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Nach dem Tod ihres Mannes findet Halla eine Pistole in einer Garage mitten in Reykjavík. Sie bringt sie zur Polizei. Als der pensionierte Kommissar Konráð davon erfährt, erinnert er sich, dass sein Vater eine ebensolche Waffe besaß. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung findet zudem heraus, dass aus dieser Waffe der tödliche Schuss in einem anderen ungeklärten Fall stammt. Damals wurde ein Mann namens Garðar aus heiterem Himmel erschossen. Konráð nimmt nun privat Ermittlungen auf, weil er wissen will, was sein Vater mit den Verbrechen zu tun hat. Eine Spur führt zu Gústaf, einem Arzt, der wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis sitzt. Auch Konráðs Vater war damals mit diesem Arzt in Kontakt ...
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Seitenzahl: 394
Nach dem Tod ihres Mannes findet Halla eine Pistole in einer Garage mitten in Reykjavík. Sie bringt sie zur Polizei. Als der pensionierte Kommissar Konráð davon erfährt, erinnert er sich, dass sein Vater eine ebensolche Waffe besaß. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung findet zudem heraus, dass aus dieser Waffe der tödliche Schuss in einem anderen ungeklärten Fall stammt. Damals wurde ein Mann namens Garðar aus heiterem Himmel erschossen. Konráð nimmt nun privat Ermittlungen auf, weil er wissen will, was sein Vater mit den Verbrechen zu tun hat. Eine Spur führt zu Gústaf, einem Arzt, der wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis sitzt. Auch Konráðs Vater war damals mit diesem Arzt in Kontakt …
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.
Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.
1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
A R N A L D U R
INDRIÐASON
DAS DUNKLE VERSTECK
ISLAND KRIMI
Übersetzung aus dem Isländischen von Freyja Melsted
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Kyrrþey«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2022 by Arnaldur Indriðason
Published by arrangement with Forlagið, Reykjavík, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
Umschlagmotiv: © Only background/Shutterstock, Tsuguliev/Shutterstock, Rivaldi Souza/Shutterstock, Grunge Creator/Shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4764-6
luebbe.de
lesejury.de
Diese Geschichte ist fiktiv. Namen, Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
An Konráðs neuntem Geburtstag lernte er einmal mehr auf die harte Tour, besser keine dummen Fragen zu stellen. In seinem kurzen Leben hatte er schon viele Lektionen erteilt bekommen. Manches verstand er sofort. Anderes lernte er nach und nach mit der Erfahrung.
Der Geburtstag war kein freudiges Ereignis. Er hatte nichts Feierliches. Es war ein Tag wie jeder andere auch. Seppi hatte den Geburtstag seines Sohnes vergessen, so wie eigentlich immer. Diesmal fiel er auf einen Samstag, und Seppi war völlig verwirrt, als seine ehemalige Schwägerin, Konráðs Tante, an die Tür der Kellerwohnung klopfte und einen Schokokuchen überreichte, den sie zur Feier des Tages gebacken hatte, sowie ein Päckchen mit Grüßen von ihrer Schwester aus Ostisland. Sie schaffe es leider nicht, zum Geburtstag ihres Sohnes nach Reykjavík zu kommen. Die Tante hieß Addý und sah Seppi verächtlich an.
»Zur Feier des Tages«, sagte sie und zog an einer Camel. Addý war so dünn, dass man ihre Rippen zählen konnte.
»Welcher Tag?«, fragte Seppi.
»Na, Konráðs Tag!«, sagte sie. »Welcher Tag?! Heute ist sein Geburtstag! Weißt du das etwa nicht?!«
Seppi hatte die ganze Nacht mit seinen Kumpanen gesoffen und sah sie begriffsstutzig an.
»Was zur Hölle kümmert dich das?«, sagte er, völlig übernächtigt und etwas heiser.
»Wo ist der Junge?«
Seppi sah das Päckchen.
»Ist das von ihr?«
In dem Moment tauchte Konráð hinter seinem Vater auf.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Addý, »alles Gute zum Geburtstag! Schon neun Jahre alt! Was bist du nur für ein großer und gut aussehender Junge geworden.«
»Ach bitte, schleim dich doch nicht so bei ihm ein«, sagte Seppi.
Konráð schwieg. Er sah abwechselnd Seppi und Addý an und nahm dann das Paket entgegen, Addý sagte, es sei von seiner Mutter, sie lasse ihn herzlich grüßen, und es tue ihr sehr leid, dass sie es für seinen Geburtstag nicht nach Reykjavík geschafft habe, aber sie würden sich hoffentlich bald wiedersehen.
Konráð wollte etwas sagen, wusste aber nicht was, also schwieg er, bis Seppi genug von dem unerwünschten Besuch hatte und Konráðs Tante die Tür vor der Nase zuschlug. Dann stieß er seinen Sohn mit einem kräftigen Schubs zurück in die Wohnung, sodass dieser stolperte, und ließ sich aufs Sofa fallen, wo er sich leise über diese ständige Aufdringlichkeit beschwerte und kurz darauf einschlief.
Konráð stellte das Paket von seiner Mutter auf den Küchentisch und holte ein Messer, um die Bänder aufzuschneiden. Obenauf lag ein Brief, »Für Konráð zum neunten Geburtstag« stand darauf, adressiert mit großen, gut lesbaren Buchstaben. Glückwünsche von seiner Mutter aus dem Osten Islands, sie vermisse ihn, bestelle liebe Grüße von seiner Schwester Beta, sie würden sich beide darauf freuen, ihn bald wiederzusehen, auch wenn es vielleicht noch ein wenig dauere, und hoffentlich habe er es gut, der liebe Junge.
In der Schachtel lag ein schöner blauer Pullover, den seine Mutter gestrickt hatte und der ein wenig süßlich roch, was sich erklärte, als er den übrigen Inhalt des Pakets entdeckte. Unter dem Pulli lagen zwei Tafeln Schokolade, Anisbonbons und eine kleine Tüte mit Karamellen. Außerdem ein Taschenmesser mit Holzgriff und ein Buch mit dem Titel Die Abenteuerinsel.
Konráð war zu jung, um zu verstehen, dass das Paket auch von einem schlechten Gewissen begleitet wurde. Seine Mutter hatte Seppi damals bei ihrem Umzug angefleht, den Jungen mitnehmen zu dürfen. Sie fehlte ihm, und er hoffte auf ihre Rückkehr, aber darüber stand in dem Brief nichts. Er war wütend auf sie, versuchte aber auch, sie zu verstehen. Manchmal hatte er beobachtet, wie Seppi die Hand gegen sie erhoben hatte. Und immer wieder betonte sein Vater, dass sie den Jungen nicht bekommen würde. Niemals. Niemals!
»Will sie dich zu sich locken?«, fragte Seppi, als er wieder aufwachte und sich den Inhalt der Schachtel besah, während er mit einem Schnaps die Müdigkeit aus seinem Körper spülte. Er nahm ein Karamellbonbon und steckte es in den Mund. Dann aß er eine der Schokoladentafeln, wie ein Zollbeamter, der sich seinen Anteil nahm. Betrachtete den Pulli und nickte anerkennend. Nahm dann fünf Kronen aus seiner Tasche und reichte sie Konráð. Das war sein Geburtstagsgeschenk.
»Mit wem hast du heute Nacht gezockt?«, fragte Konráð und blickte von der Abenteuerinsel auf.
»Warst du wach?«
»War das jemand Wichtiges?«
Sein Vater antwortete nicht.
»Warum sagen alle Seppi zu dir?«, fragte Konráð, der seinen Vater nie so nannte.
So unschuldig die Frage, so heftig die Reaktion. Seppi schlug ihm die Nase blutig, und Konráð rutschte vom Küchenstuhl und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand.
»Frag nicht so dumm!«, sagte sein Vater.
Mit der Zeit lernte Konráð, keine dummen Fragen zu stellen, auch wenn die Neugier in ihm brodelte. In der Nacht hatte er durch die dünne Wand gehört, dass einer der Kumpel seines Vaters ihm befahl: »Hol das für mich, Seppi, schenk mir noch mal ein, Seppi« Er redete mit ihm wie mit einem Hund und bellte ihn einmal sogar an. Ein anderer fand das witzig und lachte. Seppi sagte nichts, sondern ließ es über sich ergehen, sehr zur Verwunderung seines Sohnes.
Daher die Frage. Aber es war nicht immer leicht mit Seppi in der Kellerwohnung, und seine heftige Reaktion war auch nichts Neues. Er hatte Konráð schon öfter einmal befohlen, keine dummen Fragen zu stellen, und wenn er es doch tat, wurden sie manchmal mit Ohrfeigen oder Schlimmerem geahndet. Seine Hand saß locker. Er reagierte unberechenbar, und Konráð musste jeden Tag aufs Neue herausfinden, was gerade dumm war. Alles schien von der Laune und momentanen Verfassung seines Vaters abzuhängen.
Irgendwann entschloss sich Konráð, besser zu schweigen, und zuckte nur noch mit den Schultern, wenn Seppi ihn fragte, warum er so still sei und nie rede.
Er machte es sich auf dem Gartenstuhl bequem, trank einen Schluck Eistee und spürte, dass es bald Zeit für seine Medikamente war. Sein Blick schweifte über die Landschaft, den leeren Pool, das dürre Gras. Die Trockenzeit war noch nicht vorbei, und die Menschen waren angehalten, Wasser zu sparen.
Hier hatte er sich schon immer wohlgefühlt und wusste keinen besseren Ort für sich. Die Sonne brannte vom Himmel, und die Tagestemperatur hatte ihren Höhepunkt erreicht, aber es war eine trockene Hitze und angenehmer als an Orten mit höherer Luftfeuchtigkeit. Er mochte seine Mitmenschen, die Nachbarn waren wundervoll, manchmal fragten sie ihn etwas über Island und erzählten, wie gerne sie einmal hinfahren würden, nachdem sie so viel über das Land, die frische Luft und die schöne Natur gehört hätten. Aber sie hätten natürlich auch gehört, wie teuer alles sei, sagten sie und lachten.
Manchmal kamen auch Isländer vorbei, in den letzten Jahren immer öfter. Wenn es in Island besonders kalt und dunkel war, wussten sie das Klima und die Golfplätze hier zu schätzen, und bewohnten Häuser, die sie entweder gekauft oder für ein paar Monate angemietet hatten. Ältere Menschen, die ins Warme fliehen wollten. Er hatte nicht viel mit ihnen zu tun. Suchte nicht ihre Nähe und nahm nie von sich aus Kontakt auf. Manche hörten von ihm und erfuhren, dass er schon lange dort lebte, sie fragten, ob er ihnen bei der Häusersuche helfen oder Restaurants empfehlen könne oder etwas in der Art.
Manchmal vermisste er Island und träumte von einer Reise dorthin, selbst wenn es nur für ein paar Tage wäre. Er vermisste den isländischen Frühling. Die langen, hellen Sommertage. Aber er wusste, dass es nicht dazu kommen würde. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate, und die wollte er in aller Ruhe genießen, zusammen mit Ray.
Dem wundervollen Ray.
Er stammte aus Arizona, und sie hatten in jungen Jahren bei derselben Airline gearbeitet und waren zusammengezogen, als die Schwulenbewegung noch in ihren Kinderschuhen steckte und man noch die misstrauischen Blicke der anderen erdulden musste. Doch dann änderten sich die Zeiten, der Gegenwind ließ nach, und sie hatten kaum noch mit Vorurteilen zu kämpfen. Es war den Leuten egal. Kein Grund, sich aufzuregen.
Er griff nach dem Eistee und dachte darüber nach, was er sich vorgenommen hatte, was er seiner Meinung nach schon lange hätte tun müssen. Es belastete ihn, dass er Ray nie die ganze Wahrheit gesagt hatte. Er fürchtete sich vor der Reaktion seines Liebsten, doch je näher die Prophezeiung der Ärzte rückte, desto stärker verspürte er den Drang, seinem Mann die ganze Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen. Der Vorfall hatte ihn jahrelang verfolgt wie ein Geist, und es verging kein Tag, an dem er nicht in der einen oder anderen Form darüber nachdachte. Über den Schmerz, den er verursacht hatte. Die Fehler, die er begangen hatte. Das Schweigen, für das er sich entschieden hatte.
All die Jahre, die er bereits mit Ray zusammenlebte, hatte er sich nicht getraut, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ihm fehlte einfach der Mut. Aber jetzt wollte er endlich alles loswerden. Bevor es zu spät war. Ray musste davon erfahren. Er würde ihm versprechen müssen, niemandem davon zu erzählen, solange die Krankheit ihren Lauf nahm. Danach könnte Ray selbst entscheiden, wie er damit umgehen wollte.
Diese Hitze!
Er hielt sich den Eistee an die Stirn und genoss die Abkühlung.
Er konnte sich wirklich nicht mehr vorstellen, noch länger zu schweigen.
Die Frau wartete auf dem Flur des Polizeipräsidiums in der Hverfisgata geduldig darauf, an die Reihe zu kommen. Am Nachmittag war sie allein mit dem Taxi hierhergefahren. Sie trug einen beigen Wintermantel und hielt eine große Handtasche auf dem Schoß, ein dicker Schal war um ihren Hals gewickelt, und auf ihrem Kopf saß eine Wollmütze, die sie irgendwann abnahm. Auch den Schal lockerte sie. Die Frau war Mitte siebzig, klein gewachsen, und beobachtete mit durchdringendem Blick das Geschehen um sie herum. Die unterschiedlichsten Anliegen führten Menschen ins Präsidium, und manche warteten wie sie darauf, aufgerufen zu werden. Die Frau sagte kein Wort, und niemand trat an sie heran. Sie hatte darum gebeten, mit einem Polizisten sprechen zu können. Egal mit wem. Sie musste warten, aber das schien ihr nichts auszumachen. Offenbar hatte sie nichts Besseres zu tun.
Ihre Kleidung entsprach dem Wetter. Kräftige Tiefdruckgebiete waren in den letzten Tagen über das Land gezogen und brachten jede Menge Kälte, Stürme und Niederschlag. Der Schnee türmte sich auf und versperrte die Straßen, und laut Wetterbericht sollte es vorerst auch so weitergehen.
Nach ihrer langen Mittagspause bemerkte Marta die Frau, und als sie sich knapp zwei Stunden später einen Kaffee holte, saß sie immer noch am selben Platz, wie ein Gegenstand, den jemand verloren hatte.
»Wer ist diese Frau?«, fragte sie am Empfang. »Sitzt sie schon den ganzen Tag da?«
Niemand wusste es. Anscheinend hatte man sie vergessen oder übersehen, und sie hatte auch nicht nachgehakt, sondern nur geduldig dagesessen und darauf gewartet, aufgerufen zu werden. Marta schimpfte auf dem Flur vor sich hin und ging zu der Frau, fragte, ob sie etwas für sie tun könne.
»Nein, nein«, sagte die Frau, »es ist nicht so wichtig. Bist du denn von der Polizei?« Offensichtlich wirkte Marta nicht wie eine Polizistin auf sie, in ihren abgetragenen weiten Sachen, mit dem ungeschminkten Gesicht und den zerzausten Haaren.
»Komm«, sagte Marta und brachte die Frau in ihr Büro, wo sie ihr einen Kaffee anbot, den sie dankend ablehnte. Am liebsten wollte sie es schnell hinter sich bringen.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte Marta und beobachtete, wie ein weiteres Sturmtief schwere, nasse Flocken auf dem Fenster ablud. Sie konnte kaum noch die Autoscheinwerfer auf der Snorrabraut sehen.
»Es ist wegen der Pistole.«
»Welche Pistole?«
»Die hier«, sagte die Frau und zog ein schmutziges Tuch aus ihrer Handtasche, wickelte es auf, und zum Vorschein kam eine alte Waffe, die sie Marta zeigte.
»Wo kommt die denn her?«, fragte Marta verwundert.
»Womöglich hat sie meinem Mann gehört«, sagte die Frau und reichte Marta die Pistole. »Er ist vor einem halben Jahr gestorben, Gott hab ihn selig, und ich wusste nicht, wohin ich damit sollte. Und dann hat meine Freundin Kamilla mir erzählt, dass man Waffen abgeben oder sie zumindest nach dem Tod des Eigentümers neu registrieren lassen muss, das hat ihr Mann irgendwo gelesen, und ich wusste nicht, wohin damit, also bin ich hergekommen.«
Die Frau seufzte. Es war viel Arbeit gewesen, den gemeinsamen Besitz durchzugehen, all das, was sich über die Jahre angesammelt hatte, vieles davon hatte sie weggeworfen. Vor dem Haus stand ein Container der Mülldeponie, und die meisten Sachen aus der Garage wanderten direkt dort hinein. Was mit all den Büchern passieren sollte, stand noch offen, genau wie mit den Stapeln von Schallplatten, die sie zusammen angeschafft hatten, vor allem Jazz und amerikanische Schlager, aber auch laute russische Symphonien, die ihr Mann gerne gehört hatte. In diesem Haus hatten sie ihr ganzes gemeinsames Leben verbracht, und jetzt war für sie die Zeit gekommen, in eine kleine Wohnung für Senioren zu ziehen, in ein Gebäude mit Aufzug und Hausmeister. Der Container füllte sich schnell mit Möbeln und Kleinkram, den sie entbehren konnte und für den sie keinen Platz mehr hatte. Sie wollte nur mitnehmen, was ihr kostbar und wirklich wichtig war.
Beim Anblick der Pistole war sie ganz schön erschrocken. Wusste nicht einmal, wo bei so einem Ding vorne und hinten war, und fragte sich, woher sie überhaupt stammte. Sie hatte die Pistole in der Garage ganz oben in einem Regal gefunden, wo außer ihrem Mann niemand etwas verloren hatte. Da lag sie, in dieses Tuch gewickelt, hinter einer Werkzeugkiste versteckt.
»Du wusstest also nicht, dass er eine Waffe besessen hat?«, fragte Marta, als die Frau fertig erzählt hatte.
»Ich hatte keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich wusste es nicht. Er hat ja auch nie etwas darüber gesagt. Wahrscheinlich hat sie ihm gehört, aber ich weiß nicht, woher sie stammt. Keine Ahnung.«
»Und jetzt willst du sie auf dich registrieren lassen?«, fragte Marta.
»Auf mich? Nein, ich kann mit so was nichts anfangen. Ich will, dass ihr sie nehmt«, sagte die Frau und reichte Marta die Pistole.
Auf den ersten Blick konnte Marta das Modell nicht identifizieren, aber es kam ihr doch irgendwie bekannt vor. Die Waffe war alt, mit schmalem Lauf und großem Schaft, der gut in der Hand lag. Die schwarze Pistole sah ausgebleicht und abgegriffen aus, sie war offenbar lange nicht benutzt worden. Ob sie geladen war, konnte sie nicht erkennen. Trotz jahrelanger Erfahrung bei der Kriminalpolizei kannte sich Marta nicht sonderlich gut mit Pistolen aus. Diese schien ihr einen eher schmalen Lauf zu haben. Sie wog sie in einer Hand. Das Ding erinnerte an die Waffen in alten Filmen.
»War er der registrierte Besitzer?«, fragte sie. »Hast du auch den dazugehörigen Waffenschein gefunden?«
»Nein, nichts dergleichen. Und er war kein Jäger, das ist mal sicher.«
»Das ist auch keine Jagdwaffe«, sagte Marta und besah sich die Pistole. Ihr Blick fiel auf die abgenutzte Herstellerbezeichnung. Luger. Sie wusste, dass es eine alte deutsche Marke war.
»Ich habe ihn im Wohnzimmer aufgefunden«, sagte die Frau. »War morgens nur kurz mit einer Freundin unterwegs, und als ich wiedergekommen bin, lag er auf dem Wohnzimmerboden, er hatte einen Herzinfarkt.«
Die Frau lächelte teilnahmslos.
»Alles war wie immer, außer dass er tot war. Er hatte einfach nur Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Vor allem die Traueranzeigen hat er sich immer ganz genau angesehen«, sagte sie.
Für einige Wochen lag die Waffe unberührt in Martas Schublade. Es gab genug zu tun, die Abteilung war chronisch unterbesetzt. Marta war erst seit Kurzem zurück von einem Alkoholentzug in der Klinik Vogur. Konráð hatte sie mehr als alle anderen dazu ermutigt, und irgendwann hatte sie nachgegeben. Jetzt war sie wieder im Dienst und gewöhnte sich nur langsam an die frühere Routine.
Marta spielte mit dem Gedanken, die Pistole heimlich selbst einzustecken, als eine Art Sammlerstück. So sah sie nämlich aus. Wie eine Requisite aus einem alten Film. Eines Tages, als die ständigen Unwetter nachgelassen hatten, steckte sie die Waffe, ohne lange zu überlegen, auf dem Weg zur Spurensicherung in Grafarholt in die Tasche und zeigte sie dort einem Mitarbeiter namens Óliver, der viel Erfahrung mit Schusswaffen hatte. Marta fragte sich, ob sie vielleicht wertvoll sein könnte, auch wenn sie das nicht offen zugegeben hätte. Óliver war beschäftigt und mit den Gedanken woanders, er versprach aber, sich die Pistole bei Gelegenheit genauer anzusehen. Marta solle sie einfach dalassen. Etwas widerwillig tat sie das schließlich.
Sie saßen im Auto, und Leó nickte ein. Gestern Abend sei er ausgegangen, meinte er, und habe danach noch in Þingholt bei jemandem zu Hause weitergefeiert. Beinahe wäre er gar nicht zur Arbeit gekommen. Wollte sich schon krankmelden, schleppte sich dann aber doch hin, kam spät, hing den ganzen Tag nur am Schreibtisch und trank einen Kaffee nach dem anderen. Konráð mochte solche Abende nicht. Saß nicht gerne nur im Auto rum. Und Leós Saufgeschichten war er auch leid.
Sie hatten sich bei der Polizei auf Anhieb gut verstanden, und die Zusammenarbeit war angenehm. Ihre Frauen freundeten sich ebenfalls an, und bald darauf trafen sie sich regelmäßig, auch an den Wochenenden, und machten Ausflüge und Campingtrips nach Húsafell oder Þórsmörk. Bei guter Laune war Leó witzig und einfallsreich, und seine Frau Dóra wusste mehr über das Land als die anderen drei zusammen, also organisierte sie die Ausflüge.
»Wo steckt er denn, der Mistkerl?«, fragte Leó, als er nach dem kurzen Schläfchen aufwachte und sich über den Mund wischte. »Er ist nirgendwo zu sehen. Lass uns fahren. Das war sicher nur dummes Geschwätz.«
Konráð warf einen Blick auf seine Uhr.
»Geben wir ihm noch fünf Minuten«, sagte er. »Dann fahren wir.«
»Kennst du das schon?«, fragte Leó und drehte das Radio lauter, während er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
»Nein«, sagte Konráð und hörte genauer hin. »Das ist doch diese Discomusik?«
»Boney M.«, sagte Leó und nickte.
Konráð schüttelte den Kopf. Von der Band hatte er noch nie zuvor gehört.
»Wie Abba, nur besser«, sagte Leó.
Dazu hatte Konráð keine Meinung. Ihm waren die heimischen Schlager lieber, auch wenn das meist einfach ausländische Lieder mit isländischen Texten waren.
»Dich interessiert doch sicher, was passiert ist«, sagte Leó nach kurzem Schweigen. »Das willst du doch bestimmt wissen.«
Bevor Leó eingenickt war, hatte er eines seiner Lieblingsthemen aufgebracht, nämlich das Schicksal von Konráðs Vater, das zu seiner Zeit vor dem Schlachthaus auf der Skúlagata besiegelt worden war.
»Wahrscheinlich hat er es provoziert«, sagte Konráð.
»Willst du damit sagen, er hatte es nicht anders verdient?«
»Nein. So etwas hat niemand verdient.«
»Wie lange ist das jetzt her, fünfzehn Jahre?«
»Um den Dreh.«
»Wenn das mein Vater wäre, könnte ich die Sache nicht so einfach vergessen«, sagte Leó. »Der Mann wurde erstochen. Ermordet. Das ließe mir keine Ruhe. Vor allem, wenn ich danach sogar selbst bei der Polizei lande.«
»Ja«, sagte Konráð. »Ich rede nicht gerne darüber.«
»Er war natürlich eine zwielichtige Erscheinung«, sagte Leó und ignorierte Konráðs Worte. »Gewalttätig. Ein Kleinkrimineller. Aber trotzdem …«
»Ja, ich …«
»Es sei denn, er war ein schrecklicher Vater«, fuhr Leó fort. »Ich weiß auch nicht … dann sieht man das vielleicht anders.«
»Warst du gestern Abend weg?«, fragte Konráð.
»Uff, viel zu lange«, stöhnte Leó. »Ich habe höchstens drei Stunden geschlafen.«
»Die anderen reden schon darüber«, sagte Konráð. Er wollte das Thema wechseln und das Gespräch auf Leó selbst lenken. Es nervte ihn immer, wenn er anfing, über Seppi zu reden.
»Ist das so?«, fragte Leó.
»Ja, schon. Aber du solltest Bescheid wissen. Heute zum Beispiel. Es ist Montag, und als du irgendwann endlich aufgekreuzt bist, warst du eigentlich immer noch betrunken.«
»Sie reden darüber …«, schnaubte Leó. »Bei mir ist alles in Ordnung. Das kannst du ihnen sagen. Wer redet denn über mich?«
Sie zuckten beide zusammen, als jemand auf Konráðs Seite gegen die Scheibe hämmerte. Ein Mann mittleren Alters in dicker Jacke stand vor ihnen und bückte sich, um ins Auto sehen zu können.
»Bist du Konráð?«, fragte der Mann, als Konráð das Fenster hinuntergekurbelt hatte. »Du warst es doch, mit dem ich telefoniert habe?«
»Setz dich rein«, sagte Konráð, und der Mann warf einen Blick auf Leó, misstrauisch und wachsam.
»Ist das dein Kollege?«, fragte er.
»Ja, das ist Leó, steig ein«, wiederholte Konráð, und nach kurzem Zögern nahm der Mann hinter Konráð auf der Rückbank Platz. Er stank nach Rauch, als hätte er eben erst eine billige Zigarre ausgedrückt. Vielleicht hatte er sie bereits aus der Ferne beobachtet, unsicher, ob er den Schritt wagen sollte. Leó drehte sich im Sitz, um ihn im Blick zu haben. Konráð konnte ihn im Rückspiegel sehen.
Die Polizei hatte einen Hinweis auf illegalen Handel mit Alkohol und Tabak in einem beliebten Tanzlokal der Stadt bekommen. Es schien keine große Sache zu sein, aber Konráð wollte dem Fall dennoch nachgehen. Ein Angestellter des Ladens, der nicht namentlich genannt werden wollte, hatte ihnen den Tipp gegeben, und daraufhin hatte man den Kontakt zu Konráð hergestellt, der den Mann nach anfänglichem Zögern zu einem Treffen überreden konnte. Zeitpunkt, Ort und Vorgehen bestimmte der Mann. Daher diese Wartezeit im Auto abseits der Hauptverkehrswege, nicht weit von Blesugróf. Konráð hatte ihm Verschwiegenheit zugesagt, worauf der Mann viel Wert legte. Schon am Telefon war zu spüren, dass er es damit wirklich ernst meinte. Er wirkte sogar etwas verängstigt.
»Ich will mich nicht aufspielen«, sagte der Mann, als er eingestiegen war und über den Rückspiegel Augenkontakt mit Konráð aufgenommen hatte. »Das will ich klarstellen. Ihr solltet nur Bescheid wissen und euch darum kümmern. Aber ich will nirgendwo genannt werden.«
»Wovor hast du Angst?«, fragte Leó.
»In Ordnung«, sagte Konráð und richtete den Rückspiegel aus, um den Mann besser sehen zu können. »Erklär uns, worum es bei der Sache geht, damit wir es besser verstehen. Und es wäre gut, wenn du uns deinen Namen sagen würdest.«
Der Mann sah Leó misstrauisch an und behauptete, er habe vor niemandem Angst, aber da würden höchst gesetzeswidrige Dinge vor sich gehen. Das Lokal sei beliebt und an den Wochenenden immer proppenvoll, da wandere jede Menge Alkohol und Tabak über die Theke, der aber nirgendwo in der Buchhaltung auftauche. Die Schmuggelware von der Militärbasis und von Hochseeschiffen werde anders erfasst, und der Gewinn wandere direkt in die Tasche des Besitzers. Regelmäßig würden Alkohollieferungen von der US-Militärbasis in Keflavík kommen, auch von Seemännern, manchmal einzelne Pullen, manchmal ganze Kanister, die dann in die offiziellen Flaschen des staatlichen Alkoholladens umgefüllt wurden. Der Mann meinte, er habe schon in vielen Bars und Tanzlokalen im ganzen Land gearbeitet, und da sei ihm immer wieder mal Schmuggelware und Spiritus untergekommen, aber nie in dem Ausmaß und so organisiert wie hier.
»Hast du das irgendwo schriftlich?«, fragte Konráð, als der Mann ausgeredet hatte.
»Nein, das habe ich nicht«, antwortete er. »Ich weiß das halt. Ich habe die Ware selbst entgegengenommen, umgefüllt und verkauft. Und für ausgewählte Kunden gab es auch Zigarettenschachteln. Aber jetzt habe ich die Schnauze voll und wollte euch informieren.«
»Arbeitest du nicht mehr dort?«, fragte Konráð.
Der Mann zögerte.
»Nein, nicht mehr.«
»Warum? Ist das der Grund?«
»Das kann man so sagen, ja«, sagte der Mann, der anonym bleiben wollte, und warf Konráð im Rückspiegel einen eindringlichen Blick zu.
Dann wirkte er plötzlich wie aufgeschreckt und öffnete die Tür. Leó sagte, sie müssten noch ausführlicher mit ihm sprechen, aber keine Chance. Der Mann meinte nur, er habe nicht mehr zu sagen, und stieg aus. »Wo willst du hin, komm gefälligst zurück!«, rief Leó, aber der Mann hörte nicht auf ihn, knallte die Tür zu, und ehe sie sichs versahen, war er in der Dunkelheit verschwunden.
»Komischer Kerl«, sagte Leó, der immer noch in halber Drehung auf dem Beifahrersitz saß.
»Müssen wir dem nicht nachgehen?«, fragte Konráð.
»Doch, vermutlich schon«, antwortete Leó gleichgültig.
Leó war allein unterwegs, als er zwei Tage später das Tanzlokal aufsuchte. Erna, Konráðs Frau, lag auf der Entbindungsstation und erwartete jeden Augenblick ihr Kind, Konráð hatte sich freigenommen, um die Geburt nicht zu verpassen. Das war ungewöhnlich, denn meist nahmen sich werdende Väter dafür nicht extra Urlaub. Es galt sogar als etwas jämmerlich, sich deshalb zu stressen. Konráð und Erna hatten sich bereits für einen Namen entschieden. Ein Junge sollte Húgó heißen, einfach so. Und ein Mädchen würden sie Sigurrós nennen, nach Ernas verstorbener Mutter.
Also fuhr Leó allein zum Lokal, um mit dem Eigentümer zu sprechen. Konráð hatte vorgeschlagen, den Laden zu überwachen, Informationen über vermeintlichen Schmuggel zu sammeln und dann, wenn nötig, eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Aber Leó wollte die Sache etwas anders angehen.
Der Besitzer wunderte sich über den Besuch des Polizisten, war aber ausgesprochen höflich, reichte ihm die Hand und bat ihn, sich an einen der Tische zu setzen. Auf der Tanzfläche vor ihnen standen zwei Männer auf einer Leiter und versuchten, eine große Discokugel an der Decke anzubringen – die waren momentan der letzte Schrei.
Leó redete nicht lange um den heißen Brei herum und erklärte, dass die Polizei Wind von allerlei Gesetzeswidrigkeiten bekommen habe. Der Besitzer war ein beleibter Mann Mitte fünfzig und hatte jede Menge Erfahrung im Betreiben von Bars und Tanzlokalen. Er war schwerfällig und hatte einen auffallend großen Mund. Auf dem Tisch lag eine Streichholzschachtel, und mit seinen dicken Fingern zog er ein Zündholz nach dem anderen heraus, versuchte es zu zerbrechen und steckte es wieder in die Schachtel, wenn es nicht sofort gelang. Als er endlich eines fand, das passend zerbrach, benutzte er es als Zahnstocher.
»Komisch«, sagte der Eigentümer des Lokals und sah Leó an.
»Was?«
»Ich hätte eher mit einer Razzia gerechnet, wenn ihr die Hinweise tatsächlich ernst nehmen würdet.«
»So weit sind wir bisher nicht«, sagte Leó. » Noch nicht.«
Der Mann sah Leó eine Weile an, bevor er ein weiteres Streichholz aus der Schachtel zog.
»Hat Paddi mit dir gesprochen?«, fragte er und brach es entzwei.
»Paddi?«, fragte Leó.
»Das würde zu ihm passen. Ich musste ihn rausschmeißen. Er konnte die Finger nicht von den Mädels lassen. Die haben sich beschwert und mit Kündigungen gedroht. Eine ist zu mir gekommen und meinte, er hätte sie in der Vorratskammer vergewaltigt. So etwas kann ich einfach nicht dulden, und das habe ich ihm auch erklärt. Da hat er sich aufgeregt. Er würde es mir noch zeigen, hat er gesagt. Ich dachte, er legt vielleicht ein Feuer. Aber dann war es wohl das.«
»Du streitest es also nicht ab?«, sagte Leó.
»In seinen Aussagen steckt nicht ein Funken Wahrheit«, sagte der Lokalbetreiber. »Das ist nur seine Rache an uns.«
»In Ordnung«, sagte Leó ruhig. »Dann sehen wir uns das genauer an. Machen eine Hausdurchsuchung. Holen das Finanzamt mit ins Boot. Überprüfen die Buchhaltung. Vernehmungen. Untersuchungshaft.«
Der Mann sah ihn an, hielt das Streichholz hoch und entschied sich für eine Hälfte, um damit in den Zähnen zu stochern. Der Bruch war spitz, und er stellte sich etwas unbeholfen an, sodass die Stelle zu bluten begann und eine rote Spur auf seinen Zähnen hinterließ.
»Ist das eine Drohung?«, fragte er.
»Keineswegs«, sagte Leó. »Aber wir haben diese Hinweise bekommen und müssen darauf reagieren.«
»Trotzdem bist du erst hergekommen, um mich zu treffen.«
»Ich bin halt auch ein netter Kerl«, sagte Leó und lächelte.
»Was willst du? Ganz konkret? Alkohol? Tabak? Geh rein und bedien dich.«
»Was denkst du, wer ich bin? Irgendein Waschlappen?«, sagte Leó.
»Was willst du?«
»Einen Anteil«, sagte Leó.
Der Mann war sichtlich verwundert.
»Einfach so?«
Leó nickte.
»Da lässt sich vielleicht eine Lösung finden«, sagte der Lokaleigentümer nach kurzer Überlegung und fuhr sich mit der Zunge über die großen schiefen Zähne.
»Gut«, sagte Leó.
»Wenn du mir sagst, ob er es war.«
Die Robbe machte es sich auf dem Stein bequem. Konráð hatte sie den ganzen Sommer lang nicht gesehen, aber jetzt, als der Winter eingekehrt und das Wetter wieder wechselhaft war, hatte sie plötzlich den Kopf aus der Bucht gesteckt, sich in aller Ruhe umgeblickt und dann auf den Stein gehievt. Dort wärmte sie sich in der Wintersonne und ließ sich nicht von dem kalten Nordwind beirren. Auf dem schwarzen Strand setzten ein paar Möwen zum Flug an und schwebten über die weiß gekleidete Landschaft.
Konráð saß ganz oben auf der Kiesbank und beobachtete eine Weile die Robbe, bevor sein Blick gen Norden Richtung Grótta schweifte, wo sich ein paar dick eingepackte Touristen vorsichtig über die großen Steine zum Leuchtturm auf der Landenge vortasteten. Als Konráð die Robbe noch einmal genauer betrachten wollte, war sie bereits lautlos in der Tiefe verschwunden. Da saß er also und erinnerte sich an seinen letzten Besuch an diesem Ort. Das war im Spätherbst gewesen, und er hatte eine Schar Ringelgänse gesehen, die über ihn hinweg nach Osten geflogen waren, so tief, dass er die Flügelschläge gehört hatte.
Je öfter er herkam, desto mehr lernte er die Natur an diesem Ort schätzen, egal ob im Sommer oder im tiefsten Winter. Auch mit Erna war er kurz vor ihrem Tod hierhergekommen, und den letzten Morgen ihres Lebens hatte sie in seinen Armen dort auf der Sandbank im Licht einer schönen Mondfinsternis verbracht.
Konráð stand auf und blickte sich nach der Robbe um, aber sie tauchte nirgendwo zum Atmen auf, also ging er zurück zum Parkplatz. Im Auto machte er die Heizung an und wartete, bis die Wärme sich im Innenraum ausbreitete. Ihm war draußen kalt geworden. Der Frost nagte trotz der dicken Winterjacke und Mütze an ihm. Nach den Unwettern der vergangenen Wochen war eine Kältewelle prophezeit worden, und die Vorhersagen schienen zu stimmen.
Er fuhr gerade los, als sein Handy klingelte und er am Straßenrand wieder anhielt. Es war Marta.
»Was treibst du so?«, fragte sie.
»Robben beobachten«, sagte Konráð.
»Robben beobachten?! Um Himmels willen, ich hab schon richtig Angst vor der Rente. Was ist das für ein Lärm bei dir?«
»Die Heizung im Jeep«, sagte Konráð und drehte sie runter. »Rufst du aus einem bestimmten Grund an?«
»Hast du in letzter Zeit mal mit Óliver gesprochen?«
Konráð verneinte, Óliver und er trafen sich ab und zu auf einen Kaffee oder gingen essen, hatten aber schon länger keinen Kontakt mehr gehabt. Konráð hatte ihn auf Anhieb gemocht, und sie waren seit vielen Jahren gut befreundet. Seine Wurzeln lagen in Spanien, und dort verbrachte er gerne kalte Winter wie diesen. Er hatte Konráð angeboten, sein Ferienhaus jederzeit nutzen zu können, aber daran war Konráð nicht sonderlich interessiert.
»Also hat er dir nicht von der Pistole erzählt?«
»Welcher Pistole?«
»Der Luger?«
»Nein.«
»Wir haben sie gefunden. Die Mordwaffe von 1955. Weißt du noch? Ein Mann wurde aus kurzer Entfernung im Múlahverfi erschossen.«
»Die Pistole ist aufgetaucht?«
»Ja.«
»War das eine Luger?«
»Óliver ist draufgekommen«, sagte Marta. »Gar nicht so dumm, diese Spanier. Die Spurensicherung hatte noch die Patrone, die damals in der Baracke gefunden wurde, und Óliver hat allerlei Sachen im Mikroskop überprüft und herausgefunden, dass die Patrone genau aus dieser Waffe stammt und aus keiner anderen. Irgendwelche Kratzer, die aufeinanderpassen. Ich schalte immer ab, wenn er bei diesen Dingen zu sehr ins Detail geht.«
Er hörte Marta an einer E-Zigarette ziehen, bevor sie ihm von der Frau erzählte, die an einem stürmischen Tag mit der in ein dreckiges Tuch gewickelten Waffe, die sie nach dem Tod ihres Mannes gefunden hatte, ins Präsidium an der Hverfisgata gekommen war. Sie wollte der Frau nachher einen Besuch abstatten und sie genauer zu dem Fund und ihrem Mann befragen.
»Macht ihn das nicht verdächtig? Den Mann?«
»Und wie«, sagte Marta und stieß Nikotindampf aus. »Aber er ist natürlich tot, also …«
»Wie alt war er denn damals, 1955?«
»Alt genug, um eine Waffe zu benutzen. Aber ich rufe eigentlich an, weil …, weil ich Olga vom Archiv getroffen habe. Ich war wegen der Akte da, und sie hat mir erzählt, dass du dich früher mal für den Fall interessiert hast. Ich wollte dich fragen, warum? Dieser Mord ist lange vor deiner Zeit bei der Polizei passiert.«
»Das weiß ich gerade auch nicht mehr«, sagte Konráð. »Hat Olga dazu was gesagt?«
»Sie meinte sich zu erinnern, dass du irgendwie neugierig warst. Also dachte ich, ich frage dich mal, was du damals herausfinden wolltest. Jaja, ich komme schon«, rief Marta genervt, jemand schien sie zu hetzen. »Ich muss los. Ruf an, wenn du dich an etwas erinnerst«, sagte sie und legte auf.
Konráð saß still im Auto. Langsam wurde es warm, und er drehte die Heizung noch weiter runter. Der Jeep war schon alt und mitgenommen und knarrte an vielen Stellen. Nach kurzer Überlegung beschloss Konráð, nicht länger zu warten. Er rief Óliver an und kam direkt zur Sache.
»Marta hat mir von der Pistole erzählt. Der Luger.«
»Ja?«
»Weißt du noch mehr darüber?«
»Du, ich bin gerade in der Bank«, sagte Óliver, und sein Westfjord-Akzent war zu vernehmen. Als kleiner Junge hatte er eine Weile in Ísafjörður gelebt. »Ich ruf dich gleich zurück.«
Fünf Minuten später meldete er sich und ließ durchklingen, wie stolz er war, die Pistole mit einem alten Mordfall in Verbindung gebracht zu haben. Er erzählte, sie sei jahrzehntelang nicht benutzt worden und in keinem guten Zustand, aber es handle sich definitiv um die Waffe von 1955. Er habe ein paar Probeschüsse für die Untersuchung abgegeben, und sie funktioniere einwandfrei.
Auf Konráðs Frage, woher die Pistole stammen könnte, antwortete Óliver, dass dieser spezielle Typ aus dem Krieg sei und viele deutsche Soldaten solche Luger-Pistolen gehabt hätten. Aller Wahrscheinlichkeit nach sei die Pistole im oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Soldaten auf dem Heimweg von Europa nach Island gekommen. Nicht selten hätten sich die Soldaten der Alliierten die Luger der Nazis genommen und sie als eine Art Andenken behalten. Wie eine Trophäe.
Auf Ólivers Erzählung folgte ein langes Schweigen.
»Konráð?«, fragte er. »Bist du noch dran?«
»Also kann es sein, dass ein amerikanischer oder britischer Soldat sie damals ins Land gebracht hat?«, fragte Konráð.
»Nicht auszuschließen.«
»Könnte sie vom Flughafen stammen? Von der Militärbasis?«
»Natürlich. Aber das ist nur eine Vermutung«, sagte Óliver. »Sie kann auch von woanders gekommen sein.«
»Also könnte es ein Soldat gewesen sein, der den Mann im Múlahverfi erschossen hat?«
»Interessiert dich der Fall irgendwie besonders? Hast du ihn dir mal angesehen?«
»Ich versuche nur, mich warm zu halten«, sagte Konráð. »Das ist alles.«
»Ja, diese verdammte Kälte«, stöhnte Óliver, der nicht müde wurde, den isländischen Winter zu verfluchen. »Tagein, tagaus. Schnee und Frost und Finsternis. Immer diese nicht enden wollende Finsternis. Da hat doch niemand Lust drauf? Wer ist bloß auf die Idee gekommen, dieses Land zu besiedeln? Im Ernst, Konráð? Da hat doch niemand Lust drauf?«
Konráð steckte das Handy wieder in die Tasche und musste an seinen Vater denken, schüttelte aber sofort den Kopf, als wäre der Gedanke, der ihm gerade durch den Kopf ging, völlig verrückt und viel zu weit hergeholt.
Manchmal, wenn Seppi wütend auf ihn geworden war, ihn geschlagen oder beschimpft hatte, schien er seine Fehler im Nachhinein einzusehen und sich um Wiedergutmachung zu bemühen. Das konnte unterschiedlich ablaufen. Manchmal strich er Konráð einfach nur über den Kopf. Oder er nahm ihn mit in den Laden, wo er seinen Tabak kaufte, und steckte ihm irgendwelche Süßigkeiten oder eine Cola zu. Oder Geld fürs Kino. Spielte vielleicht mit ihm und verhielt sich freundlich und väterlich, redete mit ihm wie mit einem Ebenbürtigen. Sie müssten zusammenhalten, das sei wichtig, denn sie bräuchten einander in dieser beschissenen Welt. Seppi sei nicht nur sein Vater, sondern auch sein Freund, selbst wenn er Konráð manchmal ermahnen und maßregeln müsse, ändere das nichts an ihrem Verhältnis zueinander. Er habe ihn trotzdem sehr gern.
Oder zum Beispiel an seinem neunten Geburtstag, als Tante Addý zu Besuch gekommen war und Seppi ihm eine Ohrfeige verpasst hatte, weil er so dumme Fragen gestellt hatte.
Konráð war mit der Abenteuerinsel auf sein kleines Zimmer gegangen und eingeschlafen. Er wurde wach, als Seppi mit dem Buch in der Hand auf der Bettkante saß. Sein Vater blätterte darin, sah sich die Bilder an und fragte, ob es spannend sei. Konráð antwortete nicht, war immer noch gekränkt und wütend auf ihn. Seppi blickte von dem Buch auf, sah seinen Sohn lange an und strich ihm die Haare aus der Stirn.
»Sei nicht sauer«, sagte er. »Ich wollte das nicht tun. Manchmal überkommt es mich einfach. Ich muss mit dieser Trinkerei aufhören. Der Mann, nach dem du gefragt hast, ist nicht mein Freund, eigentlich geht er mir ziemlich auf die Nerven und … Er ist ein schlechter Verlierer, so wie heute Nacht auch, er wollte mich schlechtmachen. Ihn hätte ich schlagen sollen und nicht dich.«
Seppi lächelte.
»Ich habe was von ihm gewonnen, das dich interessieren könnte«, sagte er dann. »Willst du mal sehen?«
Konráð blickte seinen Vater skeptisch an und nickte schließlich. Seppi stand auf und ging in die Küche, öffnete den Schrank über dem Waschbecken und nahm ein kleines, in ein Tuch eingeschlagenes Bündel heraus, bevor er sich wieder zu Konráð ans Bett setzte. Er ließ das Tuch auf den Boden fallen und hielt plötzlich eine Pistole in der Hand, die er seinem Sohn reichte.
»Da kann nichts passieren«, sagte er. »Sie ist nicht geladen. Drei Patronen habe ich dazubekommen.«
Konráð nahm die Pistole in seine kleine Hand und sah sie sich genau an, fand sie ganz schön schwer. Er streckte den Arm aus, und als er abdrückte, erklang ein leises Klicken.
»Sie ist deutsch«, sagte Seppi. »Das ist eine Luger.«
Konráð fuhr in die Gegend, wo früher die Nissenhütten von Múlakampur gestanden hatten, damals draußen am Stadtrand. Er konnte ungefähr nachvollziehen, wo sich die halbrunden Wellblechhütten und heruntergekommenen Häuser einmal befunden hatten, bevor sie alle abgerissen worden waren, als man beschloss, dort ein neues Geschäfts- und Industrieviertel zu errichten. Er parkte an der Suðurlandsbraut und sah, dass er noch etwas Zeit hatte.
Also entschloss er sich zu einem kleinen Spaziergang und versuchte, sich vorzustellen, wie das Viertel in den Fünfzigerjahren ausgesehen hatte. Im Internet hatte er ein paar körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der Zeit gefunden, auf denen schäbige Hütten zwischen Wellblechbaracken zu sehen waren, schlecht beleuchtete und schlammige Wege, kaputte Abflussrohre aus Kriegszeiten und Fäkalientanks direkt neben den Häusern. Auch an anderen Stellen am Stadtrand waren solche Viertel entstanden, als obdachlose Menschen in die leeren Baracken zogen und dazwischen einfache Holzhütten errichteten. Manche brachten ihre Bruchbuden im Ganzen hierher und stellten sie ohne Genehmigung oder Grundbesitz irgendwo auf, sodass ein verarmtes Stadtviertel entstand, mit Handwerkern, einem Laden, Spekulanten und Hellsehern. Das ging nicht lange gut, wie so vieles in der Stadt zu dieser Zeit, und die ganze Siedlung wurde beseitigt, als das neue Reykjavík seine Bagger immer weiter nach Osten entsandte.
Konráð setzte sich in ein Café in der Nähe des Parkplatzes, auf dem sein Auto stand. Während seines Spaziergangs hatte es angefangen zu schneien, und die Flocken fielen so dicht, dass er kaum noch die Sportanlage in Laugardalur sehen konnte, nur die glatte Kuppel der großen Halle zeichnete sich ab. Kurz darauf ging die Tür auf, und der Mann, mit dem er verabredet war, trat ein, klopfte den Schnee von seiner Jacke und fragte, ob er Konráð sei, bevor er sich zu ihm setzte.
Konráð hatte in alten Polizeiakten zu dem Mord im Múlahverfi recherchiert und sich den Namen des Bewohners der Baracke nebenan notiert. Als er ihn kontaktieren wollte, fand er heraus, dass der Mann schon vor einiger Zeit verstorben war. Seinen Sohn konnte er aber ausfindig machen, und nach einem kurzen Telefonat entschieden sie, dass es vermutlich besser wäre, sich persönlich zu treffen, und so verabredeten sie sich im alten Viertel. Wie sich herausstellte, lag das Café nur einen Katzensprung vom damaligen Tatort entfernt.
»Er hat nicht viel darüber gesprochen«, sagte der Mann, nachdem Konráð sich vorgestellt und sie sich erst noch kurz über den schneereichen Winter unterhalten hatten und schließlich auf den einstigen Abend zu sprechen kamen, an dem der Vater des Mannes in der Baracke nebenan einen Schuss gehört hatte. »Irgendwann später hat er einmal gesagt, dass er vermeiden wollte, ein Hauptzeuge in diesem Fall zu werden.«
»Kannte er seinen Nachbarn gut?«, fragte Konráð.
»So wie man sich halt kennt, nehme ich an«, sagte der Mann. Er war stämmig gebaut, trug einen ungepflegten Bart und eine große Brille auf der Nase und starrte Konráð mit seinen großen hervorstehenden Augen an. Er arbeite schon seit Langem als Taxifahrer, erzählte er und beschwerte sich über die schlechten Straßenverhältnisse in der Stadt, vor allem in den höhergelegenen Vierteln. Er habe überlegt, Ketten anzulegen, meinte er und fügte hinzu, dass das schon lange nicht mehr nötig gewesen sei.
»Die beiden waren also nicht enger befreundet?«
»Nein, nichts dergleichen. Ich glaube, mein Vater hat einmal erwähnt, dass der Mann eher ein Eigenbrötler war und auch keine freundschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarn gepflegt hat. An den Wochenenden hat er wohl ganz schön gebechert und hatte oft irgendwelche Leute zu Besuch oder ging aus und kam besoffen wieder nach Hause, aber Lärm hat er nie gemacht und auch keine Probleme.«
»Diese Nissenhütten hatten immer zwei Türen«, sagte Konráð, »eine vorne und eine seitlich, wo dein Vater auch die Leiche gefunden hat.«
»Ja, es war natürlich dunkel und das Viertel nicht gut beleuchtet, die Baracke stand etwas abseits, eigentlich am Rande der Siedlung, und mein Vater ist davon ausgegangen, dass der Täter hier die Böschung rauf ist, vielleicht sogar bis nach Háaleiti hoch.«
»Ist er auch von dort gekommen?«, fragte Konráð.
»Ja, das kann gut sein«, sagte der Taxifahrer. »Das dachte mein Vater jedenfalls. Meine Mutter war zu der Zeit gerade in Hafnarfjörður, zusammen mit meiner Schwester und mir, wir haben dort auch übernachtet.«
»Die Polizei hatte damals die Vermutung, dass der Täter kein Bewohner des Viertels war, sondern von woanders kam?«
»Ich glaube, das haben sie angenommen, ja. Ich war natürlich noch sehr jung, als das alles passiert ist, ich kann mich an nichts erinnern, aber mein Vater wusste von niemandem im Viertel, der dem Mann etwas Böses wollte. Alle waren sehr überrascht, dass er umgebracht wurde.«
»Wie sich herausstellte, war die Mordwaffe eine deutsche Pistole, eine 9 mm Luger. Sagt dir das was? Besaß jemand im Viertel so eine Waffe? Hat dein Vater etwas in die Richtung erwähnt?«
»Nein, darüber weiß ich nichts.
»Was hat deine Mutter damals in Hafnarfjörður gemacht?«
Die Frage schien den Taxifahrer zu überrumpeln.
»Du hast sie erwähnt«, sagte Konráð.
»Sie war bei Oma, also bei ihrer Mutter. In der Ehe meiner Eltern hat es zu der Zeit aus diversen Gründen gekriselt. Sie wollte zum Beispiel aus Múlakampur wegziehen. Hat sich da nicht wohlgefühlt und meinen Vater sehr gedrängt, etwas Besseres zu suchen. Fand, dass er sich mehr anstrengen sollte. Am Ende hat er eine Etagenwohnung in Stóragerði bekommen, also sind wir da hingezogen.«
»Die Polizei hatte deinen Vater eine Zeit lang im Visier. Er hat die Leiche gefunden. War der einzige Zeuge. Außer ihm konnte niemand etwas dazu sagen.«
»Ja, aber er war kein Mörder«, sagte der Taxifahrer sofort, als habe er seinen Vater schon öfter verteidigen müssen.
Laut der Polizeiakte war das Opfer ein zwanzigjähriger Mann namens Garðar, der den Großteil seines Lebens in Reykjavík gelebt hatte. Seine Mutter hatte er in jungen Jahren verloren, und über seinen Vater war nichts bekannt, also hat das Jugendamt sich gekümmert und ihn seine ganze Kindheit lang von einer Pflegefamilie zur nächsten geschickt. Als er älter wurde, hat er verschiedene Knochenjobs angenommen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er zwei Jahre als Packer am Hafen gearbeitet. Dort kannte man ihn als gewissenhaften und fleißigen Arbeiter. Einer seiner Kollegen lebte in Múlakampur, und als Garðar ein Dach über dem Kopf brauchte, zog er zu ihm in die Baracke. Sein Freund fand bald eine bessere Bleibe und verließ das Viertel, woraufhin Garðar allein zurückblieb.
»Kannte dein Vater die Freunde von Garðar oder die Leute, die ihn besucht haben?«
Der Taxifahrer starrte in das Schneetreiben hinaus, und Konráð vermutete, dass er an die Ketten im Kofferraum dachte und sich fragte, ob er sich tatsächlich noch die Mühe machen müsste, sie an die Reifen zu schnallen. Wahrscheinlich konnte er sich Schöneres vorstellen.
»Nicht gut, wie gesagt, er hatte kaum Freunde und nur wenige Kontakte.«
»Ja, so steht es auch in der Akte«, sagte Konráð. »Die Kollegen am Hafen haben erwähnt, dass er sich nicht viel unter die Leute gemischt hat.«
Der Taxifahrer nickte und schien immer noch mit den Gedanken bei der Witterung und den Schneeketten zu sein.
»Sagt dir im Zusammenhang mit den damaligen Ereignissen der Name Seppi was?«, fragte Konráð.
»Seppi? Meinst du einen Hund, oder …?«
»Nein«, sagte Konráð. »Der Mann hieß Jósep P. Grímsson, wurde aber nur Seppi genannt. Sagt dir das was? Hast du ihn schon mal gehört?«