Regency Herzen - Barbara Michaels - E-Book
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Regency Herzen E-Book

Barbara Michaels

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Beschreibung

Der große Romance-Sammelband »Regency Herzen« von Barbara Michaels jetzt als eBook bei dotbooks – drei Ladies in den Stürmen der Zeit … England im 18. Jahrhundert: Nach dem Tod ihrer Eltern müssen die Schwestern Ada und Harriet zu entfernten Verwandten aufs Land ziehen. Imposant ragt Abbey Manor inmitten der Moorlandschaft auf – und ebenso faszinierend sind auch die zwei Söhne der Wolfsons: Doch während Julian die Schwestern umwirbt, bleibt Francis rätselhaft und abweisend. Welches Geheimnis hat er zu verbergen? Ein dunkler Schatten liegt auf dem nächtlichen Grayhaven Manor, als die junge Megan zum ersten Mal das Schloss sieht, in dem sie als Gouvernante dienen soll. Lord Edmund Mandeville scheint wortkarg und unnahbar … doch seine dunklen Blicke entfachen schon bald eine unbändige Sehnsucht in Megans Herz … Die junge Francesca ist überwältigt von der Pracht ihres neuen Zuhauses, einem italienischen Schloss inmitten von Rosen und Zypressenwäldern. Doch ihre Verwandten, allen voran der hitzköpfige Stefano, empfangen Francesca mit Argwohn. Welche Geheimnisse und Intrigen hat diese Adelsfamilie zu verbergen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Regency Herzen« von Barbara Michaels vereint die Romance-Highlights »Abbey Manor«, »Grayhaven Manor« und »Villa Tarconti« und wird Fans von Georgette Heyer begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 971

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Über dieses Buch:

England im 18. Jahrhundert: Nach dem Tod ihrer Eltern müssen die Schwestern Ada und Harriet zu entfernten Verwandten aufs Land ziehen. Imposant ragt Abbey Manor inmitten der Moorlandschaft auf – und ebenso faszinierend sind auch die zwei Söhne der Wolfsons: Doch während Julian die Schwestern umwirbt, bleibt Francis rätselhaft und abweisend. Welches Geheimnis hat er zu verbergen?

Ein dunkler Schatten liegt auf dem nächtlichen Grayhaven Manor, als die junge Megan zum ersten Mal das Schloss sieht, in dem sie als Gouvernante dienen soll. Lord Edmund Mandeville scheint wortkarg und unnahbar … doch seine dunklen Blicke entfachen schon bald eine unbändige Sehnsucht in Megans Herz …

Die junge Francesca ist überwältigt von der Pracht ihres neuen Zuhauses, einem italienischen Schloss inmitten von Rosen und Zypressenwäldern. Doch ihre Verwandten, allen voran der hitzköpfige Stefano, empfangen Francesca mit Argwohn. Welche Geheimnisse und Intrigen hat diese Adelsfamilie zu verbergen?

Über die Autorin:

Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.

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Sammelband-Originalausgabe Februar 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Die amerikanische Originalausgabe von ABBEY MANOR erschien erstmals 1972 unter dem Titel »Sons of the Wolf«, Copyright © 1967 by Barbara Michaels; die deutsche Erstausgabe erschien erstmals 1989 unter dem Titel »Gefangene der Liebe« bei Heyne, Copyright © 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München.

Die amerikanische Originalausgabe von GRAYHAVEN MANOR erschien 1982 unter dem Titel »The Black Rainbow« bei Congdon & Weed, Copyright © 1982 by Barbara Michaels; die deutsche Erstausgabe erschien bereits 1984 unter dem Titel »Der schwarze Regenbogen« bei Heyne, Copyright © 1984 by Wilhelm Heyne Verlag, München; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München.

Die amerikanische Originalausgabe von VILLA TARCONTI erschien 1972 unter dem Titel »Wings of the Falcon« bei Dodd, Mead and Company, Copyright © 1977 by Barbara Michaels; die deutsche Erstausgabe erschien bereits 1991 unter dem Titel »Auf den Schwingen der Liebe« bei Heyne, Copyright © 1991 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ronald ian smiles, kuttelvaserova Stuchelova und Perios Images/VJ Dunraven/Mary Chronis

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-906-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sie werden in diesem Roman möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen begegnen, die wir heute als unzeitgemäß und diskriminierend empfinden, unter anderem dem Begriff »Zigeuner«. »Zigeuner« ist die direkte Übersetzung des im englischen Originaltext verwendeten Begriffs »Gypsy«, und es ist nicht möglich, dieses Wort in Titel und Text durch die heute gebräuchlichen Eigenbezeichnungen »Sinti und/oder Roma« zu ersetzen, weil sie inhaltlich nicht passen würden. Zur Handlungszeit im frühen 19. Jahrhundert war »Zigeuner« die gängige Fremdbezeichnung für die Sinti und Roma, wobei dieser Begriff seit dem 18. Jahrhundert vielerorts mit einem zunehmenden stigmatisierenden Rassismus verbunden war. Die Sinti und Roma lehnen die Bezeichnung »Zigeuner« daher heute zu Recht ab. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt und von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Barbara Michaels hat keinen Roman im Sinne der völkisch rassifizierten Nazi-Nomenklatur geschrieben, sondern verwendet Begrifflichkeiten so, wie sie aus ihrer Sicht zu der Zeit, in der ihr Roman spielt, verwendet wurden; Klischees werden hier bewusst als Stilmittel verwendet. Keinesfalls geht es in diesem fiktionalen Text aber um rassistische Zuschreibungen oder die Verdichtung eines aggressiven Feindbildes.

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Barbara Michaels

Regency Herzen

Drei Romane in einem eBook

dotbooks.

Abbey Manor – Gefangene der Liebe

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Franz

England, 1859: Nach dem Tod ihrer Eltern bleibt den Schwestern Ada und Harriet keine andere Wahl, als zu entfernten Verwandten aufs Land zu ziehen. Imposant ragt das Anwesen von Abbey Manor inmitten der Moorlandschaft zum ersten Mal vor ihnen auf – und ebenso faszinierend sind auch Mr. Wolfson und seine zwei Söhne: Während Julian die Schwestern warmherzig willkommen heißt, bleibt Francis rätselhaft und abweisend. Als jedoch plötzlich beide die schöne Ava umwerben, die das Vermögen ihrer Großmutter erben wird, vermutet Harriet ein falsches Spiel – und je mehr sie über die Geheimnisse von Abbey Manor herausfindet, desto gefährlicher wirkt ihr neues Zuhause. Zumal ihr Francis’ dunkler Blick überall hin zu folgen scheint …

»Einen Roman von Barbara Michaels kann ich nicht aus der Hand legen.« Bestseller-Autorin Marion Zimmer Bradley

Kapitel 1

29. März 1859

An diesem Morgen stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mein Gesicht.

Ich hatte schon lange nicht mehr in einen Spiegel geschaut, und ich tat es auch jetzt nicht aus Eitelkeit. Mein Spiegelbild blickte mir entgegen: schwarzes Haar, dicht und glatt wie eine Pferdemähne, schwarze Augenbrauen und eine so dunkle Haut, daß ich beinahe glauben muß, daß Großmutters unfreundliche Anspielungen auf meine italienische Mutter der Wahrheit entsprechen – daß in diesem Zweig der Familie sogar maurisches Blut fließt. Mein brauner Teint war ungewöhnlich für dieses Land der rosigen Wangen und blonden Locken; ich würde hier keinen Preis für Schönheit gewinnen können.

Das hochgeschlossene, langärmelige schwarze Kleid ließ meine Haut noch dunkler erscheinen. Ich verabscheute es, Schwarz zu tragen, und ich haßte die damit verbundene Heuchelei. Meine Großmutter war gestorben. Aber sie hatte mich von dem Tage meiner Geburt an gehaßt, und seit dem Augenblick, an dem ich alt genug war, ihren Haß und den Grund dafür zu verstehen, hatte ich dieses Gefühl mit einer Vehemenz erwidert, die meinem Charakter und meiner christlichen Erziehung kaum entsprach. Meinen augenblicklichen Gefühlen nach hätte ich mich am liebsten in Rot und Gold gekleidet.

Während ich meinen finsteren Gedanken nachhing, verschwamm plötzlich mein wenig attraktives Bild im Spiegel. Zehn kleine, zarte Finger schlossen sich um meine Augen, und eine süße Stimme rief: »Rate mal, wer bin ich!«

»Wer sollte es schon sein?«, antwortete ich ärgerlich und schüttelte die kleinen Hände ab. Die Handgelenke waren so zierlich wie die eines Kindes; meine langen Finger umschlossen sie mit Leichtigkeit. Über meiner Schulter erschien Adas Gesicht im Spiegel.

Sie mußte auf Zehenspitzen stehen, denn normalerweise reichte ihr Blondschopf mir gerade bis ans Kinn. Sie hatte versucht, ihre Locken zu bändigen, aber das schwarze Band hatte die Pracht nicht zu halten vermocht, und ein Wasserfall von blonden Ringellöckchen umrahmte ihr liebliches Gesicht. Die Farbe des Todes, die an mir geradezu scheußlich aussah, unterstrich noch ihre zarte, vornehme Blässe; sie sah jünger aus als siebzehn. Ihre großen, blauen Augen sahen mich nun erschreckt und vorwurfsvoll an, und ihr Mündchen verzog sich schmollend. Sie sah so niedlich aus, und auch ungefähr so intelligent, wie ein kleines Perserkätzchen. Wie immer tat mir meine Unfreundlichkeit leid; ich drehte mich um und umarmte sie.

»Es tut mir leid, Liebling«, entschuldigte ich mich.

Sie drückte mich stürmisch an sich; obwohl Ada so zerbrechlich aussieht, hat sie eine ganz schön robuste Natur.

»Ich bin dir nicht böse, liebste Harriet. Mein kleiner Überfall kam zu plötzlich. Du dachtest sicher an – unsere liebe Großmutter.«

Ihre Stimmungen ändern sich rasch: zuerst gekränkt, ist sie gleich darauf voller Herzlichkeit. Auf einmal standen Tränen in ihren blauen Augen, und das kleine Kinn bebte.

»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte ich in etwas zu scharfem Ton, denn die Tränen begannen nun zu fließen. Mit sanfter Stimme fuhr ich fort: »Sorge dich nicht um meine Gedanken über Großmutter.«

»Sie war immer so gut«, murmelte Ada und betupfte ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch.

»Zu dir war sie es vielleicht – auf ihre Art. Aber du bist auch das Lieblingskind ihrer Lieblingstochter, und du siehst genauso aus, wie der wohlerzogene, reiche junge Mann, den sie ihrer Tochter als Gatten auswählte. Ich hingegen –«

Adas Augen funkelten. Etwas schuldbewußt sah sie sich um. Außer uns beiden befand sich niemand im Raum; es war mein Schlafzimmer, und nun, da Großmutter nicht mehr lebte, würde niemand mehr hereinkommen, ohne vorher anzuklopfen. Aber Ada hatte eine kindliche Vorliebe für alles Geheimnisvolle. Aufgeregt flüsterte sie: »Harriet … Nachdem Großmutter nun nicht mehr – da ist … Oh, ich wollte es immer schon brennend gern erfahren! Was hat dein Vater getan, das sie so gegen ihn aufgebracht hat?«

»Wenn du es so unbedingt wissen wolltest, warum hast du mich nie gefragt? Ich hätte es dir erzählt, es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte.«

»Aber Großmutter sagte, es dürfe niemals darüber gesprochen werden.«

»Unsere Eltern waren, wie du weißt, Bruder und Schwester«, begann ich, »die Kinder unserer Großmutter. Also sind wir Kusinen.«

»Nein, Schwestern«, widersprach Ada zärtlich und gab mir einen Kuß.

»Setz dich bitte und hör mir zu«, sagte ich und versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen. »Von der Blutsverwandtschaft her sind wir Kusinen, aber wir haben uns lieb wie zwei Schwestern. Mein Vater war der Älteste und der einzige Sohn. Er war ein fröhlicher, gut aussehender Mann und war Großmutters ganzer Stolz; aber leider hatte er außer ihrem guten Aussehen auch ihre Arroganz und ihren Hochmut geerbt. Großmutter hatte eine passende Heirat für ihn vorbereitet; aber während seiner Reisen traf er in Rom ein junges italienisches Bauernmädchen und heiratete sie. Er stellte seine Mutter vor vollendete Tatsachen, wahrscheinlich wußte er nur zu gut, daß sie alles menschenmögliche getan hätte, um diese Verbindung niemals zustande kommen zu lassen.«

»Deine Mutter muß sehr schön gewesen sein!«

Ich lachte und berührte nachdenklich mein Gesicht.

»Großmutter sagte immer, ich sähe ihr sehr ähnlich. Daher mußten es wohl ihr Charme und ihr Esprit gewesen sein, mit denen sie das Herz meines Vaters gewann, und weniger ihre Schönheit.«

Ada sprang auf, umarmte mich stürmisch und widersprach mir ganz energisch. Ich mußte wieder mit ihr schimpfen, bevor ich fortfahren konnte.

»Als Großmutter von dieser Heirat erfuhr, war sie außer sich. Sie enterbte ihn auf der Stelle. Sein Vater – unser Großvater – hatte ihm einen kleinen Geldbetrag hinterlassen, der ihm an seinem zwanzigsten Geburtstag ausgezahlt werden sollte. Davon und von dem, was er sich mit seiner Hände Arbeit verdienen konnte, mußten er und seine junge Frau leben. Seine Mutter ließ ihm ausrichten, daß er es nie wieder wagen dürfe, ihr unter die Augen zu treten, sonst würde sie ihn von ihren Dienstboten mit der Peitsche davonjagen lassen.«

»Wie entsetzlich!« Aufgeregt, mit geröteten Wangen, lehnte sich Ada vor. »Wie konnte sie nur einer solchen Gemeinheit fähig sein?«

»Sie hätte jeden unerbittlich bekämpft, der sich gegen ihre Autorität auflehnte und ihren Stolz auf ihre noble Herkunft mit Füßen trat«, antwortete ich bitter. »Immer wieder mußten wir uns anhören, daß der Name ihrer Mutter Neville war und daß eine Neville einstmals Königin von England war.«

»Ja, ich weiß. Aber ihren einzigen Sohn zu enterben –«

»Man erzählte sich, daß es sehr schmerzlich für sie gewesen sein mußte«, erinnerte ich mich. »Erst seit dieser Zeit wurde sie so verbittert und wunderlich. Und mein Vater hatte keine Zeit mehr, sich darüber zu grämen. Er starb kurz nach meiner Geburt.«

»Dann erinnerst du dich überhaupt nicht an ihn?«

»Nein.«

»Arme Harriet! Und deine arme Mama!«

»Wie kann ich um sie trauern, ich kannte sie doch eigentlich gar nicht! Ich erinnere mich nur schwach an sie – an ihre sanfte, warme Stimme, die sentimentale italienische Lieder sang. Und an ein Paar blitzende, schwarze Augen und eine harte, braune Hand – ich war ein schreckliches Kind.«

Ada schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Du sprichst so, als hättest du kein Gefühl. Aber ich kenne dich besser.«

»Was für ein Gefühl soll ich zwei Geistern entgegenbringen, denn das sind meine Eltern für mich. Sie haben nichts für mich getan, außer mich in die Welt gesetzt. Bevor mein Vater starb, besaß er von seinem kleinen Erbe längst keinen Penny mehr, und meine Muter hatte auch nie gelernt zu sparen. Sie nahm ihren alten Beruf wieder auf, für einen Künstler Modell zu stehen. Schließlich mußte sie Geld verdienen, Ada. Was hätte sie sonst tun sollen? Als Großmutter dies hörte, schickte sie ihren Anwalt zu meiner Mutter. Meine Mutter verkaufte mich für fünfzig englische Pfund. Sie lebte zu der Zeit mit einem französischen Offizier zusammen und war entzückt, so viel Geld zu bekommen. Unsere Großmutter erinnerte mich oft an diese zärtliche, mütterliche Geste. Und sie ließ mich stets wissen, daß sie midi durch ihre Großzügigkeit davor bewahrt hatte, halbverhungert und verkommen in den schmutzigen Straßen Italiens aufzuwachsen. Lieber wäre ich auf die Almosen fremder Menschen angewiesen gewesen, als solch eine Großzügigkeit zu ertragen. Aber jetzt«, fügte ich wehmütig hinzu, »werde ich vielleicht doch noch darauf angewiesen sein.«

Die arme kleine Ada kennt meine plötzlichen Gefühlsausbrüche. Sie hatte versucht, mich zu beruhigen, während ich tobte, aber bei meiner letzten Bemerkung erstarrte sie und sah mich erschrocken an.

»Harriet, was willst du damit sagen?«

»Ada, hast du dich noch nicht gefragt, was nun aus uns werden soll? Fürchtest du dich nicht vor der Zukunft?«

»Warum sollte ich? Wir haben doch Großmutters Geld.«

»Ja, das nehme ich an«, erwiderte ich. »Aber wie und wo und bei wem werden wir leben?«

»Das ist mir gleich«, gab Ada unumwunden zu, »solange ich mit dir zusammenbleiben kann. Oh, Harriet, versprich mir, daß wir uns niemals trennen. Daß du immer für mich da sein wirst, so wie jetzt!«

Ich konnte nicht in dieses unschuldige Kindergesicht blicken und sie meinen Pessimismus spüren lassen, oder sie mit der ungewohnten Anstrengung des Denkens belasten.

»Natürlich bleibe ich bei dir«, sagte ich heiter. »Aber bald wirst du eine andere Art von Beschützer vorziehen, Ada. Jemand der jung ist und gut aussehend, mit einem Schnurrbart, wie ihn die jungen Männer tragen, die sich letzte Woche im Park nach dir umgedreht haben.«

Ich schickte sie fort, lachend, errötend und protestierend, aber nicht einmal ihre Liebe und Anhänglichkeit konnten meine dunklen Gedanken erhellen. Natürlich wird sie bald heiraten; sie ist so süß – und wird sehr reich sein! Die Freier werden sie belagern, und sie wird den ersten nehmen, der sie um ihre Hand bittet, schon allein, um ihn nicht unglücklich zu machen.

Ich kann mich noch nicht an meine Freiheit gewöhnen; immer noch erwarte ich, daß plötzlich die Tür aufgerissen wird, ohne vorheriges Anklopfen, und daß ihre barsche Stimme mich fragt, warum ich hier untätig im Dunkeln herumsitze. Ich brauche mein Tagebuch nicht länger zu verstecken! Sicher hat sie es gefunden, egal wo ich es versteckt hatte; ihr konnte kaum etwas entgehen. Ein- oder zweimal, nachdem ich die Begebenheiten eines besonders schlimmen Tages niedergeschrieben hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, daß ihre kleinen, funkelnden schwarzen Augen mich mit noch größerer Ironie betrachteten als sonst. Merkwürdigerweise verlor sie nie ein Wort darüber. Vielleicht hatte ich mir diese Blicke auch nur eingebildet …

Und doch fühle ich mich jetzt viel freier, denn diese durchdringenden schwarzen Augen sind für immer geschlossen. Mein Tagebuch kann mir nun eine noch größere Zuflucht sein, ich hätte vorher nie gewagt, ihm meine geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Ich liebe Ada und würde alles für sie tun, aber einige meiner Gedanken könnte ich niemals mit ihr teilen.

Kapitel 2

2. April

Diese schreckliche alte Frau! Diese verhaßte, heimtückische, böse Hexe!

Heute nachmittag war die Testamentseröffnung. Mr. Partridge junior war an seines Vaters Stelle, der einer von Großmutters besten Freunden und außerdem ihr Anwalt war, zu uns gekommen. Sein Vater hatte einen Schlaganfall erlitten, als er von Großmutters Tod hörte. Wir mußten deshalb mit Partridge junior vorlieb nehmen. Er war ein blöde lächelnder, spindeldürrer junger Mann, der in seiner langen, schwarzen Hose wie ein Laternenpfahl aussah.

Ich konnte aus dieses Juniors Benehmen schon ablesen, was er uns mitteilen würde. Mir nickte er nur kühl zu, aber seine Stirn berührte fast seine Knie, als er Ada begrüßte. Deshalb war ich keineswegs überrascht zu hören, daß Großmutter ihr gesamtes Vermögen Ada vermacht hatte. Nein, es war keine Überraschung für mich, und ich war auch nicht böse darüber. Was mich jedoch wütend machte – mir zittern noch immer die Hände –, war die eine Klausel des Testaments, die sich auf mich bezog. Jedes einzelne Wort ist mir noch im Gedächtnis, und ich werde keines jemals vergessen.

»Meiner Enkelin Harriet vermache ich mein Nähkästchen aus Ebenholz in der Hoffnung, daß sie dessen Inhalt mit Fleiß nutzen wird, wenn sie die Stellung im Leben erlangen will, die sie verdient. Ich vertraue sie meiner Enkelin Ada an, da ich weiß, daß besagte Ada ihre Kusine niemals in finanzielle Schwierigkeiten geraten ließe.«

Bei diesen Worten drückte Ada ganz fest meine Hand und versuchte, mir durch einen Schleier von Tränen zuzulächeln. Dieser letzte Satz gefiel mir gar nicht; natürlich würde ich von Ada alles bekommen, was ich brauchte, aber allein der Gedanke, von einem Menschen – auch von einem, den man liebt – abhängig zu sein, ist unerträglich. Aber Ada ist zu arglos, um die Spitze in dem ersten, weitaus niederträchtigeren Satz zu erkennen, und ich werde sie nicht darauf aufmerksam machen. Die Stellung im Leben, die ich verdiene! Sollte ich vielleicht Hutmacherin werden? Oder hatte sie gemeint, ich solle danach streben, das Dienstmädchen einer feinen Dame zu werden? Wie konnte sie es wagen – noch dazu vor diesem widerlich grinsenden jungen Kerl! Am liebsten würde ich das Nähkästchen an die Wand schmettern. Ich werde es natürlich nicht tun, dafür war ich zu viele Jahre unter Großmutters Fuchtel.

Kapitel 3

Am nächsten Tag

Gestern war ich so wütend, daß ich völlig vergaß, die wichtigste Frage in Bezug auf Großmutters Testament zu stellen. Mr. Partridge junior kam jedoch heute noch einmal vorbei, um uns darüber zu informieren.

»Am Tag vor der Beerdigung«, begann er vielsagend, »erhielten wir einen Brief von dem Sohn des Halbbruders Ihrer Großmutter. Dieser Herr, sein Name ist John Wolfson, hat freundlicherweise angeboten, Sie beide, meine Damen, bei sich aufzunehmen. Wir haben selbstverständlich Erkundigungen über ihn eingezogen und aus zuverlässigen Quellen erfahren, daß er ein angesehener und gutsituierter Mann ist. Außerdem ist er das einzige noch lebende männliche Mitglied der Familie, und so haben wir mit großer Erleichterung sein Angebot angenommen.«

»Aber«, rief Ada erschrocken, »ich kenne diesen Herrn nicht. Harriet, hast du jemals von ihm gehört?«

»Natürlich, meine Liebe, und du auch. Erinnerst du dich nicht an Großmutters berühmte langweilige Erzählungen über unsere Familiengeschichte? Mr. Wolfson muß der Sohn von Großmutters jüngerem Bruder sein. Du weißt doch, ihr Vater war zweimal verheiratet. Aber wir haben seit Jahren keinen Kontakt zu diesem Zweig der Familie gehabt –«

»Ein unglücklicher Umstand«, warf der Junior ein. »Mr. Wolfson erklärte uns, daß sein Vater und Ihre Großmutter seit einem Streit in ihrer Kindheit kein Wort mehr miteinander gewechselt haben. Aber sein Ruf ist über jeden Zweifel erhaben.«

»Ist er ein – guter Mensch?«

Ada sah den Junior aus ihren feuchten blauen Augen so flehentlich und rührend hilflos an, daß er versuchte, zu lächeln. Es gelang ihm nicht besonders gut.

»Meine liebe Miß Ada, wer würde nicht gut und freundlich sein zu einer so reizenden und …«

Der unverschämte Junge sah meinen Blick und besaß den Anstand, wenigstens zu erröten und sich zu räuspern. Was er uns sonst noch zu sagen hatte, brachte er in Eile vor. Wir sollten innerhalb einer Woche nach Yorkshire aufbrechen. Es scheint schrecklich weit weg zu sein. Aber da Mr. Wolfson in Yorkshire lebt und da er von nun an unser Herr und Gebieter ist …

Ich habe Angst. Angst vor der Zukunft und vor diesem Mr. Wolfson. Vielleicht sind meine bösen Vorahnungen nur dem Zwielicht dieses düsteren Raumes zuzuschreiben. Im Grunde meines Herzens bin ich ein abergläubisches, italienisches Bauernmädchen. Großmutter hat das immer behauptet. Und sie hatte immer recht.

Kapitel 4

14. April

Ich habe mein Tagebuch schwer vernachlässigt, aber seit über einer Woche habe ich keine ruhige Minute gehabt. Auch jetzt habe ich nicht viel Zeit; hinter mir schläft Ada in dem riesigen Bett, aber wenn sie aufwacht, muß ich mich um sie kümmern. Sie ist ganz hin und her gerissen zwischen Aufregung über unsere Reise und den vielen neuen Eindrücken und kindlichem Schrecken vor einer ungewissen Zukunft, die nun vor uns liegt.

Wir hatten London am Donnerstag verlassen, nach einem tränenreichen Abschied von unserer Köchin und den Dienstmädchen. Es regnete in Strömen, und Ada hatte an diesem ersten Tag unserer Reise fortwährend geweint. Sie war in sehr gedrückter Stimmung und nicht ansprechbar; so verbrachte ich den ganzen Tag damit, über Mr. lohn Wolfson nachzudenken.

Ich hatte Ada gesagt, daß ich über ihn Bescheid wußte, aber in Wirklichkeit war mir nur bekannt, daß er existierte. Nur vage konnte ich mich daran erinnern, daß es irgendeine Unstimmigkeit zwischen den beiden Zweigen der Familie von Großmutters Vater gegeben hatte. Das nahm mich allerdings nicht gegen Mr. Wolfson ein; jeder, der gegen Großmutter war, war mein Verbündeter.

Trotz der Hektik unserer letzten Tage in London hatte ich Zeit gefunden, Informationen über Mr. Wolfson zu sammeln, und meine Mühe wurde belohnt, als ich einen Reiseführer über Yorkshire fand. Offensichtlich ist Mr. Wolfson, wie auch schon der Junior behauptete, ein reicher und angesehener Mann, und sein Haus, Abbey Manor, ist eines der modernsten Herrenhäuser im North Riding. Dem Buch zufolge wurde das herrschaftliche Haus ganz in der Nähe der Ruinen einer Abtei erbaut, die von Heinrich VIII. zerstört worden war. Es wurde sogar aus der Abtei gebaut, deren Steine als Baumaterial dienten. Der Reiseführer zeigte eine Abbildung der Ruinen, sie sahen sehr malerisch aus, mit efeubewachsenen Steinblöcken und Mauerresten und steinernen Fensterbögen, die sich in stolzer Pracht gegen den Himmel erhoben.

Aber meine Fantasie läßt mich vom Thema abschweifen. Was für Ada und mich von Bedeutung war, ist ein Hinweis auf den Charakter unseres neuen Vormunds, den ich zufällig in einem Satz dieses nützlichen Büchleins entdeckte. Wir werden mehr Glück haben als die Touristen, denn wir werden die alte Abtei besichtigen dürfen. Es scheint, daß Mr. Wolfson keine Besucher auf seinem Grundbesitz duldet, der auch die Ruinen einschließt.

Der Autor des Büchleins war ziemlich aufgebracht gegen Mr. Wolfson, aber ich bin eher geneigt, mit seiner Unfreundlichkeit gegenüber diesen Amateur-Altertumsforschern zu sympathisieren. Wenn ich solche Ruinen besäße, würde ich sie auch ganz für mich allein behalten wollen.

Es scheint jedoch sicher, daß Mr. Wolfson ein recht unnachgiebiger Mann ist. Ich stelle ihn mir vor als einen verbitterten alten Herrn mit weißem Schnurrbart und weißem Haar. Doch ich weiß, das kann nicht stimmen; er müßte jünger sein, als mein Vater jetzt wäre. Bald werde ich es wissen, denn wir fahren heute morgen nach Abbey Manor. Mr. Wolfsons Wagen steht schon bereit, um uns abzuholen. Sein Haus liegt eine Tagesreise von York entfernt im Nordwesten.

Ich will ganz ehrlich sein, meine Bemühungen, Mr. Wolfson sympathisch zu finden, sind lediglich eine Ausflucht, eine Selbsttäuschung. Ich kann ihn jetzt schon nicht ausstehen, ohne ihn gesehen zu haben. Er ist unser Vormund – unser Gebieter. Das genügt, mich gegen ihn einzunehmen, oder gegen jeden anderen Mann.

Kapitel 5

Später

Das Datum sollte eigentlich der 15. April sein – es ist längst nach Mitternacht–, aber ich kann nicht schlafen, ohne die Eindrücke dieses ereignisreichen Tages niederzuschreiben. Ich will es gleich vorausschicken: Meine Befürchtungen waren unbegründet.

Ich sitze hier in einem geschmackvoll eingerichteten Zimmer, das mit allem modernen Komfort ausgestattet ist. Die schweren Samtvorhänge gewähren Schutz vor dem eisigen Nordwind, und ein Feuer prasselt in dem wunderschönen, in Marmor gefaßten Kamin. Das einladende Bett ist frisch bezogen, und auf dem Tisch, an dem ich schreibe, fand ich Feder und Tinte und sogar Schreibpapier vor. Und das alles gehört nun mir. Adas Zimmer, das ebenso elegant und komfortabel eingerichtet ist, liegt direkt neben meinem. Die Verbindungstür zwischen unseren Zimmern steht offen, für den Fall, daß Ada in dem fremden Haus nervös oder unruhig würde.

Wir hatten York sehr früh am Morgen verlassen. Je näher wir jedoch unserem Ziel kamen, desto stiller und nervöser wurden wir. Mich überkam ein seltsames Gefühl der Verzagtheit, beinahe Furcht. Ein solches Gefühl schien eigentlich völlig ungerechtfertigt. Die Kutsche war ein prächtiges Gefährt, die Polster waren aus blauem Samt, und Kissen, Decken und Fußwärmer standen uns zur Verfügung. Ein Paar herrlicher Grauschimmel war davorgespannt, und der Kutscher trug eine erstklassige, teure Livree. Unser neuer Vormund schien tatsächlich ein reicher Mann zu sein. Und doch schien es mir, daß die Wolken im Abendrot des Sonnenuntergangs auf einmal die vage, aber bedrohliche Gestalt eines riesigen Ungeheuers annahmen, in dessen ausgestreckte Klauen wir in halsbrecherischer Geschwindigkeit direkt hineinrasten.

In tiefer Dunkelheit erreichten wir das Haus, aber einige der Fenster waren erleuchtet, wir wurden erwartet. Die Kutsche hielt vor der Treppe zum Haupteingang. Der Kutscher öffnete die Tür und bot Ada seinen Arm. Als ich nach ihr ausstieg, wurden die Türen des Hauses geöffnet, und ein Mann trat in den Türrahmen. Ada ergriff meinen Arm; ich spürte, daß sie zitterte.

Der Mann kam nun auf uns zu, er trug eine Lampe, und ich erkannte, daß es sich um einen Diener handelte. Wir folgten ihm die Treppe hinauf in eine hell erleuchtete Halle. Die Wärme tat gut nach dem eiskalten Wind draußen. Nur flüchtig bemerkte ich die Samtvorhänge und die riesigen Spiegel, bevor der Diener unsere Mäntel nahm.

Seine Stimme und sein Gebaren ließen darauf schließen, daß er in London aufgewachsen war. Er war ein großer, schlanker Mann in mittlerem Alter, und er zeigte die steife Würde eines gutgeschulten Butlers. Seine teilnahmslose Miene änderte sich nicht, als er uns ansah, aber ich glaubte, eine winzige Veränderung in seiner Haltung zu bemerken, als er zuerst meinen einfachen, schwarzen Mantel in Empfang nahm und dann Großmutters prächtigen Zobelmantel, den Ada trug. Es war für uns beide selbstverständlich gewesen, daß sie ihn tragen sollte; sie liebte Pelze und sie hat beinahe die gleiche Größe wie Großmutter. Jetzt erst erkannte ich, mehr amüsiert als traurig, daß dieser Mantel ein Symbol war, und zwar ein sehr zutreffendes.

»Mein Name ist William, Miß«, sagte der Diener zu Ada. »Mr. Wolfson erwartet Sie in der Bibliothek. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Während wir den Korridor entlanggingen, legte Ada ihre Hand in meine, und ich nahm sie gern. Ich lasse mich nicht leicht einschüchtern, aber als ich diesem würdevollen Mann dort folgte, zu einer Begegnung mit einem unbekannten Mann, dem wir von nun an zu gehorchen hatten, fühlte ich mich genauso klein und hilflos wie Ada – es war ein ganz neues Gefühl für mich und nicht gerade angenehm. Mein Herz schlug schneller, als William eine Tür öffnete und uns mit einer Verbeugung in den Raum komplimentierte.

Hinter einem riesigen Eichenschreibtisch, auf dem Berge von Papier lagen, saß ein Mann. Sein Haar war nicht weiß; es war silbrig und schimmerte im Licht. Sein langer Schnurrbart und die Augenbrauen und Wimpern hatten den gleichen silbernen Ton. Er hatte außergewöhnliche Augen – sie waren von einem tiefen, klaren Blau, hell, aber seltsam kalt, wie gefrorenes Wasser. Auf den ersten Blick war es unmöglich, sein Alter zu bestimmen. Schultern und Arme waren die eines kräftigen jungen Mannes, und sein Gesicht zeigte keine Falten.

Dann lächelte er, und die eisblauen Augen verloren ihre Kälte. Sie faszinierten mich so sehr, daß ich kaum auf seine Lippen achtete, außer daß ich wahrnahm, daß sein Mund etwas Ungewöhnliches an sich hatte.

»Ada und Harriet«, sagte er und streckte seine Arme aus. Scheu gingen wir auf ihn zu, und jede ergriff eine seiner Hände. »Verzeiht mir, wenn ich nicht aufstehe«, fuhr er fort. »Aber wie ihr seht, geschieht dies nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil es mir meine unglückliche Lage nicht erlaubt.«

Er glitt seitwärts hinter dem Schreibtisch hervor, und jetzt erst verstand ich, was er gemeint hatte. Mr. Wolfson saß in einem Rollstuhl, seine Beine waren von einer Decke verhüllt.

»Setzt euch«, sagte er, unsere Hände loslassend, und deutete auf ein Plüschsofa. »Ihr seid sicher müde. Wie wäre es mit einem leichten Abendessen, und dann geht ihr gleich zu Bett. Vielleicht könnt ihr hier bei mir das Abendessen einnehmen; ich möchte euch gern kennenlernen und dafür sorgen, daß ihr euch hier wie zu Hause fühlt.«

Seine Worte waren sehr freundlich, und der Ton und die außergewöhnliche Wärme seiner Stimme rührten mich zutiefst.

Etwas später, als wir noch ein Glas Wein tranken, bemerkte ich, daß sich irgendetwas im Schatten hinter dem großen Schreibtisch bewegte.

Mr. Wolfson sah meinen entsetzten Blick. »Ich habe vergessen, euch zwei wichtige Mitglieder des Haushalts vorzustellen«, sagte er lächelnd. Er streckte seine Hand aus und schnippte mit den Fingern. Im gleichen Augenblick tauchte aus den Schatten die Kreatur auf, die er gerufen hatte.

Das Glas entfiel meiner kraftlosen Hand und zerschellte am Boden. Das Geschöpf war ein Hund – aber was für ein Hund! Sein Kopf reichte Mr. Wolfson bis zur Brust, als er sich gehorsam neben seinen Stuhl stellte. Er hatte ein graues, kurzes Fell; der lange, buschige Schwanz und die längliche Nase waren die eines Wolfes, und als er seinem Herrn die Hände leckte, sah ich seine kräftigen, weißen Zähne im Feuerschein aufblitzen.

»Aber mein liebes Kind!« Mr. Wolfson sah mich besorgt an. »Es tut mir leid, daß du dich so erschreckt hast. Du hast Angst vor Hunden?«

Ich konnte nur benommen den Kopf schütteln und tiefer in die Polster zurücksinken. Ein zweiter Hund war dem ersten gefolgt. Sein Fell war ein wenig dunkler, aber er war ebenso riesig wie der andere. Sie flankierten nun den Mann im Rollstuhl wie zwei Wappentiere.

Ada lehnte sich vor und hielt dem einen Hund ihre geballte Faust vor die Schnauze.

»Harriet hat Angst vor Hunden, seitdem sie als Kind gebissen wurde. Ich beschütze sie vor Hunden; sie beschützt mich vor allem anderen.«

»Tatsächlich?« Mr. Wolfson betrachtete uns nachdenklich. »Ihr seid mir zwei reizende Beschützerinnen. Meine liebe Ada, ich fürchte, Fenris wird nicht auf deine Annäherungsversuche reagieren. Sie und Loki sind völlig harmlos, aber sie sind keine wohlerzogenen Haustiere.«

»Sie sind wirklich großartig«, brachte ich mühsam hervor. »Wie still sie sitzen! Sie sehen aus wie Statuen. Was sollen sie denn sein, wenn nicht Haustiere?«

»Wächter.« Einen Moment lang wich die gute Laune aus Mr. Wolfsons Gesicht. Er verzog seine Lippen, und plötzlich konnte ich eine frappante Ähnlichkeit zwischen den Tieren und ihrem Herrn erkennen. Er hatte fantastische Zähne, kräftig und weiß wie – aber das ist idiotisch, deshalb werde ich es nicht schreiben. Ruhig fuhr er fort: »Wir leben in einer abgelegenen Gegend, meine Lieben, und ich bin ein armer, hilfloser Invalide. Loki und Fenris sind meine Beschützer, und sie sind ein sehr effektvoller Schutz.«

»Sie – ein hilfloser Invalide?« rief ich aus. Es geschah ganz ungewollt, und ich errötete. Aber es schien Mr. Wolfson zu gefallen. Er lachte und schickte die Hunde mit einer Handbewegung fort.

Was für ungewöhnliche Namen sie haben! Loki war, soviel ich weiß, ein alter, nordischer Gott, der nur Unheil anrichtete. Der Name Fenris ist mir unbekannt, aber er muß auch nordisch sein.

Kapitel 6

21. April

Wir haben unser neues Zuhause und seine Umgebung erkundet.

Gleich am nächsten Morgen nach unserer Ankunft fand Ada den Weg zu den Ställen. Sie liebt Pferde über alles. Ich bin morgens immer schrecklich faul und träge, deshalb folgte ich ihr erst später nach. Sie hatte sich bereits eine braune Stute ausgesucht. Ein Stallbursche half ihr gerade in den Sattel. Er war ein großer, schlanker, dunkelhaariger Junge.

»Harriet, warum kommst du so spät? Beeil dich!«

»Sag mal, Ada, hat Mr. Wolfson dir eigentlich erlaubt, seine Pferde zu reiten?«

»Verzeihen Sie, Miß, Mr. Wolfson hat angeordnet, daß die beiden jungen Damen ausreiten können, wann immer sie wollen. Pamela ist ganz sanft, und wir haben auch eine sanfte Stute für Sie.«

Ich sah den Jungen an. Er war noch jünger, als ich angenommen hatte, kaum älter als Ada. Seine hohen Backenknochen und der dunkle Teint schienen nicht ganz nach Yorkshire zu passen. Er hatte fremdes Blut in den Adern, genau wie ich, und dieser Gedanke war mir sehr angenehm.

»Wie heißt du?« fragte ich ihn.

»David, Miß.«

»Er ist der zweite Stallbursche«, erklärte Ada, »aber er hofft, der erste zu werden, wenn der alte Adam in den Ruhestand tritt.«

Ich wandte mich wieder an den Jungen. »David, ist es ungefährlich, in dieser Gegend zu reiten?«

»Mr. Wolfson hat gesagt, daß ich oder einer der anderen jungen Männer Sie stets begleiten soll. Die Pferde sind jedenfalls zuverlässig und folgsam. Allerdings bin ich sicher, daß Miß Ada nicht unbedingt ein sanftes Pferd reiten müßte.«

»Sie reitet wie ein Zentaur«, erwiderte ich lächelnd. »Ich bin es, die ein sanftes Pferd braucht.«

Ich bekam sie – eine brave, alte Stute, die auf den Namen Fanny hörte –, und wir machten zu dritt einen kleinen Erkundigungsritt.

Die Ruinen der Abtei sind ohne Zweifel das dominierende Kennzeichen der Landschaft. Sie liegen nur etwa ein bis zwei Meilen vom Herrenhaus entfernt, und als wir uns ihnen näherten, sah ich, daß sie viel ausgedehnter und viel besser erhalten waren, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Mauern der Kirche stehen noch, nur das Dach ist zerstört und eine Seite des Kreuzgangs ist noch relativ gut erhalten. Ganz weit hinten, auf der gleichen Seite, ist ein großer Trakt mit Räumen, die beinahe so aussehen, als seien sie bewohnbar. Jedenfalls ist das Dach unbeschädigt, und die Fenster sind noch in gutem Zustand. Was mochte dieser Trakt früher einmal beherbergt haben? Vielleicht die Schlafsäle der Mönche. Aber der hohe Turm, der daran anschließt, sieht eher aus, als gehöre er zu einem Schloß als zu einem Kloster.

Ich war ganz fasziniert von den Ruinen und wollte sofort hinüberreiten, um sie aus der Nähe zu erforschen. Aber David weigerte sich.

»Sie sind – zu gefährlich im Winter, Miß. Dort sind Gruben und Erdlöcher und eine Menge Geröll, und alles ist mit Schnee oder einer dünnen Eisschicht bedeckt. Sobald man wieder sehen kann, wo man hintritt, werde ich Sie dorthin führen.«

Er war unerwartet eigensinnig und energisch, dieser junge Mann. Ich hätte auf meinem Wunsch bestehen können, aber ich sah ein, daß er recht hatte. Die Ruinen werden also bis zum Sommer warten müssen.

Kapitel 7

27. April

Ich wünschte, Ada würde nicht auf diesen täglichen Ausritten bestehen. Es ist eisig kalt draußen, und außerdem langweilt es mich zu Tode. Es gibt nichts zu sehen als Schnee und kahle Bäume.

Wir sind die meiste Zeit mit David zusammen. Ich mag ihn eigentlich recht gern; trotz seiner Jugend und seiner niederen Stellung besitzt er eine gewisse Autorität, und wir fügen uns gern seinen Ratschlägen. Aber ich mache mir Sorgen um Ada. Sie hat ein offenes, liebevolles Herz, und David ist ein äußerst gut aussehender Junge. Sie haben ein gemeinsames Interesse an Pferden und haben immer ein Gesprächsthema. Während der Ausritte unterhalten sie sich prächtig, ich hingegen kauere in meinem Sattel und versuche, nicht gar so sehr zu frieren.

Ab und zu bittet uns Mr. Wolfson, das Abendessen mit ihm einzunehmen. Er ist ein sehr kluger und belesener Mann, es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Aber es ist fast immer ein Dialog, denn Ada beteiligt sich kaum an unseren Gesprächen. Sie hat einen gesunden Appetit und konzentriert sich ganz auf das Essen. Mr. Wolfson, dem ihre Schweigsamkeit nach einer Weile auffiel, fragte sie, wie es ihr hier gefiele und ob sie sich gut unterhalte. Ada bedankte sich sofort für seine Freundlichkeit, uns seine Pferde zur Verfügung zu stellen.

»Ich bewundere deine Ausdauer«, meinte er lächelnd. »Bist du tatsächlich in dieser Kälte ausgeritten?«

Ada nickte, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Apfeltörtchen abgelenkt, das ein Diener vor sie hingestellt hatte, deshalb antwortete ich für sie.

»Ada reitet alles, das vier Beine hat, sogar in einem Orkan. Sie ist bisher niemals abgeworfen worden, und kein Pferd ist jemals mit ihr durchgegangen.«

Mr. Wolfsons Gesicht verdüsterte sich.

»Trotzdem muß ich dich bitten, vorsichtig zu sein, Ada. Es kann gefährlich sein, wenn man zu vertrauensselig ist. Als ich Adam sagte, daß ihr die Pferde reiten könnt, hatte ich nicht damit gerechnet, daß ihr sofort und so ausgiebig davon Gebrauch macht.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen, so besorgt zu sein«, sagte Ada gelassen. »Aber Sie brauchen wirklich keine Angst um uns zu haben. David begleitet uns überall hin.«

»David? Ach ja, der Zigeuner junge. Er begleitet euch?«

»Auf Ihre Anordnung«, sagte ich. Dann sah ich seinen Gesichtsausdruck und fügte schnell hinzu: »Tat er es vielleicht nicht auf Ihre Anordnung?«

»Nein.« Er sagte es ganz ruhig, beinahe nachdenklich.

»Aber dann –«

»David ist ein hervorragender Dienstbote«, erklärte Mr. Wolfson mit gleichgültiger Miene; ich hörte jedoch eine leichte Betonung des letzten Wortes heraus. »Er hat meine Befehle absolut wörtlich genommen.«

»Ist er wirklich ein Zigeuner?« fragte Ada.

»Seine Mutter gehörte zu dem Zigeunervolk, das jeden Sommer auf dem Weideland im Osten kampiert. Sein Vater war der Sohn eines meiner Pächter, ein vermögender Mann. Du rümpfst dein hübsches, kleines Näschen, Ada. Findest du eine solche Verbindung unpassend und unmöglich? Das solltest du auch. Aber einige dieser Zigeunerweiber haben wohl einen gewissen Charme …«

Er sah mich an, das Lächeln auf seinen Lippen verschwand, und er setzte eine ernste Miene auf. Aber ich hatte das Gefühl, daß er mir zuzwinkerte, als er sich wieder Ada zuwandte.

»Je weniger du von solchen Dingen weißt, desto besser, kleine Ada. Also wollen wir nur sagen, daß die Mutter des Jungen ein besonders hübsches Mädchen war. David wurde jedoch von der Familie seines Vaters großgezogen. Er ist wie die anderen Jungen aus Yorkshire, und eines Tages wird er wohl ein Mädchen aus dem Dorf heiraten mit rosigen Wangen, und nach einigen Generationen ist dann der Zigeunereinschlag verschwunden. Irgendwie schade, denn er ist ein hübscher junger Bengel. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, daß ein Mädchen so denkt.«

Er hob sein Glas, wie um das Thema zu beenden, aber ich wußte, daß er Ada über den Rand hinweg genau beobachtete. Zu meiner großen Erleichterung ging sie auf die Andeutung nicht ein. Sie erzählte weiter, lobte David und die Pferde, und nach einer Weile schien Mr. Wolfson beruhigt.

Adas Herz ist also noch unberührt. Es war jedoch unklug von Mr. Wolfson, ihr diese romantische Geschichte zu erzählen. Es gibt junge Mädchen, denen so etwas sehr nahegeht.

Kapitel 8

4. Mai

Das Leben ist voller Überraschungen. Wir haben nicht nur einen neuen Vormund, sondern eine ganze Familie. Und bis heute habe ich nichts davon gewußt!

Seit letzter Nacht gießt es in Strömen, was sogar Ada von ihrem täglichen Ritt abhielt. Sie hielt ein Mittagsschläfchen, aber ich kann tagsüber nicht schlafen, also beschloß ich, das Haus zu erforschen. Ich stieg die Treppe hinter der Bibliothek hinauf und befand midi nun im südlichen Flügel des Hauses. Fast lautlos bewegte ich mich über die luxuriösen Teppiche. Als ich um eine Ecke bog, erblickte ich einen völlig fremden Mann, der auf einer Polsterbank am Fenster saß. Er las ein Buch und sah so aus, als gehöre er hierher.

Seine Anwesenheit erschreckte mich so, daß ich wie erstarrt stehen blieb und ihn ungläubig betrachtete, bis er von seinem Buch auf schaute. Er war keineswegs überrascht, mich zu sehen; er stand auf, lächelte freundlich und reichte mir die Hand.

»Du mußt Kusine Harriet sein. Nachträglich herzlich willkommen in Abbey Manor, Kusine. Ich bin Julian.«

Ich schüttelte seine Hand, war aber nicht klüger als zuvor.

»Verzeih mir bitte – ich sollte eigentlich wissen, wer du bist –«

Er lächelte wieder, und nun wußte ich, wer er war. Mr. Wolfsons Lächeln ist strahlend, während Julians so bezaubernd melancholisch ist, daß man ihn am liebsten streicheln möchte. Aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.

»Ich verstehe, mein Vater hat es noch nicht für nötig erachtet, meine Existenz anzuerkennen. Entschuldige bitte, Kusine. Glaubtest du, den Geist von Abbey Manor vor dir zu haben, oder hast du mich für einen unverschämten Eindringling gehalten?«

»Wofür solltest du dich entschuldigen? Es scheint mir eher, daß –«

Ich hatte kein Recht, seinen Vater, meinen Vormund, zu kritisieren. Verwirrt hielt ich inne. Mit einem Blick auf das Buch in seiner Hand änderte ich schnell das Thema. Während wir über Bücher diskutierten, betrachtete ich ihn genau. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war doch nicht so offensichtlich – zwar hatte er auch helles Haar und helle Augenbrauen und Wimpern, ein längliches, blasses Gesicht und blaue Augen. Aber Julians Augen sind von einem helleren Blau, und sein Haar ist beinahe strohblond. Er ist wie ein schwaches Abbild seines kraftvollen, männlichen Vaters. Aber seine sanfte Art ist sehr anziehend. Wir redeten stundenlang; erst als ich bemerkte, daß es draußen bereits dunkel wurde, dachte ich wieder an Ada und daß ich mich wieder um sie kümmern mußte. Julian und ich waren inzwischen schon so gute Freunde geworden, daß ich ihn nun doch geradeheraus fragte: »Warum hat dein Vater dich nie erwähnt? Es ist mir unbegreiflich. Er ist zwar ein sehr beschäftigter Mann, aber trotzdem –«

»Ich versichere dir, meine liebe Kusine, das ist keineswegs überraschend. Mein Vater ist von seinen beiden Söhnen enttäuscht, aber über mein träumerisches Wesen ärgert er sich am meisten. Er zieht es vor, so zu tun, als existiere ich überhaupt nicht.«

Mein Gesicht muß meine Gefühle widergespiegelt haben; Julian lächelte sein reizendes, melancholisches Lächeln und nahm meine Hand. »Meine liebe Harriet, sei deshalb nicht betrübt. Der Hohn meines Vaters berührt mich nicht. Er läßt mir meine Bücher, meinen Flügel und das Zeichnen. Was kann ich mehr verlangen? Und jetzt, da du hier bist, werden wir viele Stunden gemeinsam verbringen und uns zusammen an diesen schönen Dingen erfreuen.«

»Ja … Du sagtest, seine beiden Söhne?«

Julian lachte. Es klang sehr melodisch, aber fast so traurig wie sein Lächeln.

»Arme Harriet! Daß du es mit zwei solchen Vettern auf nehmen mußt! Ja, mein Bruder Francis ist eine noch robustere Ausgabe meines Vaters, so wie ich ein verblichenes Abbild bin. Er hat die Kraft und Vitalität, die mir fehlt, aber keinen Schliff und keinen Sinn für Feinheiten.«

»Wo hält er sich zur Zeit auf?«

»In Edinburgh, er studiert Medizin. Ich finde es gräßlich, wie kann er Tote nur anfassen, geschweige denn sezieren! Darin sind mein Vater und ich uns einig. Er wollte, daß sein ältester Sohn und Erbe ein Gentleman ist, aber irgend etwas in Francis zieht ihn zu allem Groben und Vulgären hin. Und wenn Francis sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ich versichere dir, dann ist es unmöglich, ihn davon abzubringen.«

»Ich habe Ärzte immer bewundert«, sagte ich. »Es ist für mich die schönste aller Berufungen – kranke Menschen zu heilen, Schmerzen zu lindern …«

»Wie schön du dich auszudrücken verstehst! Wenn ich mir vorstelle, daß Francis ebenso denkt … Aber wie kann ich die Motive meines Nachbarn beurteilen, geschweige denn die meines Bruders?«

Ich bin froh, daß Julian hier im Hause lebt und nicht sein Bruder. Francis scheint kein angenehmer Zeitgenosse zu sein. Ich hoffe, Julian in Zukunft öfter zu sehen. Er ist wirklich ein reizender junger Mann.

Kapitel 9

7. Mai

Heute machte Mr. Wolfson mir ein großes Kompliment. Er ließ mich nachmittags in die Bibliothek rufen, es war das erstemal seit dem Abend unserer Ankunft, daß ich sein Heiligtum betreten durfte. Als ich eintrat, fiel mir wieder einmal auf, wie normal er hinter dem Schreibtisch aussah. Ich meine natürlich normal im physischen Sinn; er ist nämlich viel interessanter und geistig reger als jeder andere in seinem Alter, den ich kennengelernt habe.

Er bat mich, Platz zu nehmen, und fragte mich ohne Umschweife: »Findest du das Leben hier langweilig, Harriet?«

»Aber warum … nein …«

»Doch, du findest es langweilig. Eine junge, intelligente Frau wie du! Ich sehe keinen Grund, warum eine Dame nicht ihren Verstand gebrauchen soll, den ihr Gott gegeben hat. Intelligenz, richtig angewandt, erhöht nur den Reiz einer Frau.«

Sein strahlendes Lächeln und der Blick seiner blauen Augen waren so zwingend, daß ich gar nicht anders konnte, als zustimmend zu nicken.

»Ich möchte dich um etwas bitten, Harriet. Du könntest mir einen Gefallen tun, wenn du willst. Ich schlage es vor, teils um dir eine Beschäftigung zu geben und teils, weil ich deine Hilfe brauche.«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich eifrig. »Sie waren so gut zu uns –«

»So wie ihr es verdient.« Er schlug die Augen nieder, und seine langen, schlanken Finger spielten abwesend mit einem Federhalter. »Eigentlich habe ich viel zu wenig für euch getan. Harriet, ich bin ein schlechter Vormund – ein Sünder, nüchtern betrachtet. Ich habe die Anwälte eurer Großmutter in einem Punkt belogen. Es gibt keine Frau hier im Hause, keine Anstandsdame. Du hast es sicherlich sofort bemerkt. Warum hast du dich nicht darüber beschwert?«

Ich wußte zuerst nicht, was ich darauf antworten sollte, doch dann sah ich, daß trotz seiner ernsten Miene tausend kleine Teufelchen in seinen Augen tanzten.

»Natürlich habe ich es bemerkt«, sagte ich ernsthaft. »Ich habe diese Angelegenheit bereits dem obersten Gerichtshof von England vorgetragen. Lieber John, trotz Ihrer großen Güte –«

»Ich hasse den Namen John«, unterbrach er mich. »Meine Freunde – wenn ich welche hatte – nannten mich Wolf.«

»Du meine Güte! Das gefällt mir aber gar nicht.«

»Nun, du kannst mich nennen, wie du willst, solange es freundlich und informell ist. Durch dich fühle ich mich wieder jung, Harriet. Wären meine Gefühle nicht die eines Vaters, müßten wir uns tatsächlich nach einer Anstandsdame umsehen.«

»Ich fühle mich eigentlich als Adas Anstandsdame«, sagte ich verwirrt.

»Das ist genau der Punkt, den ich mit dir besprechen wollte«, erwiderte er, zufrieden lächelnd. »Nachdem meine liebe Frau gestorben war, konnte ich kein weibliches Wesen mehr im Haus ertragen. William kümmert sich um alles, und natürlich haben wir einiges Hauspersonal. Doch manchmal habe ich das Gefühl, daß hier eine weibliche Hand fehlt. Meine Liebe, möchtest du die Pflichten übernehmen, die ich meiner Tochter, wenn mir das Glück eine beschert hätte, übertragen hätte? Den Haushalt zu überwachen und die Schlüssel des Hauses zu verwalten?«

»Es wäre eine große Ehre«, stammelte ich. »Aber ich habe keinerlei Erfahrung –«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß man viel Erfahrung braucht. Jede gut erzogene junge Dame weiß, wie man sich in dieser Situation verhält. William wird dein Mittelsmann sein; du brauchst dein hübsches Näschen nicht in die Küche zu stecken. Aber wenn William von dir seine Instruktionen entgegennimmt anstatt von mir, wäre mir eine kleine, aber unangenehme Last abgenommen.«

Ich konnte ihm seine Bitte natürlich nicht abschlagen, aber ich hatte noch Bedenken. Mr. Wolfson schien meine Gedanken zu erraten.

»Du wunderst dich vielleicht, daß ich mit dieser Bitte an dich herantrete und nicht an Ada. Sie ist ein liebes Kind, und ich habe sie sehr gern. Aber sie ist wie ein zarter Schmetterling, sie ist einfach nicht reif genug für eine solche Aufgabe.«

»Sie haben recht. Aber eines Tages muß sie lernen –«

»Nicht unbedingt.« Er sah mir direkt in die Augen, ernst und freundlich. »Mein liebes Mädchen, ich kenne das Testament eurer Großmutter. Es war wohl typisch für sie – nach dem, was ich von ihr gehört habe–, und ich fand es schändlich. Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Ada wird sich gut verheiraten – so gut, daß sie sich wahrscheinlich nie um die Haushaltsführung kümmern muß. Du wirst es, so hoffen wir, für sie tun, bis du einen Mann findest, der die Schönheit des Körpers und des Geistes mehr schätzt als eine Mitgift.«

So hatte noch nie ein Mann zu mir gesprochen. Ich fühlte, wie meine Wangen sich mit tiefer Röte überzogen. Vor seinem durchdringenden Blick schlug ich die Augen nieder. Ich war unfähig, ein Wort zu sagen, so schüttelte ich nur benommen den Kopf, ohne eigentlich zu wissen, was ich zu verneinen suchte. Mr. Wolfson sah es als Zweifel an.

»Es gibt solche Männer; die Welt besteht nicht nur aus Idioten. Aber die Kenner sind weitaus seltener als die Dummköpfe, deshalb wirst du wohl noch einige Zeit bei Ada bleiben, nachdem sie verheiratet ist. Dann wirst du doch ihren Haushalt gut führen und sie davor bewahren wollen, von ihren Dienstboten betrogen oder tyrannisiert zu werden.«

Ich mußte lachen und vergaß meine Verwirrung. Ich stellte mir Ada vor, wie sie von einer stämmigen Köchin oder einer grimmigen, alten Haushälterin eingeschüchtert wurde.

»Sie haben ganz recht; ich bin froh, daß ich mich auf diese Aufgabe vorbereiten kann.«

William wurde sofort gerufen und von unserem Plan in Kenntnis gesetzt. Er nahm es mit seiner üblichen, steifen Ruhe auf, aber ich glaube, er war darüber erfreut. Gleich morgen werde ich mit William meine hausfraulichen Pflichten gründlich durchsprechen.

Was hatte Mr. Wolfson mit ›Kenner‹ gemeint? Ein Kenner wovon? Ich bin ja so dumm. Ich warf einen Blick in den Spiegel und sah das gleiche braune Gesicht mit den schwarzen Augenbrauen. Er hatte nur versucht, mir etwas Nettes zu sagen.

Kapitel 10

9. Mai

Heute abend bin ich rechtschaffen müde, aber ich habe das angenehme Gefühl, etwas geleistet zu haben.

Ich inspizierte mit William das ganze Haus. Allein das Herumgehen machte schon müde, es ist ein so enorm großes Gebäude. Und ich habe gar nicht gewußt, wie viele Menschen hier arbeiten. Wie selbstsüchtig die Menschen doch sind; wir setzen ganz einfach allen Komfort und alle Annehmlichkeiten voraus, ohne zu fragen, wem wir sie zu verdanken haben.

Etwa ein Dutzend Dienstmädchen sind hier beschäftigt, dralle, rotwangige Mädchen, deren Yorkshire-Akzent wie eine fremde Sprache klingt. Dann gibt es eine Köchin, Waschfrauen, Lakaien, Reitknechte, zwei Kutscher, Hirten …

Glücklicherweise habe ich nur mit den Dienstboten zu tun, die unmittelbar im Haus arbeiten, und das sind wahrhaftig schon genug. Ich werde Wochen brauchen, um alle ihre Namen zu lernen.

Offen gesagt, ich finde das alles schrecklich langweilig und uninteressant. Aber ich bin fest entschlossen, meine Aufgabe so gut wie möglich zu meistern; es wäre unerträglich für midi, wenn Mr. Wolfson auf mich herabsähe, wie er auf Julian herabsieht …

Kapitel 11

10. Mai

Ich habe Julian und seinen Vater das erstemal zusammen gesehen, und zwar beim Abendessen. Julian hatte seit fast einer Woche sein Zimmer nicht verlassen; er habe eine leichte Erkältung, ließ er mir durch William ausrichten.

An diesem Abend klang uns Musik entgegen, als wir zum Salon hinuntergingen. Julian saß am Flügel, er lächelte uns zu, beendete jedoch zuerst sein Spiel, bevor er uns begrüßte.

Der Smoking steht ihm ausgezeichnet. Über dem strengen Schwarz und Weiß nimmt sich sein schmales, blasses Gesicht und das helle Haar wie ein zartes Aquarell aus. Er ist groß und schmächtig. Als er sich über Adas Hand beugte, konnte ich nicht umhin, zu bemerken, daß die beiden ein schönes Paar waren. Aber sein blasses Aussehen rührt sicherlich von seiner nicht allzu robusten Gesundheit her, während Ada, die so zerbrechlich aussieht wie eine Blume, ein kräftiges, gesundes Mädchen ist. Als William uns zum Essen bat, bewies Julian seinen Mut; mit zwei Damen konfrontiert, bot er jeder einen Arm, und wir betraten gemeinsam das Speisezimmer.

Mr. Wolfson hatte bereits seinen Platz eingenommen. Er begrüßte Ada und mich charmant wie immer, Julian hingegen etwas reservierter, aber sehr höflich. Wir hatten jedoch kaum mit dem Essen begonnen, als er seinen ersten Angriff startete.

»Dein Klavierspiel macht Fortschritte«, sagte er zu seinem Sohn. »Aber dem letzten Stück warst du nicht gewachsen. Du solltest erst gar nicht versuchen, Beethoven zu spielen.«

Er sagte es in freundlichem, sanftem Ton. Julian gab keine Antwort. Während des Essens fuhr Mr. Wolfson fort, Seitenhiebe gegen seinen Sohn zu verteilen. Er sprach Julian selten an, aber wenn er es tat, geschah es immer auf die gleiche Art: ruhig, freundlich und in höflichen Worten; aber jeder Satz enthielt einen Stachel, eine versteckte verächtliche Bemerkung. Beim Dessert erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Wir unterhielten uns gerade über Pferde – wie meistens, wenn Ada anwesend ist –, und Mr. Wolfson erwähnte, daß er eine neue Errungenschaft für seinen Reitstall habe.

»Es ist ein wundervoller Araberhengst, aber er ist wild und feurig. Ada, du mußt mir versprechen, ihn nicht zu reiten, bis er vollständig zugeritten ist. Harriet und Julian brauche ich ja nicht vor ihm zu warnen.«

Da war sie wieder – diese Anspielung auf Feigheit und Verweichlichung. Diesmal zitterten Julians Hände, so daß er kaum Messer und Gabel bedienen konnte. Ada jedoch rettete ganz unschuldig die Situation.

»Oh, ich habe ihn gesehen«, rief sie begeistert. »Er ist fantastisch, rabenschwarz, aber gefährlich ist er nicht. Gestern hat er mir ein Stück Zucker aus der Hand gefressen.«

»Und du hast noch alle deine Finger?« Mr. Wolfson schüttelte den Kopf. »Du hältst dich recht oft bei den Ställen auf, was übt dort eine solche Anziehungskraft auf dich aus?«

»Die Pferde, was sonst«, erwiderte Ada ohne Zögern und wich seinem Blick nicht aus. »Und jetzt haben wir den schwarzen Hengst. Er ist einfach zu schön … Ich darf ihn doch reiten, wenn er gezähmt ist?«

»Selbstverständlich, meine Liebe.« Mr. Wolfson schenkte ihr ein amüsiertes, anerkennendes Lächeln. »Du mußt mir jedoch versprechen, daß du niemals ohne Begleitung ausreitest – und die Reitknechte kommen dafür nicht in Frage. Warte auf Harriet, bis sie dich begleiten kann, oder – ja, das ist eine Idee – Julian kann ebenfalls reiten. Natürlich nicht besonders gut; er beherrscht wenige männliche Eigenschaften gut –«

Es überraschte mich nicht, daß Julian seinen Stuhl zurückstieß und aufsprang. Der Blick, den er seinem freundlich lächelnden Vater zuwarf, war nicht gerade der eines liebenden Sohnes.

»Setz dich«, sagte Mr. Wolfson kalt. »Die Tafel ist noch nicht aufgehoben. Du wirst mit deiner Kusine ausreiten, wann immer sie deine Gesellschaft wünscht, hast du verstanden?«

In halb geduckter Stellung blieb Julian einen Moment lang stehen und starrte seinen Vater unentwegt an. Dann sackte er in sich zusammen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Jawohl, Sir.«

Wir hätten vielleicht bleiben und versuchen sollen, die beiden miteinander zu versöhnen. Ada und ich sahen einander an, und wir erhoben uns gleichzeitig, um uns zurückzuziehen. Julian sprang sofort auf und öffnete uns die Tür zum Salon. Er sah mich nicht an, er war sehr blaß – ich fragte mich, ob vor Wut oder Angst. Julian hatte wirklich nicht übertrieben. Sein Vater verachtet ihn und gibt sich keine Mühe, es ihm nicht zu zeigen.

Kapitel 12

15. Mai

In den letzten Tagen war ich so mit dem Haushalt beschäftigt, daß ich Ada kaum allein zu Gesicht bekam. Heute traf ich sie zufällig im Salon an und fragte sie, was sie unternommen habe.

»Ich bin viel geritten.«

»Und wie gefällt dir unser Vetter?« fragte ich, denn ich wußte, daß sie mit Julian geritten war.

»Überhaupt nicht«, antwortete Ada sofort.

»Du meinst, als Reiter?«

»Ja, es ist schade. Er hat so gute Manieren, ich hatte erwartet, daß er exzellent reiten kann. Aber er ist so zappelig; er macht die Pferde nervös, und dann gehorchen sie natürlich nicht.«

»Nun«, sagte ich lächelnd, »wenn er nicht gut reiten kann, ist es wohl überflüssig zu fragen, wie er dir sonst gefällt.«

Ada ließ sich diese Frage einen Moment durch den Kopf gehen, während sie an einem Plätzchen knabberte.

»Er scheint recht nett zu sein«, meinte sie dann.

Ich ließ das Thema Julian fallen. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte; er ist der erste ›geeignete‹ junge Mann, den Ada hier kennengelernt hat, und ich hatte gedacht … aber ich hätte es eigentlich wissen sollen. Kein Mann kann Adas Interesse erwecken, wenn er kein Pferdenarr ist.

Kapitel 13

19. Mai

Es ist Frühling! Heute habe ich es das erstemal bewußt gespürt.

Nach dem Frühstück heute morgen zog ich meine Reitkleidung an, weil ich Ada wieder einmal begleiten wollte. Aber bevor ich mein Zimmer verlassen hatte, ließ mich unser Vormund zu sich rufen. Ich begab mich sofort in die Bibliothek, fand dort jedoch nicht Mr. Wolfson, sondern William vor.

»Mr. Wolfson bittet Sie, Miß, mit ihm auszufahren. Er erwartet Sie vor dem Haupteingang.«

Mr. Wolfson saß bereits in dem offenen Zweispänner. Auf den ersten Blick sah er aus wie irgendein Herr, der mit seinem Wagen ausfährt. Als ich jedoch auf den zweiten Sitz neben ihm kletterte, erkannte ich, daß dies der einzige Sitz in dem Wagen war. Mr. Wolfson saß wie immer in seinem Rollstuhl.

Er bemerkte meinen erstaunten Blick.

»Die Räder werden durch einen einfachen Mechanismus blockiert«, erklärte er. »Ich habe diesen Wagen speziell für mich konstruieren lassen. Ich hasse es, von Dienstboten angefaßt zu werden.«

»Wird der Rollstuhl auf den Wagen gehoben?«

»Nein.« Er winkte einen der livrierten Lakaien heran. Der Mann klappte an der Seite des Wagens, wo sich normalerweise die Stufen befanden, eine Rampe herunter.

»Wie genial!« rief ich aus. Es war wirklich bewundernswert, dieser Wille zur Unabhängigkeit. Daß ein Mann in seiner Lage alles tat, um so wenig wie möglich auf andere Menschen angewiesen zu sein. Inzwischen hatte der Lakai die Rampe wieder heraufgeklappt, Mr. Wolfson ergriff die Zügel, und wir fuhren los.

»Wohin fahren wir?« fragte ich ihn und machte es mir auf meinem Sitz bequem.

»Ich habe geschäftlich in Middleham zu tun. Das Dorf selbst ist ziemlich häßlich, aber du interessierst dich für Ruinen, und es gibt dort ein Schloß, das du dir vielleicht ansehen möchtest.«

»Es ist wundervoll, einmal auszufahren. Ich ziehe einen bequemen Wagen dem Reiten vor. Oh –«

»Was ist?«

»Ihre Wächter.« Nervös schaute ich zu meinen Füßen hinunter. »Haben Sie sie etwa vergessen?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, sagte er und warf mir von der Seite einen erstaunten Blick zu.

»Sie müssen mein ängstliches Verhalten am ersten Abend nicht so ernst nehmen. Seitdem habe ich die Hunde kaum gesehen. Es ist ja auch lächerlich, vor ihnen Angst zu haben, wenn man sieht, wie gehorsam sie sind.«

»Bist du sicher?«

»Absolut sicher.«

»Wenn das so ist –« Er wies mit seiner Peitsche hinter uns. Ich hatte angenommen, daß der Wagen mit irgendwelchen Dingen beladen war, die mit einer Plane verdeckt waren. Nun erkannte ich, daß es die Hunde waren, die sich darunter verborgen hielten. Es gelang mir, kein Zeichen des Erschreckens von mir zu geben. Gerade diese Unbeweglichkeit und Lautlosigkeit der Bestien erfüllte mich mit Furcht.

»Bravo«, sagte Mr. Wolfson anerkennend. »Du hast Mut, Harriet.«

Nach einer Weile erreichten wir die Spitze eines kleinen Hügels, und ich konnte einen lauten Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Die Feld- und Wiesenlandschaft, die wir durchfahren hatten, hörte hier mit einemmal auf. Vor uns erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine endlose, leere Ebene, die von niedrigem braunen Gestrüpp bedeckt war. Dieser kahle, karge Landstrich erinnerte mich an den blutgetränkten Boden eines uralten Schlachtfeldes.

»Das ist das Howland Moor«, erklärte Mr. Wolfson. »Hier darfst du dich auf keinen Fall verirren, Harriet, vor allen Dingen nicht bei Nacht.«

»Freiwillig würde ich nicht einmal in die Nähe dieses Ortes gehen. Er ist so schreckenerregend!«

Ich war erstaunt, daß schon kurze Zeit später die grauen Steinhäuser des Dorfes vor uns auftauchten. Mr. Wolfson fuhr die kleine Hauptstraße entlang und hielt vor einem Wirtshaus.

Der Besitzer stand bereits auf der Schwelle, noch bevor der Wagen zum Stillstand gekommen war. Gleich darauf erschienen zwei junge Männer, die die Rampe herunterklappten. Gespannt beobachtete ich, wie Mr. Wolfson einen Hebel betätigte, der die Räder seines Rollstuhls aus ihrer Bremsstellung löste, und dann langsam die Rampe hinunterrollte.