wiederholte er, und ich antwortete: »Einfach darum. Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du nicht fragen, warum.«

Obwohl ich verzweifelt war, hätte ich über diese Worte beinahe gelächelt; genau diese Art von Erklärung läßt Männer aufbrüllen: »Was, zum Teufel, wollt ihr Frauen eigentlich?« Jon brüllte nie und wurde nie wütend, und das bedauerte ich manchmal. In diesem Augenblick wäre es mir am liebsten gewesen, wenn er gebrüllt hätte. Ein ordentlicher, lauter Streit hätte vielleicht die Atmosphäre gereinigt. Wenn er genauso unvernünftig gewesen wäre wie ich, hätte ich mich nicht wie ein trotziges Kind gefühlt, das ein überlegener Erwachsener sanft und freundlich herumkriegt. Warum konnte er nicht zugeben, daß meine Gefühle einfach deshalb wichtig waren, weil es meine Gefühle waren? Warum konnte er nicht nachgeben und mir eine Atempause gönnen, statt in einer im wesentlichen emotionalen Situation rasche, vernünftige Entscheidungen zu verlangen?

Ich werde nicht den ganzen Streit wiederholen. Ich bin auf meine Bemerkungen nicht allzu stolz, obwohl ich noch immer finde, daß ich mich gut gehalten habe. Er verlor nie die Beherrschung, wurde nie laut. Seine letzte Bemerkung war ein leises: »Wir sprechen weiter, wenn du ruhiger bist.«

Als er ging, schlug er nicht die Tür hinter sich zu. Das Schloß schnappte ein, und sofort darauf prallte ein Baseball gegen die Tür. Ich lachte laut. »Heute abend habt ihr Pech, Kinder. Euer Kumpel hat keine Lust zu spielen.«

»Führst du Selbstgespräche?« Jessie spähte vorsichtig durch den Spalt der kaum geöffneten Eßzimmertür. In ihren Mundwinkeln klebten Kuchenkrümel. Ich antwortete nicht – daraufhin öffnete sie die Tür ganz und trat in den Salon.

»Es sieht so aus, als hättest du alles kaputtgemacht«, stellte sie fest. »Ich hoffe nur, daß du es nicht bereuen wirst.«

»Das hoffe ich auch.«

»Und was wirst du jetzt unternehmen?«

Ich hatte nicht bewußt darüber nachgedacht, aber plötzlich sah ich den Plan in groben Zügen so deutlich wie eine militärische Aktion vor mir. »Ich werde eine sentimentale Reise unternehmen.«

»Wohin?«

»Nicht wohin – wann. Ich werde eine Zeitreise unternehmen.«

Während der nächsten Wochen verbrachte ich meine Tage in verschiedenen Bibliotheken. Ich hatte beinahe alle Voraussetzungen für meinen Abschluß erfüllt; den Rest erledigte ich methodisch und peinlich genau, weil ich mir nicht meine Chance auf einen Abschluß mit Auszeichnung verderben wollte. Ohne akademischen Titel hatte ich nicht die geringste Aussicht, den verrückten Plan, den ich mir ausgedacht hatte, erfolgreich durchzuziehen. Es würde auch so noch schwierig genug sein.

Die meiste Zeit verbrachte ich mit Zeitreisen. Dadurch erfuhr ich all die faszinierenden Tatsachen über das Jahr 1965.

Einerseits lag diese Periode aus der jüngsten Vergangenheit für mich genauso weit zurück wie die Geschichte des Mittleren Ostens, die mein Hauptgegenstand gewesen war; andererseits war sie mir schmerzlich nahe. Mir ging es in erster Linie darum, was dieses Jahr für eine bestimmte Frau bedeutet hatte – abgesehen davon, daß es das letzte volle Jahr ihres Lebens gewesen war.

Ich war bei meiner Graduierung nicht anwesend, ich hatte keine Zeit. Außerdem wäre es peinlich gewesen, weil Jessie versucht hätte, den stolzen Vormund zu spielen, während wir kaum noch miteinander sprachen.

Unsere Beziehung kann man am besten als argwöhnische Neutralität bezeichnen. Es war das erste Mal, daß sie ins Schwimmen kam und nicht fähig war, mit einem Problem fertigzuwerden. Wenn ich nicht so intensiv mit mir selbst beschäftigt gewesen wäre, hätte ich begriffen, daß ihre Unentschlossenheit nicht nur auf meine Probleme zurückzuführen war, sondern daß sie einen ordentlichen Packen eigener Sorgen mit sich herumschleppte. Sie gab von sich aus keine Erklärungen ab, und ich stellte keine Fragen. Ich hatte vor, sie irgendwann zu verhören, aber ich war gut ausgebildet worden und konnte Prioritäten setzen; die Hintergrundforschung kommt zuerst. Ich hatte auch gelernt, wie man dabei vorgeht.

Ich hatte erwartet, daß Jon sich melden würde, aber er schrieb nicht; und falls er anrief, erzählte es mir Jessie nicht. Sie erzählte mir auch nicht, daß seine Mutter angerufen hatte; ich belauschte zufällig das Ende des Gesprächs – jedenfalls Jessies Teil –, und der klang nicht erfreulich. Weil Mrs. Feldman keine Gelegenheit gehabt hatte, mir zu sagen, was sie von mir hielt, schrieb sie mir einen Brief.

Sie hatte mich nie sehr gemocht. Jon war ihr Schatz, ihr Liebling, und er verdiente etwas Besseres als ein Mädchen mit so gut wie keinem gesellschaftlichen Hintergrund, das über keine besonderen Talente oder feine Lebensart verfügte. Jons Vater war Seniorchef eines führenden Anwaltsbüros in Philadelphia, und die Familie war reich. Mrs. Feldman war eine Förderin des Symphonieorchesters, des Museums und überhaupt aller Einrichtungen, die gefördert wurden. Ihre feinen Freundinnen in den Wohlfahrtsausschüssen wären über ihren Wortschatz ein wenig erstaunt gewesen – oder vielleicht wären sie nicht erstaunt gewesen. Ich warf den Brief in den Papierkorb, aber ich nahm ihr nicht übel, daß sie Dampf abgelassen hatte. Ich wußte, daß ich mich schlecht benommen hatte. Trotzdem nahm ich Jon übel, daß er sich an Mamis Brust ausgeweint hatte.

Als ich eines Nachmittags zeitig nach Hause kam, stand neben Jessies Wagen ein zweiter in der Auffahrt. Ich erkannte ihn; er gehörte Ann Whitaker, eine von Jessies besten Freundinnen und nicht zufällig meine ehemalige Psychoanalytikerin.

Der Zorn trieb mir die Röte in die Wangen. Wenn ich mein Gewissen nicht umgebracht hätte, so hätte es mir gesagt, daß Zorn unlogisch und unfair ist. Jessie hatte selbstverständlich das Recht, mit einer alten Freundin über ihre Sorgen zu sprechen. Sie hatte auch das Recht, über mich, ihre größte Sorge zu sprechen. Solche Gedanken huschten durch meinen Geist wie das schwache Echo eines vorwurfsvollen Gespenstes, aber ich unterdrückte sie.

Jessie hatte wahrscheinlich angenommen, daß ich, wie immer in letzter Zeit, nicht vor fünf oder sechs Uhr nach Hause kommen würde. Wenn ich zur Tür hereinkam, würde Jessie behaupten, daß sie sich den Nachmittag freigenommen hatte und daß Ann zufällig vorbeigekommen sei. Aber ich wußte, daß es sich um eine Konsultation und nicht um einen freundschaftlichen Besuch handelte. Sie sprachen über mich, steckten die Köpfe zusammen, flüsterten. »Die arme Haskell, was können wir tun, um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen?«

Mein erster Impuls war, hineinzustürzen und sie zur Rede zu stellen. Es wäre so befriedigend gewesen, jemanden anzubrüllen, der zurückbrüllte. Befriedigend, aber dumm.

Ich schlich auf Zehenspitzen den Weg hinauf und ging dann über den Rasen zur Rückseite des Hauses. Ich hatte Glück; die Hintertür war nicht versperrt. Wahrscheinlich hatte Jessie Pooch hinausgelassen und vergessen, den Riegel vorzuschieben. In solchen Sachen war sie nachlässig; sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Einbrecher die Frechheit haben würde, sie zu belästigen.

Pooch kauerte in der Nähe des Vogelbads hinter einem winzigen Rosenstrauch, hinter dem sich nicht einmal eine Maus, geschweige denn ein Neun-Kilo-Kater verstecken konnte. Er hatte nie verstanden, warum die Vögel nicht auf einen Drink vorbeikamen, wenn er dort saß, aber die Hoffnung in seiner bepelzten Brust wollte nicht sterben. Als er mich sah, stellte er zur Begrüßung den Schwanz auf und knurrte leise. Ich erschreckte die Vögel.

»Schschsch«, flüsterte ich. Pooch sah mich erstaunt an; für gewöhnlich begrüßte ich ihn mit mehr Begeisterung – aber dann nahm er an, daß ich seine Warnung beachtete. Er sah mir wohlwollend zu, wie ich die Tür aufdrückte und hineinschlüpfte.

Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen, aber ich verstand die Worte nicht. Ich mußte näher heran. Ich zog die Schuhe aus, schlich durch den Korridor und ging in der Nähe des offenen Bogenganges in Stellung.

Angeblich hören Lauscher an der Wand nie etwas Gutes über sich. Das kommt vielleicht daher, daß jeder, der so neugierig oder so verzweifelt ist, daß er horcht, genau das hört, was er erwartet – das Schlimmste. Das erste, was ich vernahm, war Anns Stimme, die gerade sagte: »Wie stellst du dir das eigentlich vor, Jessie? Wie soll ich mit Haskell sprechen, wenn sie nicht mit mir sprechen will? Ich kann sie nicht anrufen und ihr vorschlagen, sich mit mir zum Lunch zu treffen, sie würde es sofort durchschauen und noch ärgerlicher auf dich sein, weil du mich konsultierst – hinter ihrem Rücken, wie sie finden würde.«

»Du bist mir wirklich eine große Hilfe«, brummte Jessie.

»Und du bist mir überhaupt keine Hilfe. Du kennst doch die bekannte psychiatrische Regel: Nur weil jemand paranoid ist, heißt das noch lange nicht, daß die Leute nicht zu ihm halten. Haskells Reaktion ist weder anormal noch unvernünftig. Wie würdest du reagieren, wenn du feststellen müßtest, daß die Leute, die du für deine Eltern gehalten hast, dich als Säugling adoptiert haben?«

»Ich würde eine riesige Party geben und feiern.«

»Ja, das glaube ich dir sogar. Ich habe dir schon oft gesagt, Jessie, daß du einmal mit deiner Wut auf deine Eltern fertigwerden mußt. Du hast Haskell wegen ihrer emotionalen Probleme zu mir geschickt, aber als ich andeutete, daß dir eine Beratung ebenfalls gut täte ...«

Sie brach ab. Wahrscheinlich hatte Jessie ihr wortlos durch eine Handbewegung zu verstehen gegeben, daß sie sich nicht mit diesem Thema befassen wollte. Ich bedauerte, daß sie Ann unterbrochen hatte. Also hatte Jessie ebenfalls Probleme, und ebenfalls wegen ihrer Eltern. Dann paßten wir ja zusammen.

Nach einer kurzen Pause meinte Ann: »Also gut, ich gehe auf diesen Punkt nicht näher ein. Schließlich wollten wir über Haskell sprechen. Ihre Gefühle ähneln in mancher Hinsicht jenen eines adoptierten Kindes. Viele dieser Kinder möchten ihre Eltern finden – sie brauchen es. Ich verstehe nicht, warum du das nicht akzeptieren kannst.«

»Es geht nicht darum, was sie tut, sondern darum, wie sie es tut. Sie hat sich verändert, Ann. Sie ist verschlossen, feindselig – nicht nur mir gegenüber, sondern allen gegenüber. Sie will mir nicht erzählen, was sie vorhat. Ich befürchte, daß es etwas Gefährliches oder Ungesetzliches oder ... sieh dir das an.«

Eine Pause folgte. Ich hätte für mein Leben gern gesehen, was sie sich anschauten, aber ich wagte nicht, das Risiko einzugehen. Dann meinte Ann: »Mir ist nicht ganz klar, was das bedeutet.«

»Es bedeutet, daß sie dorthin zurückfährt. Sie ist nicht dumm. Sie hat sich ausgerechnet, daß es einer von ihnen sein muß – von dieser Gruppe.«

Wahrscheinlich hatten sie schon vor meinem Eintreffen über diesen Punkt gesprochen; Ann wußte jedenfalls, wovon die Rede war. Ich wußte es natürlich auch. Es war typisch für Ann, daß sie nicht direkt antwortete, sondern aus einer anderen Richtung angriff.

»Sein muß? Du gibst zu, daß Haskell mit ihrer Annahme recht hat und Kevin Maloney nicht ihr Vater ist?«

Jessie schwieg, aber Ann ließ nicht locker: »Du bist dieser Frage die ganze Zeit ausgewichen, und dabei ist sie der wichtigste Punkt. Also, Jessie?«

Ich war so darauf erpicht, Jessies Antwort zu hören, daß ich mich vorbeugte und mit dem Arm an die Lampe auf dem Tischchen neben mir stieß. Ich fing sie zwar noch auf, aber die Glasperlen, die vom Schirm herunterhingen, klirrten melodisch.

Sie mußten es gehört haben. Um nicht in einer peinlichen Situation ertappt zu werden, beschloß ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ich trat ins Zimmer.

»Eine gute Frage, Ann. Vielleicht wird Jessie es Ihnen verraten. Mir hat sie es jedenfalls nicht anvertraut.«

Ich glaubte, daß ich mich in der Hand hatte, bis ich das Blatt Papier auf dem Tisch erblickte. Ich ergriff es und wandte mich an Jessie.

»Wie kannst du es wagen, in meinem Schreibtisch zu stöbern?«

»Auf die Idee hast du mich gebracht«, fuhr mich Jessie an. »Du hast damit begonnen – zuerst hast du gestöbert, jetzt horchst du ...« Sie drehte sich mit ausgebreiteten Armen zu Ann um. »Sie ist nie so gewesen, Ann. Sie war das ehrlichste, aufrichtigste Kind, das ich je gekannt habe. Was ist mit ihr geschehen?«

Ann räusperte sich und rückte sich zurecht. Das genügte, damit wir beide verstummten. Sie war hochgewachsen und kräftig und versuchte nicht, ihre Größe zu überspielen; im Gegenteil, sie benützte sie, um andere einzuschüchtern. Es war nicht nur der körperliche Eindruck, sondern sie projizierte ein Image – das der Mutter Erde, der weisen Frau, die alle Antworten kennt und mit den höheren Mächten in Verbindung steht. Ihre stets außerordentlich geschmackvolle Kleidung trug zu diesem Image bei – sie war konservativ, vielleicht ein wenig altmodisch, aber immer äußerst feminin gekleidet. Lange bevor es in Mode kam, hatte sie Schals und Tücher getragen; sie hatte ihre Haare wie ein Krönchen aufgesteckt, und die silbernen Fäden in dem dunklen Braun glitzerten königlich.

»Ich bin froh, daß du da bist, Haskell«, sagte sie ruhig. »Es ist ein Jammer, daß du nicht ein paar Minuten früher gekommen bist ...« Ihr Blick wanderte zu meinen nackten Füßen, und sie lächelte verständnisvoll, als sie fortfuhr. »Dann hättest du nämlich gehört, wie ich Jessie erklärte, daß ich voll und ganz auf deiner Seite stehe.«

Ich plumpste in einen Sessel und sah beide unparteiisch verärgert an.

»Ich habe nicht gehört, daß Jessie deine Frage beantwortet hätte.«

»Vielleicht kennt sie die Antwort nicht.«

»Sie muß sie kennen. Sie hat mir immer wieder erzählt, wie nahe Mutter und sie einander gestanden haben – näher als Schwestern, näher als die besten Freundinnen. Wie ist es möglich, daß meine Mutter sich ihrer angebeteten, hilfreichen großen Schwester nicht anvertraut hat?«

»Das reicht«, erklärte Ann und sah Jessie an. Sie gab ihr offenbar ein Zeichen, denn Jessie sprang auf und verließ das Zimmer. Doch sie war nicht rasch genug, ich hatte bereits ihre geröteten Wangen und die zusammengepreßten Lippen bemerkt.

»Warum hast du das getan, Ann?« fragte ich. »Warum hast du nicht zugelassen, daß sie mir antwortete, mich anschreit, falls ihr danach zumute ist. Du mußt meine Gefühle nicht schonen –«

»Deine Gefühle?« Ich hatte nie erlebt, daß Ann die Beherrschung verlor, doch jetzt war sie nahe daran. Sie preßte die Hände zusammen, als wolle sie sie daran hindern, etwas zu tun, das sie später bereuen würde. Zum Beispiel, mir eine kräftige Ohrfeige versetzen?

Sie riß sich zusammen, lehnte sich zurück und stieß amüsiert die Luft aus. »Das war knapp. Ich versuche, nicht böse auf dich zu sein, Haskell. Du hast einen schweren Schock erlitten und verhältst dich entsprechend. Du benützt Jessie als Prügelknabe, denn du weißt, daß du das ungestraft tun kannst, weil du sie nie verlieren wirst, ganz gleich, wie schlecht du sie behandelst. Die typische Mutter-Kind-Beziehung.«

Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie mich geschlagen hätte. Ihre Worte schmerzten mehr, vor allem, weil ich wußte, daß sie recht hatte. Und das Wort, das am meisten schmerzte, war das nicht abwertend gebrauchte ›Kind‹.

»Ich weiß, wie dir zumute ist, Haskell, aber es fällt mir schwer, kühl und professionell zu bleiben, wenn es um Jessie geht. Hast du denn nicht gemerkt, daß du Salz in die Wunden gestreut hast? Wenn sie die Wahrheit nicht gekannt hat – und ich versichere dir, daß sie sie nicht gekannt hat –, dann muß die Entdeckung für sie ein genauso schwerer Schock gewesen sein wie für dich. Der Mensch, den sie am innigsten liebte, hat sie bewußt getäuscht; der Mensch, dem sie am meisten vertraute, hat ihr nicht vertraut. Gerade du müßtest wissen, wie weh das tut.«

Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, In meinen Augen brannten Tränen, weil ich mich schämte, aber ich unternahm einen letzten Verteidigungsversuch: »Sie war immer gegen alles, was ich tun wollte.«

»Sie war zum Beispiel dagegen, daß du mit dem Drogendealer der Universität und zwei seiner Freunde eine Campingtour durch die Adirondacks unternahmst.«

»Es war nicht so, wie du es jetzt darstellst«, widersprach ich.

»Ich weiß. Du hast wirklich geglaubt, daß dein Gottvertrauen die Rauschgifthändler auf den Pfad der Tugend zurückführen würde.«

»Also schön, ich habe mich wie ein Idiot benommen. Ich war erst sechzehn.«

»Mit sechzehn ist jeder ein Idiot«, lächelte Ann.

»Auch du?«

»Ich ganz besonders.«

Ich kannte Anns Methoden, aber was sie sagte, ging mir unter die Haut. Merkwürdigerweise war ich erleichtert, weil sie mich zwang, mich den Tatsachen zu stellen, wenn sie auch noch so unangenehm waren. Zum Beispiel der Tatsache meines Egoismus.

»Also gut«, gab ich nach. »Ich bin eine nichtsnutzige, undankbare Ratte. Jessie hat Anspruch auf eine Entschuldigung, und sie wird sie bekommen – von Herzen und kniefällig. Aber verdammt noch mal, Ann, warum wehrt sie sich jedesmal dagegen, wenn ich einen Entschluß fasse und ihn selbst ausführen will, auch wenn dieser Entschluß vielleicht ein Fehler ist. Auf diese Art lernt der Mensch doch – indem er Fehler begeht und die Folgen tragen muß.«

In Anns Augen entdeckte ich einen Funken Mitgefühl, aber sie schüttelte den Kopf. »Einer Mutter fällt es schwer zuzusehen, wie ihr Kind sich Hals über Kopf in eine Katastrophe stürzt, und nicht einzugreifen. Vor allem einer so starken und realistischen Mutter wie Jessie.«

»Das weiß ich. Das heißt, ich sehe es ein. Aber nicht alle meine Entschlüsse waren katastrophal. Zuerst versuchte sie, mich davon abzubringen, mein Diplom in Ägyptologie zu machen –«

»Du weißt warum.«

»Aber ich wollte doch gar nicht meine Mutter nachahmen. Na ja ... nicht nur. Und als ich nach der Graduierung heiraten wollte, statt meinen Dr. phil. zu machen, war sie auch dagegen.«

»Sie hat gefunden, daß du zum Heiraten zu jung bist.«

»Und jetzt habe ich bewiesen, daß sie recht gehabt hat.«

»Du solltest aufhören, das Ganze als Wettstreit zu sehen«, meinte Ann energisch. »Wenn ihr weiter gegeneinander kämpft, kann keine von euch gewinnen. Wenn ich einen Vorschlag machen darf ...«

»Du wirst ihn auf jeden Fall machen.«

Ann grinste. »Das stimmt.« Sie blickte zu der geschlossenen Eßzimmertür und rief: »Komm herein, Jessie, die Gefahr ist vorbei.«

Jessie kam herein. Sie trug ein Tablett. Ich war davon überzeugt, daß es Anns Idee gewesen war: Drinks und Cocktailhappen, das Richtige für einen normalen gesellschaftlichen Anlaß. Ann nahm ein Glas Sherry, der einzige Drink, den sie sich gestattete. Und dann sah ich, was Jessie für mich auf dem Tablett hatte. Es war meine Lieblingsbiersorte – importiert, teuer und schwer zu bekommen. Es konnte doch nicht diese dumme Bierflasche sein, die mir die Tränen in die Augen trieb; es mußte Jessies Gesichtsausdruck sein, als sie mich schüchtern unter der Brille hinweg von der Seite ansah. Sie hatte die Brille ausnahmsweise aufgesetzt, konnte mit ihr jedoch ihre geröteten Augen nicht ganz verbergen.

»Es tut mir leid, Jessie.«

»Mir tut es auch leid, Baby.«

Ann trank ihren Sherry und lächelte ihr rätselhaftes Mutter-Erde-Lächeln.

Kapitel 2

Ich würde gern behaupten, daß die Konfrontation die Spannung zwischen Jessie und mir beseitigt hatte, aber das war nur teilweise der Fall. Das Leben ist nie so einfach. Dank Anns Analyse verstand ich meine Tante jetzt besser und erkannte auch, was ich ihr angetan hatte. Ohne es zu wollen, hatte ich die Tür zu Jessies persönlichem Gruselkabinett aufgestoßen – Erinnerungen, die sie jahrzehntelang unterdrückt hatte und die sich nicht wieder einsperren ließen, sobald sie freigelassen waren. Sie mußte sich ihnen stellen, und es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Außerdem war es erschreckend. Kein Kind will zugeben, daß seine Eltern keine unerschütterlichen, sicheren Autoritäten, sondern leidende, verletzliche, menschliche Wesen sind. Das Schlimmste daran war, daß ich ihr nicht helfen konnte. Jede von uns mußte mit ihren eigenen Dämonen fertigwerden.

Ich kannte Jessies und Mutters familiären Hintergrund. Es ging eigentlich nicht darum, daß ich ihn kannte, sondern darum, daß ich ihn ohne zu denken oder zu fragen zur Kenntnis genommen hatte, wie zum Beispiel die Tatsache, daß man naß wird, wenn man im Regen spazierengeht. Sie waren in einer kleinen Stadt in Illinois zur Welt gekommen. Als sie elf und sechs Jahre alt waren – Jessie war die ältere –, war ihr Vater, ein Zimmermann, in einen Vorort von Chicago übersiedelt. Jessie hatte sofort nach der Oberschule einen Posten angenommen; Mutter hatte nicht nur an der Universität von Chicago das College besucht, sondern arbeitete an ihrem Doktor, als sie das Studium aufgab und heiratete.

Dieser plötzliche Entschluß war mir sehr romantisch vorgekommen. Ich hatte Jessie danach gefragt, als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, also im typischen romantischen Alter gewesen war. Jessie hatte ihre Antwort sorgfältig meinem Alter und meiner Gemütsverfassung angepaßt und mir erzählt, was ich hören wollte – daß meine Mutter ihre Karriere aufgegeben hatte, um ein paar bittersüße Wochen mit ihrem jungen Ehemann zu verbringen, bevor er für sein Vaterland, Gott und Apfelkuchen in den Krieg zog. Damals kam es mir vollkommen logisch vor. Ich hätte das gleiche für einen schlaksigen Jungen namens ... – ich hatte doch tatsächlich den Namen vergessen – getan. Das heißt, ich hätte es getan, wenn Krieg gewesen wäre und wenn Mister Namenlos mir einen Heiratsantrag gemacht hätte.

Soweit also die sogenannten Tatsachen; jetzt mußte ich sie noch einmal hören, interpretieren und sezieren. Zunächst wurde Jessie über meine Fragen bitterböse. Manchmal sprang sie mit krebsrotem Gesicht auf und rannte aus dem Zimmer, und ihre Lippen formten tonlos Worte, die sie nicht aussprechen wollte.

Eines Abends, als wir nach dem Essen im Wohnzimmer saßen, kam es zu einer Art Durchbruch. Es war Samstag abend; am nächsten Tag mußte Jessie nicht arbeiten, deshalb gönnte sie sich ein oder zwei Glas Brandy. Pooch saß auf ihrem Schoß und schnurrte wie tausend Grillen.

Wir hatten Jessies altes Fotoalbum hervorgeholt und betrachteten Mutters Hochzeitsbilder. Sie war in eben diesem Zimmer von einem Friedensrichter getraut worden, aber auf dem weißen Satin und den Spitzen hatte Jessie bestanden, nicht Mutter. Die traditionellen Symbole der Jungfräulichkeit hatten ihre Bedeutung verloren, falls sie sie jemals besessen hatten; doch in diesem Fall wurde mir die Ironie der Maskerade besonders deutlich bewußt, und ich musterte die schlanke Gestalt meiner Mutter genau.

»Du bist nie auf die Idee gekommen, daß sie schwanger ist?«

Ich versuchte, unbeteiligt zu wirken, was mir offenbar gelang, denn Jessie antwortete bereitwillig: »Damals noch nicht. Mir dämmerte erst etwas, als sie einige Monate später rund wurde. Aber es machte mir nichts aus. Eure Generation ist nicht die erste, die den vorehelichen Sex erfunden hat.«

»Hattet ihr denn nicht die Pille?« fragte ich neugierig.

Jessie kraulte Pooch unter dem Kinn. Er drehte sich auf den Rücken, zog die Pfoten ein, schloß die Augen und schnurrte hingebungsvoll. Die Frage bereitete meiner Tante sichtlich Schwierigkeiten, was mich überraschte; als sie mich über die Tatsachen des Lebens aufklärte, hatte sie sich kein Blatt vor den Mund genommen. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Du mußt es verstehen, Haskell, deine Mutter und ich haben nie über diese Sache geredet. Wir sind in einer Atmosphäre aufgewachsen ... Ich habe nie über deinen Großvater gesprochen, nicht wahr?«

»Mein Großvater interessiert mich nicht. Ich möchte wissen –«

»Halte den Mund«, unterbrach sie mich gleichmütig. »Wenn du deine Mutter verstehen willst, wirst du dir ein paar schmerzliche Wahrheiten über deinen Großvater anhören müssen.«

»Du hast ihn nicht gemocht?«

»Ich habe ihn gehaßt wie die Pest. Ich tue es immer noch.«

Der kalte, herzlose Tonfall war erschreckender als ein wütender Ausbruch. Ich starrte sie fassungslos an. »Du hast nie gesagt

»Oh, ich habe eine Menge gesagt. Du hast nur nicht zugehört.« Pooch protestierte lautstark, und Jessie ließ sein Fell los, das sie umklammert hatte. Sie lachte verlegen. »Sogar nach all diesen Jahren balle ich die Fäuste, wenn ich an ihn denke. Er ist wahrscheinlich der Grund, warum ich nie geheiratet habe. Er war vielleicht der Grund dafür, daß deine Mutter sich Hals über Kopf in diese Ehe gestürzt hat. Und wenn er nicht gestorben wäre, als du drei Jahre alt warst, hätte ich ... ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte ... dich entführt, ihn umgebracht – irgend etwas, um dich von ihm wegzuholen.«

»Ich habe nie verstanden, wieso er überhaupt das Sorgerecht bekommen hat. Mutter und ich haben ja mit dir zusammengelebt, als – es geschah.«

»Ja. Sie ist zu mir übersiedelt, als dein – als Kevin nach Vietnam geschickt wurde. Papa war wütend; er hatte erwartet, daß sie nach Hause kommen würde. Nach Hause ...« Jessie lachte bitter. »Solange sie lebte, konnte er natürlich nichts wegen dir unternehmen. Am Tag nach dem Begräbnis – ich war zur Arbeit gegangen, hatte mir schon zu lange freigenommen, und bei dir war eine Babysitterin – kamen Mama und Papa herein. Sie konnte sie nicht aufhalten; sie rief mich an, aber es war zu spät, sie waren schon fort.«

Sie hatte zwischen den abgehackten, unzusammenhängenden Sätzen immer wieder keuchend Luft geholt, als fiele ihr das Atmen schwer. In diesem Augenblick haßte ich mich; sie erinnerte sich nicht, sondern erlebte es noch einmal, erlebte eine Zeit noch einmal, die noch immer schmerzte, höllisch schmerzte. Nach einer Weile beruhigte sie sich und fuhr fort: »Am Tag nach dem Begräbnis! Wir hatten auch deshalb gestritten. Er wollte, daß sie in Illinois begraben wurde, auf dem geweihten Friedhof der geheiligten Kirche, in dem auch seine Knochen dereinst ruhen sollten. Natürlich nur dann, wenn er nicht körperlich in den Himmel aufgenommen wurde, was er wahrscheinlich erwartete. Diesen Kampf hatte ich gewonnen. Ich wußte, daß sie lieber in der Hölle brennen würde, als in seinem Grab zu liegen.«

»Warum hast du es mir nie erzählt?«